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GLEICHHEIT/3930: Arbeitslosenzahlen in Deutschland - Schein und Wirklichkeit


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Arbeitslosenzahlen in Deutschland: Schein und Wirklichkeit

Von Dietmar Henning
11. November 2011


In der letzten Woche meldete die Bundesagentur für Arbeit (BA) erneut einen Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland. Mit der sozialen Realität haben diese Zahlen allerdings wenig zu tun.

Mit 2,7 Millionen gab es im Oktober laut Statistik 59.000 Arbeitslose weniger als im September und 204.000 weniger als vor einem Jahr. Das ist der niedrigste Stand in einem Oktober seit 1991. Die Arbeitslosenquote lag bei 6,5 Prozent.

Politik und Wirtschaft begrüßten die "erfreulichen Zahlen", sind diese doch das beste Argument für die von der Bundesregierung beschlossene Kürzung der Mittel für Langzeitarbeitslose. Bereits im laufenden Jahr sind die Fördermittel für Qualifizierung und Förderung Langzeitarbeitsloser um 20 Prozent reduziert worden; für nächstes Jahr ist eine weitere Kürzung in mindestens gleicher Höhe geplant.

Doch die offiziellen Arbeitslosenzahlen geben noch nicht einmal ein ungefähres Bild der sozialen Situation in Deutschland wieder.

Zunächst einmal musste die Bundesagentur zugestehen, dass es bei den saisonbereinigten Zahlen erstmals seit Februar 2010 wieder einen leichten Anstieg gab. Die Saisonbereinigung berücksichtigt, dass in bestimmten Monaten, etwa zum Jahreswechsel oder zum Beginn eines Ausbildungsjahres, die Arbeitslosigkeit in der Regel steigt, in anderen wiederum sinkt.

BA-Chef Frank-Jürgen Weise sagte denn auch bei der Präsentation der Zahlen: "Die Unsicherheit ist im Raum." So sei die Beschäftigung etwa im Verarbeitenden Gewerbe noch nicht wieder auf dem Vorkrisenstand. "Da fehlen noch 130.000 Beschäftigungsmöglichkeiten", sagte er. Auch erwarte er im kommenden Jahr ein erneutes Ansteigen der Arbeitslosigkeit. Erstmals seit zwei Jahren ist die Produktion in Deutschland im Oktober wieder geschrumpft.

Ein genauerer Blick in die Statistiken der BA belegt zudem, dass weit über eine Million Arbeitslose aus der offiziellen Arbeitslosenzahl herausfallen. 376.000 Arbeitslose, die älter als 58 Jahre sind, fehlen in der Statistik genauso wie die fast 190.000 Ein-Euro-Jobber. Auch 173.000 Menschen, die sich in beruflicher Weiterbildung befinden, und 147.000, die in Maßnahmen der "Aktivierung und beruflichen Eingliederung" stecken, gelten nicht als arbeitslos. Dasselbe gilt für die über 320.000 krankgemeldeten Arbeitslosen.

Zu den offiziellen Arbeitslosenzahlen muss man außerdem jene hinzurechnen, die aufgrund einer "kurzzeitigen Leistungsunterbrechung" aus der Statistik verschwinden. Aktuelle Zahlen liegen nur für den Monat Juni vor. In diesem Monat wurden 317.000 Arbeitslosen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung (ALG I) oder der Grundsicherung (ALG II) vorenthalten. Die Betroffenen sind Opfer der vielfach dokumentierten Schikanen der Arbeitsagenturen und Jobcenter. Meist werden sie wegen Nichteinhaltung eines Meldetermins, dem fehlenden Nachweis von Bewerbungsschreiben oder anderen Geringfügigkeiten sanktioniert.

Die Zahl der Sanktionen ist 2010 gegenüber 2009 bundesweit um 14 Prozent gestiegen. Im laufenden Jahr erwartet die BA fast eine Million Sanktionen. Sie treffen junge Arbeitslose unter 25 Jahre besonders häufig und rigoros. Ihnen kann der gesamte Lebensunterhalt und teilweise sogar die Mietzahlung gestrichen werden. Jeder zehnte junge Arbeitslose hat mindestens eine Sanktion erhalten. In der Statistik wirken sich die Schikanen positiv aus: Je mehr Sanktionen, desto weniger offizielle Arbeitslose.

Nur mit diesen statistischen Tricks und Finessen gelangt die Bundesagentur zu den im internationalen Vergleich relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen. Legt man die Zahl der Leistungsbezieher zugrunde, gelangt man auf noch höhere Zahlen, wobei auch hier die Arbeitslosen, die keine staatliche Leistung erhalten, nicht einbezogen sind.

Nach einer vorläufigen Hochrechnung der BA bezogen im Oktober über 5,1 Millionen Erwerbsfähige im Alter von 15 bis 65 Jahren Arbeitslosengeld I oder II. Im Juni 2011 galten aber nur 43 Prozent (oder 1,99 Millionen) der 4,65 Millionen ALG-II-Empfänger als arbeitslos.

Viele dieser Leistungsbezieher haben tatsächlich eine Arbeit, aber ihr Einkommen ist derart gering, dass sie auf "aufstockende Leistungen" angewiesen sind, um auf den Hartz-IV-Satz zu kommen. Bei diesen 1,4 Millionen "Aufstockern" handelt es sich um 679.000 geringfügig Beschäftigte oder Minijobber, die höchstens 400 Euro im Monat verdienen, um 230.000 Teilzeitbeschäftigte und um 320.000 Vollzeitbeschäftigte, die trotz 40-Stundenwoche weniger als den Hartz-IV-Satz verdienen.

Wie niedrig der Hartz-IV-Satz ist, ergibt sich ebenfalls aus den Angaben der BA. Im Juni 2011 lebten 6,2 Millionen Menschen in 3,4 Millionen Familien (Bedarfsgemeinschaften), die Hartz-IV-Leistungen erhielten. Eine durchschnittliche Bedarfsgemeinschaft mit 1,9 Personen erhielt 672 Euro an Geldleistungen aus der Grundsicherung. Rechnet man die Sozialversicherungsbeiträge bzw. -zuschüsse und die einmaligen Leistungen hinzu, erhielt eine Bedarfsgemeinschaft im Durchschnitt 806 Euro ausgezahlt. Dabei variierten die Zahlungen deutlich, von durchschnittlich 693 Euro für eine alleinstehende Person (inklusive Sozialversicherungsbeiträge und Einmalzahlungen) bis 1.331 Euro für eine Bedarfsgemeinschaft mit fünf und mehr Personen.

Auch "Erfolgsmeldungen", dass junge Menschen ausreichend mit Ausbildungs- und Arbeitsplätzen versorgt seien, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als Zahlen-Trickserei.

So verkündete die Bundesagentur für Arbeit am Montag gemeinsam mit den Unternehmen und der Bundesregierung, Ende September habe es noch knapp 30.000 unbesetzte Lehrstellen gegeben, aber nur noch 12.000 Lehrstellen suchende Jugendliche. Sinkende Bewerberzahlen stünden einem Anstieg des Lehrstellenangebots gegenüber.

Der DGB hat nachgewiesen, dass die Zahl der unversorgten Bewerber in Wirklichkeit 76.800 beträgt, weil Regierung und Wirtschaft 65.200 Jugendliche als versorgt zählen, "die sich mit Bewerbungstrainings, Einstiegsqualifizierungen und Praktika über Wasser halten".

Doch auch der DGB ignorierte die Jugendlichen, die in zahlreichen Maßnahmen geparkt sind. Bis zu 350.000 Jugendliche finden in der gesamten Bundesrepublik jedes Jahr keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und werden in Beschäftigungsmaßnahmen öffentlicher Träger verschoben.

Der Bildungsexperte Professor Dieter Münk von der Universität Duisburg-Essen hat herausgefunden, dass rund 60 Prozent der betroffenen Jugendlichen auch nach 30 Monaten Verweildauer in Beschäftigungsmaßnahmen keinen regulären Arbeitsplatz haben.

Ein hoher Prozentsatz derjenigen, die durch diese Beschäftigungsmaßnahmen aus den Arbeitslosenstatistiken verschwinden, sind Jugendliche mit Migrationshintergrund oder junge Frauen. Münk bezeichnet diese Jugendlichen als "Reservearmee aus Benachteiligten für den Arbeitsmarkt". Diese jungen Männer und Frauen sind schließlich gezwungen, jeden noch so niedrig bezahlten Job anzunehmen.

So verwundert es nicht, dass die Zahl der Niedriglöhner in Deutschland stetig wächst. Laut einer Studie, die das Forschungsunternehmen Prognos AG im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt hat, verdienen 1,2 Millionen Menschen weniger als 5 Euro und 5 Millionen Menschen weniger als 8,50 Euro brutto pro Stunde. 8,50 Euro fordern die Gewerkschaften als Mindestlohn.

Fasst man den Niedriglohn nach internationalen wissenschaftlichen Maßstäben (weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns), dann arbeitet in Deutschland fast jeder vierte Vollzeitbeschäftigte (22,8 Prozent) zu einem Niedriglohn, wie die BA in ihrem Jahresbericht 2010 ebenfalls mitteilt. Das sind rund 9,4 Millionen Beschäftigte. Die Niedriglohnschwelle liegt derzeit in Ostdeutschland bei 1.379 Euro brutto und in Westdeutschland bei 1.890 Euro.

Insbesondere das Gastgewerbe und private Haushalte sind davon betroffen. In diesen Bereichen arbeiten drei von vier Vollzeitangestellten zu Löhnen unterhalb der Niedriglohngrenze. Frauen und Jugendliche unter 25 Jahren sind besonders betroffen. Mehr als jede dritte Frau und nahezu jeder zweite junge Beschäftigte, Auszubildende nicht eingerechnet, arbeiten in Vollzeit unterhalb der Niedriglohnschwelle. In absoluten Zahlen sind das 715.000 Jugendliche und fast 2,6 Millionen Frauen.

Die offizielle Zahl der armen Menschen in Deutschland wächst daher stetig. Im Jahr 2009 waren laut Statistischem Bundesamt rund 12,6 Millionen Menschen arm. Am stärksten von Armut betroffen sind Arbeitslose und Alleinerziehende. Den 12,6 Millionen Armen steht ein privates Geldvermögen von rund fünf Billionen Euro gegenüber.

Das Anwachsen der Armut in Deutschland geht maßgeblich auf die Politik der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) zurück, die 1998 den größten Sozialabbau in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einleitete. Hohe Arbeitslosigkeit, ein rasant wachsender Niedriglohnsektor und Sozialkürzungen haben eine soziale Katastrophe in Gang gesetzt, die sich in der jetzigen Krise weiter vertiefen wird. Die offiziellen Statistiken versuchen dies zu verschleiern und zu beschönigen. Aber anders als Statistiken kann man die realen Erfahrungen von Millionen Menschen nicht verfälschen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 11.11.2011
Arbeitslosenzahlen in Deutschland: Schein und Wirklichkeit
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2011