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GLEICHHEIT/3676: Massenproteste verlangen "zweite Revolution" in Ägypten


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Massenproteste verlangen "zweite Revolution" in Ägypten

Von Patrick Martin
31. Mai 2011


Hunderttausende Ägypter strömten in Kairo auf dem Tahrir Platz und in anderen Städten im ganzen Land zu Demonstrationen zusammen und forderten ein Ende der Militärherrschaft und die Bestrafung von Vertretern der Diktatur des ehemaligen Präsidenten Mubarak.

Protestgruppen aus überwiegend jungen Leuten bezeichneten die Proteste vom Freitag als den "zweiten Tag des Zorns". Der erste fand am 27. Januar statt, als Demonstranten in Kämpfe mit Mubaraks Schlägergruppen verwickelt wurden und siegreich die Kontrolle über den Tahrir Platz behielten.

Viele Demonstranten riefen nach einer "zweiten Revolution". Sie sprachen für breite Schichten, die feststellen müssen, dass die Revolution, die Mubarak aus dem Amt gefegt hat, keine grundlegende Verbesserung der Lebensbedingungen für die Masse der arbeitenden Bevölkerung, der kleinen Bauern und der Landarbeiter gebracht hat.

Der Tahrir Platz ist mit vielen Photos von den 840 Getöteten geschmückt, die während der siebzehntägigen Massenkämpfe umkamen, die Mubarak in die Knie zwangen. Transparente fordern, die Verantwortlichen für diese Toten und für die Korruption und das Missmanagement der 30 Jahre der Mubarak-Diktatur zu bestrafen.

Einige Transparente lauteten: "Die ägyptische Revolution ist noch nicht vorbei" und forderten "jetzt, und nicht später" eine neue Verfassung und die Bildung eines zivilen Präsidentschaftsrates, der die Wahlen ausrichten solle. Er soll den Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF) ersetzen, der seit Mubaraks Rücktritt am 11. Februar das Land beherrscht.

Andere Transparente forderten demokratische Reformen wie eine freie und unzensierte Presse, die Entlassung korrupter Beamter, darunter Gouverneure und Universitätsrektoren, und ein Ende der Prozesse gegen Zivilisten vor Militärtribunalen. Auch wirtschaftliche Forderungen z.B. nach einem Mindestlohn und einem höheren Lebensstandard für Arbeiter wurden laut.

Am späten Nachmittag war die Menge auf dem Tahrir Platz laut Angaben ägyptischer Medien auf weit über 100.000 Menschen angeschwollen. Sie scharte sich um vier Bühnen, wo Redner zu unterschiedlichen politischen Themen sprachen.

Die Redner unterschieden sich hauptsächlich in ihrer Haltung zu einer zweiten Revolution und der weiteren Besetzung des Tahrir-Platzes nach dem Ende der Kundgebung. Die meisten Vertreter liberaler Organisationen und Jugendgruppen, wie die Kafeya-Bewegung für Wandel, die Nationale Vereinigung für den Wandel des ehemaligen UN-Funktionärs Mohammed ElBaradei, die Jugendbewegung des 6. April, die Jugendkoalition für die Revolution, die Partei Demokratische Front und die Sozialdemokratische Partei Ägyptens forderten die Menge auf, sich zur vorgesehenen Zeit um 18 Uhr zu zerstreuen, und versprachen für nächsten Freitag eine weitere Kundgebung, falls der herrschende SCAF keine deutliche Kursänderung vollziehe.

Auch in der zweitgrößten Stadt Ägyptens, Alexandria, in Suez, Port Said und Ismailia, den wichtigsten Städten entlang dem Suezkanal, und in vielen anderen größeren und kleineren Städten, darunter in Fayum und Mansura im Nildelta und in Luxor und Assuan im Süden demonstrierten Zehntausende.

Die Demonstrationen wurden vom Militärrat, der durchgängig von alten Mubarak-Spezies besetzt ist, misstrauisch beäugt. Der SCAF warnte in einer Erklärung, dass "verdächtige Elemente versuchten, zwischen dem ägyptischen Volk und den Streitkräften Zwietracht zu säen".

Der Rat teilte mit, dass sich militärische Einheiten von den Veranstaltungsorten der Proteste fernhalten würden. Das weist darauf hin, dass sich die Junta gegenwärtig zu schwach für eine direkte Konfrontation und Unterdrückung fühlt. Einige Demonstranten äußerten gegenüber der Presse den Verdacht, die Erklärung der Armee sei eine Einladung an zivile Pro-Mubarak Schläger, die Kundgebungen anzugreifen.

Auf dem Tahrir Platz gab es mehrere kleine Scharmützel mit Ganoven, die den Protest zu stören versuchten, aber von den Veranstaltern aufgestellte Volkskomitees konnten diese Angriffe ohne große Probleme zurückschlagen.

Mehr als auf direkte Unterdrückung stützen sich die Militärs im Moment auf bürgerliche Kräfte wie die Muslimbruderschaft und die liberalen Gruppen, sowie die Gewerkschaften und die pseudolinken Gruppen, um die Massenbewegung von einer echten Bedrohung der herrschenden Elite Ägyptens abzuhalten.

Die Muslimbruderschaft hatte sich in der Bewegung zum Sturz Mubaraks deutlich zurückgehalten. Nur ihre Jugendorganisation spielte in dem Kampf eine aktive Rolle. Vor den Protesten vom Freitag trat die Islamistengruppe aber mit einer Erklärung hervor, dass sie die Demonstrationen ablehne. Sie kritisierte "kommunistische und säkulare" Kräfte".

Die Gruppe äußerte ihre " große Sorge" über die Proteste und fragte: "Über was sind die Menschen jetzt zornig?" Die Erklärung fuhr dann mit der Bemerkung fort, der Protest könne "sich nur gegen das Volk selbst oder gegen die Armee richten". Ein Sprecher der Muslimbruderschaft sagte zu Al-Dschasira, die Gruppe sei gegen die Ersetzung des Militärrats durch einen zivilen Rat.

Die Muslimbruderschaft hat sich mit ihrer Entscheidung, gegen die Demonstration und für die Unterstützung des Militärrats aufzutreten, nur wenige Freunde gemacht. Demonstranten riefen: "Die Revolutionäre sind hier, wo ist die Bruderschaft?" und andere Parolen, die auf die Abwesenheit der islamistischen Gruppe hinwiesen.

Der ehemalige Parlamentsabgeordnete der Bruderschaft, Sobhi Saleh, verurteilte die Demonstration in einem Interview mit der ägyptischen Zeitung Al-Ahram und erklärte, dass die Muslimbruderschaft und der Militärrat ein "Abkommen über den weiteren Gang der Ereignisse in Ägypten geschlossen" hätten. Er behauptete, dass "der SCAF eine historische und rühmliche Entscheidung getroffen hat, als er sich entschied, die Revolution zu verteidigen".

Hier wird die Geschichte umgeschrieben im Sinne nicht nur der ägyptischen Rechten, sondern auch der imperialistischen Mächte und der liberalen und pseudolinken Organisationen, die alle behaupten, das Militär habe ein Blutbad verhindert, als es Mubarak aus dem Amt drängte.

Zwischenzeitlich hat das Militärregime vier Aktivisten festgesetzt, weil sie Plakate angeschlagen hatten, auf denen zu der Demonstration vom Freitag aufgerufen wurde. Zu ihnen gehörte der Graffiti-Künstler Mohamed Fahmy, der Filmregisseur Aida al-Kashef, der Musiker Abdel Rahman Amin und das Mitglied der Jugendbewegung des 6. April, Ibrahim Abd. Sie wurden von der Militärpolizei festgenommen, später aber wieder freigelassen.

Der SCAF versuchte den Protesten vom Freitag mit einigen kosmetischen Gesten die Spitze zu nehmen, die den Zorn der Bevölkerung abmildern sollen, aber Macht und Reichtum der herrschenden Elite - zu der auch die Militärführung gehört - unangetastet lassen.

Am Mittwoch gab das Regime bekannt, es werde am Wochenende den Grenzübergang Rafah zum Gazastreifen dauerhaft öffnen und dadurch die höchst unpopuläre Zusammenarbeit mit Israel bei der Blockade Gazas beenden, wo 1,5 Millionen Palästinenser leben. Der SCAF führte offizielle Gespräche mit der in Gaza regierenden Hamas und vermittelte das Abkommen zwischen Hamas und Fatah für eine gemeinsame palästinensische Regierung.

Am Dienstag gab der ägyptische Generalstaatsanwalt bekannt, dass Mubarak wegen Verschwörung zur Ermordung von Demonstranten während der Bewegung gegen seine Diktatur angeklagt werde. Dieses Verbrechen könnte mit dem Tode bestraft werden. Außerdem werden Korruptionsvorwürfe wegen seiner Strandvilla in Scharm el-Scheich gegen ihn erhoben und wegen Beihilfe zur Veruntreuung öffentlicher Mittel in Höhe von 174 Millionen Dollar im Zusammenhang mit Gasverkäufen an Israel.

Mubarak wird angeklagt, sich mit Innenminister Habib Adli verschworen zu haben, Demonstranten zu töten, und "einige Polizisten angehalten zu haben, ihre Waffen auf die Opfer abzufeuern, sie zu erschießen und mit Fahrzeugen zu überrollen, um einige zu töten und die anderen einzuschüchtern und dazu zu bringen, ihre Forderungen aufzugeben."

Nach den Freitagsprotesten sagten Demonstranten der Presse, die Anklage gegen Mubarak werde nur erhoben, um weitere Proteste zu unterlaufen. Sie äußerten sich skeptisch, dass der jetzt 82-jährige gestürzte Diktator je vor Gericht erscheinen werde.

Andere in den letzten Wochen vom Militär veranlasste Maßnahmen umfassen: die Entlassung von zehn von Mubarak ernannten Provinzgouverneuren, die Festnahme Mubaraks und seiner beiden Söhne, die Auflösung seiner Nationaldemokratischen Partei, die Anklageerhebung wegen Korruption gegen Ex-Premierminister Ahmed Nazif und andere hohe Staatsvertreter und die Entfernung von Mubaraks Namen von Hunderten öffentlichen Gebäuden und Institutionen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 31.05.2011
Massenproteste verlangen "zweite Revolution" in Ägypten
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2011