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GLEICHHEIT/5887: Niederlande - Mehrheit gegen EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Niederlande: Mehrheit gegen EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine

Von Johannes Stern
8. April 2016


Bei einer Volksabstimmung in den Niederlanden hat am Mittwoch eine deutliche Mehrheit von 62 Prozent das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine abgelehnt. Nur 38 Prozent der Wähler stimmten dafür. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 32 Prozent. Die Abstimmung ist damit gültig. Das Gesetz schreibt eine Wahlbeteiligung von mindestens 30 Prozent vor.

Das Ergebnis hat die politische Krise in Europa verschärft und extrem nervöse Reaktionen in Politik und Medien ausgelöst. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, der zu einem "Ja" aufgerufen hatte, sah sich nach der Bekanntgabe der Ergebnisse gezwungen zu erklären, er werde die Ratifizierung des EU-Vertrags erneut überdenken. "Wenn das Referendum gültig ist, dann können wir den Vertrag nicht einfach so ratifizieren", sagte er im niederländischen Fernsehen.

Der Präsident der Europäischen Kommission Jean Claude-Juncker hatte bereits im Januar in einem Interview mit der niederländischen Zeitung NRC Handelsblad gewarnt, dass ein niederländisches "Nein" die "Tür zu einer großen kontinentalen Krise öffnen könnte". Anfang März wiederholte Juncker in Den Haag seine Warnung. Ein niederländisches "Nein" führe zu einer Destabilisierung Europas. Am Tag nach der Abstimmung ließ er über seinen Sprecher verlauten, er sei zutiefst "traurig".

Herman Van Rompuy, der als Präsident des Europäischen Rates an der Ausarbeitung des Assoziierungsabkommens mit Kiew beteiligt war, hatte im März in einem Interview mit der niederländischen Zeitung Trouw gesagt, ein "Nein" wäre eine "Blamage" für Den Haag. Er verwies darauf, dass die niederländische Regierung dem Abkommen bereits zugestimmt habe und ein "Nein" das Land "zu einem weniger zuverlässigen Partner" machen würde. Die Niederlande ist ein Gründungsmitglied der EU und hat gegenwärtig die EU-Ratspräsidentschaft inne.

Der deutsche Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (CSU), attackierte die niederländische Regierung. Rutte habe nicht genug für ein "Ja" zum EU-Ukraine-Abkommen geworben und sei vor dem Referendum "zu sehr abgetaucht, genauso wie viele Eliten". Laut Weber sei es bei dem Referendum nicht nur um das Abkommen mit der Ukraine gegangen. "Das war Anti-Rutte, das war Anti-Europa, das war Anti-Migration, das war Anti-Alles."

Spiegel Online sprach in einem ersten Kommentar von einer "doppelten Ohrfeige für die EU". Bei der Abstimmung sei es nicht nur "um irgendein Freihandelsabkommen" gegangen, "sondern um jenen Vertrag, an dem sich im November 2013 der Volksaufstand in der Ukraine entzündete". Dass die Niederländer nun "ausgerechnet diesen Vertrag so klar ablehnen" habe "Symbolkraft". Dies sei "nicht nur ein Sieg für Russlands Präsident Wladimir Putin, sondern auch ein Sieg für all jene, die die EU lieber heute als morgen zerbrochen sähen". Und niemand solle sich einreden, "dass die knapp 70 Prozent der Niederländer, die nicht an der Abstimmung teilgenommen haben, der EU wesentlich freundlicher gegenüberstehen als die anderen".

Wer steckt hinter dem Referendum und wie kam es zustande?

Die legale Grundlage des Referendums ist ein im Juli 2015 im niederländischen Parlament verabschiedetes Gesetz zum sogenannten "konsultativen Referendum". Dieses ermöglicht Volksbefragungen über bereits angenommene Gesetze, falls binnen sechs Wochen 300.000 Unterschriften von Stimmberechtigten gesammelt werden.

Am 10. Juli 2015 kündigte die Aktionsgruppe GeenPeil an, sie werde die notwendigen Unterschriften für ein Referendum über das EU-Assoziierungsabkommens mit der Ukraine sammeln. Nach eigenen Angaben erhielt sie bereits innerhalb der ersten 24 Stunden mehr als 30.000 Unterschriften. Im Oktober 2015 wurde offiziell bekannt gegeben, dass über 427.000 gültige Unterschriften eingegangen seien und die Regierung das Referendum abhalten müsse.

GeenPeil ist eine Partnerschaft zwischen der Website GeenStijl und den Bürgerinitiativen Burgercomité-EU und Forum voor Democratie, hinter der sich politisch rechte Kräfte verbergen. Der Gründer des Forum voor Democratie, Thierry Baudet, strebt laut eigenem Bekunden eine konservative Revolution und die Auflösung der EU an. Seine 2012 veröffentlichte Dissertation trägt den programmatischen Titel "Die Bedeutung von Grenzen" und ist ein rechtes Plädoyer für den Nationalstaat.

GeenStijl ("stillos" oder "ohne Anstand") ist ein seit 2003 bestehender multimedialer Blog, der sich als "politisch inkorrekt" bezeichnet und laut Wikipedia wiederholt wegen "fremdenfeindlicher und extremer Kommentare" kritisiert wurde. Seit 2010 hat die zur konservativen Telegraaf-Mediengruppe gehörende Website ein eigenes Fernseh-Programm mit Reportern, die regelmäßig auf Politiker losgehen, die sie als Teil einer "linksliberalen Meinungselite" ausmachen.

Unterstützt wurde das Referendum auch von Geert Wilders' islamfeindlicher Freiheitspartei PVV und von der Sozialistischen Partei (SP). Die SP wurde 1972 als maoistische Gruppierung gegründet und ist heute eine rechte sozialdemokratische Partei, die der PVV in Fragen des Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit kaum nachsteht. Schon in den 1980er Jahren hatte sie in einem Pamphlet mit dem Titel "Gastarbeit und Kapital" gefordert, Gastarbeiter müssten sich an Sprache und Sitten des Landes anpassen oder es wieder verlassen. Auf die jüngsten Terroranschläge von Brüssel reagierten die SP und ihr Vorsitzender Emile Roemer mit der Forderung nach einer massiven Aufrüstung der staatlichen Sicherheitskräfte.

Das bedeutet nicht, dass alle, die im Referendum mit "Nein" gestimmt haben, Anhänger dieser rechten Kräfte sind. Das Video, mit dem GeenPeil für das Referendum mobilisierte, spricht den Zusammenhang zwischen dem EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, dem rechten, vom Westen orchestrierten Putsch in Kiew und den darauf folgenden Bürgerkrieg an.

An einer Stelle heißt es: "Die Verhandlungen haben zu gewaltsamen Demonstrationen auf dem Maidan geführt und jetzt haben Ultra-Nationalisten mit Nazisymbolen Sitze im Parlament." Das Video erwähnt auch die 198 niederländischen Opfer des über der Ukraine abgeschossenen Flugs MH17 sowie die geopolitischen Gefahren einer Konfrontation zwischen der EU und Russland und warnt vor einem Kalten Krieg. Unter anderem heißt es: "Die EU nähert sich immer weiter der russischen Grenze. Alle drei Länder [Ukraine, Georgien und Moldawien] waren früher Teil der Sowjetunion und jetzt versuchen sich die EU und die Nato diese Länder einzuverleiben".

Natürlich haben die Kräfte hinter der "Nein"-Kampagne nicht das Geringste mit einer Opposition gegen die Nato und die EU vom Standpunkt der Arbeiterklasse zu tun. Sie repräsentieren vielmehr einen Flügel der niederländischen Eliten, die eine Konfrontation mit Russland unter den gegenwärtigen Bedingungen für falsch halten und der Meinung sind, die Niederlande könnte ihre strategischen Interessen besser außerhalb oder zumindest in größerer nationaler Unabhängigkeit von Brüssel verfolgen.

Ein Kritikpunkt des "Nein"-Lagers war unter anderem, dass der Einfluss der Niederlande auf die Geopolitik der EU durch die EU-Erweiterungen immer weiter abnehme. An einer Stelle im Video heißt es: "Bedeutet das, dass wir diese drei Länder [Ukraine, Georgien und Moldawien] dem russischen Bären überlassen sollen? Natürlich nicht. Aber man muss sich die Frage stellen, wie diese Verträge zustande kamen und zu welchem Preise und warum die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung ignoriert wurde?"

Ende März erklärten die Vorsitzenden der Initiative Burgercomité-EU in einem Interview mit dem NRC Handelsblad, dass es ihnen nicht um die Ukraine gehe, sondern darum, einen sogenannten "Nexit", also einen Austritt der Niederlande aus der EU zu erreichen. Arjan van Dixhoorn, der das Bündnis leitet, sagte: "Die Ukraine kümmert uns wirklich nicht, das müssen Sie verstehen." Und weiter: "Ein Nexit-Referendum ist bisher nicht möglich gewesen. Deshalb nutzen wir alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, um Druck auf die Beziehung zwischen den Niederlanden und der EU auszuüben."

Die Initiatoren bejubelten den Ausgang des Referendums. Baudet frohlockte: "Das Ergebnis kann man nicht ignorieren", nun beginne eine Diskussion "über eine andere EU". Wilders twitterte: "Große Mehrheit der Wähler ist dagegen, das ist fantastisch", und prophezeite: "Das ist der Anfang vom Ende der EU." In diesen Chor stimmten auch andere führende Rechtspopulisten in Europa ein, allen voran der Vorsitzende der britischen UK Independence Party, Nigel Farage, der die Kampagne für ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU durch ein Referendum im Juli anführt.

Die Mehrheit der niederländischen Bevölkerung war der Auffassung, dass es bei dieser Abstimmung kein kleineres Übel und nichts zu wählen gab und enthielt sich der Stimme. Die Financial Times kommentierte: "Die Anzahl derer, die zu Hause blieben war so hoch [...], dass man schlussfolgern muss: Enthaltung war die wirkliche Wahl der Niederländer. Für einige Wähler, die richtigerweise spürten, dass das Referendum in vielerlei Hinsicht gar nichts mit der Ukraine zu tun hatte, war die Stimmenthaltung ein Taktik, um die gesamte Übung ungültig zu machen."

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Quelle:
World Socialist Web Site, 08.04.2016
Niederlande: Mehrheit gegen EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2016

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