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GLEICHHEIT/3817: Türkischer Angriff auf Kurden im Irak - Vorbote neuer regionaler Konflikte


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Türkischer Angriff auf Kurden im Irak: Vorbote neuer regionaler Konflikte

von Jean Shaoul
1. September 2011


In den Tagen vom 17. bis zum 22. August drangen türkische Kampfjets in den irakischen Luftraum ein und setzten die Autonome Region Kurdistan einem intensiven Bombardement aus. Sie griffen 349 Ziele an, töteten mindestens hundert Menschen und verwundeten viele weitere schwer.

Die Bomben fielen auf die Gebirgsregion Kandil, Avasin-Basyan, Zap und Metina im Nordirak. Laut einer Erklärung der Armee sollen die Angriffe weiter fortgesetzt werden, um vermutete militärische Stützpunkte der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu vernichten. Die Türkei beschuldigt die PKK, von hier aus Angriffe auf türkisches Gebiet zu führen.

Die PKK strebt nach einem autonomen kurdischen Staat; sie will größere kulturelle und politische Rechte für die Kurden erreichen, die im Südosten der Türkei und in den Grenzgebieten zu Syrien, dem Iran und dem Irak beheimatet sind. In all diesen Ländern leben bedeutende kurdische Minderheiten. Im vergangenen Februar beendete die PKK ihren einseitigen Waffenstillstand mit der türkischen Regierung. Vor dem Waffenstillstand hatte dreißig Jahre lang ein Konflikt gewütet, in welchem mindestens 44.000 Menschen getötet worden waren. Sowohl die Türkei als auch die USA bezeichnen die PKK als terroristische Vereinigung.

Armeesprecher sagten: "Der Norden des Irak und das Landesinnere werden strengstens überwacht, um alle separatistischen Terroraktionen zu unterbinden. (...) Die Luft-und Landoperationen werden so lange fortgesetzt, bis die Terroristen beseitigt sind."

Die Armee behauptet, im Irak befänden sich bis zu zweitausend PKK-Kämpfer.

Die Opferzahlen aus kurdischen Quellen weichen von den türkischen ab. Ahmed Denis, ein PKK-Sprecher, bestätigte, dass drei ihrer Kämpfer bei Angriffen in der Dohuk-Provinz getötet worden seien. Falls die Türkei ihre Angriffe fortsetze, werde die PKK "in den Krieg gegen die Türkei ziehen", ergänzte er.

Die türkischen Luftschläge, die ersten seit 2010, sind die Antwort auf eine Reihe von Angriffen in den osttürkischen Provinzen, bei denen im Juli vierzig Soldaten getötet worden waren. Auch im Südosten der Türkei fand ein Attentat statt. Dabei kamen elf Soldaten und ein Angehöriger der regionalen Bürgerwehr ums Leben, als sie sich in einem Militärkonvoi bewegten. Obwohl die PKK sich zu den Angriffen nicht bekannte, erklärte der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan, seine Regierung habe "keine Geduld mehr", und die an den Morden Verantwortlichen würden "einen hohen Preis zahlen".

Die regierungsfreundliche Tageszeitung Zaman berief sich auf "glaubwürdige Quellen" in Ankara und teilte mit, dass die Türkei "operative Frontgarnisonen" im Nordirak errichten werde. Diese sollen den wirkungslosen Geheimdienst ersetzen, der die kurdischen Aktivitäten beobachtet. Die Zahl von 2.500 türkischen Soldaten, die ohne Genehmigung der irakischen Regierung seit fünfzehn Jahren im Irak stationiert sind, sollen jetzt erhöht werden. Aus der Tatsache, dass die Weltpresse über die türkischen Luftschläge auf irakischem Gebiet verhältnismäßig wenig berichtet, ist zu schließen, dass diese wohl mit Washingtons Einverständnis erfolgt sind.

Neue türkische Basen hätten den Vorteil, dass ein größerer Einsatz von Soldaten und Spezialeinheiten rascher erfolgen und von Fliegerschutz und Luftschlägen begleitet werden könnte. Gemäß Zaman bemüht sich die Regierung um eine parlamentarische Mehrheit, um auf unbestimmte Zeit solche grenzübergreifenden Operationen zu führen. Damit kündigt sich ein Totalangriff auf die kurdische autonome Region im Irak an.

Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass Ankara seine bisherige Politik der Zusammenarbeit mit den Kurden aufgegeben hat. Während des Wahlkampfes im Jahr 2007 gestand Erdogan ein, dass in der Vergangenheit Unrecht an Kurden begangenen worden sei, und erklärte: "Das Kurdenproblem ist mein Problem." Er bewies sein Entgegenkommen schließlich durch mehrere Zugeständnisse an die Kurden, wie zum Beispiel einen Fernsehkanal in kurdischer Sprache, welcher der achtzigjährigen Unterdrückung der kurdischen Sprache ein Ende setzte.

Die Türkei ist trotz starken wirtschaftlichen Wachstums in den vergangenen Jahren durch tiefe Gegensätze zerrissen. So hat sich besonders der Kontrast zwischen dem industrialisierten Westen und dem agrarischen und unterentwickelten Osten vertieft, wo zwanzig Millionen türkische Kurden leben. Die kurdische Region ist nicht nur äußerst arm, es herrscht dort auch eine strenge Zensur der kurdischen Presse. Journalisten und Politiker sind Ziel unaufhörlicher Verfolgung durch Polizei und Justiz. Hunderte kurdischer Aktivisten schmachten im Gefängnis. Im vergangenen Juni durften kurdische Kandidaten nach einer ausgedehnten Kampagne erstmals an den Wahlen teilnehmen, wurden aber nach der Wahl wieder vom Parlament ausgeschlossen.

Im Anschluss an die revolutionäre Entwicklung in Tunesien und Ägypten kam es im ganzen Kurdengebiet wieder zu Demonstrationen und Protesten. Kurden errichteten Zeltstädte in Istanbul, Izmir und im Südosten der Türkei. Auch in den kurdischen Regionen im Irak, Iran und Syrien gingen Kurden auf die Straße. Als die Situation sich zuspitzte, setzte die türkische Regierung Tränengas und Soldaten ein, um die Demonstrationen aufzulösen. Zahlreiche Demonstranten wurden getötet, und die türkisch-kurdischen Beziehungen verschlechterten sich aufs Äußerste.

Die angespannten Beziehungen der Regierung in Ankara zur kurdischen Minderheit beeinträchtigen auch die Beziehungen zu anderen Regierungen in der Region. Die vielgerühmte Politik guter nachbarschaftlicher Beziehungen, der die Türkei ihren wachsenden Einfluss in der Region verdankt, drohte zu entgleisen.

Die türkische Regierung warf dem Präsidenten der kurdischen Regionalregierung im Irak, Massoud Barzani, und den US-geführten alliierten Streitkräften immer wieder vor, nicht genügend zu unternehmen, um die Aktivitäten der PKK zu unterdrücken und sie von ihren Stützpunkten im nordirakischen Gebirge zu vertreiben.

Der Irak verurteilte die türkischen Luftschläge. Die irakische Regierung unterstützt das angeschlagene Regime von Präsident Baschar Assad in Syrien; erst kürzlich hat Bagdad mit Teheran und Damaskus ein mehrere Milliarden Dollar umfassendes Abkommen über Gaslieferungen an Syrien unterzeichnet. Die irakische Regierung, in der Schiiten das Sagen haben, sah sich kürzlich vermehrten Angriffen sunnitischer Kämpfer ausgesetzt. Sie wird wahrscheinlich versuchen, das Bündnis zwischen Schiiten und Kurden zu verstärken.

Kurdische Regierungsbeamte im Nordirak reagierten empört auf die Angriffe und wiesen darauf hin, dass der türkische Beschuss vorsätzlich Zivilisten gefährde. So sei eine siebenköpfige Familie, die im Auto unterwegs war, getroffen worden. Kardo Mohammed, ein Mitglied des kurdischen Parlaments im Irak, nannte die Bombenattacke eine Verletzung internationaler Konventionen. Damit seien die "freundschaftlichen Grundlagen" und Vereinbarungen zwischen den beiden Staaten übertreten worden.

Mohammed sagte der Nachrichtenagentur Reuters: "Der Mord an einer siebenköpfigen Familie mit mehreren Kindern zeigt, dass das türkische Bombardement hauptsächlich Zivilisten galt."

"Wir glauben nicht, dass die Kampfflieger nicht zwischen Zivilisten und Militär oder einem Kind und einem Kämpfer, der ein Gewehr trägt, unterscheiden können", ergänzte er.

Die Türkei behauptet, der israelische Geheimdienst, der seit langem im kurdischen Irak tätig ist, schüre dort bewusst den vorherrschenden Unmut gegen Ankara. Seit Israels Militärschlag in Gaza 2008-2009 und der Tötung von neun türkischen Zivilisten, die sich im Mai vergangenen Jahres auf dem Mavi Marmara-Hilfsgütertransport nach Gaza befanden, verschlechtern sich die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei immer mehr.

Den türkischen Luftschlägen ging ein iranisches Bombardement im Nordirak voran. Nahe der iranischen Grenze wurden Lager und Kämpfer der Kurdischen Partei für ein freies Leben Kurdistans (PJAK), einer seit dem Jahr 2004 existierenden Splittergruppe der PKK, angegriffen.

Es ist nicht anders denkbar, als dass die USA den Bombenangriffen zugestimmt haben. Das iranische Bombardement konnte nur mit Erlaubnis, wenn nicht gar in Kooperation mit den im Irak stationierten amerikanischen Streitkräften erfolgen. Wahrscheinlich war es eine Gegenleistung dafür, dass die Anschläge schiitischer Kämpfer auf im Irak stationierte US-Soldaten nachgelassen haben. Zumindest war es eine Ermahnung an die Regierung der autonomen kurdischen Region, ihre Kämpfer zu zügeln und sie davon abzuhalten, Ziele in der Türkei und im Iran anzugreifen.

Gleichzeitig war die Intervention des Iran ein Signal an die Türkei, seine Kritik an ihrem Verbündeten, dem Assad-Regime in Syrien, und seine Unterstützung syrischer Oppositioneller aufzugeben. Ankara wurde deutlich gemacht, dass ein Eingreifen in Syrien von Teheran mit einer Destabilisierung der türkisch-kurdischen Beziehungen beantwortet würde. Der jetzigen Machtdemonstration Teherans ging zu Beginn dieses Jahres die Stationierung von iranischen Marineschiffen an syrischen Häfen voraus.

Ebenso verschlechtern sich die türkisch-syrischen Beziehungen, da die politischen Unruhen im kurdischen Nordosten Syriens wieder einmal dazu führten, dass die PKK dieses Gebiet als Stützpunkt für ihre Operationen gegen die Türkei nutzen kann. Zu Beginn des Jahres stießen türkische Einheiten auf PKK-Kämpfer, deren Waffenlager aus Syrien stammten.

Sehr zur Verstimmung von Damaskus war die Türkei Gastgeber zahlreicher Versammlungen syrischer Oppositionsgruppen. Aus der Befürchtung, die Unruhen in Syrien könnten auf die Türkei übergreifen und die Südtürkei einem Flüchtlingsstrom aussetzen, fordert die Regierung in Ankara den Ministerpräsidenten Assad auf, seinen Gewalteinsatz gegen die Protestbewegung aufzugeben und Reformen einzuleiten.

Im Jahr 1998 stand die Türkei kurz vor einem militärischen Angriff auf Syrien, das den damaligen PKK-Führer Abdullah Öcalan unterstütze, der terroristische Angriffe in der Türkei ausführen ließ.

Damals drohte die Möglichkeit, die Türkei könne in Syrien einmarschieren, und - mit oder ohne Nato-Unterstützung und mit finanzieller Hilfe der sunnitischen Golfmonarchien - Assad stürzen. Da drohte Teheran wütend mit Militäraktionen gegen Ankara.

Die Türkei ist außerdem damit konfrontiert, dass der fast vierzigjährige Konflikt um Zypern erneut aufflammen könnte. Kürzlich begannen die Zyprioten mit der Ausbeutung ihrer südmediterranen Öl- und Gasvorkommen. Die Regierung in Ankara drohte, militärisch zu intervenieren, falls die Bohrungen fortgesetzt würden, ohne dass der türkisch-zypriotischen Bourgeoisie eine Gewinnbeteiligung sichergestellt werde.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 01.09.2011
Türkischer Angriff auf Kurden im Irak: Vorbote neuer regionaler Konflikte
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2011