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GRASWURZELREVOLUTION/1025: Griechenland - Aufstand und Alltag


graswurzelrevolution 340, Sommer 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

TRANSNATIONALES
Griechenland - Aufstand und Alltag

Von Ralf Dreis, Thessaloniki


Sechs Monate sind seit dem Aufstand in Folge des Polizeimordes an dem 15jährigen Aléxandros Grigorópoulos am 6. Dezember vergangen (vgl. GWR 335).


Die Cafés in der nordgriechischen Metropole Thessaloníki sind voll besetzt, in den teuren Geschäften der noblen, im Dezember zerstörten Einkaufsstraße Tzimiskí herrscht Hochbetrieb. In Athen weigert sich der konservative Ministerpräsident Kostas Karamanlis noch immer, die seit Monaten geforderten Neuwahlen anzusetzen, und beendet am 10. Mai in einer Nacht- und Nebelaktion die Parlamentsperiode. Am späten Abend löst er das griechische Parlament bis nach der Europawahl auf. So verhindert er die parlamentarische Durchleuchtung mehrerer Bestechungsskandale und garantiert zu gleich die Straffreiheit konservativer Ex-Minister. Die parlamentarische Opposition schäumt, der Rest des Landes bereitet sich auf heiße Sommermonate am Strand vor.


Alles beim alten also?

Nicht ganz. In der Venizèlous-Straße, mitten im Zentrum der Stadt, haben verschiedene anarchistische Gruppen und Personen ein großes, dreistöckiges, unter Denkmalschutz stehendes Gebäude gemietet, um dort am 1. Juni das neue soziale Zentrum zu eröffnen. "Wir haben soviel Zulauf", erzählt Thànos von der Antiautoritären Bewegung (AK) Thessaloníki, "dass wir dringend mehr und größere Räume im Stadtzentrum brauchen."

In Veranstaltungen sollen verstärkt Menschen von außerhalb der Szene angesprochen werden. "Wann, wenn nicht jetzt? Wir müssen es nach dem Aufstand einfach schaffen, uns als Anarchisten fest in der griechischen Gesellschaft zu verankern."

In diesem Sinne mobilisiert auch die anarchistische, von AK herausgegebene Monatszeitung Babylonía zu einem großen fünftägigen internationalen Kongress Ende Mai in Athen.

Und auch die anderen Fraktionen der sehr heterogenen anarchistischen Bewegung haben Zulauf. Noch immer vergeht kaum ein Tag und vor allem kaum eine Nacht, ohne dass in Athen und Thessaloníki irgendetwas zerstört, angezündet oder in die Luft gesprengt wird. Die Ziele der Anschläge sind in erster Linie staatliche Gebäude, Polizeiwachen, Banken, Büros und Kraftfahrzeuge von Leiharbeits- und Securityfirmen oder auch große Einkaufszentren. Die Verantwortung für die Anschläge übernehmen zumeist linksradikale und anarchistische Gruppen mit so abenteuerlichen Namen wie "Rat für Ordnungsabbau" oder "Konspiration der Feuerzellen", die mittlerweile auch in mehreren Kleinstädten wie Ioánnina, Kavála oder Iráklion aktiv sind. Eine der aufsehenerregendsten Aktionen ereignet sich am 13. März, als eine Gruppe von 30 bis 40 Vermummten am hellichten Tag durch Athens nobelstes Einkaufsviertel zieht und mehr als 20 schicke Läden, teure Autos und Bankfilialen zerstört.

Die Aktion gilt als Solidaritätskundgebung für den Anarchisten Giórgos Voútsis, der wegen eines Bankraubs in Untersuchungshaft saß. Voútsis wurde im April von einem Geschworenengericht zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Unter den vier Geschworenen waren drei Angestellte der als Nebenklägerin auftretenden Nationalbank, was für einige Empörung sorgte.

"Der Aufstand geht weiter", verkünden auch Anfang Mai Plakate und gesprühte Parolen an vielen Häuserwänden in Thessaloníki. Und tatsächlich besetzt die "Vollversammlung der BewohnerInnen der Áno Póli", der Altstadt von Thessaloníki, mit großer Selbstverständlichkeit vom 8. bis 10. Mai die Stadtteilbibliothek für eine dreitägige Diskussions- und Informationsveranstaltung.

Themen sind unter anderem Erfahrungsberichte von AnwohnerInnenversammlungen anderer Städte und Stadtteile, Informationen über das marode Gesundheitssystem und Diskussionen über den Stand der Bewegung. Wie geplant endet die Besetzung mit einem Nachbarschaftsfest auf dem Koulé-Kafé-Platz vor der Bibliothek, ohne dass sich die Polizei auch nur ein einziges Mal blicken lässt.

Offensichtlich wird jedoch auch, dass hier von der Aufbruchsstimmung im Januar und der damit verbundenen Beteiligung breiter Teile der Bevölkerung an den Stadtteilplena nur noch wenig übrig ist. Zwar versammeln sich an allen drei Tagen zwischen 80 und 100 Personen, um miteinander zu diskutieren, doch schon vom Outfit her sind sie klar der "Szene" zuzuordnen. Die "Normalbevölkerung" ist nicht anwesend.

Was nach Aussage von Aktivisten der AK und der besetzten ehemaligen Tuchfabrik Yfanet im Stadtteil Toumba auch nicht verwunderlich ist, da die "Anwohnerversammlung der Altstadt von einer Gruppe dominiert" werde, deren Verhalten man nur "als stalinistisch" bezeichnen könne. Jede abweichende Meinung werde sofort bekämpft, schon "vorsichtig geäußerte Kritik an den ständigen Anschlägen" als "konterrevolutionär" gebrandmarkt.

Während sich die Versammlungen in den Stadtteilen Sykíes und Kalamaría unter allgemeiner Beteiligung um Themen wie die Strahlung von Funkmasten im Stadtteil oder das schlechte Trinkwasser kümmere, propagiere die Versammlung der Altstadt den "Aufstand mit allen Mitteln". Sie betreibe damit einerseits den Selbstausschluss aus der Gesellschaft und erleichtere gleichzeitig die vom Staat mit Vehemenz betriebene Kriminalisierung der Bewegung.

Die griechische Polizei leidet seit dem Aufstand unter einem enormen Imageverlust. Nicht erst seit den Krawallen vor Weihnachten gilt sie als uneffektiv, überaus brutal und als kaum in der Lage, für die Sicherheit der "anständigen Bürger" zu sorgen. Jüngstes Beispiel ist die Sprengung einer Filiale der Eurobank im Athener Stadtteil Argyròpoli in den frühen Morgenstunden des 12. Mai. Als die Besatzung eines Streifenwagens die behelmten Täter vor der Bank anhalten will, zieht einer der Männer eine Waffe und bedroht die Beamten, die sich daraufhin zurückziehen. Kurze Zeit später fliegt nach einem Warnanruf bei der Tageszeitung Eleftherotypía die Bank in die Luft. Von den Tätern, nach Einschätzung der Polizei Mitglieder der bewaffneten Organisation Epanastatikòs Agònas (EA, Revolutionärer Kampf), fehlt jede Spur. EA hatte im Dezember und Januar Polizisten unter anderem mit Schnellfeuergewehren beschossen, was heftige Kritik aus Teilen der radikalen Linken und der AK Athen zur Folge hatte. Aufgrund solch peinlicher Misserfolge setzt der Staat seine repressiven Mittel verstärkt gegen die sichtbaren Angehörigen der Linken und hier vor allem der anarchistischen Bewegung ein.

Ende März wies Bundesanwalt Giorgos Sanidas die Staatsanwaltschaften in Athen, Thessaloníki und Volos an, gegen die BewohnerInnen der besetzten Häuser zu ermitteln, und drohte den Eigentümern - Banken und staatlichen Institutionen - mit rechtlichen Schritten, sollten sie hinsichtlich etwaiger Räumungen nicht kooperieren. Solche Einschüchterungsversuche bleiben bislang jedoch ohne Erfolg.

Die BesetzerInnenszene ist stärker denn je. Unter dem Motto "Wagt es nicht, auch nur daran zu denken! Solidarität mit den besetzten Häusern" demonstrieren Ende April mehr als 1.500 Menschen in Thessaloníki rein prophylaktisch gegen eventuell geplante Räumungen. Und es geht nicht mir um die besetzten Häuser, sondern auch um andere im Zuge der Dezemberereignisse erkämpfte Freiräume.

So haben im zubetonierten Athener Stadtzentrum die BewohnerInnen des Stadtviertels Exàrchia eine Fläche von 1.500 qm selbst zum Park gemacht. Auf dem Grundstück, das direkt an dem Ort liegt, wo Grigorópoulos erschossen wurde, sollte bereits vor 20 Jahren ein Park entstehen. Trotzdem wurde es bis vor kurzem als Parkplatz genutzt und sollte in Kürze bebaut werden. Eine Nachbarschaftsinitiative schafft es, innerhalb eines Monats den Beton des Parkplätzes aufzureißen, alles umzugraben und zu bepflanzen.

Gegenüber solcherart vielgestaltigen Bewegungen sieht sich die Regierung gezwungen, alle möglichen Arten von Repressionsmaßnahmen anzuwenden. So ist seit neustem in Athen und Thessaloníki eine Polizeieinheit, die so genannte Delta-Einheit, im Einsatz. Sie besteht aus Beamten auf Motorrädern, um im chaotischen Straßenverkehr schneller eingreifen zu können. Schon mehrmals wurden Beamte der Einheit gegenüber Jugendlichen gewalttätig.

Auch der vermehrte Einsatz von Überwachungskameras ist geplant. Da dies in weiten Teilen der griechischen Bevölkerung jedoch nicht akzeptiert wird, werden immer wieder Kameras in groß angekündigten öffentlichen Happenings oder bei Demonstrationen demontiert und zerstört.

Ein weiterer Schwerpunkt der anarchistischen Bewegung - und somit auch der Polizei - ist das Engagement verschiedener Gruppen, Basisgewerkschaften und AnarchosyndikalistInnen gegen Zeitarbeitsfirmen. Aktionen mit Bezug auf diesen Sektor haben sich seit dem Mordanschlag auf die bulgarische Syndikalistin Konstantina Kuneva, die Schriftführerin des Syndikats der Reinigungskräfte und Haushaltshilfen in Athen (PEKOP), am 23. Dezember stark vermehrt (siehe GWR 336, Februar 09).

Die Kampagne richtet sich gegen griechische (Oikomet) und multinationale (Adecco) Firmen, die Reinigungsarbeiten im öffentlichen und privaten Sektor übernehmen und dabei einen modernen Sklavenhandel betreiben. Mittlerweile hat sie zu ersten Ergebnissen geführt. So erklärt der Rektor der Aristoteles-Universität Thessaloníki nach der dreiwöchigen Besetzung des Verwaltungstraktes der Uni, die Verträge mit Oikomet kündigen zu wollen. Ähnliches wurde durch die Besetzung der ISAP, der Verkehrsbetriebe Athens, erreicht, wo Kuneva bis zum Anschlag als Putzfrau arbeitete.

Ziel ist es, prekäre Arbeitsverhältnisse, also das Verleihen von Menschen im 21. Jahrhundert, zuerst im öffentlichen und in der Folge auch im privaten Sektor komplett zu ächten.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 340, Sommer 2009, S. 8
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
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Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2009