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GRASWURZELREVOLUTION/1158: Wikileaks - Dies ist keine Übung ...


graswurzelrevolution 356, Februar 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Dies ist keine Übung. Dies ist die Apokalypse. Bitte bleiben Sie ruhig

Julian Assange: "Leaking ist eine inhärent antiautoritäre Tat. Es ist eine anarchistische Tat."


Sören Webers Beitrag "Abpfiff! Schiris im Internet: Wikileaks" erschien in der GWR 349; In der GWR 355 haben wir zur "Wikileaks: Diskussion" den Artikel "Julian Assange, Schweden und 'die wildgewordenen Feministinnen'" von Antje Schrupp und "Der nackte Arsch der Demokratie oder die Unmündigkeit zur Wahrheit" von Kamil Majchrzak veröffentlicht. "Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann." So ist der folgende provokante Text zu verstehen. Er kann die Diskussion weiter anheizen.
(GWR-Red.)


Im Dezember 2010 konnte man in der Tagespresse von der Freilassung Julian Assanges aus britischer Untersuchungshaft lesen und auch davon, US-Bundesanwälte würden nun alles tun, eine Anklage wegen Verschwörung und Spionage gegen Assange "zusammenzubasteln" (dpa/Nürnberger Nachrichten, 17.12.2010).

Mit diesem Wort "zusammenzubasteln" wird in den Vorgang (sicher unbeabsichtigt) eine kindliche Unschuld impliziert, die alles andere als das ist. Es ist nicht neu, dass Schicksale von Menschen durch "Bastelarbeiten" bestimmt oder besiegelt werden. Werbe-Fachleute, Public-Relations-BeraterInnen, Spin-Doktoren, PolitikerInnen, JuristInnen u.a. kennen sich besonders gut aus im Bastelsortiment. Gerade diese Formulierung aber lässt tiefer gehende Rückschlüsse zu.

Etwas sehr Beunruhigendes ergibt sich daraus, wie "zusammenzubasteln" mit "Anklage", "Spionage", "Verschwörung" einhergeht. Es ist eine, sagen wir, Figur-Grund-Situation. Der Hintergrund: Verfassung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bürgerrechte, Menschenrechte. Die Figur davor: Julian Assange. Das Verhältnis zwischen Figur und Grund: Eine Bastelarbeit?

Schon Aldous Huxley hat diese Gefahr beschrieben. Er ging davon aus, die (westlichen) Demokratien würden in der Zukunft ihr Wesen verändern: "(...) die wunderlichen altmodischen Formen - Wahlen, Parlamente, Verfassungsgerichtshöfe und alle übrigen - werden bleiben, aber die zugrunde liegende Substanz wird eine neue Art von gewaltlosem Totalitarismus sein. Alle die traditionellen Namen, alle die geheiligten Schlagworte werden genau das bleiben, was sie in der guten alten Zeit waren. Demokratie und Freiheit werden das Thema jeder Rundfunksendung und jedes Leitartikels sein - aber Demokratie und Freiheit in dem Sinn, den ihnen der Sprecher oder Schreiber geben wird. Mittlerweile werden die herrschenden Oligarchie und ihre gut gedrillte Elite von Soldaten, Polizisten, Gedankenverfertigern und Gehirnmanipulatoren hübsch still das ganze Werkel so laufen lassen, wie es ihnen passt." (Brave New World Revisited, 1959 - deutsch: Dreißig Jahre danach, 1960, S. 144)

Verfassungen mögen immer einem Interpretationsrahmen von juristischen SpezialistInnen, einer Spannung von Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit unterliegen. Aber das dürfte Huxley nicht gemeint haben, sondern eben den Zustand, bei dem sich die Auslegung hehrer Ansprüche dem Wesen einer Bastelarbeit annähert. Behält Huxley Recht, wird der Mensch nicht nur sprichwörtlich zu einer Figur in einem zu seinem Nachteil gespielten Spiel. Etwas Sprichwörtliches, das als bloße Redensart eine praktische Lebensweisheit enthält, ließe immer noch den Schluss zu, es gebe mehr als diese Weisheit, es gebe keine Weisheit letzten Schlusses.

Ansonsten vergiss die Rede vom Bürger und gewöhn' dich daran, (Spiel)Figur zu sein. Da wir nicht Schwarzsehen wollen, soll das Gesagte durchaus nicht so verstanden werden, als habe dieser oder jene westliche Staat bereits vollends den Zustand einer demokratischen Brave New World angenommen. Nun schrieb aber Huxley sicher nicht ohne Grund "(...) hübsch still das ganze Werkel so laufen lassen, wie es ihnen passt".

In einem bestimmten Umfang ist die Störung der Stille dem Bürger ja sogar gewährt, z.B. durch Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, und kann, wenn sie als kreative, couragierte (Selbstreinigungs-)Kraft interpretiert wird, sogar eine stabilisierende Wirkung auf die Beständigkeit eines Staatswesens haben. Warum also durchbricht eine Weltmacht diese Stille und macht sich ans Basteln?

Basteln als demokratischen Vorgang umzudeuten, dürfte nicht ganz leicht fallen. All das wegen der Veröffentlichung geheimen 'Herrschaftswissens'?


Das Geheime hatte und hat Tradition

Geheime Räte nannten z.B. die deutschen Fürsten ihre höheren Beamten. In den "Geheimratsecken" lebt die Erinnerung fort und wird als unangenehm empfinden, da doch offen liegt, was eigentlich vom Haarwuchs verdeckt sein sollte.

Jedenfalls traten in der menschlichen Entwicklung schon früh Priester, Druiden, Seher, Runenkundige, Orakel mit ihrem exklusiven Zugang zu den Mysterien und Geheimnissen des Lebens auf und natürlich hatte das auch etwas mit Herrschaft zu tun.


Die früher nur Eingeweihten zugänglichen 'Zeichen der Zeit' liegen heute meist offen herum. Geheimnis ist ein Wort für schlecht ausgewertete Informationen geworden. Etwas unernst: Miniröcke konnten für alle sichtbar endgültig das Geheimnis lüften, was unter langen Röcken verborgen lag. Ein Geheimnis lüften heißt i.d.R. heute die sichtbare Bestätigung des ohnehin insgeheim Bekannten.


Wie reagieren Menschen auf das stetige Anwachsen von Informationen, die Informationsflut?

Welche Informationen auch immer transportiert werden und seien es lauter Wahrheiten, als Flut ertränkt sie den klaren Blick und wenn es sein muss, den letzten Halt. Das Fluten mit Informationen ist eine deutlich praktikablere Methode, Menschen ziel- und teilnahmslos dreinblicken zu lassen, als jede Geheimniskrämerei. Zudem neigen Menschen dann auch leichter dazu, sich in Vereinfachungen zu flüchten.

In Nationalismus oder religiösen Fundamentalismus. Hatte Ernst Jünger recht, als er vermutete, "schon des Bedürfnis, mehrere Mal am Tag Nachrichten aufzunehmen, ist ein Zeichen der Angst" (Der Waldgang, zuerst 1951, hier 2001, S. 32)? Zur Frage nach dieser schwer einschätzbaren Wirkung von Informationen auf Menschen sollten wir einen Gedanken des Psychologen Carl Gustav Jung festhalten: "Es gibt einen ganz wesentlichen Grundstock der Bevölkerung, der nur sehr bedingt in der Gegenwart lebt und am Gegenwartsproblem teilhat (...) Die so genannte Gegenwart ist eine dünne Oberflächenschicht, die in den großen Zentren der Menschheit erzeugt wird. Ist sie sehr dünn, (...) so ist sie irrelevant (...) erreicht sie aber eine gewisse Stärke, dann spricht man von Kultur und Fortschritt, und dann entstehen Probleme, die für eine Zeit charakteristisch sind." (Das C.G. Jung Lesebuch, 1986, S. 182)

Die Wirkung von Informationen dürfte jedenfalls viel mit dieser Vorstellung einer Oberflächenschicht zu tun haben. Es geht also nicht darum, zu sagen, Leaking sei böse oder abzulehnen.

Es geht darum, sich im Klaren zu sein, dass Enthüllungs-Journalismus oder Informationen mit dem Ziel eines konkreten, individuellen Einstellungswandels etwas anderes sind als Informationsüberflutungen. Vor allem, da wohl niemand recht weiß, wie man die Oberflächensicht der Gegenwart misst.

Und wie "erzeugt" man Gegenwart, ohne ggf. auch einem Hexenmeister die Tür aufzuhalten? Leaking als Form der Auseinandersetzung mit Herrschaft, schön und gut. Könnte damit gar "das System in einem Realitätsexzess zum Zusammenbruch zu bringen" sein (Formulierung bei Jean Baudrillard: Kool Killer, 1978, S. 15)? Könnte Leaking Informationsfluten auslösen? Könnten Informationsfluten Realitätsexzesse befördern, herbeiführen? Muss das a priori gut sein? Das alles sollte man zumindest einmal bedenken. Was rät im Hinblick auf solche "Probleme, die für eine Zeit charakteristisch sind", hier die Vorgänge um Wikileaks, z.B. Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs in der FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.2010, Nr. 292, S. 29): "Die Regierungen des Westens sollten anfangen, die nunmehr drängenden Probleme zu lösen. Als Erstes gilt es herauszufinden, wie man mit wesentlich weniger Geheimnissen effektiv regieren kann." Herrlich! Apropos, "herrlich" kommt von "Herr" und die Herrschaft lässt grüßen.

Da klingt ein Julian Assange anders und das macht die Sache auch interessanter, wenn die Zitate tatsächlich von ihm stammen: "Wenn wir Grips oder Mut haben, dann ist das ein Segen und wir sind berufen, diese Eigenschaften nicht zu vergeuden, indem wir (...) Weitpinkelwettbewerbe gewinnen, die Effizienz des neokorporativen Staates verbessern (...)" und weiter: "Leaking ist eine inhärent antiautoritäre Tat. Es ist eine anarchistische Tat." (gefunden bei sueddeutsche.de, Niklas Hofmann: Wikileaks-Gründer: Julian Assange - Der Gegenverschwörer, 02.12.2010) Natürlich, es beginnt ein "Monopoly der Kommunikationsmittel (, das eine) herrschende Elite besser definieren (könnte), als die gefeierte Marx'sche Formel des Monopoly der Produktionsmittel (R. Shea, R.A. Wilson: Illuminatus III., S. 316 f.).

Aber Vorsicht, eine Weltmacht "bastelt" und verlässt die Stille, genau um dieses Monopoly offensiv zu spielen. Hitze erzeugen, den Kessel unter Dampf setzen, Spannungen aufbauen, Fronten markieren, Emotionen und Ängste schüren.

Die Mitspieler werden in Helden und Schurken eingeteilt. Auch so eine Vereinfachung. Die Helden der einen Seite sind die Schurken der anderen und umgekehrt. Monopoly als Prüfverfahren für die Dicke der Gegenwarts-Oberflächenschicht? Als Testverfahren für die Möglichkeit zu Wesensveränderungen der Demokratie?

Was wir erleben, ist eine massenhafte Einladung zum Mitspielen an herrschaftskritische Menschen und Gruppen. Manchen Einladungen sollte man misstrauen.


Wäre es nicht auch eine anarchistische Tat zu sagen: Mich gehen eure Geheimnisse nichts an, sie interessieren mich nicht, Spielt euer Spiel ohne mich?

Gustav Landauer sah es als großen Fehler an, dass "(...) alles Stille und Ewige missachtet und nicht gekannt ist, während dagegen das Agitatorische und das oberflächliche Tagesgeschrei überschätzt wird und in greller Blüte steht" (zitiert in: Joachim Willems: Religiöser Gehalt des Anarchismus, 2001, S. 173). Welche Möglichkeiten gäbe es, z.B. der Gefahr des "hübsch still" laufenden "Werkel" mit Stille im Landauerschen Sinne zu begegnen? Stille gegen Stille? Anarchismus als Homöopathie?

Wie auch immer, einstweilen gilt: "Dies ist keine Übung. Dies ist die Apokalypse. Bitte bleiben Sie ruhig." (Zitat aus dem Film Dogma)

Stefano


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, 356, Februar 2011, S. 9
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2011