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GLEICHHEIT/5268: Bundesregierung beschließt schärfere Gesetze gegen "Armutszuwanderung"


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Bundesregierung beschließt schärfere Gesetze gegen "Armutszuwanderung"

Von Martin Kreickenbaum
10. September 2014



Die Bundesregierung hat vor knapp zwei Wochen Verschärfungen für Zuwanderer aus anderen EU-Staaten beschlossen, wodurch die so genannte Freizügigkeit für Arbeiter innerhalb der Europäischen Union drastisch beschnitten wird. Betroffen von den neuen Regelungen sind vor allem Migranten aus den ärmsten EU-Staaten Bulgarien und Rumänien, denen die Regierung soziale Rechte und Sozialleistungen streicht, und die dadurch Ausbeutung, Lohndumping und Mietwucher schutzlos ausgeliefert sein werden.

Grundlage für die Beschlüsse des Bundeskabinetts ist ein Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses mit der Überschrift "Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU". Diese Kommission wurde eingesetzt, nachdem der bayerische Koalitionspartner CSU im Zuge der Europawahlkampagne im Frühjahr gegen Armutsmigranten hetzte, denen pauschal die Erschleichung von Sozialleistungen vorgeworfen wurde. Der CSU-Vorsitzende verlangte im Januar: "Wer betrügt, der fliegt!"

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) rühmte den nun vorgelegten Bericht als "wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion". Man habe "mit dem dazugehörigen Gesetz die richtigen Schritte gegen den Missbrauch der Freizügigkeit und zur Entlastung der Kommunen beschlossen". Letzteres bezieht sich auf die Entscheidung, für das laufende Jahr 25 Millionen Euro mehr an die Kommunen zu überweisen, die eine höhere Zahl an rumänischen oder bulgarischen Sozialleistungsempfängern verzeichnen. Die Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD), die den Bericht zusammen mit de Maizière vorstellte, zeigte sich ebenfalls mit dem Bericht zufrieden. Ebenso begrüßte die Migrations-Beauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), den Gesetzentwurf mit den Worten, er habe "eine aufgeheizte Debatte versachlicht".

Nichts könnte ferner liegen. In diesem 140-seitigen Abschlussbericht finden sich zwar jede Menge Statistiken zur Zuwanderung nach Deutschland, jedoch nicht ein einziger Beleg, dass tatsächlich der behauptete "Sozialmissbrauch" massenhaft oder auch nur im beträchtlichen Ausmaß stattfindet. Trotzdem wird dort ein ganzes Bündel von Gesetzesverschärfungen vorgeschlagen, und das Bundeskabinett hat dieses auf seiner ersten Sitzung nach der Sommerpause auch durchgewunken.

So sollen Migranten aus anderen EU-Staaten nach sechs Monaten ihren sicheren Aufenthaltstitel verlieren, wenn sie bis dahin keine Arbeit gefunden haben. Wer falsche Angaben bei der Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung gemacht hat - was bei Sprachbarrieren durchaus vorkommen kann - soll hart bestraft werden, bei "Missbrauch von Sozialleistungen" sollen sogar Einreiseverbote von bis zu fünf Jahren verhängt werden. Auf dem Verordnungswege werden die zuständigen Ämter - die Familienkassen im Falle der Auszahlung von Kindergeld und die Jobcenter - dazu angehalten, verschärfte Prüfungen und Datenabgleiche vorzunehmen. Das Misstrauen gegen ausländische Antragsteller wird dadurch von vorneherein institutionell verankert. Schon heute sind viele Arbeiter, insbesondere aus den armen Regionen Südosteuropas, in den Behörden mit bürokratischer Schikane konfrontiert.

Bisher ist die Bundesregierung eine Offenlegung der Fälle von fälschlich ausgezahlten Sozialleistungen an Zuwanderern aus Südosteuropa schuldig geblieben. Nicht nur spart der Abschlussbericht der Staatssekretäre diese Frage aus, auch auf verschiedene Anfragen an die Bundesregierung und die bayerische Landesregierung gab es keine klare Stellungnahme.

Auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen im Mai hieß es, es habe lediglich ein paar Dutzend Verdachtsfälle gegeben, und zu tatsächlichen Verurteilungen lägen keine Zahlen vor. Bei einer Anfrage der Fraktion der Linken antwortete das Innenministerium von Thomas de Maizière, es lägen keine eigenen "quantitativen Erkenntnisse" vor. Im gleichen Atemzug verwies das Ministerium aber auf eine erhebliche Anzahl "mutmaßlicher Scheinehen", ohne Zahlen zu nennen und ohne zu erklären, nach welchen staatlichen Vorschriften Zuwanderer ihre Ehen gestalten sollen, um nicht in den Verdacht von "Scheinehen" zu geraten.

Der Bericht nimmt auch die angeblich durch Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien verursachten Probleme in einigen ausgesuchten Städten und Kommunen wie Mannheim, Duisburg, München oder Frankfurt unter die Lupe. Hier sind im Jahr 2013 jeweils 1.600 bis 4.300 Menschen aus Südosteuropa neu zugezogen. Suggeriert wird, die Verelendung von Wohnquartieren und andere soziale Probleme seien teilweise darauf zurückzuführen.

In Wahrheit sind jedoch die Sozialkürzungen in Bund, Ländern und Kommunen dafür verantwortlich. Um ihre Verschuldung abzubauen, haben diese Städte und Gemeinden unter anderem ihr Tafelsilber verscherbelt und das öffentliche Wohneigentum an windige Investoren und Spekulanten verhökert. Diese haben vielfach die Häuser zu Schrottimmobilien verkommen lassen und versuchen nun aus den Zuwanderern, die sonst nirgendwo unterkommen und von den Kommunen keine Alternativangebote erhalten, noch saftige Gewinne heraus zu pressen.

Ein unvoreingenommener Blick in die Statistiken hilft dabei sehr, das Ausmaß des Elends und der Ausbeutung der zugewanderten Arbeiter aus Südosteuropa in Deutschland zu erfassen. Von den 474.283 als arbeitslos gemeldeten Ausländern in Deutschland sind nur 1,2 Prozent (5.648) rumänische Staatsbürger (Juli 2012). Gemessen an einer Gesamtzahl von über 2,8 Millionen Arbeitslosen entspricht das einer Quote 0,2 Prozent.

Zudem erhält nur jeder zehnte Rumäne und Bulgare in Deutschland Hartz-IV-Leistungen. In der Regel handelt es sich dabei um Aufstocker, die von ihrem Lohn allein nicht überleben können. Stundenlöhne von unter fünf Euro bei Erntehelfern, in der Fleischindustrie oder auf dem Bau sind hier keine Ausnahme, sondern bitterer Alltag. Die südosteuropäischen Arbeiter werden zudem von Arbeitgebern unter Druck gesetzt, unbezahlte Überstunden zu leisten.

Von Sozialleistungen sind sie schon heute häufig abgeschnitten, obwohl sie Anspruch darauf hätten. Die tageszeitung berichtete, dass es in Jobcentern gängige Praxis ist, Arbeitern, die kein Deutsch sprechen, keine Antragsformulare auszuhändigen. Entscheidungen ziehen sich häufig über Monate hin, so lange, bis die Familien entnervt und mittellos in ihre elenden Lebensverhältnisse in Rumänien und Bulgarien zurückkehren. Schon heute erhalten EU-Zuwanderer zudem in den ersten drei Monaten ihres Aufenthaltes in Deutschland außer Kindergeld und Lohnaufstockungen generell keine Sozialleistungen. Für Arbeitssuchende kann dieser Zeitraum sogar noch verlängert werden.

Bei den neuen Verschärfungen geht im Wesentlichen um eine Selektion zwischen den Migranten, die willkommen sind, und denen, die man draußen halten will. Zu ersteren zählen etwa Krankenschwestern und Ärzte, die in den letzten Jahren zu Zehntausenden aus Rumänien ausgewandert sind. Die Mediziner sind in Rumänien bestens ausgebildet, können in dem Land aber mit ihrer Ausbildung kaum ihre Familien ernähren. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP)gibt Rumänien von allen EU-Staaten am wenigsten für die Gesundheitsversorgung aus (5,9 Prozent im Vergleich zu 8,8 Prozent im EU-Durchschnitt). Daher sind in den letzten Jahren mehr als zehntausend Ärzte ausgewandert, 3.500 davon nach Deutschland. In Rumänien hingegen verschlechtert sich dadurch die ohnehin marode Gesundheitsversorgung.

Zu der Gruppe, die nach dem Willen der Bundesregierung auf keinen Fall von der freien Arbeitsplatz- und Wohnsitzwahl in Europa profitieren sollen, gehört hingegen die Masse der verarmten Bevölkerung. In Rumänien etwa beträgt der gesetzliche Mindestlohn gerade einmal 1,06 Euro pro Stunde. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei knapp 25 Prozent. Noch drastischer sieht es dort für die vielfach diskriminierten Roma aus.

Die Oppositionsfraktionen der Grünen und der Linken haben den Gesetzentwurf als Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU kritisiert. Die EU-Abgeordnete der Grünen Rebecca Harms beklagte, die Bundesregierung ziehe "unsichtbare Grenzen in die Europäische Union". Allerdings hat laut Bericht des Deutschlandradios am 27. August die EU-Kommission bereits positiv auf die Verschärfung für Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien reagiert. Die Berufung auf Bestimmungen der EU zeigt nur die Heuchelei der Grünen und der Linkspartei. Schließlich ist es die von der EU diktierte brutale Sparpolitik, die viele Arbeiter dazu treibt, aus den neuen EU-Ländern auszuwandern. Grüne und Linke sind jedoch entschiedene Verteidiger der EU. Die zunehmende Diskriminierung von ausländischen Arbeitern kann nur durch einen vereinten Kampf der europäischen Arbeiter gegen die EU gestoppt werden.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 10.09.2014
Bundesregierung beschließt schärfere Gesetze gegen "Armutszuwanderung"
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2014