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GRASWURZELREVOLUTION/1675: Eine ernüchternde Bilanz - zur gesetzlichen Regelung "Cannabis als Medizin"


graswurzelrevolution Nr. 420, Sommer 2017
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Eine ernüchternde Bilanz
Das Gesetz "Cannabis als Medizin" ist für viele der Betroffenen eine Verschlimmbesserung

von Eichhörnchen


Ein neues Gesetz, das schwerkranke Menschen den Zugang zu medizinischem Cannabis auf Kosten ihrer Krankenkasse ermöglichen soll, trat am 11. März 2017 in Kraft (die GWR berichtete). Zuvor war es durch Bundestag und Bundesrat einstimmig beschlossen worden. Der Gesetzgeber wollte nach eigenem Bekunden die Versorgung von Versicherten mit schwerwiegenden Erkrankungen verbessern.


Bislang mussten Patient*innen eine Ausnahmegenehmigung nach §3 BtMG (Betäubungsmittelgesetz) beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) beantragen. Die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung waren sehr streng, die Kosten wurden in der Regel durch die Krankenkassen nicht übernommen. Das führte dazu, dass viele Betroffene sich ihre Medizin auf dem Schwarzmarkt besorgten, weil sie sich die Blüten zu den Apothekenpreisen nicht leisten konnten. Schwer kranke Menschen hatten große Hoffnungen. Zwei Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes herrscht allerdings Ratlosigkeit und Ernüchterung. Für viele der Betroffenen ist das Gesetz eine Verschlimmbesserung.

Nicht wenige Ärztinnen und Ärzte zögern vor einer Verschreibung. Die Krankenkassen arbeiten zudem Hand in Hand mit dem medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), um das Gesetz so weit es geht auszutricksen und Patient*innen die Kostenübernahme zu verweigern - selbst bei Versicherten, die bislang im Besitz einer Ausnahmegenehmigung sind. Bei denen also die Notwendigkeit der Therapie und die positiven Auswirkungen auf den Verlauf ihrer Erkrankung nachgewiesen ist. Da auf Grund des Inkrafttretens des neuen Gesetzes ihre Ausnahmegenehmigung nur noch bis zum 10. Juni 2017 gültig ist, müssen sie um ihren Anspruch vor Gericht kämpfen, um eine Unterbrechung ihrer Therapie vorzubeugen. Mit dem neuen Gesetz können sie sich ihre Therapie erst recht nicht auf Privatrezept leisten. Die Preise haben sich verdoppelt, weil die Cannabisblüten nun als "Rezepturarzneimittel" klassifiziert werden.

Die Folge der Gesetzesänderung und der willkürlichen Ablehnungen der Krankenkassen ist eine Klagewelle vor den Sozialgerichten. Als wäre der Kampf gegen die Krankheit und die Schmerzen nicht schwer genug, müssen die Betroffenen nun um ihren Anspruch auf Schmerzlinderung und Lebensqualität vor Gericht kämpfen. Sie haben es schwer, sich Gehör zu verschaffen. Die Schlagzeilen vom März zum neuen Gesetz sind in den Köpfen, kaum jemand weiß aber über die Notsituation der Betroffenen Bescheid.


Krankenkassen machen die Ablehnung der Kostenübernahme zum Regelfall

Die Ablehnung der Übernahme der Kosten durch die Krankenkasse soll beim Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung die Ausnahme bleiben, "die Versorgung von Versicherten mit schwerwiegenden Erkrankungen durch den Anspruch auf Cannabis (...) verbessert werden. Die Genehmigungsanträge bei der Erstversorgung der Leistung sind daher nur in begründeten Ausnahmefällen von der Krankenkasse abzulehnen. Damit wird auch der Bedeutung der Therapiehoheit des Vertragsarztes oder der Vertragsärztin Rechnung getragen", ist in der Bundestag Drucksache 18/10902 nachzulesen (1).

Viele Patient*innen berichten jedoch von ablehnenden Bescheiden ihrer Krankenkasse. Von Ablehnungen betroffen sind selbst viele Inhaber*innen einer Ausnahmeerlaubnis nach §3 BtMG, des bisherigen Gesetzes zum Erwerb von Cannabisblüten oder Arzneimittel aus der Apotheke - obwohl sie nach Bekunden des Gesetzgebers die ersten Adressaten des neuen Gesetzes sind.

Dies wird deutlich, wenn man sich den Gesetzgebungsprozess genau anschaut: Der Gesetzgeber hatte als Zielgruppe insbesondere auch die Patient*innen im Blick, die bereits zum Zeitpunkt des Erlasses eine Ausnahmeerlaubnis inne hatten. "Für Bürgerinnen und Bürger, die eine medizinische Therapie mit weiteren Cannabisarzneimitteln benötigen, entfällt zukünftig die bisherige eigene Kostentragung für getrocknete Cannabisblüten und Cannabisextrakte nach Maßgabe der zukünftigen Erstattungsregelungen des SGB V", hieß es in der Bundestag Drucksache 18/8965 (2).


Abenteuerliche Ablehnungsbescheide und MDK "Gutachten"

Ich bin von einer Ablehnung der Kostenübernahme durch meine Krankenkasse betroffen.

Wie andere Patient*innen muss ich um meinen Anspruch auf eine Kostenübernahme in einem nervenaufreibenden Verfahren vor Gericht kämpfen. Die Ablehnungsgründe, die im Netz bekannt gegeben werden, sind häufig absurd und skurril. Das ist in meinem Fall auch so.

Der MDK hat ein aus wenigen Zeilen bestehendes "Gutachten" erstellt. Er kommt zu dem Schluss, die Therapie sei nicht notwendig, es gebe für meine Krankheit anerkannte Therapien. Ich solle zum Rheumatologen und zum Schmerztherapeuten. Außerdem sei die Datenlage zur Wirkung von Cannabis gegen Schmerzen dürftig.

Ich fühlte mich zunächst wie erschlagen, als ich das Schreiben erhielt. Der MDK, der mich nicht untersucht hat, will besser Bescheid wissen als meine behandelnden Ärzte und ich selbst, wie es mir geht und welche Therapie mir hilft.

Der Rat von MDK und Krankenkasse zum Rheumatologen zu gehen, ist bei einer Patientin wie mir, die bereits seit zwölf Jahren an rheumatoider Arthritis leidet und so lange auch schon in fachärztlicher rheumatologischer Behandlung ist, unverschämt. Dem MDK ist offensichtlich ebenfalls entgangen, dass die Verordnung in meinem Antrag auf Genehmigung der Therapie von meinem Schmerztherapeuten kam. Das "Gutachten" des MDK, worauf meine Krankenkasse sich in ihrem Ablehnungsbescheid bezieht, erfüllt die Anforderungen eines sozialmedizinischen Gutachtens nicht. Es setzt sich in keiner Weise mit den Arztberichten auseinander. Deren Namen hat der Gutachter vom MDK noch nicht einmal richtig abgeschrieben!


Quasi systematisches Unterlaufen des Gesetzes durch die Krankenkassen

Mein Fall ist kein Einzellfall. Der Verein internationale Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (3) versucht mit einem Online-Fragebogen die zahlreichen Fälle zu erfassen. In Selbsthilfe-Foren berichten zahlreiche Betroffene von ihrer Odyssee im Kampf gegen ihre Krankenkasse. Die Betroffenen klagen vor Gericht und unterstützen sich gegenseitig. Bitter daran ist, dass selbst schwer kranke Menschen, deren Lebenserwartung gering ist, mit einer Ablehnung konfrontiert werden. Es wurde beispielsweise darüber berichtet, dass eine an Krebs erkrankte Frau, bei der die positive Wirkung von Cannabis nachgewiesen ist, eine Ablehnung erhalten hat (4). Dabei ist die Datenlage bei Krebs erheblich besser als bei vielen anderen Krankheiten. Zum Beispiel in Israel wird Cannabis in der Krebsbehandlung verbreitet eingesetzt und erforscht.

Die Gründe sind noch nicht bekannt, Forscher haben aber festgestellt, dass manche Cannabis-Sorten nicht nur Schmerzen lindern und den Appetit der Betroffenen steigern, sondern auch die Weiterbildung von Metastasen blockieren.

Weil die Forschung nicht besonders weit vorangeschritten ist, sieht das neue Gesetz eine Begleiterhebungs-Studie mit anonymisierten Daten vor. Nur: wie soll man eine nennenswerte Anzahl an Fällen in die Studie aufnehmen können, wenn die Krankenkassen das Gesetz unterlaufen und kaum Daten erhoben werden können?

Bei der Anhörung des Gesetzentwurfes im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages spielte die Frage der Genehmigung einer Erstverordnung durch die gesetzlichen Krankenkassen eine große Rolle. Einige Experten äußerten die Befürchtung, dass die gesetzliche Krankenversicherung das Genehmigungserfordernis nutzen könnte, die geplante Regelung zu unterlaufen (vergleiche Wortprotokoll der 87. Sitzung des Ausschusses für Gesundheit am 21. September 2016). Der Gesetzgeber strich die Genehmigungserfordernisse zwar nicht, ergänzte den vorgelegten Wortlaut aber um die Regelung, dass eine ärztlich verordnete Behandlung mit medizinischem Cannabis nur abgelehnt werden darf, wenn ein begründeter Ausnahmefall vorliegt.

Man könnte meinen, der Gesetzgeber fühlt sich auch nach Verabschiedung und Unterzeichnung des Gesetzes für deren Umsetzung verantwortlich. Weit gefehlt. Auf den Umstand, dass die Ablehnung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen zur Regel geworden ist, angesprochen, reagiert die Bundesregierung nicht. Wie viele Personen von einer Ablehnung betroffen sind, wird nicht erfasst. Es sei außerdem "nicht Aufgabe der Bundesregierung, die fachliche Bewertung einzelner Krankenkassen zu überprüfen und durch eigene Bewertungen zu ersetzen", heißt es in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Partei DIE LINKE in der Bundestag Drucksache 18/12232 (5).


Widerspruch und Eilantrag beim Sozialgericht

Die Folge ist, dass Betroffene einen zermürbenden Kampf um ihre Rechte vor Gericht führen müssen. Die Chancen auf Erfolg sind in der Regel sehr hoch, so schlecht die Begründungen der Krankenkassen für ihre Ablehnung der Kostenübernahme sind. Die ersten Urteile der Sozialgerichte sind bereits verkündet worden.

"Das Zufügen von Schmerzen durch das Vorenthalten einer Therapie, die nachweislich meine Schmerzen lindert, nehme ich als Misshandlung wahr. Dies werde und kann ich nicht klaglos hinnehmen!", schrieb ich in meinem Widerspruch an meine Krankenkasse.

Gesagt, getan! Das Urteil des Sozialgerichtes im Eilverfahren wurde am 11. Mai 2017 verkündet (6). Meine Krankenkasse zeigte keine Einsicht und bezog sich auf Jahre alte Rechtsprechung aus dem Jahr 2002, als hätte sich die Gesetzesgrundlage nicht geändert. Das Sozialgericht hat nun meine Krankenkasse dazu verpflichtet, bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu zahlen. Die Entscheidung im Eilverfahren ist allerdings noch nicht rechtskräftig und das Hauptverfahren kommt noch. Der Kampf ist nicht vorbei. Der Etappensieg ist aber schon mal eine große Erleichterung. Zumal das Sozialgericht jetzt schon geschrieben hat, dass meine Klage in der Hauptsache sehr hohe Chancen auf Erfolg hat.

Es bleibt aber ein Unding, dass Patient*innen um Schmerzlinderung und Lebensqualität vor Gericht kämpfen müssen - als sei eine schwere Erkrankung nicht schon belastend genug. Es ist ein Unding, dass derart um eine Pflanze, die überall wachsen kann, gekämpft werden muss! Das ist die Folge einer komplett verfehlten Drogenpolitik.


Anmerkungen

(1) http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/109/1810902.pdf

(2) http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/089/1808965.pdf

(3) www.cannabis-med.org

(4) www.wochenblatt.de/438119

(5) http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/122/1812232.pdf

(6) Aktenzeichen S 16 KR 24/17 ER beim Sozialgericht Lüneburg;
http://www.eichhoernchen.ouvaton.org/docs/sante/2017_SG_LG_urteil_Eilverfahren_lecomte.pdf

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Quelle:
graswurzelrevolution, 46. Jahrgang, Nr. 420, Sommer 2017, S. 23
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2017

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