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GLEICHHEIT/5463: Die soziale Krise in Griechenland - Teil 1


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Die soziale Krise in Griechenland: "Ich konnte mir nie vorstellen, dass es so viele Obdachlose in Athen geben würde"

Erster Teil
Von unseren Reportern
10. März 2015


Seit 2009 haben die brutalsten Sparmaßnahmen, die seit dem Zweiten Weltkrieg in einem europäischen Land durchgeführt wurden, zum Zusammenbruch der elementaren sozialen Infrastruktur in Griechenland geführt und drei Millionen Menschen von der Gesundheitsversorgung abgeschnitten.

Laut einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vom März 2014 leben 30 Prozent der griechischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und siebzehn Prozent der Menschen sind nicht in der Lage, ihren täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln zu decken.

Rund 300.000 Haushalte haben kein Einkommen mehr, und ebenso viele leben unterhalb der Armutsgrenze. Letztes Jahr wurde das Kindergeld für eine Ein-Kind-Familie, von gerade mal 98,64 Euro pro Jahr, für 300.000 Familien halbiert.

Achtzig Prozent der Griechen haben ihren Einkauf von Grundnahrungsmitteln eingeschränkt. Die Arbeitslosigkeit ist auf mehr als ein Viertel der Bevölkerung und unter Jugendlichen auf mehr als 50 Prozent gestiegen. Viele sind gezwungen, mit dem mageren, zeitlich begrenzten Arbeitslosengeld auszukommen und warten oft Monate, bis sie eine Zahlung erhalten. Sobald die Arbeitslosenunterstützung ausgelaufen ist, stehen sie ohne Einkommen und ohne dtomatischen Anspruch auf Krankenversicherung da.

Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation (NGO), FEANTSA, gelten bis zu 15.000 Menschen in Athen als obdachlos. Dazu zählen all diejenigen, die auf der Straße schlafen oder in Notunterkünften bleiben müssen und vorübergehend in ungeeigneten oder unsicheren Unterkünften, wie beispielsweise bei Freunden, der Familie oder in leerstehenden Gebäuden leben. Im Jahr 2009 wurden 7720 Menschen als obdachlos registriert. Laut der NGO Klimaka stieg die Zahl im Jahr 2013 auf über 20.000. Menschen vor dem Eingang einer Suppenküche in einem Arbeiterviertel von Athen

Hunderttausende sind auf Suppenküchen oder andere Einrichtungen angewiesen, die von Kommunen, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und NGOs geführt werden. Allein die städtische Armenküche in Athen gibt täglich 1.400 Mahlzeiten aus. Reporter der World Socialist Web Site besuchten die Verwaltungszentrale der NGO PRAKSIS in Athen. Der Aufgabenbereich von PRAKSIS (Programme für Entwicklung, soziale Unterstützung und medizinische Zusammenarbeit) ist "die Gestaltung, Anwendung und Umsetzung humanitärer Programme und medizinischer Interventionen".

Im Aktionsbericht der Gruppe für 2011/2012 beschrieb ihr Präsident, Tzanetos Antypas, die Situation nach den ersten beiden Jahren der brutalen Kürzungen: "Heute gibt es in unserer Gesellschaft eine neue Klasse von Menschen, die ohne Arbeit leben, ohne Haus, ohne ein Gehalt, ohne Papiere, ohne Arzt, ohne Medikamente, ohne Familie, ohne Sozialleistungen, ohne Würde, ohne Zukunft!"

Marianella Kloka hat etwa 18 Monate für PRAKSIS als Rechtsberaterin gearbeitet. PRAKSIS begann im Jahr 2004 als Erweiterung von Ärzte ohne Grenzen, mit dem Betrieb einer Poliklinik im Zentrum ihrer Arbeit, sagt sie. "Wir haben uns anfangs vor allem um Einwanderungsfragen gekümmert. Aber nach 2008 waren wir mit einer anderen Lage konfrontiert. Abgesehen von den Asylbewerbern und Migranten, etc., kamen besonders ab 2010 auch viele Griechen, die ihre Krankenversicherung verloren und keinen Zugang mehr zum Gesundheitssystem hatten. Sie standen davor, obdachlos zu werden oder waren bereits obdachlos.

Statt uns hauptsächlich um Fragen der Einwanderung und die Opfern von Menschenhandel zu kümmern, sind wir zu einer Organisation geworden, die versucht, gefährdete Gruppen im Sozialsystem zu halten."

Es gibt etwas mehr als 150 Mitarbeiter bei PRAKSIS mit Niederlassungen in Athen, Piräus, Thessaloniki und Patras. "Wir betreiben mobile Einheiten, die eine grundlegende Gesundheitsversorgung und die Möglichkeit für HIV-Tests kostenlos zur Verfügung stellen. Wir bieten auch Dienste in den südlichen Gebieten von Griechenland und den Grenzgebieten an. Wir haben spezielle Programme, mit denen wir Migranten vor allem aus Syrien helfen, von wo große Flüchtlingsströme kommen, die auf den griechischen Inseln landen."

Durchschnittlich 100 Personen pro Tag nutzen das medizinische Angebot von PRAKSIS. Es gibt ein medizinisches Zentrum in Athen und eine Obdachlosentagesstätte im nahe gelegenen Viertel Omonia.

"Wir bieten auf fünf verschiedenen Gebieten medizinische Versorgung an - durch Zahnärzte, Dermatologen, Kardiologen, Gynäkologen und einem Allgemeinarzt", sagt Kloka.

Die Migration von Flüchtlingen und Asylbewerbern über das Mittelmeer habe weiter zugenommen, sagt sie. "Wir haben eine neue Einheit gegenüber vom Bahnhof Larissis [Hauptbahnhof von Athen] errichtet und wir schätzen, dass sie 40.000 Mal im Jahr in Anspruch genommen wird.

Wir verzeichnen auch einen Anstieg bei Familien, die nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu versorgen. Von da ist es nur ein winziger Schritt, obdachlos zu werden... Sechs Monate lang versuchen wir, ihre Grundbedürfnisse wie Strom und Wasser und Einkauf im Supermarkt decken.

Wenn ein Drittel der Bevölkerung arbeitslos ist, schafft das ein sehr großes Problem. Es gibt Familien, die noch nicht einmal ein Einkommen haben. Vor zehn oder fünfzehn Jahren war es für Familien üblich zu investieren und ein eigenes Haus zu kaufen. Die Banken gaben Kredite an Familien, die innerhalb von 40 Jahren zurückgezahlt werden mussten.

Aber wenn man in so eine Krise gerät und arbeitslos wirst, wie geht man damit um? Der Staat sollte den Banken sagen, dass sie keine Zinsen fordern dürfen. Sie sollten die Banken regulieren. Aber wir wissen, dass das nirgendwo auf der Welt geschieht, nicht nur in Europa nicht. Wir haben Staaten, die von den Banken reguliert werden, nicht umgekehrt!"

Um Zugang zur Gesundheitsversorgung zu bekommen, muss man in der Lage sein, die Krankenversicherung zu bezahlen. Durch das Anwachsen der Massenarbeitslosigkeit, "haben mehr als drei Millionen Menschen ihre Absicherung im Krankheitsfall verloren", sagt Kloka.

Sie fügt hinzu: "Aufgrund all der Haushaltskürzungen und des Personalabbaus gibt es ein großes Problem bei den Dienstleistungen. Wenn Sie in die Krankenhäuser gehen, können sie ununterbrochen sehen wie dagegen protestiert wird. Ich sehe mindestens eine Demonstration pro Woche."

"Eine Familie hatte früher gewöhnlich etwas Geld auf der Bank und vielleicht zwei Häuser, so dass junge Menschen, wenn sie weggehen und woanders leben wollten und dann von der Krise getroffen wurden, zurückkommen konnten. Wenn ein Familienmitglied ein schweres gesundheitliches Problem hatte, war die Familie in der Lage, das Geld für die Medikamentzutreiben.

Das gibt es nicht mehr. Das erste, was [die sozialdemokratische PASOK-Regierung von] Papandreou tat, war, das Mindestniveau der Renten zu senken. Meine Mutter hatte 450 EUR im Monat für ihre Rente und Geld auf der Bank, davon konnten wir leben, aber das geht jetzt nicht mehr."

PRAKSIS betreibt Tagesstätten für Obdachlose in Athen, Piräus und Thessaloniki.

"Ich konnte mir nie vorstellen, dass es so viele Obdachlose im Zentrum von Athen geben würde", sagt Kloka. "Früher gab es eine sehr kleine Anzahl von Menschen, die ihr ganzes Leben auf der Straße verbrachten. Jetzt sehe ich junge Menschen, Leute in meinem Alter, ungefähr 40. Sie sind auf der Straße und betteln oder schlafen dort."

"Griechenland ist ein Mitgliedsstaat der EU und nicht in der Lage, den Menschen medizinische Versorgung zu bieten. Das ist etwas, wofür ich in Afrika gekämpft habe. Jetzt versuche ich hier, das Gleiche zu tun."

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Quelle:
World Socialist Web Site, 10.03.2015
Die soziale Krise in Griechenland:
"Ich konnte mir nie vorstellen, dass es so viele Obdachlose in Athen geben würde"
http://www.wsws.org/de/articles/2015/03/10/gree-m10.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2015

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