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GRASWURZELREVOLUTION/967: Deconstructing Noam Chomsky


graswurzelrevolution 335, Januar 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Deconstructing Noam Chomsky
Arm ist die politische Bewegung, die Helden braucht

Von Jörg Djuren (Poststrukturalistische Guerilla Nord)


Diskussion

In der GWR 334 haben wir Noam Chomskys "Bemerkungen zum Anarchismus" veröffentlicht (S. 10 ff.). Er ist der bekannteste lebende Anarchist. Nichtsdestotrotz gibt es auch in der libertären Bewegung Kritik an ihm, wie auch die folgende Erwiderung zeigt. (GWR-Red.)


"Du musst auch Alles kritisieren", ist ein Vorwurf, den ich häufig zu hören bekomme. Kritik ist für mich Ausdruck eines utopischen Optimismus, nicht von Pessimismus. Ich glaube daran, dass es möglich ist, die positiven Aspekte einer Theorie zu nutzen, ohne ihre negativen in Kauf zu nehmen. Ich suche nach Haaren in der Suppe, um sie zu entfernen und die Suppe ohne Haare zu genießen. Im Fall von Noam Chomsky ist es nicht nur ein Haar, sondern eher ein Toupet, das dort in der Suppe schwimmt. Chomsky steht mit Halbglatze da, als Kaiser ohne Toupet. Woraus besteht dieses Toupet?

Ich will zuerst einige ältere Kritikpunkte ansprechen.


Chomsky und das Pentagon

Chomsky kritisiert an unterschiedlichen Stellen das Mitläufertum und das mangelnde Rückgrat seiner KollegInnen in den USA, insbesondere bezogen auf ihre Haltung zum Militarismus. Zu Recht, nur wie sieht dies bei Chomsky aus? Nach eigenen Angaben hat er in den 60er Jahren an einem Institut gearbeitet, das zu 100% vom Pentagon finanziert wurde (1). Er war also in der Rüstungsforschung beschäftigt.

Dies war für ihn, ohne einen den formalen Kriterien genügenden Lebenslauf, die einzige Karrieremöglichkeit. Chomsky selbst führt legitimierend an, dass seine linguistische Forschung als Grundlagenforschung für das Militär wertlos war und er nie wieder so viele Freiräume, wie in dieser Zeit, gehabt hätte. Ein Standardargument, das wohl alle kennen, die mit universitären RüstungsforscherInnen diskutiert haben. Real hat Chomsky in dieser Zeit Grundlagen zur Entwicklung moderner Computersprachen beigetragen. Dafür wird er bis heute vielfältig gelobt. Er selbst betont, wie viel Spaß ihm die interdisziplinäre Zusammenarbeit gemacht hat. Dies ist aber rüstungsrelevant und findet sich bis heute in der Informatisierung der Militärtechnologie wieder. Auch das Hammerargument - Ich habe nur einen Hammer gebaut, dass der verwendet wird, um Menschen zu erschlagen, war nicht meine Intention - gilt in diesem Fall nicht. Chomsky hat den "Hammer" wissentlich im Auftrag des Militärs gebaut. Das erste Haarbüschel in der Suppe stellt für mich seine Doppelmoral dar.


Chomsky, die Khmer Rouge, Holocaustleugnung und die Nationalzeitung

Dies ist aber nicht das einzige Haarbüschel. An anderer Stelle wurde von Alfred Schobert in der graswurzelrevolution bereits Chomkys Umgang mit rechter Ideologie kritisiert. (2)

Chomsky hat u.a. den Holocaustleugner Faurisson gegen Repression in Schutz genommen. Er unterschrieb eine Petition für die Redefreiheit Faurissons. Sein Rekurs auf Voltaire und die Redefreiheit, die auch für politische GegnerInnen gelten muss, kann ich nachvollziehen und teile sie. Sich aber hier zu solidarisieren und sich nicht gleichzeitig deutlich von den Inhalten zu distanzieren, ist untragbar. Chomsky hat damit Faschisten eine vielfältig instrumentalisierbare Aussage an die Hand gegeben. Natürlich äußert er sich zum Holocaust klar und deutlich an anderer Stelle, aber eben nicht in der Solidaritätserklärung. Sich dann in der nachfolgenden Diskussion formalistisch darauf herauszureden, er wolle die Inhalte Faurissons nicht beurteilen (3), ist bezogen auf die Holocaustleugnung abstrus. Auch die Diffamierung seiner KritikerInnen als stalinistisch deutet nicht auf Lernfähigkeit. Chomsky verhält sich ignorant, unfähig Schlussfolgerungen aus einer in Teilen berechtigten Kritik zu ziehen. Sein unkritischer Umgang mit Aufgriffen seiner Schriften in der Nationalzeitung ist für einen Medienkritiker borniert.

Ähnlich ist sein Umgang mit den Fehlern zu werten, die ihm in der Einschätzung des Pol-Pot-Regimes unterlaufen sind, bis 1977 hat Chomsky noch die Massenmorde relativiert (4), geblendet von einer simplifizierenden antikapitalistischen Sicht. Dieser vereinfachende Antikapitalismus findet sich bis heute in seinen Schriften.

Das zweite Haarbüschel: Chomsky ist unfähig, Fehler zuzugeben und auf Kritik einzugehen. KritikerInnen werden als Stalinisten, Ignoranten und Neocons diffamiert.


Grundprobleme des Theorieansatzes von Chomsky

Kommen wir zur Rückseite des Toupets, das da in der Suppe schwimmt. Chomskys Text "Bemerkungen zum Anarchismus" in der graswurzelrevolution Nr. 334 liest sich sympathisch. Chomsky leistet eine gute Zusammenfassung klassischer anarchistischer Sichtweisen und ihres Zusammenhangs mit Kapitalismuskritik. Nur, dies sind Positionierungen von Anfang des 20. Jahrhunderts, gab es seit dem keine Kritik an diesen Theorien? War da nicht was? Frauenbewegung, Schwulen- und Lesbenbewegung, Antirassismus und eine Kritik der These von Haupt- und Nebenwidersprüchen. Chomsky vertritt durch Auslassung auch in diesem Text von 1967 eine ökonomistisch verkürzte Theorie. Dies ist kein Zufall. Er vertritt auch an anderer Stelle die Haupt- und Nebenwiderspruchsthese. Das heißt, er behauptet, dass es einen Hauptwiderspruch, die Klassenstruktur gibt und die anderen Unterdrückungsverhältnisse dem gegenüber sekundär wären (5). Seine Begründung, dass die Besitzverhältnisse das Zentrum von Herrschaft ausmachen, ist die klassisch leninistisch naive Position und z.B. durch ethnologisches Wissen hinreichend widerlegt (Gesellschaften, die keinen Privatbesitz, aber patriarchalische Herrschaftsstrukturen kennen). Inzwischen sollte klar sein, dass es den Hauptwiderspruch nicht gibt, sondern dass die Stabilität der Herrschaftsverhältnisse gerade auf dem Zusammenwirken unterschiedlich begründeter Herrschaftsverhältnisse (Sexismus, Rassismus, Kapitalismus, ...) und ihrer gegenseitigen Durchdringung beruht. Bei Chomsky ist dies offensichtlich nicht angekommen.

Um zu verstehen, wieso er derartig verkürzt ökonomistisch argumentiert, ist es notwendig, seine Sprachtheorie zu betrachten.

Chomskys linguistische Arbeiten tragen wesentlich zu seinem internationalen Ruhm bei. Vergleichbar Sacharow, der als sowjetischer 'Vater' der Wasserstoffbombe bezeichnet wird, aufbauend auf seiner wissenschaftlichen Reputation zum Regimekritiker wurde, hat auch Chomsky seine Reputation durch wissenschaftliche Arbeiten erlangt, die aus politischer Sicht fragwürdig erscheinen. Seine Reputation basiert auf der Entwicklung einer Linguistik, die auch von konservativer Seite auf Grund ihres inhärenten Biologismus gefeiert wird. Chomskys linguistische Arbeiten gelten vielen rassistischen und sexistischen SoziobiologInnen als Legitimation ihrer Theorien, da Chomsky von einer genetischen Veranlagung der Sprache ausgeht. Ich habe an anderer Stelle dieses Problem diskutiert und verweise hier darauf. (6) Die Meinungen über die politische Einschätzung der linguistischen Arbeiten Chomskys gehen weit auseinander.

Es gibt einen anderen Punkt, weshalb es wichtig ist, diesen Hintergrund von Chomskys Denken zu betrachten. Die von ihm in den 50er und 60er Jahren entwickelte Linguistik steht von ihrem Fundament her (der Frage, wie Subjektivität, freier Wille usw. begriffen wird) in einem unvereinbaren Widerspruch zu den in den 60er und 70er Jahren in Frankreich entwickelten Theorien (Barthes, Lacan, Derrida, Kristeva, Irigaray, Baudrillard, ...). Diese Theorien begreifen das Subjekt und das Subjekt der Sprache den Machtverhältnissen und der Sprache nicht als vorgängig. Das Subjekt, ihr/sein Begehren, ihre/seine Wünsche, wird nach diesen Theorien durch die Machtverhältnisse und die Sprache produziert, während Chomsky das Subjekt klassisch humanistisch biologistisch den als äußerlich gedachten Machtverhältnissen gegenüber als vorgängig ansieht.

Nun sind es gerade diese poststrukturalistischen Theorieansätze gewesen, die sich bis heute als produktiv zum Begreifen der nicht ökonomisch zu fassenden Herrschaftsverhältnisse (Sexismus, Rassismus) erwiesen haben. TheoretikerInnen wie Spivak, Butler, Haraway und Foucault sind ohne diese Denktradition nicht vorstellbar. Das heißt, Rassismus und Sexismus funktionieren gerade nicht primär über äußerliche Repression, sondern über die Strukturierung der Subjekte selbst und ihrer Anschauung von sich und dem/der Anderen.

Da diese Theorien seine Linguistik und damit sein Lebenswerk substantiell bedrohen, hat Chomsky eine konstruktive Auseinandersetzung verweigert. Seine Bezüge darauf beschränken sich weitgehend auf Intellektuellenbashing. (7)

"French intellectual life has, in my opinion, been turned into something cheap and meretricious by the 'star'system. It is something like Hollywood. Thus we go from one absurdity to another - Stalinism, existenzialism, structuralism, Lacan, Derrida - some of the obscene (Stalinism), some simply infantile and ridiculous (Lacan and Derrida). What is striking, however, is the pomposity and selfimportance, at each stage." (8)

Dadurch, dass Chomsky sich der Auseinandersetzung mit diesen Theorien verweigert, ist es fast zwangsläufig, dass er Verfechter der Haupt- und Nebenwiderspruchsthesen bleibt. Ich spreche hier nicht gegen einen Aufgriff der Theorien Chomskys. Um ökonomische Herrschaftsverhältnisse zu begreifen, die in vielen Theorien zu wenig Berücksichtigung finden (z.B. in vielen poststrukturalistischen Theorien), ist für AnarchistInnen Chomsky eine gute Quelle, z.B. der Text in der letzten graswurzelrevolution.

Um diese Theorien produktiv zu verwenden, ist es aber notwendig, das Toupet aus der Suppe zu entfernen. Das heißt, sie sind ergänzungsbedürftig, und hier sind wiederum für Herrschaftsverhältnisse wie Sexismus und Rassismus gerade die von Chomsky geschmähten poststrukturalistischen Theorien hilfreich. Die Lösung heißt nicht Chomsky oder Poststrukturalismus, sondern Chomsky und Poststrukturalismus. Beide Theorietraditionen haben ihre blinden Flecke. Aus beiden Traditionen sollten wir uns die Rosinen herauspicken.

Mir geht es nicht um ein pauschales Chomskybashing, sondern um die Einforderung einer kritischen Rezeption und die Dekonstruktion des Mythos Chomskys als Flash Gordon of Anarchism.


Anmerkungen:

(1) Willi Winkler - Interview - Noam Chomsky: Mitbegründer "Nicht in unserem Namen", SZ, 01.10.02,
http://www.litart.ch/chomsky.htm

(2) Alfred Schobert: "Nothing to worry about"? Aus Anlass eines "Interviews mit dem jüdischen Philosophen Chomsky" in der National Zeitung , in: GWR 271, Sept. 2002
http://www.graswurzel.net/271/chomsky.shtml

(3) Chomsky, Noam - some Elementary Comments on The Rights of Freedom of Expression - Appeared as a Preface to Robert Faurisson, Mémoire en Défense - October 11, 1980
http://www.chomsky.info/articles/19801011.htm
Chomsky, Noam - The Faurisson Affair - Letter to Lawrence. K. Kolodney Circa 1989-1991
http://www.chomsky.info/letters/1989--.htm

(4) Chomsky, Noam & Herman, Edward S. - Distortions at Fourth Hand - The Nation - June 6, 1977
http://www.chomsky.info/articles/19770625.htm

(5) Chomsky, Noam - Class - January 21, 1993 - in: Keeping the Rabble in Line Interviews with David Barsamian
http://books.zcommunications.org/chomsky/rab-4.html

(6) Jörg Djuren: Noam Chomsky Internetpublikation 2007
http://irrliche.org/politische_kritik/noam_chomsky.htm

(7) Noam Chomsky: Noam Chomsky on Postmodernism, www.mrbauld.com/chomsky1.html

(8) Chomsky, Noam - Language and politics - black Rose books - Montreal 1988


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 335, Januar 2009, S. 14
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
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Internet: www.graswurzel.net

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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2009