Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GLEICHHEIT/3057: Britische Unterhauswahl - Auf unklares Wahlergebnis folgt politische Instabilität


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Britische Unterhauswahl:
Auf unklares Wahlergebnis folgt politische Instabilität

Von Chris Marsden und Julie Hyland
11. Mai 2010
aus dem Englischen (8. Mai 2010)


Nach der Unterhauswahl vom 7. Mai tritt Großbritannien in eine Periode tiefer Instabilität ein. Dabei geht es um viel mehr als um die Bildung einer Minderheits- oder einer Koalitionsregierung.

Labour hat bei der Wahl massiv verloren und nur noch 29,1 Prozent der Stimmen erhalten, so wenig wie nie zuvor in der Nachkriegszeit. Die Labour Party hätte noch mehr Sitze verloren, hätten viele Arbeiter in den Industriestädten nicht ihren Ekel überwunden und ihr die Stimme gegeben, um gegen die Konservativen und Liberaldemokraten zu stimmen. Letztere hatten schon durchblicken lassen, dass sie es vorziehen würden, mit den Konservativen zu koalieren.

Nicht einmal unter den Bedingungen der schlimmsten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren war die Ablehnung von Premierminister Gordon Bown groß genug, um den Konservativen eine regierungsfähige Mehrheit zu verschaffen.

Die Konservativen verzeichneten die größten Gewinne, aber ihre 36,1 Prozent reichten für die absolute Mehrheit von 326 Sitzen nicht aus. Die Tories konnten vor allem Zuwächse verbuchen, weil sie ihre traditionellen Wähler mobilisieren konnten, darunter auch die Schichten, die 1997 zu New Labour gewechselt waren.

Auch die Liberalen konnten nicht wirklich davon profitieren, dass sich die Wähler von Labour abgewandt haben. Die Liberalen waren schließlich mit 23 Prozent nur Dritte, und sie verloren sogar Sitze. Und das trotz einer Kampagne der Medien, die ihnen die höchste Stimmenzahl zugetraut hatte.

Die Wahlbeteiligung stieg auf 64,6 Prozent gegenüber 61,4 Prozent 2005. Sie stand jedoch in keinem Verhältnis zur Wahl 1997, als Labour an die Regierung kam und 71,4 Prozent zur Wahl gingen.

Das Ergebnis wird auch mit einer Stimmung gegen "die da oben" erklärt. Nicht nur fehlt Großbritannien eine Partei, die wirkliche Massenunterstützung genießt, sondern das Land ist sogar gespaltener denn je.

Es handelt sich um eine geographische Spaltung, die letztlich in sozialen Spaltungen wurzelt. Sie drückte sich nur teilweise und in verzerrter Form in der regionalen Schieflage der Stimmen für Labour und die Konservativen aus.

In Schottland hat Labour mit 42 Prozent der Stimmen 41 von 59 Sitzen gewonnen. Den Konservativen gelang es gerade einmal, ihren einzigen Sitz nördlich der Grenze zu Schottland zu verteidigen. Der Stimmenanteil der Liberaldemokraten ging auf 18,6 zurück. Die Scottish National Party (SNP) hat leicht zugenommen, aber den Sitz Glasgow-Ost an Labour verloren.

In Wales hat Labour mit 32,8 einen etwas höheren Prozentanteil als im nationalen Durchschnitt gewonnen, was aber immer noch das schlechteste Ergebnis seit 1918 ist. Die Labour Party gewann damit 26 der 40 walisischen Unterhaussitze.

In Nordirland wurde die Ulster Unionist Party (UUP) vernichtend geschlagen. Das bringt die Konservativen in die schwierige Lage, dass sie sich mit der jetzt bestimmenden Democratic Unionist Party arrangieren müssen. Tory-Führer Cameron hatte sich vorher damit gebrüstet, nur mit Unterstützung der UUP eine Regierung bilden zu können.

Ein Schlüsselfaktor für dieses Ergebnis ist die starke wirtschaftliche Abhängigkeit Schottlands, Wales?, Nordirlands und weiter Teile Nordenglands vom öffentlichen Dienst. Labour behauptete im Wahlkampf, Camerons Ankündigung, sofort die Axt an die Staatsausgaben zu legen, werde "den Aufschwung gefährden" und zu Entlassungen und Lohnsenkungen führen. Dies zeigte eine gewisse Wirkung. Auf ähnliche Weise konnte die Labour Party ihre Position in den Innenstadtbezirken von London verteidigen.

Auch die Ergebnisse der Kommunalwahlen zeigen ein ähnliches Muster. Labour erzielte Gewinne, und die Tories und die Liberaldemokraten verloren Sitze. Die Liberaldemokraten verloren sogar ihre Mehrheit im Stadtrat von Sheffield, obwohl hier ihr Parteiführer Nick Clegg seinen Wahlkreis hat.

Die unerwartet hohe Wahlbeteiligung führte dazu, dass Tausende Wähler in Newcastle, Leeds, Liverpool, Manchester, Sheffield und Teilen von London nicht wählen konnten, weil nicht genügend Wahlhelfer und/oder Wahlzettel vorhanden waren. Vor den Wahllokalen kam es zu zornigen Szenen und sogar Sit-Ins, als die Polizei gerufen wurde, um den Menschen, die stundenlang angestanden hatten, zu erklären, dass sie ihre Stimme nicht abgeben konnten. Voraussichtlich wird es zu juristischen Wahlanfechtungen kommen.

Alle großen Parteien haben die Pläne für umfangreiche Kürzungsmaßnahmen verheimlicht, die schon hinter den Kulissen von Ministerialbeamten ausgearbeitet worden sind. Wie der Independent am Freitag berichtete, haben hohe Whitehall-Beamte an geheimen Optionen für Kürzungen gearbeitet, die weit über das hinausgehen, was die Parteiführer in der Öffentlichkeit bekanntgemacht haben, bevor die Wähler an die Urnen schritten.

Die Diskussionen über die Bildung einer neuen Regierung werden vollständig von den Interessen der Banken und Großkonzerne bestimmt. In einem beispiellosen Schritt wurden um ein Uhr nachts die Anleihemärkte geöffnet, damit die Finanzmärkte die Möglichkeit erhielten, ihr "Urteil" über das Wahlergebnis zu fällen. Anfänglich stiegen die Preise der Anleihen in Erwartung eines Sieges der Tories, aber dann brachen sie stark ein.

Obwohl die verfassungsmäßigen Normen im Fall einer unklaren Parlamentsmehrheit eigentlich dem amtierenden Premierminister das Vorrecht der Regierungsbildung einräumen, erklärte Cameron, er werde versuchen, eine Minderheitsregierung zu bilden.

Am frühen Morgen ging dann Clegg vor die Presse. Er erklärte, man solle sich Zeit lassen mit einer Entscheidung über das beste Vorgehen. Aber dann fiel bei Öffnung der Devisenmärkte das Pfund sofort auf einen Jahrestiefststand, und Clegg trat öffentlich dafür ein, dass Cameron als erster eine Regierungsbildung versuchen solle.

Später am Tage bot Cameron an, mit den Liberaldemokraten "zusammenzuarbeiten", was als Hinweis auf eine Koalition verstanden wurde. Brown hielt das offenbar ebenfalls für das wahrscheinlichste Ergebnis und erklärte, er respektiere Cleggs Position "vollkommen", bot aber an, für Gespräche zur Verfügung zu stehen, falls Cleggs Kurs scheitern sollte.

Bei allen Meinungsverschiedenheiten haben alle drei Parteiführer ein gemeinsames überragendes Ziel.

Niemand möchte eine zweite Unterhauswahl, wie 1974, als Harold Wilsons Labour-Minderheitsregierung nach nur acht Monaten Neuwahlen ausrufen musste.

Eine vielleicht passendere Analogie wurde zur Wahl vom 30. Mai 1929 gezogen, als Ramsay MacDonald von der Labour Party keine absolute Mehrheit errang. Vor dem Hintergrund des Schwarzen Freitags 1929, als die Wall Street zusammenbrach und die Große Depression begann, wurde damals die Regierung der nationalen Einheit von 1931 gebildet.

Es geht jedoch um mehr als parlamentarische Arithmetik. Brown erklärte: "Wir sollten alle daran denken, dass eine starke, stabile Regierung gebraucht wird, die über die Autorität verfügen muss, die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern, und die über die notwendige Unterstützung im Parlament verfügt."

Die "starke, stabile Regierung", von der er spricht, ist erforderlich, um der Opposition standzuhalten, die sich zwangsläufig gegen die von den Herrschenden verlangte brutale Sparpolitik formieren wird.

Doch damit wird kein Problem gelöst. Die gegenwärtige politische Instabilität hat ihre Wurzeln in einer ausgeprägten Klassenpolarisierung, die ganz Europa destabilisiert und sich in der nächsten Zeit nur verschärfen kann.

Während in Großbritannien noch gewählt wurde, verabschiedete das griechische Parlament unter dem Schutz von Bereitschaftspolizei ein drakonisches Sparpaket, gegen das Hunderttausende auf der Straße protestierten.

Die Furcht vor der "griechischen Ansteckung", die das Überleben der Eurozone bedroht, verursachte am Donnerstag ein Chaos an der Wall Street, als der Dow Jones seinen stärksten Absturz aller Zeiten erlebte.

Die Daily Mail vom 6. Mai hatte die Schlagzeile: "Brennende Frage für Großbritannien: Unser Defizit droht größer als das griechische zu werden. Anarchie und Mord auf den Straßen von Athen". Moodys Investors Service wies darauf hin, dass die Bankensysteme Portugals, Italiens, Irlands und Großbritanniens unter Druck stehen. Das britische sei besonders gefährdet.

Die Socialist Equality Party erhielt für ihre beiden Kandidaten nur wenige Stimmen. Robert Skelton erhielt in Manchester Central 54 und David O?Sullivan in Oxfort-East 116 Stimmen. Aber das ist nicht das wesentliche Kriterium, um die politische Bedeutung unserer Wahlteilnahme zu beurteilen.

Die SEP trat für ein sozialistisches und internationalistisches Programme ein, das sich auf eine Analyse der politischen Situation stützt. Diese hat sich als völlig richtig erwiesen.

Anders als alle kleinbürgerlichen, ex-linken Tendenzen, wie z.B. die Trade Unionist and Socialist Coalition, haben wir Labour nicht unterstützt. Wie wir betont haben, ist die entscheidende Aufgabe die "Vorbereitung einer unabhängigen politischen Bewegung der Arbeiterklasse gegen Sparpolitik, Militarismus und Krieg". Dafür muss eine neue sozialistische Partei der arbeitenden Bevölkerung aufgebaut werden.

Dieses Festhalten an politischen Prinzipien wird sich als entscheidend erweisen, wenn sich die Arbeiterklasse in Großbritannien und weltweit nach links rückt und politisch neu ausrichtet.

Siehe auch:
Wahlmanifest der Socialist Equality Party zu den
britischen Parlamentswahlen 2010
(10. April 2010)


*


Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.

Copyright 1998-2010 World Socialist Web Site - Alle Rechte vorbehalten


*


Quelle:
World Socialist Web Site, 11.05.2010
Britische Unterhauswahl:
Auf unklares Wahlergebnis folgt politische Instabilität
http://wsws.org/de/2010/mai2010/brit-m11.shtml
Deutschland: Partei für Soziale Gleichheit
Postfach 040144, 10061 Berlin
Tel.: (030) 30 87 24 40, Fax: (030) 30 87 26 20
E-Mail: info@gleichheit.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2010