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GRASWURZELREVOLUTION/1135: Gustav Landauer - Der bärtige Prophet eines freiheitlichen Föderalismus


graswurzelrevolution 353, November 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Der bärtige Prophet eines freiheitlichen Föderalismus Gustav Landauer zum 140. Geburtstag

Von Philippe Kellermann


"Gustav Landauer war zweifellos der bedeutendste Kopf, den der freiheitliche Sozialismus in Deutschland hervorgebracht hatte; dass er ausgerechnet in Deutschland leben und wirken musste, wurde ihm gewissermaßen zum Schicksal. Gerade die Mehrheit der damaligen Anarchisten in Deutschland hatte ihn am wenigsten verstanden und die meisten ahnten nicht einmal, was sie in diesem Manne besaßen. Landauer blieb in jenem Kreise, der ihm am nächsten hätte stehen sollen, stets einsam, nur von wenigen begriffen und von vielen verkannt, geschmäht und fanatisch bekämpft."
Rudolf Rocker


Wer wird schon 140 Jahre alt? Sicher, wäre man ein Nachkomme des guten alten Adam, hätte man die allerbesten Chancen dazu: darnach 930 Jahre, Enosch 905 Jahre, Kenan 910 Jahre und so weiter (vgl. 1. Mose, Genesis, 5, 1ff.).

Wie jede/r Normalsterbliche wäre wohl auch der am 7. April 1870 in Karlsruhe geborene Anarchist Gustav Landauer keine 140 Jahre geworden, aber ein paar Jahr länger hätten es schon sein können. Denn dass er nur 49 Jahre alt wurde, verdankte er einer gegenrevolutionären Soldateska, die den Kultusminister der anarchistischen Räterepublik Bayerns (7.4.-13.4.1919) am 2. Mai 1919 in München-Stadelheim brutal ermordete.

Landauer, der von sich selbst sagte, "einer der wenigen" (in Deutschland) gewesen zu sein, die zum Anarchismus "nicht" über die Sozialdemokratie kamen und letzterer immer kritisch gegenüberstand, war schon in frühen Jahren ein rebellischer Geist, den "das unausgesetzte Anstoßen romantischer Sehnsucht an engen Philisterschranken" zum Anarchisten werden ließ.

So kam es, dass, während im fernen London der greise Friedrich Engels von den Erfolgen der Sozialdemokratie schwärmte, Landauer 1893 erklärte: "Vielfach ist man im Ausland geneigt, aus dem Vorhandensein einer sozialdemokratischen Partei, die in der Tat stark ist und bedeutendere Anziehungskraft als die alten bürgerlichen Parteien ausübt, zu schließen, die Arbeiterbewegung in Deutschland sei ganz besonders weit voran. Dem ist aber nicht so. (...) Die Sozialdemokratie nämlich in Deutschland - auch sie verspricht, bald Reformen, bald das goldene Zeitalter, aber sie hat es sich fast gänzlich abgewöhnt, etwas anderes zu tun: nämlich gründliche, prinzipielle Aufklärung zu verbreiten über die sozialistische Ideen und über ihre Verwirklichung und dann aufzufordern zum Handeln. (...) Die Sozialdemokraten fürchten die Massen, die sie beschworen und halten sie deswegen in eiserner Disziplin (...) Man berauscht sich dafür an Scheinerfolgen."

Mit dem Weg zum und dem eigentlichen Gehalt des Sozialismus hatte die sozialdemokratische Politik, wie auch jede andere Form der Partei- und Staatspolitik, für Landauer nichts zu tun, denn: "Der Sozialismus ist eine Kulturbewegung, ist ein Kampf um Schönheit, Größe, Fülle der Völker." Statt sich in den Fängen des Staates zu verheddern oder attentistisch auf das Eintreffen einer revolutionären Situation zu hoffen, plädierte Landauer unermüdlich für ein ernsthaftes "Beginnen", einen "allerersten Anfang", ein "Handanlegen und Durchsetzen". Dies bedeutete für ihn: Erstens "Aussprechen, Aufrütteln, Erziehung, Arbeiten an sich selbst. Zweitens: Anwendung der Freiheit im Leben, im privaten Leben, im Familienbezirk, im Freundeskreis. Drittens: Anwendung der Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft."

Dieses Programm war es, das der Herausgeber des "Sozialist" (1893-1899, 1909-1915) und eifrige Übersetzer der fremdsprachigen "Klassiker" des Anarchismus (z.B. Bakunin, Reclus, Kropotkin), mit seinem "Sozialistischen Bund" (1908-1913/14) verfolgte: "Fort vom Staat, soweit er uns gehen lässt oder soweit wir mit ihm fertig werden, fort von der Waren- und Handelsgesellschaft (...) Schaffen wir, wir Wenigen (...) eine kleine Gemeinschaft in Freude und Tätigkeit, schaffen wir uns um als vorbildliche Menschen."

Landauer war dabei stets einer derer, die vehement darauf hinwiesen, dass der Sozialismus nicht allein durch das Bekämpfen äußerer Gegner zu erreichen ist. "In euch sitzt es, es ist nicht draußen", wie er in seiner Schrift Die Revolution (1907) schreibt.

In diesen Zusammenhang gehören auch seine vergleichsweise bekannten Worte: "Einen Tisch kann man umwerfen und eine Fensterscheibe zertrümmern; aber die sind eitle Wortmacher und gläubige Wortanbeter, die den Staat für so ein Ding oder einen Fetisch halten, den man zertrümmern kann, um ihn zu zerstören. Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält." Und so gelte: "Wir sind der Staat - und sind es so lange, als wir nichts anderes sind, als wir die Institutionen nicht geschaffen haben, die eine wirkliche Gemeinschaft und Gesellschaft der Menschen sind."

Wie der "wirkliche Sozialismus" für Landauer" immer nur beginnender" war, so auch immer nur ein solcher, der unterwegs ist". Das berühmt gewordene zapatistische caminar preguntando (fragend voranschreiten) hat Landauer der Sache nach schon 1911 vorweggenommen, als er in seinem Aufruf zum Sozialismus betonte: "Der Sozialismus als Wirklichkeit kann nur erlernt werden; der Sozialismus ist wie jedes Leben ein Versuch."

Wie ein gegenwärtiger Vertreter der sogenannten Radikalen Philosophie, welcher gegen Marx betont, dass rein ökonomisch betrachtet nichts dafür spreche, dass Herrschaftsordnungen aufgrund von unterentwickelter Produktivkraftentfaltung historisch notwendig waren, da die "von der Herrschaft wahrgenommenen Organisationsfunktionen" zu jeder Zeit "ohne weiteres anders, kollektiv und nicht herrschaftlich erfüllbar" gewesen seien (Thomas Heinrichs), ging auch schon Landauer davon aus, "dass der Sozialismus in jeder Form der Wirtschaft und Technik möglich und geboten ist; dass er nicht an Weltmarktgroßindustrie gebunden ist".

Weit davon entfernt, wie Marx und Engels zu meinen, dass erst "das durch die moderne große Industrie geschaffene (...) Proletariat" in die Lage versetzt wurde den Gedanken einer herrschaftsfreien Gesellschaft zu erfassen, verwies Landauer darauf, dass der Sozialismus "die industrielle und kaufmännische Technik so wenig brauchen kann wie die Gesinnung, aus der diese Missform sich gebildet hat". Und so wendete er sich früh gegen die abstrakte Verherrlichung des Proletariats als revolutionärem Subjekt und betonte, dass das reale Proletariat leider "philiströs durch und durch!" sei. Aus dieser Erfahrung heraus und nicht aufgrund seiner vermeintlichen Unfähigkeit zu einer (marxistischen) Klassenanalyse, wendete er sich an alle "Menschen, die es nicht mehr aushalten können und wollen" - eine Perspektive, die seit der Abkehr vom traditionellen revolutionären Subjekt Arbeiterklasse immer öfter auch in der Gegenwart vertreten wird. Während aber gegenwärtig viele der ehemaligen Proletariat-Fans enttäuscht zu einer elitären Verachtung des "Pöbels" übergehen und sich auf die "reine Lehre" zurückziehen, hielt Landauer stets fest: "das ist die Aufgabe: nicht am Volk verzweifeln, aber auch nicht aufs Volk warten." Gegen die "Philister und Wissenschaftskrämer, die sich gern Realisten nennen" machte er deutlich: "Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen."

Landauer musste dabei nicht auf die 1970er Jahre warten, um wie Foucault festzustellen, dass der Marxismus zu einer "Armseligkeit" in "politische[r] Einbildungskraft" geführt habe. Schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts hatte er darauf verwiesen, dass "nie (...) leerer, trockener geträumt worden" ist, und dass, "wenn es je phantasielose Phantasten gegeben hat, (...) es die Marxisten" seien.

Problematisch ist indes seine Haltung zu Homosexualität und Familie, problematisch, aber auch anregend seine Ausführungen zur Vergesellschaftung im Mittelalter. Wenn er auch in mancher Hinsicht etwas bieder wirkt, war er trotz allem kein spießbürgerlicher Griesgram. Im Gegenteil: Als Michel Foucault 1977 den berühmt gewordenen Satz schrieb: "Stellt euch nicht vor, man müsse traurig sein, um ein Kämpfer zu sein, selbst wenn die Sache, die man bekämpft, verabscheuungswürdig ist", wusste er wohl kaum, dass es über 50 Jahre vor ihm einen Anarchisten gegeben hatte, der darauf bestand, dass die Revolution von einem "Geist der Freude" getragen werden muss und betont hatte: "verlieren wir in all dem Grauen, in all dem Wust, in all der unendlichen Wiederholung die Heiterkeit nicht, die wir brauchen, um aufrecht zu bleiben und zu wachsen."


Landauer, dessen Schafen uns heute weitgehend zugänglich ist, ist nach wie vor Diskussionen bereichernd und verdient Aufmerksamkeit.

Diskussionen waren es wohl auch, die er gerne öfter und "tiefer" mit seinen ZeitgenossInnen auch im anarchistischen "Lager" geführt hätte. Diskussionen sind es, die allemal notwendig sind, um nicht nur die Ignoranz des Gegenübers in ihre Schranken zu weisen, sondern auch, um selbst immer wieder von vermeintlichen "Ich-weiß-doch-schon-alles"-Allüren durch die/den Andere/n kuriert zu werden. Beherzigen wir deshalb Landauers Gegnerschaft gegenüber all denjenigen, "die darauf ausgehen, die Welt von einem Punkt aus zu kurieren".


Literatur:

In der Edition AV wurden bis heute von den auf mindestens 8 Bände angelegten Ausgewählten Schriften Landauers publiziert:

Band 1: Internationalismus (2008)
Band 2: Anarchismus (2009)
Band 3.1.: Antipolitik. Teilband 1. (2010)
Band 3.2.: Antipolitik. Teilband 2. (2010)
Gustav Landauer: Skepsis und Mystik (1903). Münster/Wetzlar, 1978.
Gustav Landauer: Die Revolution (1907). Münster, 2003.
Gustav Landauer: Aufruf zum Sozialismus (1911). Berlin, 1998.
Siegbert Wolf: Gustav Landauer. Zur Einführung. Hamburg, 1988.
Hansjörg Viesel (Hg.): Literaten an der Wand. Die Münchner Räterepublik und ihre Schriftsteller. Frankfurt am Main, 1980.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, 353, November 2010, S. 16-17
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2010