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GLEICHHEIT/3104: Die Krise der Regierung verschärft sich


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Die Krise der Regierung verschärft sich

Von Ulrich Rippert
15. Juni 2010


Selten zuvor wurde eine Bundesregierung derart heftig attackiert, wie die gegenwärtige Koalition aus CDU/CSU und FDP. Auch innerhalb der Regierung nehmen die Konflikte zu.

Am Montag erschien Der Spiegel mit der an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihren Stellvertreter Guido Westerwelle (FDP) gerichteten Schlagzeile "Aufhören!". Die Titelstory bezeichnet Merkel als "Trümmerfrau", die vor den "Scherben ihrer Kanzlerschaft" stehe. Niemand würde noch auf eine lange Dauer dieser Regierung wetten, "selbst Merkels Getreue nicht", schreiben die Spiegel-Redakteure und fügen hinzu: "In Wahrheit ist diese Koalition schon gescheitert." Im Kanzleramt herrsche "Endzeitstimmung".

Zeitgleich titelte das Wirtschaftsmagazin Wirtschaftswoche mit der Frage: "Angela Merkel - War's das?", und antwortete einige Seiten weiter mit der Leitartikelüberschrift: "Merkel - Das war's." Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik sei die Währung und Wirtschaft in einem solchen Ausmaß gefährdet gewesen, wie heute, schreibt die WiWo. "Nie zuvor waren die Schulden so dramatisch hoch." Und nie zuvor sei die Orientierungslosigkeit der Regierung derart offensichtlich gewesen. Die Koalition "taumelt ohne Ziel und Kompass". Kein Wille sei erkennbar, kein Weg und keine Führung.

Gut sei nur, schreibt das Wirtschaftsmagazin, das vor nicht all zu langer Zeit Schwarz-Gelb als Wunschregierung bezeichnete: "Die Deutschen wissen jetzt, ein für alle Mal, dass sie von dieser Regierung nichts mehr zu erwarten haben. Schwarz-Gelb, das war einmal, die Koalition ist am Ende, ganz gleich, was noch folgt."

Am Samstag zuvor hatte bereits die Süddeutsche Zeitung in mehreren Artikeln das Ende der Regierung Merkel angekündigt. Die Kanzlerin habe die Kontrolle über die Koalition verloren, hieß es im Leitartikel. Unter der Überschrift "Letzte Worte" bezeichnete ein ganzseitiger Artikel die Regierungsarbeit der vergangenen Woche als eine "Chronik des Versagens". Und auf der Kommentarseite hielt Heribert Prantl als Leiter des Ressorts Innenpolitik die Totenrede: "Nekrolog auf ein Bündnis, das von Anfang an keines war." Sein Nachruf beginnt mit den Worten: "Noch nie in der bundesdeutschen Geschichte gab es eine so schlechte Bundesregierung wie heute."

Ebenfalls am Wochenende forderte der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier die Durchführung von Neuwahlen. Dem schloss sich Sonntagabend die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Renate Künast, an.

In vielen Kommentaren wird die Regierungskrise vorwiegend aus dem Blickwinkel der persönlichen Unzulänglichkeiten und politischen Schwächen der Kanzlerin und ihres Stellvertreters betrachtet. Doch das ist eine sehr beschränkte Sichtweise. Die Ursachen der Krise liegen tiefer.

Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise hat der bisherigen Politik die Grundlage entzogen. Die politischen Koordinaten sind in allen Bereichen der Innen- und Außenpolitik durcheinander geraten. Die bisherigen Methoden der politischen Herrschaft funktionieren nicht mehr. Neue Herrschaftsformen können aber nicht ohne heftige Konflikte und Auseinandersetzungen entstehen.

Als Reaktion auf den Wirtschaftszusammenbruch der 1930er Jahre und die politische Katastrophe, die darauf folgte, hatte die Politik der Nachkriegsjahrzehnte im Namen der sozialen Marktwirtschaft und Sozialpartnerschaft ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich angestrebt. Dies prägte auch die politischen Institutionen und Parteien. Nicht zufällig bezeichneten sich sowohl die SPD als auch die CDU/CSU als Volksparteien. Als die SPD 1998 bis 2005 als Regierungspartei im Rahmen der Agenda 2010 einschneidende soziale Kürzungen durchsetzte, warnte der Arbeitnehmerflügel der Union noch vor den politischen Konsequenzen.

Angesichts der Wirtschaftskrise verlangt nun das Finanzkapital viel tiefere soziale Einschnitte. Das jüngste Sparprogramm der Regierung bildet den Auftakt dazu. Die Wirtschaftsverbände verlangen noch sehr viel weitergehende Maßnahmen, wie die Abschaffung des gesetzlichen Kündigungsschutzes, die Einschränkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und einen allgemeinen Abbau aller Sozialstandards.

Doch das führt zu Widerstand in der Bevölkerung, auf den die herrschende Elite noch nicht vorbereitet ist. Nicht nur die Konflikte zwischen Union und FDP nehmen zu, auch die Spannungen innerhalb von CDU/CSU sind zum Zerreißen gespannt und die Union droht aufzubrechen.

Dazu kommen wachsende Konflikte in der Außenpolitik. In den Nachkriegsjahren war die Westbindung, das heißt eine enge Zusammenarbeit mit den USA, nahezu uneingeschränkt anerkannt. Seit ihrer Regierungsübernahme 2005 hat Angela Merkel versucht, diese Tradition fortzusetzen, und auf eine verstärkte transatlantische Zusammenarbeit gesetzt. Trotzdem nahmen die Spannungen auf allen Ebenen zu. Angesichts der Wirtschaftskrise, die die Stärke der USA untergräbt, versucht die US-Regierung, die Last der Krise auf Europa abzuwälzen. Unter diesem Druck verstärken sich die Gegensätze zwischen den europäischen Großmächten.

Als gestern Nachmittag das deutsch-französische Gipfeltreffen stattfand, das am Montag davor wegen der deutschen Klausurtagung über das Sparprogramm kurzfristig verschoben worden war, sprachen alle Kommentatoren von einem Tiefpunkt in den deutsch-französischen Beziehungen. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hatte das deutsche Spardiktat mit scharfen Worten kritisiert und angesichts der wachsenden Krise in der Euro-Zone mehr Zusammenarbeit gefordert.

Angesichts dieser innen- und außenpolitischen Krise halten einflussreiche Teile der herrschenden Klasse die Regierung Merkel-Westerwelle für zu schwach und instabil, um die Probleme zu lösen. In dieser Situation bieten sich die Sozialdemokraten und die Grünen als Parteien an, die besser in der Lage sind, die Sozialkürzungen zu verwirklichen und die deutschen Interessen in Europa und international konsequenter zu vertreten.

Viele Kommentatoren verbinden ihre Kritik an der Regierung Merkel mit Lobhudeleien für Rot-Grün und versuchen den Eindruck zu erwecken, die Einbindung der Sozialdemokraten in die Regierung werde dazu führen, die sozialen Grausamkeiten einzuschränken und zu mildern.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Die SPD preist sich als Partei an, die sehr viel mehr Erfahrung bei der Durchsetzung von sozialen Kürzungen hat. Zu Recht betont sie, dass sie in den rot-grünen Regierungsjahren in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften die einschneidensten Angriffe auf Löhne und Sozialstandards durchgesetzt hat.

Die gegenwärtige Regierungskrise ist die Form, in der die herrschende Elite nach einer Regierungskonstellation sucht, mit der die sozialen Angriffe am besten durchgesetzt werden können. Große Klassenkämpfe sind damit vorprogrammiert.

In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Kommentar in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung bemerkenswert. Stefan Ulrich vergleicht darin die politische Situation in Deutschland und Europa mit dem Beginn der Französischen Revolution. "1789 ist hier gegenwärtig", schreibt er. Auch wenn die Stimmung in Europa noch nicht so revolutionär sei, wie vor 220 Jahren, so sei der Unmut, der sich in Griechenland "unter dem Spar-Diktat zusammenballt", sehr beunruhigend. "Spanien und Portugal könnten folgen, wenn die Regierungen den Druck der Märkte voll an die Menschen weitergeben."

Merkel diktiere dem Land ein Sparpaket, "das die Schwachen schröpft, die Starken schont und die Werte der Gleichheit und Brüderlichkeit missachtet". Das sei höchst gefährlich. Marie Antoinette habe auch nicht aus Bosheit gehandelt, "aber völlig verkannt, was sich in Frankreich zusammenbraute".


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Quelle:
World Socialist Web Site, 15.06.2010
Die Krise der Regierung verschärft sich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2010