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GLEICHHEIT/4482: "Cloud Atlas" - Sechs Geschichten auf der Suche nach einer wirklichen Verbindung


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

"Cloud Atlas" - Sechs Geschichten auf der Suche nach einer wirklichen Verbindung

Von David Walsh
15. November 2012



Buch und Regie Tom Tykwer, Andy Wachowski, Lana Wachowski, nach einem Roman von David Mitchell.


Der deutsche Regisseur Tom Tykwer (Lola rennt, Heaven) und die US-Amerikaner Andy und Lana Wachowski, verantwortlich für die Matrix-Filme, haben zusammengearbeitet, um David Mitchells Roman Cloud Atlas (dt. Wolkenatlas) aus dem Jahr 2004 auf die Leinwand zu bringen.

Sechs Geschichten, die zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten spielen, bilden sowohl Buch als auch Film.

Im Jahr 1849 reist ein amerikanischer Notar, Adam Ewing (Jim Sturgess), zu den Chatham Islands im pazifischen Ozean, um ein Geschäft abzuschließen. An Bord zurückgekehrt wird Ewing Opfer eines habsüchtigen Arztes, der glaubt einen Schatz in Ewings Gepäck zu finden. Ein Sklave, dessen Auspeitschung Ewing beobachtet hatte, wird als blinder Passagier entdeckt.

Mitte der 1930er Jahre findet ein am Hungertuch nagender englischer Komponist, Robert Frobisher (Ben Whishaw), eine Stellung als Assistent (und etwas unbeabsichtigt als Mitarbeiter) eines legendären, kränkelnden Komponisten, der nunmehr in Belgien lebt. Frobisher arbeitet an der Komposition seines eigenen Stücks, des Cloud Atlas Sextett.

Eine rätselvolle Verschwörungsgeschichte spielt 1973 in San Francisco. Die Boulevardjournalistin Luisa Rey (Halle Berry) stolpert über Informationen, die nahelegen, dass ein Atomreaktor, den ein Großkonzern errichten will, mangelhaft sei und eine Gefahr für die Bevölkerung darstellen könnte. Der Konzern organisiert verschiedene Anschläge auf ihr Leben.

Im London der Gegenwart gerät Timothy Cavendish (Jim Broadbent), Verleger eines Dienstleisterverlags, in Schwierigkeiten wegen eines bei ihm publizierenden verhafteten kriminellen Autors und flieht in einen Schlupfwinkel, den ihm sein Bruder empfahl. Zu seinem Entsetzen stellt Cavendish fest, dass es sich um ein Altenheim handelt, in dem er sich als Gefangener wiederfindet.

Im Neu-Seoul des Jahres 2144 wird Sonmi-451 (Doona Bae), ein weiblicher Dienstleistungsklon in einer alptraumhaften Fastfood-Absteige, vor ihrer Exekution verhört. Sie lässt ihre Geschichte, ihr wachsendes Gewahrwerden und ihre schließliche Rebellion gegen die totalitäre "Korpokratie" des 22. Jahrhunderts Revue passieren.

Auf einer hawaiianischen Insel in ferner nach-apokalyptischer Zukunft, einige Jahrzehnte nach dem "Fall" (vermutlich eine Selbstzerstörung der Zivilisation), leben Zachry (Tom Hanks) und der Rest seiner Gemeinschaft unter primitiven Bedingungen. Er assistiert einem weiblichen Mitglied der Überlebendengruppe technologisch fortgeschrittener Erdbewohner, das Kontakt mit anderen Überlebenden aufnehmen will.

Die anscheinend nicht zueinander passenden Stränge der Geschichte sind auf verschiedene Weisen miteinander verbunden. Jede einzelne findet einen literarisch-künstlerischen Widerschein in der auf sie folgenden Geschichte: beispielsweise findet und liest der Komponist Frobisher (wenig plausibel) den "Pazifikreisebericht von Adam Ewing" während des Aufenthaltes in seinem belgischen Chateau; Luisa Rey fallen Frobishers Liebesbriefe in die Hand, während sie das Atomreaktorkomplott untersucht; der Verleger Cavendish erhält des Manuskript "Luisa Reys erstes Rätsel" zugesandt, und so weiter und so fort.

Die Figuren sind außerdem auf eine andere Weise miteinander verbunden: dieselbe Gruppe Schauspieler (Hanks, Berry, Broadbent, Bae, Sturgess, Whishaw, Hugo Weaving, Hugh Grant, Susan Sarandon, Keith David, James D'Arcy und andere), beziehungsweise ein Teil von ihnen, tritt in jedem Teilstück auf.

Darüber hinaus haben alle Hauptfiguren maschinengestanzte Muttermale. Noch deutlicher ist, dass jede der Figuren sich in verschiedenen Formen Willkür und Raubgier ausgesetzt sieht. Sie alle müssen die Wahl treffen, ob sie Widerstand leisten, sich anpassen oder der repressiven Gewalt aus dem Weg gehen.

Ewing ist Augenzeuge von Barbarei: sowohl derjenigen, welche die europäischen "Zivilisationsbringer" im Pazifik verüben, als auch derjenigen, welche die Maoris gegen das friedliche Moriori-Volk begehen. Doktor Goose (Hanks), ein brutaler Betrüger, der ihm erzählt, ein tropischer Parasit würde sein Gehirn zerfressen, stellt ihm nach.

Frobisher und sein Gastgeber, der Komponist Vyvyan Ayrs (Broadbent) sind beide selbstbezogene Egoisten, anscheinend zufrieden damit, voneinander zu zehren und sich gegenseitig auszunutzen. Ayrs versucht, Frobisher in Geiselhaft zu nehmen um sich die Urheberschaft von dessen Komposition anzumaßen.

Luisa, die Tochter eines Investigativjournalisten, muss sich entscheiden, ob sie mit ihrer Recherche über ein großangelegtes, mit der Politik verstricktes Konglomerat fortfahren und ihr Leben riskieren soll.

In der einzigen halbwegs komischen Sequenz des Films schließt sich Cavendish, der unter der teuflischen Krankenschwester Noakes (Weaving) zu leiden hat, einem Plan an, gemeinsam mit anderen älteren Mitinsassen aus dem Altersheim auszubrechen.

Sonmi, der "Fabrikenten"-Klon, ist das am meisten unterdrückte aller Geschöpfe und zu einer sklavenmäßigen Existenz während ihres zwölfjährigen Dienstes für die Papa Song Corp verurteilt. Als ihr Bewusstsein sich weitet, muss auch sie Entscheidungen über Leben und Tod fällen.

In der sechsten Geschichte leben Zachry und seine Gemeinschaft in permanenter Schreckensangst vor einem mörderischen marodierenden Stamm. Als die Besucherin Meronym (Berry) ihn um Hilfe bittet, muss er all seinen Mut aufbringen und den Dämon zurückweisen, der ihm feige Ratschläge ins Ohr flüstert.

Wenn dem Leser diese kurze Zusammenfassung von Cloud Atlas mühsam vorkommt, dann wird damit die Erfahrung des Films richtiggehend erfasst. Dies ist keine wesentlich dem Leben abgeschaute Arbeit, sondern eine, die sich in großen Zügen literarisch-akademischer Schemata bedient. Das Ergebnis ist zum Großteil ein träges und nicht überzeugendes Schauspiel.

Mitchell, der Autor des britischen Buches, ist in dem Sinne begabt, dass er wirksam und sogar wohlklingend Wort auf Wort und Bild auf Bild folgen lassen kann. Allerdings hat er dasselbe Problem wie auch viele andere zeitgenössische Romanautoren. Er ist zwar in der Lage, beispielsweise einen "Tour de Force"-Roman wie Wolkenatlas zu produzieren, inklusive authentisch klingendem Reisebericht aus dem 19. Jahrhundert sowie mehr oder weniger erfundener Sprachen und Kulturen der Zukunft, hat indessen aber nichts Wichtiges oder Originelles über das heutige Leben zu sagen. (Es ist möglicherweise kein Zufall, dass die in der Gegenwart spielende Geschichte [Cavendish-Broadbent] am wenigsten Gewicht aufbringt.) Sobald man sich ihnen nähert, erweisen sich selbst die Dialoge der verschiedenen Abschnitte der Buchversion als klischeehaft und meist vorhersagbar.

Der Autor scheint von verschiedenen nietzscheanischen und postmodernen Auffassungen fasziniert zu sein. Ebenso wie Nietzsche (der im Roman deutlicher präsent ist) ist Mitchell an Realgeschichte und an historischen Gesetzen desinteressiert und präferiert seine eigene halbmythologisierende Lesart der Geschichte der Menschen (und ihrer Zukunft). Für Nietzsche, der die Vorstellung der "ewigen Wiederkehr" propagierte, war die Geschichte zirkulär, wenn nicht gar bloß eine Konstruktion, die den unmittelbaren Bedürfnissen des "Lebens" dient. Neben der Faszination für die nicht enden wollende "Wiederkehr" hat auch die Grübelei des deutschen Philosophen über den "Willen zur Macht" eine hervorgehobene Stellung in Mitchells Werk.

Gewiss ist der Autor kein orthodoxer Nietzscheaner. Wenngleich er uns im nach-apokalyptischen Abschnitt seines Buches mitteilt, dass "ein Hunger in den Herzen, ein Hunger nach mehr" die Beinaheauslöschung über die Menschheit brachte, legt sein Roman nahe, dass dieser räuberische und begehrende Instinkt nicht als einziger in der Menschenbrust wohnt. Güte und Wohlwollen sind ebenso möglich. Außerdem haben individuelle Akte der Menschlichkeit ihre Konsequenzen (wie natürlich auch ihre Gegensätze), die sich ihren Weg durch die Zeit bahnen.

Mit anderen Worten: Wir haben die Wahl, ob wir in einer brutalen, ausbeutenden Welt leben wollen oder nicht. Im Roman trägt Ewing, der beschlossen hat, Abolitionist zu werden, in eines seiner letzten Tagebücher ein: "Wenn wir glauben, dass die Menschheit Zähne & Klauen transzendieren könne, wenn wir glauben, verschiedene Rassen und Glaubensbekenntnisse könnten diese Welt gemeinsam, (...) in Frieden (...) haben, wenn wir glauben, Führer müssten gerecht sein, die Gewalt erstickt, die Macht rechenschaftspflichtig & der Reichtum der Erde & ihrer Ozeane gerecht aufgeteilt, dann wird eine solche Welt verwirklicht werden."

Dies ist eine sehr dürftige und ungeeignete Substanz für ernsthafte Projekte, selbst für Romane oder Filme. Individuen bringen ihre eigenen "Wahrheiten" vor und fällen auf dieser Grundlage Entscheidungen. Tatsächlich gehört Mitchell zu derjenigen Sorte von Autoren, welche beifällige Kommentatoren dazu anregt, generell die Worte Realität, Wahrheit und Bedeutung in Anführungsstriche zu setzen. "Die Wahrheit ist einzigartig", wie eine der Figuren von Cloud Atlas suggeriert.

Natürlich, wenn Wahrheit bloß "einzigartig" und subjektiv ist und dem entspricht, wie wir die Welt sehen wollen, wie ist es dann möglich, dass sie auf unsere Freunde und Zeitgenossen Einfluss haben könnte, ganz zu schweigen von vollkommen Unbekannten, die künftige Jahrzehnte oder Jahrhunderte entfernt leben werden?

Jedenfalls ist Cloud Atlas kein künstlerischer Erfolg. Unter der Last, die ihm seine Macher auferlegen - vielleicht wegen widersprechender ideologischer Anliegen - scheitert der Film. Spontane, organisch erwachsende Momente sind selten und liegen weit auseinander. Jim Broadbent ist als unter Druck gesetzter Cavendish auf charakteristische Weise amüsant, Halle Berry ist als ehrgeizige und verängstigte Luisa Rey wirkungsvoll und Ben Wishaw kommt als selbstgefälliger und egozentrischer Künstler daher.

Indessen steht praktisch kein anhaltender Moment, keine kontinuierliche Handlung des Tykwer-Wachowski-Werks für sich selbst. Stattdessen besteht ihre Funktion (ein qualvolles Sich-Abmühen) darin, etwas Definitives über menschliche Grausamkeit, Mitleid, Vorherbestimmtheit, freien Willen und dergleichen zu beweisen. Das ungewollte Ergebnis ist schließlich, dass diese unterschiedlichen Momente, von denen so oder so keine Überzeugung ausgeht, dazu tendieren, einander zu entwerten. Dieser lange Film, der reichlich Zeit und Mühe verschlingt, gibt nur sehr wenig her.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 15.11.2012
"Cloud Atlas" - Sechs Geschichten auf der Suche nach einer wirklichen Verbindung
http://www.wsws.org/de/2012/nov2012/clou-n15.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2012