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GRASWURZELREVOLUTION/1222: Libertäre Transgender melden sich zu Wort


graswurzelrevolution 364, Dezember 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Raus aus dem Rollenklischee! Rein ins Leben!

Libertäre Transgender melden sich zu Wort


"Es ist ein Junge!" (bzw. "Es ist ein Mädchen!") Ein Ruf, der tagtäglich in unzähligen Kreissälen auf Entbindungsstationen in aller Welt ertönt. Noch weiß das kleine Würmchen, das gerade dem Mutterleib entsprungen ist und in deren Arme gelegt wird, nicht, welche Sprengkraft hinter diesem Satz steckt. Ab diesem Augenblick wirst du auf eine Rolle im Leben festgelegt, wirst, in eine Schublade gesteckt, aus der es kein Entkommen gibt.


Unmittelbar nach einer Geburt ähneln sich Jungen und Mädchen noch wie ein Ei dem anderen, von dem kleinen bewussten Unterschied mal abgesehen. Bald schon wird die große Spaltung einsetzen. Zwei Geschlechter entwickeln sich beständig auseinander, ein Leben lang. Sie wachsen in jeweils für sie zugeschnittene Rollenbilder hinein.

Die meisten kommen auch ganz gut damit zurecht, stellen diese Rollenklischees nicht in Frage. Doch es gibt Menschen, die sich diesem Dogma nicht fügen können oder wollen.

Transgender nennt man diese; Transsexuelle, Transidenten sind andere Begriffe, die ähnliches ausdrücken. Ich bleibe beim Begriff Transgender, da mir dieser noch am authentischsten klingt, auch wenn er natürlich auch nur ein Konstrukt ist.

Gender bezeichnet das soziale Geschlecht, also etwas, das konstruiert ist und nichts mit der biologischen Beschaffenheit des Körpers zu tun hat; Transgender heißt also sinngemäß übersetzt 'jenseits des Sozialen (Geschlechtes)".


Transgender lassen sich nicht zuordnen, lehnen aus unterschiedlichen Gründen eine Festlegung auf "männlich" oder "weiblich" ab

Es gibt eine Fülle von Definitionen, die weitgehend "bürgerlichen" Moralvorstellungen entlehnt sind.

"Gefangen im falschen Körper" ist wohl die am häufigsten verwendete Metapher. Biologisch männliche Personen wünschen, dem weiblichen Geschlecht anzugehören. Biologisch weibliche Personen möchten lieber männlich sein.

Eine simple Erklärung. Unsere medizinischen Errungenschaften machen es möglich, dem Abhilfe zu verschaffen. Mittels langjähriger Hormontherapien und mehrerer komplizierter, schmerzhafter (und zudem teurer) operativer Eingriffe kann eine Angleichung an das Wunschgeschlecht erfolgen. Dem voraus gehen langwierige juristische Verfahren.

Eine objektive Beschreibung der Vorgänge bietet die Seite der. Deutschen Gesellschaft für Transgender und Intersexualität (www.dgti.org).


Die Frage stellt sich unwillkürlich: Geht es auch anders?

Muss ich meinen Körper zurechtschneiden lassen, um als akzeptables Glied in der bürgerlich-patriarchalen Gesellschaft anerkannt zu sein?
Nein, das muss ich nicht!

Im Januar 2011 hat das Bundesverfassungsgericht einen ausgesprochen diskriminierenden Passus aus dem Transsexuellengesetz von 1980 gestrichen, nach dem eine Personenstandsänderung erst nach erfolgter geschlechtsangleichender OP erfolgen konnte.

Seitdem können also auch Menschen, die aus verschiedenen Gründen eine OP ablehnen, so wie ich, eine entsprechende Anerkennung finden. Doch ein wirklich selbst bestimmtes Leben garantieren diese Gesetze nicht.

Transgender-Leute sind nach wie vor schweren Diskriminierungen ausgesetzt. Dabei geht die Gefahr nicht nur von Neonazis und religiösen FanatikerInnen aus. Es ist unser auf dem bürgerlich-patriarchalen Fundament ruhendes Zwei-Geschlechter-System, das ein Entweder-Oder zum Dogma erhebt. Ein Sowohl-als-Auch ist darin nicht vorgesehen.


Transfrauen und Transmänner

Biologische Männer, die lieber als Frauen leben wollen, nennt man Transfrauen. Biologische Frauen, die eine männliche Identität annehmen, bezeichnet man als Transmänner.

Transfrauen haben es in der Regel bedeutend schwerer. Alles wird einem Mann verziehen, aber seine Männlichkeit verleugnen, ein weibliches Rollenbild annehmen zu wollen, das geht nicht. Aus diesem Grund verstecken sich Transpersonen, wollen nur schnell alles regeln. Da geht es vielen nicht schnell genug. Viele fallen so nur von einer Schublade in die nächste, und auch nach überstandener OP stellt sich kein paradiesischer Zustand ein. Gerade bei Transfrauen kommt das ursprüngliche biologische Geschlecht immer wieder durch.

Da hilft alles nichts, einfach akzeptieren, was du bist, das Beste daraus machen und dir nicht ständig etwas vormachen.


Kein Platz für ein Drittes Geschlecht

Langsam, aber sicher beginnt sich nun auch hierzulande eine alternative Transgender-Szene zu etablieren. Transpersonen, die sich nicht länger fremd bestimmen lassen wollen. Menschen, die sich in keine Schublade mehr stecken lassen.

Ausgehend von Forschungen, die bereits Anfang der Neunziger Jahre den Weg zu einer gewissen Art von androgyner Lebensweise geebnet haben, versuchen Transgender, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Doch der Weg dahin ist steinig. Denn im Grunde sind alternative Transgender die geborenen Anarchisten. Der bürgerliche Mainstream will uns nicht, weiß im Grunde nichts mit uns anzufangen. Die Zwei-Geschlechter-Ordnung ist ein wesentlicher Faktor der kapitalistischen Ökonomie einerseits, der hierarchischen Staatsidee andererseits.

Transgender werden geduldet, wenn sie sich in den für sie begrenzten Ghettos aufhalten, dort, wo man sie vermarkten kann. Clown oder Hure, so heißt für viele heute noch die Alternative, und viele Menschen wollen auch heute nicht, dass Trans-Leute jemals etwas anderes machen.

Wenn du als Transe aus diesem Ghetto ausbrechen willst, dann gibt es eins auf die Mütze, dann heißt es ab, zurück ins Rotlichtmilieu, wo du hin gehörst. Vielen bleibt gar keine andere Alternative, als sich zu prostituieren, um ihr schmales Hartz IV ein wenig aufzubessern. Da ist es sehr leicht, den moralischen Zeigefinger zu heben und "igitt" zu rufen.


Doch wo sollen wir hin?

Niemand hat etwas gegen Transgender, so sie nicht in der eigenen Familie, der engeren Verwandtschaft zu finden sind, man sie nicht als Nachbarn oder als Arbeitskollegen ertragen muss. Ansonsten sind wir supertolerant.

Die Boulevardpresse tut ihr übriges, um das Zerrbild von Transgendern in der Öffentlichkeit aufrecht zuhalten. Keine Minderheit wird in den Medien so offen verhöhnt, verunglimpft, gedemütigt. Und kaum jemand findet Anstoß daran. Im Gegenteil, man kann sich köstlich darüber amüsieren.


Die 68er sind an allem Schuld

Derzeit erleben wir einen Zustand dauerhafter ökonomischer Krisen. Der Kapitalismus, auf allen Ebenen gescheitert, wird nicht kampflos die Weltbühne verlassen.

Die Menschen fühlen sich unsicher und haben berechtigte Sorgen und Ängste vor dem, was da noch kommen mag. Viele suchen ihr Heil in rückwärtsgerichteten Ideologien und Weltanschauungen, von denen wir annahmen, diese seien schon lange auf dem Müllhaufen der Geschichte verrottet. Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, religiöser Fundamentalismus, sie alle melden sich zurück, versprechen Halt und Sicherheit in unübersichtlichen Zeiten.

Auch längst überwunden geglaubte "bürgerliche" Moral- und Sexualvorstellungen werden aus der Mottenkiste geholt, frisch aufpoliert und den Menschen als völlig neue Erkenntnisse verkauft.

Eine neue Macho-Kultur ist auf dem Vormarsch. Echte Kerle sind gefragt, Weicheier sind mega-out. Die altbackenen Rollenklischees vom starken Mann und der dienenden Frau werden von der Jugend neu entdeckt und geradezu verklärt.

Die 68er und ihre verqueerten Ideologien haben ausgedient, die Jugend von heute denkt "konservativ" und "wertorientiert".

Transgender sind da natürlich völlig deplatziert. Ebenso wie Schwule oder Lesben muss man diese am besten mittels pseudoreligiöser Psychopraktiken auf Vordermann bringen.


Transgender und die politische Linke

Transgender sind die geborenen Anarchisten, schrieb ich oben. Doch machen die Ressentiments gegen uns Trans-Leute auch vor der linken und libertären Szene nicht halt. Auch die ach so toleranten Linken haben hier gewaltig etwas aufzuholen. In puncto Rollenklischees sind sie nur all zu oft bloße Spiegelbilder der "bürgerlichen" Moral und merken dies nicht einmal.

Ich habe plumpe Pöbeleien erlebt, die jeden CSU-Ortsverein in den Schatten stellen. Transgender sind die Stiefkinder der linken Szene, wenn man ihnen denn überhaupt Beachtung schenkt.

Natürlich gibt es Fortschritte, ohne Frage, doch die reichen bei weitem noch nicht aus. Also, was tun? Den Kopf in den Sand stecken, resignieren, sich vom nächstbesten Hochhausdach stürzen?
Nein! Es gibt Alternativen.

Eine ist gerade in der Planung und über die möchte ich noch kurz berichten. Meine Freundin Jacqueline, ebenfalls Trans, möchte auf dem Gelände eines alten Betriebes in Holzminden eine Art von Kommune ins Leben rufen. Eine Lebensgemeinschaft (nicht nur) für Transgender aller Schattierungen. Es sind mehrere Häuser. Genügend Platz also, wenn auch noch viel Arbeit investiert werden muss. Ein Teil ist aber schon bewohnbar. Nun werden auf jeden Fall helfende Hände gesucht.

Ich unterstütze Jacqueline dabei, auch wenn ich lange in Zweifel darüber war, ob eine queere Kommune auf dem Lande überhaupt realisierbar erscheint. Ein solches Vorhaben in Berlin, Köln, Hamburg oder Frankfurt, hervorragend. Aber auf dem Lande?

Andererseits sind es gerade ländliche Gebiete, die in puncto Aufklärung gewaltigen Nachholbedarf haben. Warum also nicht das Risiko eingehen? Projektanarchismus in direkter Aktion, hier könnten wir den Versuch starten, Gustav Landauers Idee einer egalitären und gerechten Gesellschaft in kleinem Maßstab in die Tat umzusetzen. Hier kann noch echte Pionierarbeit geleistet werden. Gegenseitige Hilfe in direkter Erprobung. Einmal wollen wir das Thema Transgender zu einem Schwerpunkt machen.

Transleute, in Not geraten, könnten hierher kommen, um sich neu zu orientieren, um mit Gleichgesinnten ihr Leben gründlich unter die Lupe zu nehmen, um etwas Eigenes zu schaffen, eine eigenständige Kulturszene.

Wir wollen aber keine Sekte werden, sondern offen für alle sein, die sich mit dem Thema ernsthaft auseinandersetzen wollen. Folglich ist jeder/jede willkommen, der/die bereit ist, sich dem Sachverhalt zu stellen und Seite an Seite mit Transgendern zu leben.

Herrschaftsstrukturen wollen wir vermeiden. Rassismus, Fundamentalismus, Sexismus haben hier nichts zu suchen. Wir wollen nicht nur von der androgynen Revolution träumen, nein, wir wollen diese leben, im Hier und Jetzt. Dazu bedarf es Nischen und Oasen, ihrer Zeit weit voraus.

Schließen möchte ich mit einem Zitat Gustav Landauers, das wie kaum ein anderes unsere Situation widerspiegelt: "Die Freiheit kann nicht geschaffen, die Freiheit kann nur geübt werden.

Es ist nicht so, dass wir heute unfrei sind, morgen aber durch ein blaues Wunder frei sind, sondern es ist so, dass wir alle ohne Ausnahme die Freiheit in uns haben und sie nur in die äußere Wirklichkeit umsetzen müssen!"

Also worauf warten wir? Lasst uns die Freiheit leben.


Madeleine

Kontakt:
trans.madeline@yahoo.de


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, Nr. 364, Dezember 2011, S. 13
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Dezember 2011