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GRASWURZELREVOLUTION/1128: Technikkritik - Realität oder Technikmythologie?


graswurzelrevolution 352, Oktober 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

TECHNIKKRITIK
Realität oder Technikmythologie?
Zukunftsprognosen zur Nanotechnologie und Forderungen an eine aktuelle linke Technikkritik

Von Jörg Djuren


Dieser Text befasst sich mit den Zukunftsprognosen der Nanotechnologie. Ich halte dieses Thema aus zwei Gründen für die graswurzelrevolution für relevant.
- Nanotechnologie wird als Querschnittstechnologie in ähnlich grundlegender Weise zukünftige Entwicklungen mitbestimmen wie die Computertechnologie.
- Ich versuche in diesem Text, am Beispiel der Nanotechnologie grundsätzliche Fragwürdigkeiten / unzulässige Verkürzungen und Vereinfachungen technologiekritischer Debatten aufzuzeigen. Ich habe eine grundsätzliche Kritik daran, wie diese Fragen teilweise auch in der Linken diskutiert werden.


Als ich angefangen habe, mich mit Nanotechnologie zu befassen, kamen mir bestimmte Dynamiken aus anderen Zusammenhängen bekannt vor. Ich habe zur Kritik der Informationstechnologien gearbeitet, zur Kritik der Gentechnologie und zur Kritik der Hypes um künstliche Intelligenz und Chaostheorie. All diese Hypes gibt es seit Anfang der 80er Jahre. Da wurden jeweils neue Technologien oder naturwissenschaftliche Theorien mit großen positiven oder negativen Erwartungen verknüpft.

Mit der realen technologischen Entwicklung hatte dies in der Regel nichts zu tun. Die uns, dank ihrer künstlichen Intelligenz, überlegenen Robotergeschlechter haben bis heute nicht die Macht übernommen, um es zugespitzt auszudrücken. Für die Entwicklung technologiekritischer Bewegungen führte dies teils zu einer fatalen Dynamik. Eine unkritische Kritik schlug um in eine ebenso unkritische Affirmation, da die vorausgesagten Katastrophen nicht eintraten. Typisch ist dafür der heutige unkritische Umgang mit den Informationstechnologien.

Auch in den Auseinandersetzungen mit der Nanotechnologie, z.b. in Ethikdebatten, werden zu einem erheblichen Teil technische Ohnmachts- und Allmachtsphantasien diskutiert. Da geht es um das Phantasma des ewigen Lebens durch medizinische Nanotechnologie, das Phantasma der Verbesserung / der Umkonstruktion des Menschen selbst, z.B. durch zusätzliche Computerbauteile für das Gehirn (Enhancement), und um die Schaffung des technologischen 'Paradieses' durch Nanoassembler, kleine sich selbst reproduzierende Roboter, die aus Materie alles produzieren, was wir brauchen. Und es geht um dem entgegengesetzte Angstphantasien, die totale Zerstörung allen Lebens durch den Grey Goo (kleine selbstreproduzierende Nanoroboter, die die Welt auffressen und in grauen Schleim verwandeln), die Herrschaftsübernahme durch überlegende Nanoroboter mit Scbwarmintelligenz, usw.

Wieder einmal werden auch in der technologiekritischen Linken Phantasmen diskutiert statt der realen technologischen Entwicklungen. Aus diesem Erfahrungshintergrund kann ich bezüglich Nanotechnologie nur einen Satz aus dem "BASF-Verhaltenskodex Nanotechnologie" bestärken, in dem es heißt:

"Die Herstellung künstlicher Organismen und selbstreplizierender Nanoroboter mit Hilfe der Nanotechnologie ist nach heutigem Stand des Wissens nicht möglich und für uns Science Fiction."

Wieso wird so etwas dann trotzdem derart herausragend wahrgenommen? Z.B. in den Medien, in populären Romanen und zum Teil auch in der technologiekritischen Szene. Darauf ist eine Antwort möglich, wenn wir uns genauer anschauen, wozu Science Fictions gut sind, welchen Zweck sie erfüllen.

Irrtümlich gehen viele Leute davon aus, dass Science Fictions technische Zukunftsmöglichkeiten diskutieren. Das ist aber eher die Ausnahme. In der Regel nutzen Science Fictions die technischen Fiktionen, um aktuelle politische, soziale und grundlegende menschliche Fragen bildhaft in Szene zu setzen. D.h., die technischen und naturwissenschaftlichen Fantasien werden als Metaphern, als Bilder, benutzt, sei es, um aktuelle ökologische Fragen, die Weltpolitik u.a. zu diskutieren oder auch ganz grundsätzlich: Was ist das autonome Subjekt? Was ist der Mensch? Wo ist die Grenze des Menschlichen? ...

In anderen Science Fiction-Fantasien geht es wiederum um die Bearbeitung aktueller sexueller Themen, z.B. um die Bearbeitung pubertärer Bedrängungen in den Spiderman- oder X-Men-Filmen. Das Monströse steht hier bildhaft für die pubertären sexuellen Bedrängungen.

Das Spektrum ist breit. Ich führe dies deswegen so aus, weil ich denke, dass in der Diskussion um eine Zukunft im Zeichen der Nanotechnologie ähnliche Themen eine zentrale Rolle spielen. Das heißt, dass es auch in den Diskussionen um Nanozukünfte, den Diskussionen um Nanotechnologie der dritten, vierten usw. Generation gar nicht um Abschätzungen der Technologieentwicklung geht, gar nicht um technische Realitäten, sondern um aktuelle Probleme, die nur in technisch-naturwissenschaftlichen Bildern debattiert werden.

Und es ist fatal, wenn Menschen, vergleichbar dem schizophrenen Bäcker, der Kuchenteig in den Baum wirft und meint, er würde Blätterteig produzieren, die metaphorische, die bildliche Ebene mit der Realität verwechseln. Genau dies ist aber, was in vielen Technikdebatten passiert und auch in einem Teil linker technikkritischer Debatten zur Nanotechnologie.

Das heißt, es gibt bestimmte grundlegende menschliche Themen, die in immer neuen Metaphern und neuen Bildern von Menschen bearbeitet worden sind und bearbeitet werden. Diese Themen finde ich in der griechischen Mythologie, ich finde sie in der Literatur und in aktuellen Technikdebatten, mit der realen Technikentwicklung haben sie aber nichts oder nur sehr vermittelt zu tun. Ein Beispiel dafür wäre das Füllhorn, psychoanalytisch betrachtet die Fantasie der nicht versiegenden Mutterbrust und ihres Gegenbildes, der verschlingenden Mutter. Dies in Nanometaphorik zu diskutieren, also als Nanoassembler bzw. als Grey Goo, der uns alle verschlingt, ist nicht illegitim, solange die Metapher als Metapher verwundet bleibt und nicht mit der Realität verwechselt wird.

Es ist verständlich, wenn sich Diskussionen gerade an diesen irrealen fiktionalen Beispielen entzünden, schließlich werden hier grundlegende Fragen diskutiert, die die Fantasie der Menschen schon lange beschäftigen. Es sind Fragen, die auch NaturwissenschaftlerInnen beschäftigen und Teile ihrer Technikfantasien bestimmen. Es sind Fragen, die hohe mediale Aufmerksamkeit garantieren, gerade dann, wenn sie in einem metaphorischen Gewand aufgegriffen werden. Solange dies alles im Metaphorischen verbleibt, ist es unproblematisch.

Das Ganze wird dann problematisch, wenn die Metapher nicht mehr als Metapher gelesen wird, nicht mehr bildlich gelesen wird, sondern als Realität. Wenn die Menschen anfangen, real über die Beschaffenheit des Füllhorns zu debattieren und wie Indiana Jones losrennen, um den Heiligen Gral zu suchen. Dies führt dazu, dass bestimmte Ideologien verstärkt werden.

Das will ich an einem zweiten Beispiel erläutern, der technologischen Erweiterung menschlicher Intelligenz, des kognitiven Nanoenhancement. Ich halte das für eine genau so irreale Technikfantasie wie Nanoassembler.

Auch hier werden grundsätzliche Fragen in technischer Metaphorik diskutiert. Was ist das Subjekt? Wo sind die Grenzen? Was macht mich aus?

Insofern sind auch dies spannende Fragen, solange ich die Metapher bildlich lese. Wenn ich aber die technologische Erweiterung menschlicher Intelligenz als reale technische Möglichkeit debattiere, dann impliziert dies, dass der Mensch eine Maschine ist und das Gehirn eine Art Computer: Dann kann ich mir die Debatten sparen.

Denn wieso sollte ich noch über irgendetwas diskutieren, wenn der Mensch eine Maschine ist? Die Mensch-Maschine-Gleichsetzung ist eine ideologische Setzung und sie steht in einer autoritären Tradition. Diese ideologische Setzung erfolgt in dem Moment, in dem diese technische Fiktion als realistisch debattiert wird.

Aus einer linken emanzipatorischen Sicht liegt hier das Problem: in der Akzeptanz der Annahme als Debattengrundlage. Die Züchtung oder in diesem Fall die technologische Konstruktion von Übermenschen halte ich für ausgeschlossen. Die Ideologie der Möglichkeit, Übermenschen zu schaffen, der Glaube daran, ist aber davon unabhängig gefährlich.

Ich will das konkretisieren: Die reale Wirksamkeit eines Nanoenhancement im Sinne der Schaffung von Übermenschen halte ich auf der Basis der Kenntnisse kritischer Gesellschaftswissenschaften und psychoanalytischer Theorie für ausgeschlossen.

Dabei geht es mir nicht um zusätzliche neuartige Werkzeuge oder Prothesen, sondern um die Fantasie der Verbesserung des Menschen selbst. Eine einfache Frage dazu: Wie programmiert frau / mann eine Erweiterung des Unbewussten?

Um die Subjektidentität beim Gehirnenhancement durch zusätzliche Computerbauteile aufrecht zu erhalten, wäre das ja notwendig. Es gibt viele weitere Fragen, die diese Vorstellung der Konstruktion von Übermenschen real schnell als Fantasie entlarven. Z.B. auch die Frage: Wieso die beteiligten WissenschaftlerInnen ihre Positionen dann nicht konsequenterweise an Jüngere abtreten? Wenn tatsächlich Messwerte wie Gedächtnisleistung und Reaktionsschnelligkeit relevant wären für die intellektuellen Fähigkeiten, also die Messwerte, die typischer Weise durch technologisches Enhancement verbessert werden, dann müsste ein Zwanzigjähriger jedem 60-jährigen intellektuell überlegen sein. Aber niemand fordert, die Institutsleitungen an Zwanzigjährige abzutreten. Auch die WissenschaftlerInnen, die das Enhancement vertreten, fordern dies nicht, auch sie vertreten in der Alltagsrealität ein viel komplexeres Bild von Intellektualität als in ihrer Forschung.

Die wenigen Fälle, in denen diese Messwerte und das Alter tatsächlich eine Rolle spielen, sind die Fälle, in denen Menschen nur noch als Anhang von Maschinen agieren, z.B. Kampfjetpiloten.

Nicht zufällig fordert insbesondere die DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency - Militärforschungsagentur der USA) diese Forschungen. Mit Erhöhung von Intelligenz hat dieses technologische Gehirnenhancement nichts zu tun, die Piloten sollen nicht denken, sondern funktionieren.

Aber die Möglichkeit, Nanoenhancement als soziale und juristische Distinktionskategorie einzusetzen, ist davon unabhängig. Um z.B. eine Art Enhancementrassismus durchzusetzen, bei dem nur noch Menschen mit entsprechender technologischer 'Gerhirnaufwertung' Zugang zu bestimmten gesellschaftlichen Positionen erhalten, reicht es, dass dies als Ideologie funktioniert, genauso wie es beim klassischen Rassismus und der Rassenbiologie ausreichend war. Um soziale Ausschlüsse zu legitimieren, reicht der Glaube an die technologische Sichtweise auf den Menschen. Dass dieser Glaube real völliger Unsinn ist, ist dafür irrelevant.

Das Problem liegt bei der Technik des Nanoenhancement nicht in einer zu befürchtenden technischen Realisierung (da diese unmöglich ist, da Menschen keine Maschinen sind), sondern in der diesen Debatten zu Grunde liegenden Setzung. Das Problem ist nicht die irreale Technikfantasie, sondern die Setzung, die durch den Glauben an ihre Umsetzungsmöglichkeit stattfindet.

Das heißt, es ist die ideologische Funktion, die den Technik- und Naturwissenschaften als Religion der Moderne, als wahrheitssetzende Praxis, zukommt, die hier das Problem ist. Der Glaube an die Naturwissenschaften ist das Problem, ein Glaube, der auch durch linke Technikdebatten und ihre zumindest teilweise unkritische Übernahme der Anmaßung und Ignoranz dieser Wissenschaften noch verstärkt wird.

Ich fordere dazu auf, aus einer emanzipatorischen Perspektive bestimmte Diskussionen zu verweigern. Wenn mir jemand vorschlagen würde, "lass uns doch nur einmal annehmen, Schwarze seien dümmer als Weiße, und sehen, was daraus ethisch zu folgern wäre", dann würde ich dies ja auch ablehnen und klarstellen, dass die Grundannahme nicht stimmt.

Das Gleiche erwarte ich von einer emanzipatorischen Kritik bei der Gleichsetzung Mensch Maschine. Dabei geht es nicht darum, die Diskussion grundsätzlich zu verweigern, sondern an einer anderen Stelle anzusetzen. Die linke Kritik muss ansetzen an der Setzung Mensch = Maschine. Diese Gleichsetzung gilt es zu verweigern, zu thematisieren und zu kritisieren.


Was ist Naonotechnologie?

Der Begriff Nanotechnologie ist selbst nicht klar definiert.

Kritische Autoren begreifen ihn eher als eine Art technologiepolitische strategische Begriffserfindung. Nach Joscha Wullweber wird mit dieser unterschiedliche Bereiche (Chemie, Biologie, Physik, Informatik, Medizin, ...) übergreifenden Zusammenfassung bisher getrennter Forschungsbereiche eine Modernisierung der technologischen Strukturen betrieben. Für ihn wird mit dem Begriff Nanotechnologie ein Mythos konstruiert.

"Dieser Mythos fungiert als ein Akt der Repräsentation, mit dem Ziel, dass bestimmte partikulare Interessen über hegemoniale Artikulation an die Stelle des 'Allgemeinen', hier des Gemeinwohls, treten sollen. Es handelt sich m.E. also weniger um eine spezifische Technologie als vielmehr um ein gesellschaftliches Projekt oder besser, um verschiedene gesellschaftliche Projekte unter dem Label Nanotechnologie."

Er begreift die Diskurse um den Begriff Nanotechnologie als Teil der Auseinandersetzung um Modernisierungsstrategien unterschiedlicher Interessengruppen aus Politik, Wissenschaft, Konzernen im Kontext des sogenannten wissensbasierten Kapitalismus.

Joachim Schummer redet im Kontext von Nanotechnologie von Erlösungsphantasien und von Phantasien eines Nano-Armegeddon. Auch er sieht Nanotechnologie primär als einen technologiepolitisch strategischen Begriff an zur Akquise von Forschungsgeldern und zur Durchsetzung eines neuen Wissensregimes (der Aufweichung der Grenzen zwischen Natur- und Technikwissenschaften, zugespitzt einer just-in-time Grundlagenforschung, die auf direkte technische Vermarktbarkeit ausgerichtet ist).

Soweit es um einen weit gefassten Begriff von Nanotechnologie geht, würde ich diesen Autoren zustimmen. Es gibt aber einen eng gefassten Begriff von Nanotechnologie, der inzwischen relativ konsensual ist und auch bezogen auf den Gegenstand der Forschung Sinn macht. Dieser enge Begriff fasst Nanotechnologie primär als Materialtechnologie. NANO-Technologie ist in diesem engen Sinn die gezielte Manipulation von Materie in einem Größenbereich von ca. einem bis einigen Hundert Nanometer (10 Wasserstoffatome nebeneinander messen ca. 1 mm, eine rote Blutzelle misst ca. 5.000 nm im Durchmesser), die zielgerichtet den Effekt ausnutzt (primär quantenmechanische Effekte), dass Manipulationen in diesem Größenbereich zur Veränderung der biochemischen und physikalischen Eigenschaften der Materie führen. Dies ermöglicht potentiell die Herstellung vielfältiger neuer Materialien (superfest, superleicht, klebrig, schmierig, elastisch, leitfähig, toxisch, antibakteriell, ...). Als Materialtechnologie ist sie eine Basistechnologie, deren Wirkung weit Über sie selbst hinausreicht.

Weitere Infos, u.a. zur ökologischen Problematik, auf:
ak-anna.org
etcgroup.org
foeeurope.org
bund.net


Viele Technikdiskussionen haben nichts mit der realen Technikentwicklung zu tun, aber viel mit allgemeinen menschlichen Fragen und mit Ideologieproduktion.

Mein Interesse aus linker Bewegungsperspektive ist demgegenüber ein kritisch rationaler Technikdiskurs, der reale mögliche Perspektiven diskutiert und nicht Fantasien. Eine Kritik, die die ideologischen Setzungen, die der Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen dienen, gerade außer Kraft setzt. Ich habe als Utopie das kritisch rationale selbstbestimmte Subjekt. Das ist mein Ziel. Trotz Foucault, trotz Dekonstruktion.


Wie soll eine Technikabschätzung aussehen?

Ich will dies an zwei Beispielen wiederum aus der Nanotechnologie verdeutlichen. Dabei schränke ich mich auf Beispiele ein, die an der Schwelle zur Realisierung stehen. Als erstes Beispiel will ich die Wirkung neuer nanotechnologischer biochemischer Sensoren auf das Subjekt ansatzweise diskutieren.

Die Frage, die sich mir zuerst stellt, ist, von welcher Theorie des Subjektes und von welchen zukünftigen Entwicklungen des Subjektes gehe ich aus?

Und zweitens stellt sich die Frage, von welcher sozialen Implementierung der Technologie wird ausgegangen?

Meine Theoriehintergründe sind die poststrukturalistischen Theorien und die psychoanalytische Theorie, d.h., ich gehe davon aus, dass das Subjekt den Gesellschaftsverhältnissen nicht vorgängig ist, es entsteht verkürzt gesagt in ihnen.

Von der Art der sozialen Implementierung einer solchen Technologie, bezogen auf das Subjekt, fallen mir davon ausgehend zwei Möglichkeiten ein:

Die repressive Variante, das heißt, der Einsatz dieser biochemischen Sensoren, z.B. zur Überwachung des Drogenkonsums von SchülerInnen. Solche Planungen gibt es in den USA. Der Effekt wäre eine klare Konträrpositionierung der Subjekte. Ein solcher Einsatz dieser Technologie würde technologiekritische und widerständige Positionen massiv befördern. Und unter der Annahme, dass unsere Gesellschaft nicht in ein totalitäres Regime abgleitet, würde dies mittelfristig zur Zurücknahme und zu einem kritisch distanzierten Verhältnis zur Technologie führen. Es könnte natürlich auch zur Verstärkung totalitärer Elemente in der Gesellschaft führen.

Die zweite Möglichkeit einer sozialen Implementierung von biochemischen Sensoren bezogen auf das Subjekt wäre die Variante "WEB 2.0", wenn ich die erste Variante einmal "Volkszählung" nenne. Dies bedeutet eine Implementierung, die auf Anreizsysteme setzt und nicht auf Zwang. Biochemische Nanosensoren würden dann als freiwillige Möglichkeit vermarktet werden, mit denen die Subjekte ihre Selbstoptimierung besser kontrollieren könnten. Solche Sensoren würden z.B. freiwillig im Bad auf dem WC usw. angebracht und dem Subjekt permanent Rückmeldungen über diverse biochemische Messwerte geben.

Ich halte diese zweite Variante für problematischer, da sie viel tiefer in das Selbstverständnis des Subjektes eingreifen würde und, als neues Instrument der Selbstdisziplinierung, vermutlich zu einem erheblichen Wandel im Selbstverständnis der Menschen führen würde. Einem Wandel, der trotz aller Freiwilligkeit, auf Grund der technischen und sozialen Vorgaben, des Zwangs zur Selbstoptimierung im Dienste der Selbstvermarktung, zum erheblichen Teil fremdbestimmt wäre und vermutlich zur weiteren Nachfrage nach Messtechnik führen würde.

Mir geht es darum, die Schwierigkeiten einer solchen Abschätzung zu veranschaulichen. Was ich deutlich machen wollte, ist, dass mir in den Technologiedebatten zu wenig klargestellt wird, von welchen theoretischen Vorannahmen ausgegangen wird, von welchen Vorstellungen über das Subjekt, von welchen Vorstellungen über die gesellschaftlichen Entwicklungen. Und dass außerdem die Gesellschaft teilweise relativ statisch gedacht wird und dann hinein in diese statische Gesellschaft neue Technologien fantasiert werden. So findet das aber nicht statt. Gesellschaftliche und technologische Entwicklungen bedingen einander, verstärken sich oder führen zur Nichtakzeptanz bestimmter Technologien. Das heißt, ich brauche eine Gesellschaftstheorie, eine Theorie der Gesellschaftsentwicklung und eine Theorie des Subjektes und seiner zukünftigen Entwicklung, um eine Technikentwicklung abschätzen zu können. Das ist aber besonders bei den futuristischen Abschätzungen zumeist nicht der Fall. Es ist auch schwer, weil auf einmal zur Variablen 'Technik' viele weitere Variablen hinzutreten. Ich habe eine Gleichung mit vielen Unbekannten.

Darüber hinaus werden meiner Einschätzung nach primär die falschen technologischen Entwicklungsstränge betrachtet. Dazu will ich auf ein zweites Beispiel der Nanotechnologie der kommenden Generationen eingehen. Ich möchte klarer zur Debatte stellen, was Nanotechnologie als neue Materialtechnologie bedeutet.

Wenn ich an Materialtechnologien denke, dann denke ich z.B. an Stein, Bronze, Eisen, Nanotechnologie. Und in der Reihung wird den LeserInnen schon etwas aufgefallen sein. Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit, wir benennen Zeitalter nach Materialtechnologien.

Das macht Sinn, weil das Basistechnologien sind, die viele andere technologische Entwicklungen überhaupt erst ermöglichen. Stahl ermöglicht Hochhäuser, Eisenbahnen und Panzer. Nur sind Hochhäuser, Eisenbahnen und Panzer keine Weiterentwicklung der Stahltechnologie.

Das heißt, worauf ich hinaus will, ist, dass die wesentlichen Innovationen, die durch Nanotechnologie zu erwarten sind, nicht im Bereich der Nanotechnologie liegen werden.

Entscheidend werden die Entwicklungen sein, die in anderen Technologiebereichen auf der Nanotechnologie als Materialtechnologie aufbauen.

Hier ist eine industrielle Revolution zu erwarten. Es gibt heute schon Spezialkonferenzen zur Nanotechnologie in Forstwirtschaft oder Nanotechnologie in der Architektur und vielen anderen Bereichen, teils einschließlich neuer Fachzeitschriften. Dies ist das eigentliche Innovationspotenzial und nicht die Dinge, die meistens diskutiert werden. Uns erwartet eine Umstrukturierung unserer gesamten Produktionsstrukturen.

Und das heißt, wir brauchen nicht immer weitere linke Technik- oder Ethikdebatten, sondern dringend Strukturen der Mitbestimmung der Bevölkerung, der verschiedenen Interessengruppen, in dieser weiteren industriellen Revolution.

Dies sind prozesshafte Entwicklungen, die gar nicht vorab in Fachgremien realistisch abschätzbar sind, sondern einer demokratischen Begleitung bedürfen. Dies bedeutet, dass demokratische Strukturen auf den unterschiedlichen Ebenen, im Betrieb, in der Stadtplanung, in der Forschung, ganz verschiedenen Ebenen, die alle betroffen sind, ausgebaut werden müssen.

Dies betrifft praktisch alle Bereiche der Gesellschaft. Und es bedarf einer wissenschaftlichen Infrastruktur der Gegenmacht, also einer eigenständigen wissenschaftlichen Ressourcenallokation von Basisorganisationen auf internationaler, nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Ich erinnere hier an die Idee der Wissenschaftsläden, um selbst in die wissenschaftlichen und technologischen Diskurse eingreifen zu können. Dies ist eine Voraussetzung für das zukünftige Funktionieren der Demokratie.


Fazit

Die derzeitigen Ansätze von Bürgerkonferenzen sind lediglich ein Feigenblatt, da kein tatsächlicher unabhängiger Zugriff auf wissenschaftliche Ressourcen damit verbunden ist. Wir brauchen eine Technologiekritik, die Technik-, Gesellschafts- und Subjektentwicklung zusammendenkt, und Strukturen, die technologische Selbstbestimmung ermöglichen. Und eine Debatte, die technikfetischistische Hirngespinste als solche darstellt und die Metaphern nicht mit der Realität verwechselt.

Jörg Djuren
www.ak-anna.org
Hannover
Kontakt: J.Djuren@gmx.net


ZUM AUTOR:
Jörg Djuren ist Mitglied der Graswurzelgruppe Hannover. Er ist seit ca. 25 Jahren aktiv im linken Bewegungsspektrum technologie- und naturwissenschaftskritischer Gruppen, gewaltfreier Aktionsgruppen. Theorien, auf die er sich bezieht, sind die poststrukturalistischen Theorieansätze, feministische Naturwissenschafts- und Technikkritik, die kritischen Aufgriffe der Psychoanalyse und die Wissenssoziologie.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, 352, Oktober 2010, S. 18-19
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2010