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GRASWURZELREVOLUTION/1079: "Der Anarchismus ist ein idealer Entwurf des menschlichen Lebens" - Teil 3


graswurzelrevolution 345, Januar 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

"Der Anarchismus ist ein idealer Entwurf des menschlichen Lebens"

Die Kollektivierungen im Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939. Teil 3. (*)
Die konkrete Umsetzung der Kollektivierung und die tägliche Realität der Kollektive

Von Wolfgang Haug


1939 endete der 1936 mit dem Putschversuch Francos angezettelte Spanische Bürgerkrieg. Der Sieg des Franco-Faschismus über die Republik und den Anarchosyndikalismus war eine Katastrophe, die Hitler in seinem Plan bestärkte, "die ganze Welt" zu erobern. Fast vergessen ist, dass es als Reaktion auf den Putsch erbitterten Widerstand der Bevölkerung gab und in weiten Teilen Spaniens im Sommer 1936 eine soziale Revolution stattfand. Deren TrägerInnen waren vor allem in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT (Nationale Konföderation der Arbeit/er) und in der FAI (Anarchistische Föderation Spaniens) organisiert. Wolfgang Haug erläutert in seiner in der GWR 340 begonnenen, in der GWR 341 fortgesetzten und mit dem nun folgenden Beitrag abgeschlossenen Artikelserie die Geschichte der damals verwirklichten Kollektivierungen.
(GWR-Red.)


Im dritten Teil soll die konkrete Umsetzung der Kollektivierung und die tägliche Realität der Kollektive verglichen werden. Dazu können heutige Erinnerungen von ehemals Beteiligten oder der in Barcelona wöchentlich veröffentlichte "Deutsche Informationsdienst der CNT-FAI", sowie die Augenzeugenberichte von Augustin Souchy und Gaston Leval herangezogen werden. Die Schilderungen würden leicht ein umfangreiches Buch füllen, so dass wir uns hier auf wenige Beispiele beschränken müssen. Dadurch entsteht die luxuriöse Situation, die Orte auszuwählen, in denen eine besonders gute Quellenlage entstanden ist, weil Leval und Souchy und andere unabhängig voneinander dieselben Kollektive besucht und beschrieben haben. Trotz dieser Bedingung, stehen uns zahlreiche Orte zur Verfügung, die in diesem Überblick aus Platzgründen unberücksichtigt bleiben mussten, sehr gerne hätte ich hier die Entwicklungen in den katalanischen Städten Granollers (1) und Rubi (2) hinzugenommen.


"Begeisterung" und Produktivität

1983 initiierte die Medienwerkstatt Freiburg eine Fahrt mit Augustin Souchy und Clara Thalmann nach Spanien, an die Stätten, an denen Clara in der Kolonne Durruti gekämpft oder an denen Augustin die Kollektive besucht hatte. Im Dorf Binaced trafen sie auf einen Zeitzeugen von 1936. Francisco, ein Müller, wurde von Augustin befragt:

"Was mich interessiert, 1936 bin ich bei ca. 20 Kollektiven gewesen: in Aragonien, Katalonien und Valencia. Bei manchen gab es den gleichen Lohn für alle, andere hatten das Geld ganz abgeschafft. Jeder bekam das, was er brauchte. Wieder andere gaben Gutscheine aus, wie war das bei Euch?

Francisco: Hier gab es Gutscheine ... Es gab Pappkarten, die einen Wert von 2,50 bis 5,00 Pesetas hatten. Damit wurde eingetauscht, was man brauchte. Da unten, wo jetzt die Wirtschaft ist, hatte man einen Laden eingerichtet, da gab es alles: Kleidung, Essen, alles. Zur Erntezeit gingen wir morgens hin - es gab zwei Liter Wein für jeden. Das Fleisch holten wir gleich für die ganze Gruppe, gegessen wurde auf dem Feld. Ja, das lief ganz gut. Augustin: Und alles was ihr brauchtet, gab es umsonst?

Francisco: Ja (...). Es gab einen Schreiner, der die kaputten Geräte reparierte, es gab einen, der auf die Maultiere aufpasste. Das war enorm praktisch. (...) 

Augustin: Wenn jetzt jemand etwas brauchte, was es im Dorf nicht gab? Wenn jemand nach Barcelona musste oder zum Arzt? Bekamt ihr dann Geld vom Kollektiv oder wie funktionierte das?

Francisco: Genauso und in Binefar bauten sie darüber hinaus ein Krankenhaus:

Inma: Haben sie euch zu etwas gezwungen oder lief alles freiwillig?

Francisco: Wir haben alles freiwillig getan. Gezwungen haben sie uns nicht. Wir waren doch alle begeistert, unser Leben selbst organisieren zu können."
(Medienwerkstatt Freiburg: Die lange Hoffnung, S. 89f.)

Vielfach wurde der anarchistischen Freiwilligkeit unterstellt, dass sie quasi automatisch zu ineffektiven Arbeitsleistungen und Erträgen führen würde. In der im Dezember 1937 erschienenen 67. Ausgabe des CNT- FAI Informationsdiensts findet sich folgende Meldung:

"Während halb Kastillien brach liegt, sind die Berichte, die wir von den Landarbeiterkollektiven erhalten, doppelt ermutigend. Miralcampo ist ein Dorf im Norden von Madrid, ganz nahe der Front in der Sierra.

Die folgenden Daten vermitteln eine Idee von der großartigen Arbeit dieser Kollektive der CNT und von der Bedeutung dieser neuen Wirtschaftsform für den Kampf gegen den Faschismus. Eine Gegenüberstellung der Ernteergebnisse von 1936 (unter individueller Bewirtschaftung im Besitz des Grafen Romanones) und 1937, im ersten Jahr des Kollektivismus:

Produkt

Weizenernte
1936: 3000 Fanegas (1)
1937: 7000 Fanegas
Alfalfa
1936: 80.000 Pesetas
1937: 40.000 Pesetas (nur halbes Jahr)
Gerste
1936:   500 Fanegas
1937: 2000 Fanegas
Melonenernte
1936: 196.000 Pesetas
1937: 300.000 Pesetas
Weinproduktion
1936: 30.000 Liter
1937: 45.000 Liter

Produktionssteigerung von 100 bis 400%. ... Und das alles mitten im Krieg, nahe an der Front, mit allen denkbaren Schwierigkeiten im Transport und Gerätebeschaffung. Ohne großartige Fünfjahrespläne, einfach nur durch die Begeisterung (Anm. 1: nach dem spanischen Wikipedia entspricht 1 Fanegas, je nachdem in welchem Landesteil man sich befindet, zwischen 2000 bis zu 6459,6 Quadratmetern Anbaufläche, für Kastillien waren es 6459,6). 

Dass dieses exemplarische Beispiel keine Ausnahme darstellt, belegen die vom Landwirtschaftsministerium 1938 veröffentlichten Zahlen über die Produktion von 1936 und 1937, die eine "außerordentliche Steigerung der Erzeugung im letzten Jahr" verdeutlichen. Insbesondere muss dabei beachtet werden, dass viele LandarbeiterInnen an der Front und damit als Arbeitskräfte ausgefallen waren. Die CNT versuchte den Arbeitskräftemangel durch

"Ausbildung der Frauen für Männerarbeit systematisch zu betreiben. Die Landarbeitergewerkschaften selbst haben überall praktische Kurse für Frauen und Mädchen eingerichtet."
(Deutscher Informationsdienst CNT-FAI, Nr. 88, 9.7.1938)

Aus dem bislang Dargestellten lässt sich leicht der Eindruck gewinnen, dass diese erfolgreiche Arbeit der Kollektive auch die Kritiker überzeugen konnte. Doch wie bereits in GWR 340 und 341 dargestellt, gab es politische Entwicklungen, die die Ausbreitung der Kollektive stoppten, die Versorgungssituation verschlechterten und letztlich sogar bestehende Kollektive wieder auflösten. Der Sekretär des Regionalkomitees der katalanischen Landarbeiter spricht Anfang Dezember 1937 über die Erfolge und die entstehenden Probleme:

"Als wir nach dem 19. Juli mit der Kollektivierung der Landwirtschaft begannen, wurde dies überall mit Begeisterung aufgenommen. 95% aller Landarbeiter begannen das Werk einem wirklichen Erneuerungs- und Aufbauwillen folgend. Sie sahen die Ergebnisse der ersten Kollektivgüter, die rund 25% mehr erzeugten als die individuell bearbeiteten und so wuchs die Zahl der neuen Kollektive mit jedem Tag."
(Deutscher Informationsdienst CNT-FAI, Nr. 65, Dez. 37)

Die verbliebenen individuellen Kleinbauern konnten mit ihrer Organisation Unio de Rabassaires zunächst das Privateigentum an Grund und Boden verteidigen. Während die Kollektive mit ihren Erzeugnissen zu den festgelegten Preisen die Milizen, Krankenhäuser und die Großstädte versorgten, entstand ein Schwarzmarkt mit überhöhten Preisen durch die individuellen Landgüter. Wie aus dem Bericht des Sekretärs zu entnehmen ist, entstand ein Flickenteppich, während manche Kollektive ausgezeichnet funktionierten und sich weiterentwickelten, gerieten andere unter existentiellen Druck:

"Die Kleinbauern fürchten die Konkurrenz der Kollektive. Sie denunzieren sie unter allen möglichen Vorwänden und die reaktionären Regierungsorgane nutzen die Gelegenheit, um die Polizeitruppen auf die Kollektivgüter zu hetzen. Raub und Zerstörung alles dessen, was die Kollektivbauern in gemeinsamer Arbeit aufgebaut haben, sind die Folgen. Dazu tragen noch die vielen neuen Regierungsdekrete bei, die nicht einmal die Enteignung von geflüchteten Faschisten vorsehen, so dass diese eines schönen Tages ruhig zurückkommen und ihren Besitz wiedererhalten können."
(Nr. 65, Dez. 1937)



Binefar und die "Solidarität"

Francisco erinnerte im Interview mit der Medienwerkstatt aus dem Jahr 1983 an das neue Hospital im benachbarten Binefar, einer Kreisstadt in der Provinz Huesca mit damals 5.000 EinwohnerInnen, die gleichzeitig Sitz der neu gebildeten Kreisföderation der Dorfkollektive geworden war.

Binefar war zum Zentrum für 32 Dörfer geworden, von denen 26 mehrheitlich Kollektive gebildet hatten, in Binefar selbst gehörten laut Leval 700 von 800 Familien den Kollektiven an.

Aus dem Ertrag, den die Kollektive erwirtschafteten, flossen die Überschüsse nicht mehr auf private Bankkonten sondern in notwendige Strukturverbesserungen für die Gemeinschaft.

"Die Kreisföderation sorgte dafür, dass die umliegenden Dörfer mit elektrischem Strom versehen wurden. In vielen Dörfern wurden sogar Fernsprechleitungen gelegt. Das war ein großer Fortschritt. Vor dem 19. Juli gab es im Städtchen kein Krankenhaus. (...) 100.000 Peseten wurden für den Bau des neuen städtischen Krankenhauses aufgebracht. Von der syndikalistischen Konföderation aus Barcelona kamen drei Ärzte..."
(Souchy, Nacht über Spanien, S.133)

Leval bestätigt Souchys Beobachtungen und fügt aufgrund seines längeren Aufenthalts Details hinzu:

"Von Oktober bis Dezember 1936 sind Waren im Wert von 5 Millionen Peseten mit anderen Kollektiven Aragoniens und Kataloniens ausgetauscht worden. Die Lagerräume enthielten Zucker im Wert von 800.000 (...) und Öl im Wert von 700.000 Peseten, von den weniger wichtigen Produkten einmal ganz abgesehen. Telefon und Elektrizität waren im ganzen Bezirk installiert worden. (...) Die medizinische Versorgung ist außerdem durch den Bau eines kleinen Krankenhauses ergänzt worden. (...) Im April 1937 standen schon ungefähr 40 Betten zur Verfügung, und ein ausgezeichneter Chirurg aus Katalonien kam nach Binefar, um mit dem ersten Arzt zusammenzuarbeiten. Zahlreiche Apparate wurden in Barcelona gekauft und einige Monate später hatte man genügend Instrumente für chirurgische Eingriffe, Geburtshilfe und Behandlung von Verletzungen."
(Leval, Das libertäre Spanien, S.113/114)

Ausgangspunkt für die landwirtschaftliche Kollektivierung Binefars waren 2000 Hektar bebaubaren Landes, 1.200 Hektar waren im Besitz von Großgrundbesitzern, 800 waren in kleinen Parzellen auf fast alle Familien aufgeteilt, (wir erinnern uns an die 800 Familien). Davon waren ungefähr 100 groß genug, um den Lebensunterhalt der Familien zu bestreiten. Nachdem die Großgrundbesitzer nach Huesca geflohen waren, wurden die 1.200 Hektar kollektiviert und in Arbeitsparzellen aufgeteilt.

"Es bildeten sich 7 größere Arbeitsgruppen. An der Spitze jeder Gruppe stand ein Delegierter. Nach jeder Ernte wurde ein neuer Delegierter gewählt. Jeder sollte einmal die Verantwortung übernehmen. Damit sollte die Kluft zwischen Führern und Geführten überbrückt und der Sinn für die Kritik geschärft werden."
(Souchy, Nacht, S.132)

Diese Form der Arbeitsorganisation, bei der ein Delegierter eine Gruppe von 10 ArbeiterInnen anleitete, findet sich auch in zahlreichen anderen Dörfern, in denen die AnarchosyndikalistInnen die Kollektivierung umsetzten.

"Die Delegierten zollen der Landwirtschaftskommission täglich Bericht über die geleistete Arbeit erstatten. Die Arbeitsstunden werden je nach Bedarf festgelegt. Die Vollversammlung der Binefar-Kollektivität wird ein Zentralkomitee ernennen, das aus je einem Mitglied jedes Produktionszweiges besteht. Dieses Zk wird bei der monatlichen Versammlung über die Entwicklung des Konsums und der Produktion sowie über die mit dem übrigen Spanien und dem Ausland angeknüpften Beziehungen Bericht erstatten."
(Leval, S. 110)

Zu den Bestimmungen, an die sich die Kollektive in Binefar halten sollten, gehörte u.a.:

das Verbot von Kinderarbeit (unter 15), bei körperlich schwereren Arbeiten (unter 16), (in anderen Orten wurde die Grenze auch bei 14 Jahren festgesetzt),
die Auflage, dass Frauen bei der Feldarbeit leichtere Tätigkeiten zugeordnet werden sollten,
dass der Geldverkehr innerhalb eines kollektivierten Dorfes abgeschafft ist,
dass eingebrachtes Vermögen registriert wird (bei Austritt aus einem Kollektiv konnte der Austretende meist 85% des eingebrachten Vermögens wieder zurückerhalten),
die Auflage, dass Überschüsse und Gewinne nicht an die Mitglieder verteilt, sondern dem kollektiven Nutzen zugeführt werden.

In einem Anhang zu Souchys Buch "The Peasants of Aragon" schreibt Victor Blanco, ein Beteiligter aus Alcampel, einem der 32 Dörfer, dass sie den "Überschuss an Hähnchen- und Schweinefleisch", den das Dorf nicht benötigte, "zur Güterverwaltungsstelle nach Binefar brachten".

In diesen Güterverwaltungsstellen konnten anschließend auf lokaler Ebene, den unterschiedlichen Bedürfnissen entsprechend ausgetauscht werden und von ihnen konnte überregional mit anderen Sammelstellen bis hin zu den Industriestädten der Warenaustausch organisiert werden. Die "Begeisterung" war das eine, die "Solidarität" das andere wesentliche Element, das alle Aktivitäten bestimmte. Im Gegenzug zur kostenlosen Versorgung und dem Recht auf eine Wohnung, konnte die Solidarität durchaus auch eingefordert werden:

"Solidarität ist das erste Gesetz. So werden z.B. im Notfall Industriearbeiter und sogar Angestellte aufgefordert, bei der Feldarbeit zu helfen; diese können laut Versammlungsbeschluss ihre Mitarbeit nicht verweigern. Im Juli 1937 haben sich sogar die Schneider an der Ernte beteiligt."
(Leval, S. 112)

Manchmal geriet das Prinzip auch in einen immanenten Widerspruch. Dies machte sich besonders im Verhältnis zu den Milizen bemerkbar. Um sich die notwendigen Betriebsmittel (Benzin, Säcke etc.) zu kaufen, hatte man Öl und für die Front bestimmte Nahrungsmittel verkaufen müssen. Die Delegierten lehnten diese Vorgehensweise ab. Die Lösung, die schließlich gefunden wurde, sah so aus, dass über die CNT-Tageszeitung Solidaridad Obrera ein Aufruf an die Milizen gesandt wurde, auf einen Teil der Löhne zu verzichten. Mit dem gesandten Geld wurden die Betriebsmittel gekauft, die Ernte war gerettet und der Frontbedarf konnte geliefert werden.

Ein ähnliches Beispiel für Solidarität lieferte das aragonesische Dorf Albalate de Cinca, das der Bevölkerung des belagerten Madrid Schlachtschweine, Speck, Hühner, Kaninchen, Kartoffeln, Eier, Erbsen und Bohnen sandte.

"Die Militärintendantur erbot sich, diese Lebensmittel zu bezahlen, doch die Kollektivisten wiesen dieses Angebot zurück. Das Geld war doch für sie abgeschafft; die Solidarität an die Stelle des Handelsgeistes getreten."
(Souchy, Nacht, S. 132)



Fraga und der "Familienkredit"

Fraga war 1936 eine Kleinstadt in Aragon an der Grenze zu Katalonien mit damals 8.000 bis 9.000 EinwohnerInnen. Souchy:

"Fast die gesamte Bauernschaft ist der Gewerkschaft der Landarbeiter beigetreten, die der CNT angeschlossen ist; ebenso die wenigen Industriearbeiter und Handwerker Wenn wir hier von der Gewerkschaft sprechen, dann ist unter diesem Begriff nicht nur eine Organisation der Arbeiter zu verstehen (...) Vielmehr heißt Gewerkschaft gleichzeitig kollektiviertes Unternehmen. Alle Gewerkschaftsmitglieder sind Mitglieder eines Kollektivs. Das Produkt ihrer Arbeit geht an die Gewerkschaft, die dann die Verteilung vornimmt." (Souchy: Die soziale Revolution, S. 180)

Souchy wurde informiert, dass 44% der Bauern Fragas im Kollektiv mitarbeiten. Viele Informationen zu Binefar galten auch in Fraga, es gab das Delegiertenprinzip; es wurden Kaufgutscheine im Wert von 10 bis 25 Centimes ausgegeben, die das Geld ersetzten; die Überschüsse an Gemüse, Obst, Fleisch und Getreide wurden per Lastwagen zu anderen Städten gefahren und dort gegen den eigenen Bedarf eingetauscht.

Komplementär zu Binefars Krankenhaus wurden in Fraga eine neue rationale Francisco Ferrer-Schule Luftschutzkeller gegen die Luftangriffe gebaut, sowie eine öffentliche Bibliothek eingerichtet. Ging es in Binefar um die Elektrizität so wurde in Fraga - zuerst im Krankenhaus - fließendes Wasser installiert, mit der Absicht das Leitungssystem auf die ganze Stadt auszuweiten. Eine Maßnahme, die speziell der Typhusprophylaxe galt. Dennoch unterschied sich Fraga schon durch seine Größe von Binefar, neben der Felderwirtschaft gab es hier traditionell Schafzucht, Schweinehaltung und Milchwirtschaft mit Ziegen und Kühen. Der Bestand der Herden vergrößerte sich während der Kollektivierung, weil Bewässerung, Weideplätze - und Schlachtungstermine neu genutzt werden konnten.

"Es kommt nicht mehr vor, dass 50 Schafe dort weiden, wo Platz sind Weide genug für 200 wären." (Leval, S. 104) Und die vormals für die Gutsbesitzer gesperrten reservierten Jagdgebiete in der Größe von 10.000 Hektar konnten der Bewirtschaftung durch die Herden zugeführt werden und den turnusmäßigen Wechsel er Weideplätze erleichtern.

In Fraga wurde unter den verschiedenen Berufen mit dem "Familienlohn" eine Anrechnung der Arbeitsleistung vereinbart, die aus heutiger Sicht als anarchistisches Instrumentarium befremdlich wirkt. Als Ausgangspunkt müssen wir die Situation annehmen, dass es darum ging, einem arbeitslosen Maurer, der in der Landwirtschaft half, einen angemessen "Lohn" in lokalen Gutscheinen anzurechnen, oder umgekehrt. einem Landarbeiter, der beim Bau einer Schule half.

"Ein einzelner kollektivistischer Produzent bekommt 40 Peseten pro Woche, ein Ehepaar 45 und so weiter, bis zur Höchstgrenze von 70 Peseten für eine zehnköpfige Familie, immer der allgemein anerkannten Richtlinie entsprechend, dass, je zahlreicher die Mitglieder, desto niedriger die Lebensunterhaltungskosten pro Individuum sind. Gibt es in der Familie zwei Produzenten, liegt der wöchentliche Familienlohn etwas höher, von 50 Peseten für 3 Personen bis 85 Peseten für 10 Personen. Die arbeitenden Frauen bekommen denselben Lohn wie die Männer und werden auf die gleiche Art und Weise bezahlt. Um mit der Vergangenheit ganz zu brechen, wird das Wort 'Lohn' durch 'Kredit' ersetzt."
(Leval, S. 105)

Das hier eingeführte Entlohnungssystem orientiert sich den Gutscheinen bei der Wertbestimmung zum Trotz auch in anderen Orten noch an der Pesete, unterscheidet sich lediglich durch verschiedene Stufungen. Die Grundidee "Arbeitslohn" an der Familie zu orientieren und allen Familienmitgliedern damit eine Grundsicherung zu garantieren, die sich völlig von der Arbeitsleitung löst, schien für die Situation der Landbevölkerung zu passen. Ganze Familien hatten bereits zuvor für einen Großgrundbesitzer gearbeitet oder hatten sich mit einem Kleinbesitz geradeso am Leben erhalten.

Nicht zufällig ist überall von den Landarbeiterfamilien die Rede, die anfangs KollektivmitbegründerInnen wurden. Dieser Familienkredit erwies sich insbesondere für die Familien von MilizsoldatInnen oder für durch Krankheit, Behinderung etc. verarmte Familien als unschätzbare Hilfe der Solidargemeinschaft zur Verhinderung individuellen Elends. Ob diese Art der Entlohnung allerdings auch für die Großstädte und Industriebetriebe mit ihrer größeren Arbeitsteilung und damit auch für Frauenarbeit geeignet war, darf bezweifelt werden.

Aus emanzipatorischer Sicht verliert sich der positive Ansatz einer Grundsicherung, wenn Frauen für die eigene Arbeit nichts mehr erhalten, weil sie bereits über den Familienlohn abgesichert sind. Schauen wir kurz auf ein Beispiel einer Miederfabrik im Bezirk der Stadt Graus in Aragon:

"Anstatt Mieder werden jetzt Hemden und Unterhosen für die Milizsoldaten angefertigt. Die meisten Mädchen werden nicht speziell für diese Arbeit bezahlt, da ihre Existenz schon durch den Familienlohn, in dem sie eingerechnet werden, gesichert ist. Aber sie kommen zur Arbeit, eine Schicht am Vormittag und die andere am Nachmittag und sie sind nicht weniger aktiv als die anderen. Wir sind in einer Welt des solidarischen Verhaltens."
(Leval, S.97)

Unverständlich auch, wenn wie in dem Kollektiv von Tamarite de Litera im Rahmen des Familienkredits für eine alleinstehende Frau 14 Peseten und für einen alleinstehenden Mann 18 Peseten angesetzt wurden. (Leval, S. 206) Das "solidarische Verhalten" funktioniert allerdings nur solange, wie es von allen praktiziert wird und augenscheinliche Nachteile nicht auf Grund der Geschlechtszugehörigkeit großzügig von den männlichen Zeitzeugen übersehen werden.

An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob der "Familienkredit" nicht in die Denkweise der katholischen Kirche und des spanischen Machotums genauso gut gepasst hat wie in die Kriegssituation, in der kostenlose Arbeitskräfte dringend gebraucht wurden.

Jedenfalls dürfte der "Familienkredit" einer der vielen Gründe für den Artikel Nita Nahuels in der anarchistischen Frauenzeitschrift "Mujeres Libres" vom Februar 1937 gewesen sein:

"Ich fange an zu glauben, dass wir Frauen nach der sozialen Revolution unsere Revolution machen müssen. Es gibt genügend Gründe dafür, über dieses Thema nachzudenken. In Spanien - wo die soziale Revolution bereits realisiert und gelebt wird - ist die Frau dem Mann so untergeordnet wie in jedem anderen bürgerlichen Land auch."



Industriekollektive und individueller Konsum

Um einen Gesamteindruck der Kollektivierung zu erhalten, müssen wir noch ein Beispiel aus der Industrie genauer ansehen.

Der wesentliche Unterschied zwischen der Kollektivierung auf dem Land und der Kollektivierung der Industrie Kataloniens lag darin, dass auf dem Land auch der Konsum kollektiviert war und die Kollektivierung somit das ganze soziale Leben umfasste. Mit allen Vor- und Nachteilen: wenn etwas im Überfluss erzeugt worden war, wurde es großzügig verteilt und die Überschüsse weitergegeben, wenn etwas Mangelware war, musste es rationiert ausgegeben werden. Wenn ein wichtiger Handwerker nicht dem Kollektiv beitrat, hatte man ein Problem. In der Stadt wurde die Arbeitsstätte kollektiv betrieben und die Produkte kollektiv vertrieben, aber der Konsum blieb individuell, was sich natürlich auf die Bezahlung auswirkte, hier musste der Spagat zwischen Revolution und Tradition gelingen: gleicher Lohn Ihr alle, aber individueller Pesetenlohn... und wenn es einen notwendigen Fachmann nicht Ihr den Einheitslohn gab, musste im Einzelfall doch mehr bezahlt werden.

Als spannendes Beispiel könnten einzelne Industriebetriebe dienen, die ihre Produktion weiterführten oder umstellten auf lebensnotwendigere Produkte oder die Kollektivierung der Eisenbahn, verbunden mit dem organisatorischen Aufwand, Verbindungslinien herzustellen und der Erschwernis Betriebsmittel sowie Ersatzteile aus umkämpften Gebieten zu beschaffen (Kohle aus Asturien, Röhren für Lokomotivkessel aus dem Baskenland). Für unseren Überblick habe ich die Wasserversorgung ausgewählt:


Die kollektive Wasserversorgung spart Geld und verbraucht mehr Wasser

Vor der Revolution kontrollierte die Finanzgruppe Gari-Cambó-Ventosa die Wasserversorgung von Barcelona bis Malaga, von Valencia bis Santander etc.

"Die jährlichen Gewinne beliefen sich auf 11.705.929 Peseten. Diese günstige finanzielle Lage ermöglichte es jetzt den Arbeitern, geplante Verbesserungen zum Nutzen der Bewohner Barcelonas in die Praxis umzusetzen. (...) Da es sich ausschließlich um spanisches Kapital handelte, erfolgte die Beschlagnahme ohne Schwierigkeiten."
(Souchy, Die soziale Revolution, S. 125)

"Die Direktoren der Kraftwerke (gemeint sind hier Gas, Wasser und Elektrizität, Anm. W.H.), die bis zu 33.000 Peseten im Monat verdienten, während die Arbeiter weniger als 250 bekamen, waren zum Großteil Ausländer, die von ihren Konsulaten in ihr jeweiliges Land zurückgerufen wurden." (Leval, S. 233)

Die Arbeiter bildeten ein Beschlagnahmekomitee, traten mehrheitlich der CNT bei und übernahmen die technischen Arbeiten und die Verwaltung, Milizionäre sicherten die Aquädukte gegen Sabotageakte. Die Gewerkschaften CNT und UGT übernahmen in diesen Versorgungsbetrieben gemeinsam die Aufgaben und die Verpflichtungen. "So übernahmen sie (...) die Schulden ihrer Vorgänger, deren Rechnungen sie bezahlten, ohne Zweifel, um die von den Lieferanten beschäftigten Arbeiter nicht zu benachteiligen." (Leval, S.233)

Die Verpflichtungen gegenüber den spanischen Kreditgebern wurden allerdings für null und nichtig erklärt. Souchy interviewte das Beschlagnahmekomitee hinsichtlich der Löhne und der Arbeitsbedingungen.

"Wir haben nunmehr die Tarife und Arbeitsbedingungen eingeführt, die wir schon der früheren Unternehmensleitung vorgetragen hatten, die von dieser aber nicht akzeptiert worden waren. Das heißt, es wird nur noch 36 Stunden in der Woche gearbeitet; der Tagesmindestlohn sowohl für Männer als auch für Frauen beträgt 14 Peseten. Ferner haben wir eine Alters- und Krankenversicherung eingerichtet."
(Souchy, S. 126)

Ganz wie gewünscht ließ es sich in der Anfangsphase aber nicht durchführen, so arbeiteten viele deutlich länger, bis zu 50 Stunden, da sie die Arbeit derjenigen mit übernahmen, die an die Front gingen. Zu den Verbesserungen für die Bevölkerung Barcelonas meinte das Beschlagnahmekomitee:

"Erst einmal haben wir einen einheitlichen Wassertarif eingeführt. Der allgemeine Preis beträgt jetzt 0,40 Peseten, während es früher Bezirke gab, wo er 0,70, 0,80 und sogar 1,80 Peseten betrug. Außerdem muss der Verbraucher nur den Anteil an Wasser bezahlen, der das von der Gemeinde festgelegte Minimum übersteigt. 250 Liter pro Tag und Haushält sind kostenlos. (...) Es gibt heute noch Häuser, in denen nicht mehr als 30 Liter täglich verbraucht werden. Diese Tatsache steht im Widerspruch zu den einfachsten Hygienevorschriften. Ferner haben wir die Zählermiete abgeschafft."
(Souchy, S. 127, Leval, S. 234)

Der Wasserverbrauch in Barcelona stieg durch diese Maßnahmen von 140.000 Millionen auf 150.000 Millionen Liter (Leval, S. 234, Souchy, S.127) Engpässe entstanden keine. Des weiteren wurden neue Wasserleitungen für Tarrasa und Sabadell geplant und während die Landkollektive die Milizen mit Nahrungsmitteln versorgten, übernahmen die Industriebetriebe die Finanzierung. "Bis heute haben wir 102.515,64 Peseten an die Milizen abgeführt." (Beschlagnahmekomitee, Interview, Souchy, S. 128).

Auch wenn wir mit der Wasserversorgung hier nur ein Beispiel genauer betrachten, hat die kollektive Struktur doch in vielen anderen Betrieben ganz ähnlich ausgesehen und funktioniert. Jeder Arbeitsbereich sollte Mitspracherecht erhalten, jeweils 15 ArbeiterInnen bildeten eine Sektion, deren Versammlung ernannte zwei Delegierte. Bei weniger als 15 ArbeiterInnen schlossen sich unterschiedliche Arbeitsbereiche zu einer Sektion zusammen. Der erste Delegierte nahm am Betriebskomitee teil, der zweite Delegierte leitete die Arbeit der Sektion.

Ein Betrieb bestimmte darüber hinaus einen Arbeiterdelegierten, einen technischen Delegierten und einen Verwaltungsdelegierten. Manchmal wurden diese drei durch einen weiteren Delegierten ergänzt, wenn es darum ging, dass CNT und UGT gleich viele Delegierte stellen wollten.

Der Arbeiterdelegierte, der im übrigen nicht gänzlich von seiner Arbeit freigestellt war, sollte zwischen den verschiedenen Sektionen die Bedürfnisse abstimmen oder bei Konflikten vermittelnd eingreifen, er wurde täglich von den Sektionen über die Arbeiten informiert, nahm Verbesserungsvorschläge entgegen und berief die Vollversammlungen ein, die Entscheidungen trafen. Zudem informierte er den Industriegeneralrat Kataloniens über die gefassten Beschlüsse und den Stand der Produktion.

Der technische Delegierte kontrollierte die Produktion, sein Aufgabengebiet erstreckte sich auf technische Neuerungen, die die menschliche Arbeit entlasten sollten und er erstellte Statistiken über die Produktion und die technischen Anlagen. Der Verwaltungsdelegierte kontrollierte das ein- und ausgehende Material sowie die Ein- und Ausgaben, registrierte die Aufträge, verbuchte die Lieferungen, kontrollierte die Korrespondenz und erstellte die Bilanz für den Industriegeneralrat.


Was sagt uns dies heute noch?

Alles nur olle Kamellen?
Spanischer Bürgerkrieg - mehr haben die AnarchistInnen von heute nicht zu bieten?

Nein, der Anarchismus ist seiner Entwicklung nicht 1937 stehen geblieben und kann trotzdem nach wie vor aus den praktischen historischen Erfahrungen Stärke und Anregung beziehen. Begeisterung für ein Ideal und Solidaritätsdenken anstelle von individuellem Gewinn- und Erfolgsstreben, gegenseitige Hilfe und transparente Entscheidungen anstelle von hierarchischen Strukturen und Ellenbogenmentalität, Hinterfragen von Rollen und Funktionen, über den eigenen Tellerrand hinausdenken und die Bedürfnisse anderer berücksichtigen, direkte Interessenvertretungen bilden und direkte Demokratie fördern, freie Assoziationen für Verbesserungen der Lebensumstände bilden und selbst aktiv werden oder auch: erkennen, wann es auf einen persönlich ankommt!


Anmerkungen:
(1) Souchy, Die soziale Revolution in Spanien, S. 152f.; Leval, Das libertäre Spanien, S. 281f.
(2) Souchy, ebd., S. 162f.; Leval, ebd. S. 290f.


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Teil 1 dieses Beitrags siehe unter:
GRASWURZELREVOLUTION/1026: "Der Anarchismus ist ein idealer Entwurf des menschlichen Lebens" - Teil 1
Teil 2 dieses Beitrags siehe unter:
GRASWURZELREVOLUTION/1035: "Der Anarchismus ist ein idealer Entwurf des menschlichen Lebens" - Teil 2


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, GWR 346, Februar 2010, S. 14-16
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2010