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GLEICHHEIT/3033: US Soldat zum Massaker in Bagdad - "Nichts Außergewöhnliches im Irak"


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

US Soldat zum Massaker in Bagdad: "Nichts Außergewöhnliches im Irak"

Von Bill Van Auken
27. April 2010
aus dem Englischen (23. April 2010)


Der Irakkriegsveteran Josh Stieber sprach mit der World Socialist Web Site über seine Erfahrungen im Irak und warum er sich entschied, an die Öffentlichkeit zu treten. Seine Kompanie ist auf einem Video auf WikiLeaks.com zu sehen, das ein Massaker an Zivilisten in Bagdad von Juli 2007 zeigt.

Stieber setzte zusammen mit einem weiteren früheren Mitglied der Kompanie, Ethan McCord, einen "Brief der Versöhnung" auf, der an die irakische Bevölkerung adressiert ist. Darin übernehmen sie die Verantwortung für ihre Rolle bei diesem Ereignis und bei weiteren Gewalttaten. Beide Soldaten wurden 2007 in den Irak beordert.

Josh Stieber, der die Armee letztes Jahr als Kriegsdienstverweigerer verließ, betont im Interview, dass der Vorfall auf dem veröffentlichten Video keine Ausnahme darstellt. Vielmehr geschähen solche Ereignisse tagtäglich. Sie seien das unausweichliche Produkt der militärischen Einsatzregeln, des bewusst menschenverachtenden Trainings der US-Soldaten sowie des Charakters dieses Kolonialkrieges und der Besetzung des Iraks.


Frage: Was war Ihre erste Reaktion, nachdem Sie das "Collateral Murder"-Video auf WikiLeaks gesehen hatten?

Antwort: Als ich das Band zum ersten Mal sah und mir über den Inhalt klar wurde, erschrak ich. Auch über die Drehart des Videos und die dadurch angeregte Diskussion. Ich war überrascht, welche großen Auswirkungen es hatte. Ich verstehe, dass der normale Zuschauer es ziemlich extrem finden könnte, aber für mich war es nichts Außergewöhnliches.

Natürlich lehne ich das Gezeigte und vieles was drüben passierte in einem moralischen Sinn ab. Die Wahrheit ist aber, dass das, was zu sehen ist, nichts wirklich Außergewöhnliches war im Irak.

Frage: Warum denken Sie, hat das Video Millionen Zuschauer derart geschockt?

Antwort: Ich denke, weil es etwas sichtbar macht. Viele Leute haben sicherlich auch schon vorher über solche Dinge gesprochen. Zum Beispiel bei den "Winter Soldier Hearings" 2008, bei denen 200 Irakkriegsveteranen Augenzeugenberichte über derartige und ähnliche Vorfälle ablegten. Sie versuchten die Leute zu warnen, wurden in den amerikanischen Medien aber kaum erwähnt.

Sogar der gezeigte Vorfall wurde bereits in dem Buch "The Good Soldiers" von einem Washington Post-Reporter beschrieben, der mit unserer Einheit unterwegs war. Eigentlich schrieb er Wort für Wort auf, was nun auch in dem Video zu sehen ist.

Die Geschichte war also bereits bekannt, aber ich denke, die Bilder waren das eigentlich Schockierende. Man kann da nicht einfach umblättern oder umschalten. Die Leute werden dazu gezwungen, über diese Dinge nachzudenken. Dinge, über die viele vorher nicht nachdenken wollten.

Natürlich meldeten es die Medien auch schon vorher, wenn unschuldige Zivilisten umgebracht wurden. Aber man konnte es nicht so direkt sehen. Es waren Worte auf dem unteren Teil des Bildschirms oder in einer Zeitung. Man sah nicht, wie es wirklich geschah.

Frage: Verteidigungsminister Robert Gates sagte, das Video zeige nicht den unmittelbaren Kontext der militärischen Situation auf. Sie waren ein Mitglied der Einheit auf dem Video an diesem Tag in Bagdad. Wie war Ihrer Meinung nach die Situation?

Antwort: Ich war in der gleichen Kompanie, die im Video zu sehen ist. Es ist wichtig, die größeren Zusammenhänge zu verstehen. Wir wurden regelmäßig angegriffen, ob es nun Sprengfallen waren oder Scharfschützen. Und wir begannen uns alle immer mehr zu fragen, was wir hier eigentlich machten.

Die meisten sahen die Mission als zwecklos an. Man wusste nie, woher ein Angriff kommen würde. Irgendjemand konnte im einen Moment gleich neben dir stehen und sich im nächsten in die Luft gesprengt haben.

Das ist die erweiterte Sichtweise. An jenem Tag gingen Soldaten von Haus zu Haus und der Helikopter sollte sie schützen und Gefahren ausschalten. Einige Blocks von den Menschen auf dem Video entfernt waren Truppen.

Man kann es nicht moralisch rechtfertigen, aber nach dem Video zu urteilen, wäre von mir aus militärischer Sicht erwartet worden, alles zu melden was ich sah. Und ich wäre wahrscheinlich angewiesen worden, das Feuer zu eröffnen.

Gates' Kommentar ist sehr verräterisch. Er sagt, er sehe in dem Video kein Fehlverhalten. Die Diskussion muss also in Rechnung stellen, dass jemand so hoch oben in der Hierarchie seine offene Zustimmung für alles gibt, was auf dem Video zu sehen ist. Dies ist also nicht nur ein Beispiel für einige sich schlecht verhaltende Soldaten, sondern eher ein System, worin Leute trainiert werden, in gewisser Weise zu handeln. Und worin sie in Situationen gebracht werden, in denen sie das Gefühl haben, solche Sachen machen zu müssen.

Frage: In Ihrem Brief halten Sie fest, dass es sich um ein alltägliches Ereignis handelt. Können Sie einige Beispiele nennen, was sie im Irak erlebt haben?

Antwort: Eine Taktik, die wir anwandten, war noch extremer. Jedes Mal, wenn eine Bombe am Straßenrand hochging, mussten wir auf alles und jeden in dem betroffenen Gebiet schießen. Es entstand schließlich die Philosophie, der lokalen Bevölkerung mehr Furcht vor uns, als vor den Terroristen einzuflößen. Sie sollte dazu gebracht werden, mehr Angst vor uns zu haben. Dann würden sie einen potentiellen Bombenleger vielleicht aus Angst vor unserer Reaktion stoppen.

Frage: Denken Sie, dass solche Dinge fast unvermeidlich sind angesichts des Charakters dieses Krieges?

Antwort: Eindeutig ja. Eine Menge Leute verloren ihren Idealismus sehr schnell und kämpften eigentlich nur darum, lebend nach Hause zu kommen. Es gab einen großen Druck, richtig zu handeln und es lauerten auch definitiv einige echte Gefahren.

All dies zeigt so klar den Trugschluss auf, Krieg als Mittel der Außenpolitik zu gebrauchen. Oder als Weg, auf der Welt "Freiheit und Demokratie" zu verbreiten oder wie man das auch immer nennen möchte. Auch wenn man das Verletzen von Zivilisten vielleicht militärisch entschuldigen kann, braucht man nicht sehr viel Fantasie, um zu verstehen, warum die einheimische Bevölkerung einen nicht als "Befreier" ansieht.

Frage: Führte dies zu dem Gefühl, dass buchstäblich jeder im Irak ein Feind sein könnte?

Antwort: Ja, absolut. Nochmals, wir kümmerten uns vor allem um die Gefährdung durch Scharfschützen und Bomben am Straßenrand. Man hat keine Ahnung, wer diese Bomben legt oder wer den Schuss abfeuert. Also war da dieses Gefühl, dass der Angriff von überall her kommen konnte.

Frage: Sie sagen, die Leute hätten ihren Idealismus verloren. Haben Sie das Gefühl, aus idealistischen Gründen dem Militär beigetreten zu sein?

Antwort: Als ich mich einschrieb, glaubte ich, dass ich die Welt zu einem besseren Ort machen und Freiheit und Demokratie verbreiten werde. Ich wuchs sehr religiös auf und die Argumente für den Krieg wurden mit viel religiöser Sprache unterlegt. Ich glaubte, etwas Gutes zu tun. Auch wegen der Ratschläge von Leuten, denen ich damals vertraute.

Frage: An welchem Punkt verloren Sie diese Überzeugung?

Antwort: Es gab einige Dinge während der Ausbildung, die mich ziemlich beunruhigten. Aber ich entschuldigte es stets und sagte mir, es sei ohne Bedeutung, so verstörend es auch war.

Hoffentlich verstehen die Leute nach dem Ansehen dieses Videos besser, dass die Art, wie man die Soldaten ausbildet, sie später auch so agieren lässt. Vieles in unserer Ausbildung war sehr menschenverachtend und psychisch sehr belastend.

Anfangs entschuldigte ich es noch. Als ich aber in den Irak kam, sah ich, dass die Ausbildung wirklich gewirkt hatte. Ich hätte mich in einen Einwohner hineinversetzen sollen. Dann hätte ich wohl gemerkt, dass auch ich nicht sehr glücklich wäre, wenn dies mein Land wäre. Und dass auch ich nicht sehr glücklich darüber wäre, all dies zu sehen, was wir den Menschen in Bagdad angetan haben.

Frage: Also war Ihre Ausbildung darauf angelegt, die Iraker weniger als Menschen zu sehen?

Antwort: Ja, dies war ein wichtiger Teil davon. Wir hatten Kampfrufe wie "Tötet sie alle, und lasst Gott die Spreu vom Weizen trennen." Sie ließen uns beim Marschieren sehr menschenverachtende Lieder über das Töten von Kindern und Frauen singen. Es gab soviel Dinge, um dein normales menschliches Mitgefühl zu zerfressen und dich daran zu hindern, in diesem Sinne zu denken.

Eines dieser Kampflieder, das Josh und seine Kriegskameraden während des Trainings sangen, lautete:

Ich ging runter zum Markt, wo alle Frauen einkaufen
Ich zog meine Machete und begann mit dem Zerhacken
Ich ging runter zum Park, wo alle Kinder spielen
Ich nahm mein Maschinengewehr und begann zu sprühen

Heute hören Sie so ein Lied und dann hören Sie morgen wie ein Kaplan alles segnet, was man tut. Und die Leute aus der Heimat schreiben, man beschütze sie und helfe ihnen. Man kann sich darin völlig verfangen und es kann die Psyche durcheinanderbringen.

Frage: Sie schreiben in Ihrem Brief, dass der amerikanische Krieg die irakische Bevölkerung ihrer Menschenwürde beraubt. Hat er auch die US-Soldaten ihrer Menschlichkeit beraubt?

Antwort: Das würde ich absolut bejahen. Was mich zuerst dazu veranlasste, über das Video zu schreiben und zu sprechen, war, dass vieles davon auf den Schultern der Soldaten abgeladen wurde. Natürlich hat jeder eine Wahl und ist verantwortlich dafür. Aber auf einer anderen Ebene ist es ungerecht, es alleinig den Soldaten anzulasten, wenn diese doch nur tun, was ihr Land von Ihnen verlangt.

Wenn man nur diesen einen Fall betrachtet und nicht das größere System dahinter, werden diese Dinge weiterhin geschehen. Wir müssen das System anschauen, das diesen Vorfall erst ermöglichte.

Ich habe eine Vielzahl von Freunden, die in psychiatrischen Kliniken endeten. Es gibt andere, deren Familien kaputt gingen. Es fordert einen hohen Tribut, persönlich, aber auch für die ganze Nation. Immer mehr Leute verloren ihren Glauben, falls sie ihn hatten, in das Urteilsvermögen der US-Regierung und ihre Unternehmungen.

Fast alle meine Bekannten dachten, sie würden sich nie wieder einschreiben. Aber viele taten es dann doch. Man versucht sich nach einer Erfahrung, wie wir sie gemacht haben, zu reintegrieren; oft ist es schwierig. So schwierig es aber auch sein mag, im Militär zu bleiben, aus irgendeinem Grund fühlt man, dass man den kompletten Weg zurück in die Gesellschaft nicht schafft. Es mangelt an Unterstützung und man hat Angst, die Leute verstünden einen nicht.

Hoffentlich merken junge Leute, nachdem sie dieses Video gesehen haben, dass das Militär mehr bedeutet, als den Gehaltsscheck zu bekommen oder Hilfe fürs College zu kriegen. Vielleicht kommst du nicht mehr in einem Stück zurück. Aber auch falls doch, können die Dinge, zu denen man gezwungen wird oder die man wählt, psychische Konsequenzen haben, mit denen man für den Rest seines Lebens leben muss.

Frage: Sie begannen sich gegen den Irakkrieg aufzulehnen, als sie dort stationiert waren. War dies eine weithin geteilte Sicht? Was war die Reaktion ihrer Kameraden?

Antwort: Es war sehr verbreitet. Fast jeder, den ich kannte fand das, was wir taten reine Zeitverschwendung. Einige sagten gar, es sei moralisch falsch, und einige sagten, dass sie auch Aufständische würden, wenn so etwas in ihrem Land begangen würde.

Die meisten übernahmen die Einstellung, dass sie nun einfach in dieser grässlichen Situation feststecken würden, und es halt nicht das war, was sie erwartet hatten. Man kämpfte also nur noch dafür, lebend nach Hause zu kommen, anstatt für irgendetwas Größeres. Aber die Herausforderung für viele ist, den Schritt aus dem System zu wagen und zu sagen, dass wir auch etwas dagegen tun können.

Frage: Das Töten von Zivilisten in den Kriegen im Irak und Afghanistan hält an. Dachten Sie, dass sich das nach den Wahlen 2008 ändern würde?

Antwort: Ich versuchte, optimistisch zu sein. Ich denke, ich wurde enttäuscht. Es wird die gleiche Logik gefördert, dass wir Herzen und Köpfe mit dem Gewehrlauf gewinnen können. Und je mehr man davon hört, desto weniger Sinn macht es.

Es deutet alles auf viel größere Abläufe hinter dem Krieg hin. Es ist ein Fehler, soviel Hoffnung in eine Person oder eine Partei zu setzen. Es scheint, als drehe sich so vieles nur ums Geld und um die Verflechtung von Firmen und Unternehmen mit dem politischen Prozess. Wenn Profit wichtiger wird als die Menschen, ist der Grundstein für ein Desaster gelegt.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 27.04.2010
US Soldat zum Massaker in Bagdad: "Nichts Außergewöhnliches im Irak"
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2010