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GLEICHHEIT/5133: Das Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer geht weiter


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Das Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer geht weiter

Von Martin Kreickenbaum
17. Mai 2014



Mehr als 150 Flüchtlinge sind in den letzten drei Wochen beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren ums Leben gekommen.

Vor der griechischen Insel Samos in der Ägäis ertranken 22 Flüchtlinge, als ihr Boot kenterte, 10 weitere werden noch vermisst. Vor der Küste Libyens starben mindestens 36 Menschen, als der Rumpf ihres Bootes brach. Und vor der italienischen Insel Lampedusa wurden 18 Flüchtlinge tot aus dem Mittelmeer geborgen, sie stammen nach Angaben von Überlebenden aus einem Boot mit über 400 Flüchtlingen, von denen bislang nur 200 gerettet wurden.

In dem Boot, das vor Samos kenterte, befanden sich vermutlich 65 Insassen. Die griechische Küstenwache rettete 36 und fand an Bord 18 Leichen. Vier weitere Tote barg sie aus dem Wasser. Unter den Toten befinden sich drei Kinder und eine schwangere Frau. Die Überlebenden stammen aus Syrien, Eritrea und Somalia.

Kurze Zeit später rettete die griechische Küstenwache 24 weitere Flüchtlinge von einem anderen sinkenden Boot. 16 weitere griff sie auf der Insel Chios auf.

Ein halbes Jahr nach der Katastrophe von Lampedusa [1], bei der an einem einzigen Tag fast 400 Menschen ertranken, nehmen die Unglücke mit Flüchtlingsbooten im Seegebiet zwischen Libyen und Italien wieder drastisch zu, trotz der angeblich breit angelegten Überwachungsaktion der italienischen Küstenwache und Marine und der Europäischen Union. Allein in den letzten drei Wochen sind vor der Küste Libyens vermutlich mehr als 100 Flüchtlinge ertrunken.

Am 6. Mai rettete die libysche Grenzpolizei nach einem Unglück nahe der Küste 52 Migranten aus Mali, Kamerun, dem Senegal und Burkina Faso. 36 Flüchtlinge konnten sie nur noch tot bergen und 42 weitere werden vermisst. Bei einem weiteren Vorfall barg die libysche Küstenwache einen Somalier von einem Schiffswrack, der berichtete, 40 weitere Insassen seien ertrunken. Am 2. Mai holte sie 80 Eritreer, Somalier und Äthiopier von einem in Seenot geratenen Boot, für vier weitere Flüchtlinge kam die Hilfe jedoch zu spät. Die europäische Sprecherin des UNHCR, Carloota Sami, berichtete außerdem von einem weiteren verschollen Boot mit mehr als 40 Flüchtlingen aus Eritrea.

Die Überlebenden des Flüchtlingsbootes, das rund 160 Kilometer südlich der italienischen Insel Lampedusa kenterte, sind inzwischen in der sizilianischen Stadt Catania eingetroffen. "Es war die Hölle, man muss es mit eigenen Augen sehen, um die Tragödie zu verstehen", sagte Marineoffizier Romano. Die Rettungskräfte haben bislang 18 Leichen aus dem Wasser gezogen, für rund 200 vermisste Flüchtlingen kam die Hilfe wahrscheinlich zu spät.

Während die Rettungsaktionen noch andauern, entbrennt in der Europäischen Union neuer Streit darüber, wer für die Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Pakistan und dem afrikanischen Kontinent verantwortlich ist. Laut Angaben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex sind in den ersten vier Monaten des Jahres 42.000 Migranten an den EU-Außengrenzen aufgegriffen worden, mehr als dreimal so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

"Wir gehen davon aus, dass im Sommer sehr hohe Zahlen erreicht werden", warnte der stellvertretende Direktor von Frontex, Gil Arias-Fernandez, in Brüssel. Als Grund nannte er Konflikte wie in Syrien und die miserablen Lebensbedingungen in vielen afrikanischen Ländern.

In Süditalien sind in den ersten Monaten dieses Jahres insgesamt 36.000 Flüchtlinge an Land gekommen. Die Aufnahmelager auf Sizilien sind überfüllt, zum Teil werden Flüchtlinge in kurzfristig beschlagnahmte Lagerhallen oder auf Bauernhöfen eingewiesen und sich erst einmal selbst überlassen. In einem Fall wohnen sie in einer leergeräumten Salzfabrik. Die italienische Regierung hat ein Gesetz zurückgenommen, das illegale Immigration zur Straftat erklärt, da auch die Gefängnisse überlastet sind.

Die italienische Regierung verlangt nun von den anderen Mitgliedsstaaten der EU, dass sie ihr Flüchtlinge abnehmen. Ministerpräsident Matteo Renzi erklärte mit markigen Worten, dass "Europa nicht Staaten und Banken retten kann, während es Mütter und Kinder ertrinken lässt".

Innenminister Angelino Alfano sagte: "Europa hilft uns nicht, die Toten zu bergen, es sollte wenigstens die Lebenden aufnehmen. Diejenigen, die ein Asylrecht haben, denen Italien das Asylrecht anerkennt, können sich über Europa verteilen, denn dorthin wollen sie gehen, und Italien will nicht das Gefängnis der politischen Flüchtlinge sein."

Bei der Europäischen Kommission gehört es mittlerweile zur Routine, sich "zutiefst schockiert" über Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer zu zeigen, um dann die Verantwortung abzuschieben. Das tat in diesem Fall die zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström. Sie forderte die EU-Mitgliedsstaaten auf, "jetzt konkrete Solidarität zu zeigen, um die Wiederholung solcher Tragödien zu vermeiden". Malmström kündigte zudem an, das Thema auf die Tagesordnung des nächsten EU-Innenministertreffens im Juni zu setzen.

Unterdessen hat auch Libyens Innenminister Salah Mazek mehr Unterstützung von der EU angefordert. "Wir können Tausende ungehindert ausreisen lassen, falls Europa keine Verantwortung übernimmt", drohte er.

Doch die Appelle, die Flüchtlinge auf alle EU-Staaten zu verteilen, stoßen in Deutschland, Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Großbritannien und anderen Ländern, deren Grenzen nicht unmittelbar betroffen sind, auf strikte Ablehnung. Ein solches Vorgehen würde das Dublin-II-Abkommen unterlaufen, nach dem der Staat für die Flüchtlinge zuständig ist, in dem sie zuerst eintreffen.

Nicht zufällig wird im deutschen Innenministerium gerade ein Gesetzentwurf [2] ausgearbeitet, mit dem Asylsuchende in Deutschland jederzeit inhaftiert werden können. Damit soll vor allem ihre Abschiebung in die Herkunftsstaaten oder, nach dem Dublin-II-Abkommen, in andere EU-Staaten beschleunigt werden.

Für alle EU-Mitgliedsstaaten steht auch völlig außer Frage, dass die EU-Außengrenzen weiter militärisch abgeschottet werden. Die tödlichen Folgen dieser Politik hat das Projekt "The Migrants' Files" einer Arbeitsgruppe europäischer Journalisten ermittelt. Sie hat Berichte über tödliche Fluchtversuche in die EU und Vermisstenmeldungen ausgewertet und errechnet, dass seit dem Jahr 2000 mehr als 23.000 Menschen an den EU-Außengrenzen ums Leben gekommen sind.

Seitdem etwa die griechische Regierung im Sommer 2012 die Landgrenze zur Türkei hermetisch abgeriegelt hat, sind über 230 Flüchtlinge in der Ägäis gestorben. Ein drei Meter hoher, schier unüberwindlicher Zaun an der türkisch-griechischen Grenze hat die Flüchtlingsströme auf die viel gefährlichere Route über das Meer abgelenkt.

Dort sind die Flüchtlinge oftmals dem Wohlwollen der griechischen Küstenwache ausgeliefert. Die Flüchtlingsorganisation ProAsyl berichtet, dass erst im Januar dieses Jahres ein Flüchtlingsschiff mit Motorschaden vor der unbewohnten griechischen Insel Farmakonisi lag. Als die griechische Küstenwache versuchte, das Boot in türkische Gewässer zurück zu schleppen, kenterte es. Einige Flüchtlinge hätten versucht, sich schwimmend an Bord des Patrouillenbootes zu retten, seien aber zurück ins Meer gestoßen worden. Insgesamt elf Menschen ertranken, darunter auch Kinder.

Obwohl die griechische Regierung im Rahmen des Spardiktats der EU die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst drastisch reduziert hat, bewachen mehr als 1.800 Grenzsoldaten mit Unterstützung der Grenzschutzagentur Frontex die Außengrenzen zur Türkei.

Im Rahmen des Eurosur-Systems wird der Mittelmeerraum mittlerweile rund um die Uhr mit Drohnen und Satelliten überwacht. Dabei geht es nicht um die Rettung in Seenot geratener Schiffbrüchiger, wie der stellvertretende Frontex-Direktor Gil Arias- Fernandez unlängst gegenüber dem Onlinemagazin Eurobserver zugeben musste.

Die Grenzbehörden erhalten die Satellitenbilder erst nach Tagen, wenn es für eine Rettung zu spät ist. Es gehe alleine darum, die Flüchtlingsbewegungen zu beobachten und zukünftig zu unterbinden, sagte Fernandez. Um "die Situation zu verbessern und Unglücke zu verhindern" seien die Grenzschutzmaßnahmen völlig ungeeignet. "Menschen vor dem Ertrinken zu retten wird nicht mit dem Grenzschutz funktionieren, das ist völlig klar."

Auch die Operation "Mare Nostrum" der italienischen Marine dient nicht der Vermeidung von Flüchtlingskatastrophen. Sie soll es ermöglichen, aufgegriffene Flüchtlinge schnellstmöglich nach Nordafrika zurückzubringen. Dazu werden bereits auf den Schiffen erste Identifizierungen vorgenommen und entschieden, wer einen Asylantrag stellen darf und wer nicht. Nigerianer werden an Land auf die Straße gesetzt und müssen Italien innerhalb von sieben Tagen verlassen. Tunesier und Ägypter werden dagegen sofort abgeschoben.

Außerdem fahren auf den Schiffen zwei libysche Offiziere mit, die für den Kontakt zu den libyschen Behörden zuständig sind, damit Flüchtlinge, die in der Nähe der libyschen Küste aufgegriffen werden, direkt libyschen Einheiten übergeben werden können.

In Libyen selbst sind 70 Polizisten der Europäischen Union im Einsatz, die Grenzschützer ausbilden und unterstützen. Im Rahmen der Eubam-Mission erhält Libyen Hilfsgelder und Unterstützung, um die eigenen Außengrenzen gegen Migranten abzuschotten. Diese Vorverlagerung der Flüchtlingsabwehr ist das eigentliche Ziel der Europäischen Union. Die Drecksarbeit sollen die Anrainerstaaten erledigen, während sich die EU-Mitgliedsstaaten die Hände in Unschuld waschen.

Doch auch hier nehmen die Opfer zu. So wurden letzte Woche nahe der algerischen Grenze 13 Migranten aus Niger gefunden, die in der Wüste Sahara verhungert und verdurstet waren. Zu der Gruppe, die vor allem aus Frauen und Kindern bestanden haben soll, gehörten nach Informationen der Zeitung Al-Watan 33 weitere Menschen. Im Oktober letzten Jahres wurden im Norden Nigers die Leichen von 92 Flüchtlingen gefunden, deren Fahrzeug in der Wüste liegen geblieben war. Auch hier handelte es sich Großteils um Frauen und Kinder.

Giusi Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa, verlangte unlängst in der Tageszeitung Corriere della Sera "ein Mare Nostrum 2 an Land und an den Küsten". Dazu gehöre ein vernünftiges Aufnahmesystem für Flüchtlinge und die Bereitstellung von Schiffen, die Flüchtlinge direkt "in den Häfen von Tripolis oder anderen afrikanischen Städten holen sollten und damit dem Schlepper-Business ein Ende setzen".

Doch wahrscheinlicher ist es, dass die EU weitere Abschottungsmaßnahmen beschließt und die Vorverlagerung des Grenzschutzes in Kooperation mit der jeweiligen einheimischen Polizei und den Geheimdiensten bis in die Sahara, an die türkisch-iranische Grenze oder an den Ural ausbaut.

In den 28 Mitgliedsländern der EU leben inzwischen über 500 Millionen Menschen. Dass sie sich hermetisch nach außen abschottet und nicht in der Lage ist, einige Zehntausend Flüchtlinge aufzunehmen, ist ein Ausdruck ihres historischen Bankrotts.


Anmerkungen:
[1] http://www.wsws.org/de/articles/2013/10/17/pers-o17.html
[2] http://www.wsws.org/de/articles/2014/05/15/asyl-m15.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 17.05.2014
Das Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer geht weiter
http://www.wsws.org/de/articles/2014/05/17/lamp-m17.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2014