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GRASWURZELREVOLUTION/1179: Wie die japanische Regierung ihre Bevölkerung schützt


graswurzelrevolution 359, Mai 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Wie die japanische Regierung ihre Bevölkerung schützt

Von Rüdiger Haude


Das japanische Ministerium für Erziehung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie (MEXT) betreibt schon seit längerer Zeit eine Internet-Seite, die der Unterrichtung der Bevölkerung über radioaktive Belastung dient. Die Seite trägt den Titel "Katastrophenvermeidungs- und nukleares Sicherheits-Netzwerk für nukleare Umwelt". Auf einer Karte Japans ist für jede Präfektur, in der Nuklear-Anlagen stehen, ein Button abgebildet, dessen Farbe den aktuellen Zustand der Strahlenbelastung in dieser Präfektur signalisiert. Blau steht für "Normal", gelb für "Vorsicht geboten!". Daneben gibt es noch die Farbe rosa, sie bedeutet "wird gerade überprüft".

Seit dem 13. März dieses Jahres besuche ich diese Seite regelmäßig, meistens mehrmals am Tag. Immer bietet sich ungefähr folgendes Bild:

siehe:
Quelle der Abbildung (Screenshot): www.bousai.ne.jp/eng/index.html

Dieses Bild ist ein Emblem dafür, wie Regierungen die selbst gesetzte Aufgabe verstehen, "ihre" Bevölkerung über Gefahren zu informieren und sie möglichst davor zu schützen.

1. Die Strahlung wird in "nGy/h" angegeben, also in "Nano-Gray je Stunde". Von dieser Maßeinheit habe ich vorher in meinem ganzen Leben noch nie etwas gehört (und ich bin seit 35 Jahren sensibel für dieses Thema). Es macht fast den Eindruck, als werde die Vielfalt der Einheiten-Systeme für Radioaktivität planmäßig gesteigert, damit kein Laie Zahlen vergleichen kann. Als 1979 die Katastrophe von Harrisburg passierte, mussten wir als erstes lernen, dass Strahlung nicht mehr in "rad", sondern in "rem" gemessen werde. "Rem" spielte 1986, bei der Katastrophe von Tschernobyl, keine Rolle - nun lernten wir, Becquerel (Bq) zu zählen. 2011 müssen wir uns auf "Milli-Sievert" und dergleichen einstellen, aber die japanische Regierung hat es tatsächlich geschafft, eine noch unbekanntere Skala zu wählen. Organisierte Undurchsichtigkeit ...

2. Ob z.B. "33 nGy/h" oder "834 nGy/h" tatsächlich einen blauen Button rechtfertigt, können wir also nicht einschätzen. Nehmen wir es einmal an. Die nächste Frage ist dann, ob die Zahlen stimmen. Auch während man im Fernsehen von erhöhten Strahlenwerten in Tokio hörte und in den dortigen Supermärkten wegen der Verstrahlung des Leitungswassers Hamsterkäufe stattfanden, bekam die benachbarte Präfektur Kanagawa immer ihren blauen Button. Gelb war seit Beginn der Katastrophe bis heute (11.4.2011, 7:00 Uhr Ortszeit) nicht ein einziges Mal irgendwo zu sehen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass wir hier ein "Informationssystem" haben, das nicht dazu da ist zu informieren, sondern nur dazu zu beschwichtigen.

3. Dieser Eindruck erhärtet sich beim Betrachten der beiden Präfekturen Fukushima und Miyagi (in letzterer liegt das am 11. März ebenfalls multipel havarierte Atomkraftwerk Onagawa, von dem wir seit langem überhaupt nichts mehr hören).

In diesen beiden Präfekturen, wo die blaue Entwarnung allzu offensichtlich als kriminelle Volksverdummung zu entlarven wäre, wird seit dem 13. März ununterbrochen der rosa Button angezeigt: es "wird überprüft".

Man überprüft dort seit vier Wochen, ohne auch nur ein einziges Ergebnis zutage zu fördern. Dauert das so lange, weil die jedes Nanogray einzeln zählen und handschriftlich in Strichlisten eintragen müssen?

Nein: das ist das Wesen dieser Informationspolitik.

Genau dort, wo, und genau dann, wenn das Strahlungs-Informations-System der japanischen Regierung wichtig wäre, um individuell entscheiden zu können, wie man sich zu verhalten hat, fällt es aus, bzw. wird absichtlich die Information eingestellt.

Alle Welt weiß, dass der Evakuierungsradius von 20 Kilometern um die Super-GAU-Reaktoren von Fukushima-Daiichi viel zu eng gezogen ist.

Hunderttausende von Japanern bleiben, weil sie ein sehr irrationales Vertrauen in ihre Regierung haben, in der Nähe der Strahlungsquelle, und die Gesundheit von sehr vielen von ihnen wird verpfuscht. Die Regierung wägt diese gesundheitlichen Schäden derweil abstrakt gegen die Kosten von Evakuierung, Schadenersatz und dergleichen ab.


So funktionieren Regierungen!

Die Katastrophe, die durch die Homepage des japanischen Wissenschaftsministeriums abgewendet werden soll, wäre eine gut informierte Bevölkerung. Die nukleare Sicherheit, welche angestrebt wird, ist immer noch die Sicherheit für die Nuklearindustrie. Man ist und bleibt eben "für nukleare Umwelt".

Um welchen Preis lassen wir Menschen uns das gefallen?

Wann versehen die Japaner ihre Regierung und ihre Atomindustrie endlich mit einem rosa, und dann alsbald mit einem gelben Button?


*


Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, Nr. 359, Mai 2011, S. 12
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

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Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2011