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GLEICHHEIT/5855: Die Verhaftung von Ex-Präsident Lula und die Krise der bürgerlichen Herrschaft in Brasilien


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Die Verhaftung von Ex-Präsident Lula und die Krise der bürgerlichen Herrschaft in Brasilien

Von Bill van Auken
11. März 2016


In der vergangenen Woche wurde der ehemalige brasilianische Präsident und Gründer der Arbeiterpartei (PT), Luiz Inácio Lula da Silva, im Zusammenhang mit dem ausufernden Skandal um den staatlichen Ölkonzern Petrobras verhaftet und verhört. Die Ereignisse haben nicht nur die Krise der Regierungspartei in Brasilien, sondern der bürgerlichen Herrschaft als Ganzes dramatisch verschärft.

Lula wird vorgeworfen, "zu den wichtigsten Nutznießern" der Korruption bei Petrobras zu gehören. Als Gegenleistung für die Vergabe von Aufträgen an den Energieriesen soll er von brasilianischen Baufirmen Gefälligkeiten und Schmiergeldererhalten haben.

Die PT regiert seit über zwölf Jahren und ist zur wichtigsten Partei des brasilianischen Kapitalismus geworden. Sie verteidigt die Interessen einer herrschenden Finanz- und Wirtschaftsoligarchie im In- und Ausland und bedient zuverlässig die Schulden des Landes bei der Wall Street, indem sie Hunderte Milliarden Dollar aus gesellschaftliche Ressourcen abzieht.

In der Amtszeit von Lula und seiner Nachfolgerin, Präsidentin Dilma Rousseff, erlebte Brasilien, vor allem dank der Industrialisierung Chinas und Indiens, einen beispiellosen Rohstoffboom und eine gigantische Steigerung ausländischer Kapitalinvestitionen.

Diese zeitweiligen ökonomischen Rahmenbedingungen bildeten die Grundlage für die sogenannte "Linkswende" in Lateinamerika. Die Regierungen von Brasilien, Venezuela, Bolivien, Argentinien und Ecuador bedienten sich einer linksnationalistischen Rhetorik und verabschiedeten begrenzte Sozialreformen, um die Klassenspannungen zu dämpfen.

Die deutliche Abschwächung des Wachstums in China hat den Rohstoffboom beendet. Brasilien, einst Darling der Finanzmärkte, ist von den Ratingagenturen der Wall Street auf Junk-Status herabgestuft worden.

Die Krise der PT in Brasilien ist gleichzeitig die Krise des Chavismus in Venezuela, des Peronismus in Argentinien und der Regierung der Bewegung für den Sozialismus von Evo Morales in Bolivien. Der treibende gemeinsame Faktor ist die globale Krise des kapitalistischen Systems.

Von diesen politischen Bewegungen ist die PT die bedeutendste und weist die längste Regierungserfahrung auf. Sie regiert über das größte Land und die größte Wirtschaft in Lateinamerika. Die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung hat nur PT-Regierungen bewusst erlebt.

Die PT wurde 1980 im Anschluss an eine Welle militanter Massenstreiks gegründet, die die 20jährige Militärdiktatur entscheidend destabilisierte. Seither dienen die PT und der ihr angeschlossene Gewerkschaftsverband CUT als Instrument, um die revolutionären Bestrebungen der brasilianischen Arbeiterklasse zu desorientieren und dem bürgerlichen Staat unterzuordnen.

Entscheidende Kraft beim Aufbau der PT war ein Schwarm pseudolinker Organisationen sowie Gewerkschaftsfunktionäre, katholische Aktivisten und Akademiker, die die Arbeiterpartei als Alternative zum Aufbau einer revolutionären Massenpartei der Arbeiterklasse anpriesen. Ihre Gesinnungsgenossen in Europa stellten die PT als Vorbild für den Aufbau ähnlicher Parteien auf internationaler Ebene dar. Die Hauptrolle spielten dabei die Gruppierungen, die dem Vereinigten Sekretariat angeschlossen sind, das als revisionistische Tendenz historisch mit Ernest Mandel identifiziert wird.

Einige dieser pseudolinken Gruppen, wie die Moreno-Tendenz, die jetzt zur PSTU (Vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei) gehört, wurden im Zuge der zunehmenden Rechtsentwicklung der PT aus der PT ausgeschlossen. Andere blieben in der Partei, darunter die mandelistische Gruppe Democracia Socialista, deren wichtigster Führer Miguel Rosseto Minister für Agrarreform wurde und Rousseffs Stabschef und Haupt-Sprecher ist.

Die wichtigste Funktion dieser Tendenzen, der ausgeschlossenen wie der in der PT verbliebenen, bestand darin, einer durch und durch reaktionären und korrupten kapitalistischen Partei einen "sozialistischen" Anstrich zu verleihen. Zu diesem Zweck warben sie nicht nur für die PT, sondern auch für die CUT-Gewerkschaften und diverse "soziale Bewegungen". Alle diese Kräfte haben die Kämpfe der brasilianischen Arbeiterklasse immer den Profitinteressen des brasilianischen und internationalen Kapitals untergeordnet.

Endresultat des historischen Verrats an der revolutionären Bewegung, die im Kampf gegen die brasilianische Militärdiktatur vor 35 Jahren aufkeimte, ist die tiefe Krise und die Schande der PT, deren führende Figuren alle vom Strudel des Petrobras-Skandals erfasst werden, in dem es um 2 Milliarden Dollar an Schmiergeldern geht.

Letzte Woche wurde berichtet, dass der Fraktionschef der PT im brasilianischen Senat, Delcidio Amaral, der im Zuge der Ermittlungen im Petrobras-Skandal im November verhaftet wurde, gegenüber der Staatsanwaltschaft eine Aussage gemacht hat. Amaral beschuldigte Lula, Zeugen in dem Verfahren gedrängt zu haben, die Aussage zu verweigern. Rousseff soll Amaral zufolge "vollständige Kenntnis" über ein Geschäft gehabt haben, bei dem Petrobras eine alte Raffinerie in Pasadena, Texas zu einem äußerst überhöhten Preis erstand. Von den Erträgen sollen Millionen an Vorstandsmitglieder, Politiker und in die Parteikasse der PT geflossen sein. Rousseff war zu der ZeitAufsichtsvorsitzende von Petrobras.

Diese Anschuldigungen und das Verhör Lulas haben den Versuchen der brasilianischen Rechten, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff durchzusetzen, neuen Auftrieb gegeben. Für den kommenden Sonntag hat sie zu landesweiten Massendemonstrationen aufgerufen, um Rousseffs Ablösung zu fordern. Die PT hat ebenfalls für Sonntag zu Demonstrationen für Lula und Rousseff aufgerufen. Verschiedentlich wurde vor gewaltsamen Zusammenstößen gewarnt.

Die aktuelle Krise, die die schlimmste seit der Großen Depression der 1930er Jahre ist, hat für die brasilianischen Arbeiter verheerende Auswirkungen. 2015 wurden über eine Million Arbeitsplätze zerstört, davon zahlreiche in der Autoindustrie und damit verbundenen Branchen. Millionen Hochschulabgänger finden keine Arbeit. Eine Inflationsrate von zehn Prozent hat die Realeinkommen sinken lassen. Die Ausgaben der privaten Haushalte sind im letzten Jahr um vier Prozent zurückgegangen, was die wirtschaftliche Depression verschärft hat.

Die Rousseff-Regierung reagiert auf die Krise mit Einsparungen bei Renten und Sozialausgaben und verschlimmert damit die Lage der Arbeiterklasse weiter. Der Widerstand der rechten Gegner der PT ist nur Taktik, um ein Amtsenthebungsverfahren durchzudrücken, denn ihre Politik ist die gleiche oder noch schlimmer.

Bürgerliche Wirtschaftsfachleute und kapitalistische Think Tanks sind der Auffassung, dass die eigentliche Herausforderung für die brasilianische Wirtschaft darin besteht, die begrenzten sozialen Rechte zu zerstören, welche die Verfassung von 1988 der brasilianischen Bevölkerung gewährt, und alle Hindernisse für die uneingeschränkte Herrschaft des internationalen Kapitals aus dem Weg zu räumen.

Eine solche Politik lässt sich nicht mit friedlichen Mitteln durchsetzen. Das wird durch Berichte zweier Kolumnisten der rechten brasilianischen Tageszeitung O'Globo bestätigt. Ricardo Noblat berichtete, dass während der Festnahme Lulas ein Armeebataillon in Sao Paulo in Alarmbereitschaft versetzt wurde, um mögliche Proteste unter Kontrolle zu halten.

"Mitglieder des Army High Command riefen die Gouverneure der Bundesstaaten an, die von Konflikten zwischen militanten politischen Kräften am stärksten betroffen sind, und bereiteten sie auf notwendige Maßnahmen vor, um den sozialen Frieden zu erhalten", so Noblat. Er befürwortet ein Amtsenthebungsverfahren und betonte, dass die Generäle "nicht aufgefordert werden wollen, zu intervenieren, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, wie es die Verfassung vorsieht."

O'Globo-Kolumnist Merval Pereira erwähnte ebenfalls die verfassungsmäßige "Mission" des Militärs. Er warnte: Wenn die rechten Parteien, die die PT bekämpfen, sich nicht "für eine demokratische Lösung der Krise zusammentun, droht uns ein institutioneller Rückschritt" - anders gesagt, eine erneute Militärdiktatur.

Die Arbeiterpartei und die diversen pseudolinken Organisationen, von denen sie unterstützt wurde, sind verantwortlich für die gefährliche Sackgasse, in der sich die brasilianischen Arbeiter nun befinden. Diese Krise kann nur gelöst werden durch den Aufbau einer neuen revolutionären Führung in der Arbeiterklasse, die sich auf eine sozialistische und internationalistische Perspektive und einen schonungslosen Kampf gegen die Politik der PT und ihrer Apologeten gründet.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 11.03.2016
Die Verhaftung von Ex-Präsident Lula und die Krise der bürgerlichen Herrschaft in Brasilien
http://www.wsws.org/de/articles/2016/03/11/lula-m11.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2016

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