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ICARUS/012: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 3/2009


ICARUS Heft 3/2009 - 15. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter

Jähe Wendung, Abwendung und Hinwendung -
zu Imperialismus und Krieg

Fakten und Meinungen
Pierre Gallois
Bruno Mahlow
Daniela Dahn
Hans Fricke
Werner Schneider
Erhard Thomas
Hans Rentmeister
Hans Schilar
Ein tief schwarzer Fleck auf der westlichen Moral
Die deutsche Frage im Wandel der Weltpolitik
Im Westen was Neues
Illusion vom demokratischen Rechtsstaat BRD
Demokratischer Rechtsstaat - und was war die DDR?
Von Deutschland über Deutschland nach Deutschland
Israel - Erlebnisse und Erkenntnisse einer Reise
Moritat vom fleißigen Maulwurf

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Maria Heiner
Kurt Neuenburg
Peter Michel
Angelika Haas
Peter Arlt
Gottfried Ulbricht
Im Tal des Todes
Akademische Bêtise
Brief an den Rektor der Greifswalder Universität
Laudatio auf Gabi Senft
Kunst und Kalter Krieg in Nürnberg
In memoriam Jenny Mucchi-Wiegmann

Personalia
Klaus Georg Przyklenk
Klaus Georg Przyklenk
Bild eines springenden jungen Mannes
Hermann Bruse - zum Titelbild

Rezensionen
Horst Schneider
Georg Grasnick
Klaus Georg Przyklenk
Horst Schneider
Karl Nolle contra Stanislaw Tillich
Gelungener Versuch
Operation Condor
Erzbischof Marx contra Karl Marx

Marginalien


Echo
Aphorismen

Raute

Kolumne

Wolfgang Richter

Jähe Wendung, Abwendung und Hinwendung - zu Imperialismus und Krieg

"... ist die DDR - gemessen an den begrenzten Möglichkeiten des realen Sozialismus - ein ziemlich gut funktionierender sozialistischer Staat geworden."

Kurt Sontheimer 1988

Wer im Mai 1989 eine Kollektion wissenschaftlicher Beiträge der Öffentlichkeit präsentierte, die dem bekannten Münchner Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer zu seinem 60. Geburtstag gewidmet waren und damit die Ambition verband, zugleich den 40. Jahrestag des Grundgesetzes zu würdigen, wird sich nicht wundern, wenn eben dieser Titel 20 Jahre später als ein willkommenes Objekt erscheint, um rückblickend zu erahnen, wie viel von der doch so kurz bevorstehenden deutschen Einheit sich schon im gedanklichen Focus der großen Geister befand. Man kann es enttäuscht oder befriedigt sagen: nichts. Der Titel "Ein ganz normaler Staat?" bezieht sich auf die BRD. Doch wird in der damaligen geschichtlichen Konstellation die DDR fast gewohnheitsgemäß immer mitgedacht und letztlich - siehe oben - wird sie das eben auch als "ein ganz normaler Staat".Arbeit für alle, Miet- und Preisstabilität, gleiche Bildungschancen, unentgeltliches Gesundheitswesen, allen zugängliche Kultur galten für einen sozialistischen Staat eher als Normalität. Die Dämonisierung der DDR ist ein Produkt späterer Machart, als man sich den ehemaligen Gegner gierig nach seinem Pfeil zurechtschnitzte. Doch letztlich nicht mit neuen Argumenten, sondern mit der Pervertierung der alten, deren Herkunft tief in die Geschichte des Antikommunismus reicht und die in der BRD das erwartete oder unverhoffte Wohlfühlklima fanden, auch den Faschismus unbeschadet zu überstehen. Eine Wende also, die sich gänzlich der Vorahnungen entzog? Man kann allerdings sagen, dass der DDR-Führung zu jener Zeit schon wenig behaglich war unter der Führungsmacht Gorbatschow ... äh, Sowjetunion. Die gesamte Geschichte nahm eine andere Wendung. Sie wurde zur Beute der Wendegeier.

Auch in dem genannten Opus liest man von "Wende" nicht wenig. Doch von welcher? Man verstand in der BRD nach der "Wende" von 1945 die "Wende" vom Sozialstaatsmodell zum Neoliberalismus und damit zum Sozialabbau seit Anfang der 70er Jahre als eine solche, die Jahre später in der Schröderschen Agenda 2010 ihren Gipfel fand. Doch die Wende der DDR zum Ostfortsatz der BRD war nicht im Blick und wurde von seriösen Politikwissenschaftlern nur noch als die Lebenslüge der Bundesrepublik betrachtet, geeignet für Festtagsreden oder Neujahrsansprachen, an der Einheit überhaupt noch interessiert zu sein. Es mache nur wenig Sinn, so mahnte Sontheimer, "vom ‹Offenhalten' der deutschen Frage zu reden, wie es die gegenwärtige Regierung mit so großem Nachdruck tut. ... die primäre politische Aufgabe der Westdeutschen - neben ihrem Beitrag zum Frieden in der Welt ... ist, nicht die Heimholung der Ostdeutschen ins Reich der Bundesrepublik, die man uns nicht gestatten wird. Die Bundesrepublik - und nur sie - ist der Staat, der in unsere Verantwortung gegeben ist."(1) Aber - man gestattete. Und gab sich selbst als Zugabe. Ein Pojok. Das kannte man ja. Das war die Dimension, um die es ging, nicht um die kleine DDR, von der das ehemalige Politbüromitglied Konny Naumann noch vor seinem Sturz einmal öffentlich sagte, sie sei nur eine kleine Warze am Arsch der Weltrevolution.

Eine weit größere Wende war also auch im Gespräch. Ralf Dahrendorf hatte vom "Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts" gesprochen. Ein Umbruch im Zeitbewusstsein war gemeint, den Arnulf Baring beschrieb: "Weg von der Fortschrittszuversicht, weg vom Vertrauen in die Machbarkeit der Dinge, weg vom Glauben an die umfassende Gestaltungskraft des Staates und die Planbarkeit der Verhältnisse hin zu bewahrenden, wertkonservativen Tendenzen zum behutsamen Umgang mit unserer Umwelt ... ." (Natürlich auch weg von der Überzeugung der Gesetzmäßigkeit des Sozialismus als einer gerechteren und sozialeren Gesellschaft, weg vom Marxismus.) Und Baring fährt fort: "Mit der Wende im weitesten Sinne ist die zwingende Notwendigkeit gemeint, die Natur vor der Zerstörung durch die Industriegesellschaft zu bewahren und damit den kommenden Generationen des Menschengeschlechts die Lebenschancen auf unserem Planeten zu erhalten."(2) Das klingt hehr und edel. Doch in Wirklichkeit ist es nur die Vertuschung des sozialen Inhalts dieser Wende, eine vorausnehmende Verharmlosung der aggressiven Sozialstrategien des postfordistischen Kapitalismus. Der humanistische Bodensatz der einstigen bürgerlichen Aufklärung ist damit zum Befund eines komplexen, umfassenden Zugriffs der Gesellschaft auf die Ressource Mensch geschrumpft, deren Eigenwille gebrochen wird. Detlev Hartmann schreibt so drastisch wie richtig: "Die Drohung mit Existenzvernichtung, ja mit Hungertod, mit Prekarisierung, Deklassierung und dem Ausschluss in die Überflüssigkeit sind der äußerste Pol der Zwangsmittel, um Subjektivität zuzurichten."

Der Krieg nach innen ist in vollem Gange, ungebremst durch die Balance der Systeme. Das Militärische ist von Jugoslawien bis Irak und Afghanistan enttabuisiert worden. Der Kalte Krieg war die Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs mit anderen Mitteln. "Agenda 2010 und Hartz IV werden als ein Transformationsprojekt durchgeführt, das in allen Generationen zuvor - 1914 und 1939 eingeschlossen - als Krieg organisiert wurde."(3)

Die eine Wende machte die andere möglich.


Anmerkungen:

(1) Kurt Sontheimer, Rede über das eigene Land: Deutschland. In: W. Beck, H. Maull: Ein ganz normaler Staat? Perspektiven nach 40 Jahren Bundesrepublik, S. 306

(2) Arnulf Baring: Die Wende, Rückblick und Ausblick, Ebd. S. 115

(3) Detlef Hartmann: Cluster, Die Organisation des sozialen Krieges. In: D. Hartmann, G. Geppert: Cluster, Die neue Etappe des Kapitalismus. Hamburg 2008, S. 22 f.

Raute

Fakten und Meinungen

Pierre Gallois

Ein tief schwarzer Fleck auf der westlichen Moral

Auf der Konferenz des Belgrader Forums "Ziele und Konsequenzen der Aggression der NATO gegen Serbien - 10 Jahre danach" wurde den Teilnehmern ein audiovisueller Beitrag von Pierre Gallois eingespielt. Der serbische Tagungsleiter Mihajlovic stellte vorher General Pierre Gallois als einen Vertreter des französischen militärischen Widerstandes im Zweiten Weltkrieg, als Anreger der Diskussion über die Nuklearpolitik und geistigen Vater der modernen französischen Geopolitik vor, als einen großen Verteidiger des Völkerrechts, der überall für die historische Wahrheit eintritt, wo heute Propaganda und Geostrategie niederträchtigster Art vorherrschen.

Mihajlovic nannte Gallois "unseren General", weil er das serbische Volk als ein Volk von Märtyrern bezeichnet, das von der internationalen Gemeinschaft in Stich gelassen und verteufelt wird. Wenn Pierre Gallois auch nicht selbst nach Belgrad kommen konnte, so ist er doch mit seinen Gedanken dabei.

Harald Nestler hat den Videobeitrag aus dem Französischen übertragen. Der folgende Text stützt sich auf seine Rohübertragung und ist keine autorisierte Übersetzung. Die Titelzeile ist von der Redaktion gewählt.

"Wir haben uns zu einer Gedenkfeier zusammengefunden, aber aus einem sehr traurigen Anlass. Vor 10 Jahren, 1999, haben die westlichen Demokratien, geführt von Deutschland, Frankreich, den USA und Großbritannien, das Land bombardiert, das von Jugoslawien übrig geblieben war. Das geschah unter Missachtung des Völkerrechts, unter Missachtung der Beschlüsse von Helsinki zur Unverletzlichkeit der Grenzen, ohne Beschluss der UNO, ohne Beschluss des Sicherheitsrates, ohne Befragung der nationalen Parlamente. Es war eine ganze Serie von Verstößen gegen internationale Rechtsnormen und stellt einen tief schwarzen Fleck auf der Moral der westlichen Welt dar. Die westlichen Demokratien haben sich aufgeführt wie aus der Vergangenheit bekannte Gewaltregimes, ja, sie haben die Verbrechen autoritärer Regimes noch übertroffen.

Der Überfall auf Jugoslawien war eine lange vorher von Deutschland geplante militärische Operation. Zuerst musste der Tod von Präsident Tito und die Regelung seiner Nachfolge abgewartet werden, bevor die Zerschlagung des Territoriums aktiv betrieben werden konnte, das nach deutscher Ansicht auf Grund seiner multiethnischen und multireligiösen Zusammensetzung nicht lebensfähig war.

Indirekt war ich in diese Affäre verwickelt. 1986 und 1987 war ich regelmäßig Gast des früheren Verteidigungs- und Finanzministers Franz-Josef-Strauß. Er versammelte auf seinem kleinen Bauernhof in der Nähe von München regelmäßig etwa ein Dutzend Gäste, mit denen er drei bis vier Tage über internationale Probleme diskutierte. Großbritannien, Spanien, der Vatikan waren da vertreten, und ich war in diesem Kreis der Franzose. Wir haben ‹über Gott und die Welt‹ gesprochen, und Einiges ist mir in Erinnerung geblieben. Die Deutschen schätzten ein, dass Jugoslawien nicht lebensfähig ist und dass dieses Territorium nach Titos Tod geografisch anders gestaltet werden müsste. Bei den Deutschen, die geschickt mit der Ideologie spielen können, waren folgende Gründe erkennbar:

Sie hatten erstens den Wunsch, sich an den Serben zu rächen, die sich unter Tito und Mihailovic den Kräften, die gegen Deutschland kämpften, im Maqui (Partisanenkampf, d. Übers.) angeschlossen hatten. Der Widerstand der Serben war so stark, dass mehrere Divisionen, die an den Fronten in Moskau und in Stalingrad gebraucht worden wären, in Jugoslawien gebunden waren. Aus der Sicht vieler Deutscher war der serbische Widerstand daran schuld, dass der Zweite Weltkrieg für Deutschland verloren ging. Also musste dieses Volk bestraft werden.

Zweitens, und aus deutscher Sicht verständlich, war ihr Wunsch, die Kroaten und die muslimischen Bosnier, die sich der Wehrmacht angeschlossen hatten und die Alliierten irgendwie zu belohnen, sie gegenüber den Serben zu bevorzugen.

Drittens wollten die Deutschen Kroatien und Slowenien in ihr Einflussgebiet zurückführen und sich über die dalmatinische Küste Zugang zum zentralen Mittelmeer schaffen, ein alter deutscher Traum aus Kaiserzeiten.

Die Deutschen waren sich im klaren darüber, dass die USA (über die NATO) und Frankreich in das Vorhaben einbezogen werden müssten.

Kohl übte starken Druck auf den durch Krankheit geschwächten Mitterand aus. Aber erst unter dessen Nachfolger gelang es, durch eine Kampagne von Verleumdungen die öffentliche Meinung in Frankreich dafür zu gewinnen, das Volk der Serben aus den Gebieten, die es Jahrhunderte lang bewohnt hatte, zu vertreiben.

Die USA zögerten lange, bevor sie sich für die militärische Aktion gegen Serbien, das sich im Widerstandskampf gegen Hitlerdeutschland ausgezeichnet hatte, entschieden. Sie schätzten dieses Vorgehen als heikel und abenteuerlich ein.

Schließlich gaben folgende Elemente den Ausschlag für die Teilnahme am Krieg gegen Serbien:

- die Unsicherheit beim Bezug von Erdöl aus Saudi-Arabien und dem Irak. Über kurz oder lang würde es eine Erdölleitung vom Kaspischen Meer nach dem Mittelmeer, wahrscheinlich nach Durrhes in Albanien, unter Einbeziehung der Donau und der Region Belgrad, geben müssen, den berühmten Korridor VIII, und da wäre Serbien ein Unsicherheitsfaktor.

- Die USA hatten ein Interesse daran, sich als Garant für Stabilität in Europa zu präsentieren und nachzuweisen, dass die Europäer allein, ohne NATO und ohne USA, keine Ordnung in Europa halten können.

- Die Stimmung gegen Russland, das in der Jelzin-Ära durch den schwierigen Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft geschwächt dastand, sollte angeheizt werden.

- Angesichts der Tatsache, dass die Deutschen immer stärker auf dem Balkan Fuß fassten, wollten die USA auch ein Stück von ihnen direkt besetztes Territorium haben, möglichst nahe am Korridor VIII, also an Albanien.

So entschlossen sich die USA, an dieser Operation teilzunehmen, und zwar unter Führung der NATO mit Amerikanern an der Spitze. Dabei spielte auch eine Rolle, dass die Amerikaner diese Aktion als Präzedenzfall und als Modell für spätere eigene Aktionen nutzen wollten, z. B. im Irak.

Der erste Schritt war eine Desinformationskampagne. Es wurden reine Lügen verbreitet, die Opferzahlen wurden erhöht, um die öffentliche Meinung in den westlichen Ländern umzustimmen und die zukünftigen Opfer zu verteufeln. Ein Beispiel war die Schändung von 40.000 Frauen. Amerikanische Journalisten reduzierten bei ihren Nachforschungen die Zahl auf 4000, schließlich wurden nur noch 400 und dann gar 40 gezählt. Weitere Beispiele waren u. a. Orte, wo Bosnier auf sich selbst geschossen hatten, um einen Angriff der Serben vorzutäuschen. (Der genannte Ortsname konnte vom Übersetzer nicht verifiziert werden.)

Es wurden auch Mythen erfunden, z. B. die Belagerung von Sarajevo. Es wurde behauptet, dass Serbien Sarajevo einschließen und belagern wollte und dass etwas dagegen getan werden müsste. Ich bin zu dieser Zeit in Sarajevo gewesen und wurde vom Bürgermeister zum Essen eingeladen. Ein Teil der Stadt war serbisch, ein Teil der Stadt bosnisch-kroatisch. Kein Teil der Stadt war eingekreist.

Ein anderer Mythos war das Massaker von Racak. Es war kein von Serben begangenes Massaker, aber es wurde als Auslöser für den Bombenkrieg gegen die unschuldige Bevölkerung genutzt. Das serbische Volk wurde aller möglichen Sünden bezichtigt und aller materiellen Lebensgrundlagen beraubt. Es wurde zum Märtyrer.

Die Aktion lief nach festen Regeln ab:

1. Verleumdungskampagne,
2. dauerhafte Schwächung der wirtschaftlichen Grundlagen durch Bombardements und durch Blockaden,
3. Besetzung des Landes, wie es in Rambouillet versucht wurde zu diktieren,
4. Einsetzung von Politikern, die den Besatzern genehm sind. Das Elend des Volkes wurde ausgenutzt,
  um den Widerstand gegen den Einsatz dieser Politiker zu brechen.

Das Vorgehen auf dem Balkan war für die Amerikaner ein Lehrstück für das Vorgehen im Irak. Alles, was im Irak ablief, war vorher in Jugoslawien geprobt worden.

Das ganze Geschehen hat mich tief berührt. Die Art und Weise, wie die Vorgänge jetzt im öffentlichen Bewusstsein verankert sind, zeigt mir, was mit Manipulation der Öffentlichkeit erreicht werden kann. Kaum dass die UdSSR zerfallen war und die Europäer wieder vereinigt waren, haben sie gezeigt, wozu sie fähig sind: Dayton, die unannehmbaren Forderungen an Milosevic, die Komödie von Rambouillet, die Bombardements, die vollständige Erniedrigung Serbiens. Zurückgeblieben ist eine große Tristesse. Die westliche Welt hat gezeigt, dass auch sie zu den größten Perversionen fähig ist.

Dabei hat das Eingehen auf die deutschen Obsessionen eine große Rolle gespielt. Aus deutscher Sicht sollte alles ausgelöscht werden, was an die Verträge von Versailles und Trianon erinnert, zuerst Jugoslawien, dann die Tschechoslowakei. Deutschland ist es gelungen, alles von der Landkarte wegzuwischen, was an frühere Friedensverträge erinnert.

Kohl und Juppé haben die Aktion als großen Erfolg bezeichnet. Was Deutschland betrifft, so hat Kohl recht, aber aus dem Munde von Juppé ist es eine Torheit. Wirtschaftlich ist das Verschwinden Jugoslawiens als Markt und als Partner ein Verlust für Frankreich. Politisch ist die Hinrichtung eines heldenhaften befreundeten Volkes ebenfalls ein Verlust. Ich staune über die Doppelzüngigkeit von Großbritannien, Frankreich und auch Deutschland.

Nie hätte ich erwartet, dass diese Länder eine solche Verletzung der Menschenrechte dulden und nichts gegen das Chaos unternehmen, das seitdem im Kosovo und in der Serbischen Republik eingetreten ist. Muslime haben gemordet und religiöse Meisterwerke vernichtet. Damit haben sie die Wurzeln des serbischen Volkes verletzt.

Es ist eine sehr traurige Periode der Falschheit, in der wir leben, und ich weiß nicht, wie sie überwunden werden kann und wie wir sie mit guter Moral überwinden können. Sie gereicht uns nicht zur Ehre." - (Ende der Rede)


Zwei Daten in diesem Jahrhundert waren es, welche, glaubte ich, die so verschiedenen jugoslawischen Völker einigten und auf Dauer einig halten würden: ihr eher ungezwungenes Zusammenfinden 1918 (...) erstmals in einem eigenen Reich, wo die einzelnen Länder keine schattenhaften Kolonien mehr zu sein bräuchten ...


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Frans Masereel: Moderne Plastik, 1917. Pinselzeichnung in LA FEUILLE (Genf)

Raute

Fakten und Meinungen

Bruno Mahlow

Die deutsche Frage im Wandel der Weltpolitik

- einige internationale Aspekte

Das Jahr 2009 bietet aufgrund einer Reihe auf 1939, 1949, 1989 zurückgehender Ereignisse mehr als nur Anlässe die Rolle Deutschlands in Europa im Verlaufe vergangener Jahrhunderte, in zwei Weltkriegen, die deutsche Frage im Kalten Krieg, die deutsche Einheit und ihre internationale Rahmenbedingungen zum Gegenstand wissenschaftlicher Konferenzen und Untersuchungen zu machen.

Inzwischen liegen dazu viele Publikationen, Memoiren und Dokumentationen vor. Manche Veröffentlichungen und Interpretationen fordern zur sachlichen und objektiven Diskussion heraus. Es bieten sich somit viele Möglichkeiten das im Zusammenhang mit der deutschen Einheit Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre Erklärte, Beabsichtigte und Erhoffte mit den heutigen Realitäten zu vergleichen. Es ist auch kein Zufall, wenn man dies im engen Zusammenhang mit der deutschen Frage vornimmt. Dabei wird einmal mehr deutlich, wie aktuell und politisch bedeutsam der Umgang mit der Geschichte, die verantwortungsvolle Beachtung historischer Vorgänge und Lehren bleiben.

So spielte Preußen und nach 1871 das vereinte Deutschland eine bedeutsame Rolle im europäischen und Weltgeschehen. Zwei Weltkriege gingen vom deutschen Boden aus. Die deutsche Frage stand im Mittelpunkt des Kalten Krieges. In der Pariser Charta des Europäischen Gipfels von 1990 wurde betont, "dass die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands ein bedeutender Beitrag zur Schaffung einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in einem geeinten, demokratischen Europa ist, eines Europa, das sich seiner Verantwortung für die Sicherstellung der Stabilität, des Friedens und der Zusammenarbeit auf dem Kontinent bewusst ist". Condoleezza Rice und Philip Zelikow ordnen in ihrem gleichnamigen Buch die deutsche Vereinigung in eine "Sternstunde der Diplomatie" ein: Es versteht sich, dass diese Sternstunde der USA-Diplomatie gilt, auch wenn Gorbatschow bei der Schaffung entsprechender Voraussetzungen eine entsprechende Rolle zugeordnet wird. Gorbatschow selbst meinte im Dezember 1991 am Ende der UdSSR, dass dem Kalten Krieg ein Ende gesetzt worden sei, Wettrüsten und Militarisierung zum Stehen gebracht, die Gefahr eines Weltkrieges gebannt wurden.

Die Realitäten sehen jedoch anders aus.

Statt eines geeinten, demokratischen Europas ist unser leidgeprüfter Kontinent erneut der Gefahr einer neuen Spaltung, der Zunahme extremistischer, undemokratischer, ja neofaschistischer Tendenzen ausgesetzt.

Statt Abrüstung eskaliert das Wettrüsten, werden neue Waffensysteme entwickelt, Raketenstützpunkte in Polen und Tschechien errichtet, vollzieht sich die Militarisierung der EU, und deutsche Soldaten sind im Einsatz außerhalb Deutschlands, am Hindukusch und anderen Orten.

Statt europäischer Sicherheit wächst die Unsicherheit, werden wie im Falle Jugoslawiens Staaten zerschlagen, Konflikte geschürt, expandiert die NATO gen Osten, erfolgt eine systematische Einkreisung Russlands.

Statt Vertrauen werden altes Misstrauen, historischer und territorialer Revanchismus wiederbelebt und eine gefahrvolle Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung betrieben.

Wurde 1949 in dem bekannten Grußtelegramm der sowjetischen Führung die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik als ein Wendepunkt in der Geschichte Deutschlands und Europas gewürdigt, so stellt sich angesichts gerade heute mit einiger Konsequenz die Frage nach dem realen Beitrag der deutschen staatlichen Einheit zu Frieden und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent. Denn dass damit eine Wende verbunden war, steht wohl auch außer Zweifel.

Und welche Rolle Europa und damit auch Deutschland im 21. Jahrhundert in der USA-Politik zugedacht ist, darüber gibt Zbigniew Brzezinski, ehemaliger Sicherheitsberater des USA-Präsidenten James Carter und neben Henry Kissinger maßgeblicher Stratege US-amerikanischer Außenpolitik im vergangenen Jahrhundert, Aufschluss in seinen 1997 bzw. 2007 erschienenen Büchern "Das große Schachbrett" (deutsche Ausgabe, "Die einzige Weltmacht") und "Die zweite Chance". Er gehört übrigens mit seiner Tochter Mika und seinem Sohn Mark zu den Unterstützern bzw. Beratern von Präsident Barack Obama. Nach Brzezinski geht es darum, die EU zum Brückenkopf der USA auf dem eurasischen Kontinent zu machen und dabei gleichzeitig Russland zu isolieren und zu destabilisieren. Für eine deutsche Realpolitik in Richtung Osten und insbesondere Russland bleibt in diesen Plänen kaum Platz.

Die USA-dominierten Vorstellungen zum 21. Jahrhundert geben ebenso wie die Bilanz der internationalen Entwicklung in den vergangenen 20 Jahren wenig Anlass zu Optimismus. Sie sind mehr ein Rückgriff auf historisch überholte Ziele und Praktiken zur Errichtung einer Weltordnung entsprechend eigennütziger geopolitischer Interessen. In diesem Zusammenhang drängen sich einige Parallelen aus der Geschichte vergangener Jahrzehnte oder auch der jüngsten Zeit auf. So beruhte bis etwa 1914 die europäische Ordnung auf den Wiener Verträgen. Die vom russischen Zaren Alexander I. angestrebte "Heilige Allianz", eine Art mehrseitiges Sicherheitssystem für Europa, kam nicht zustande. An ihre Stelle trat das Bündnis zwischen Preußen, Österreich und Russland, das als Hüter der Wiener Verträge und der in ihnen vereinbarten internationalen Ordnung wirkte. Den Gegenpol bildeten England und Frankreich, die Russland an den Rand Europas drängen wollten. Insbesondere England forcierte 1854 den Krimkrieg als "allgemeinen Kreuzzug gegen Russland". Auch in diesem Krimkrieg ging es ebenso wie im jüngsten Kaukasuskonflikt nicht um die Integrität der Grenzen des Osmanischen Reiches, sondern um die Zerteilung Russlands. Preußen folgte damals der Aufforderung Metternichs, einem Krieg aus orientalischen Ursachen fern zu bleiben, bewahrte Neutralität, sicherte sich Bewegungsfreiheit und trug damit dazu bei, dass der Plan Englands scheiterte. Es gelang damals nicht, das Territorium Russlands zu balkanisieren. Auch die späteren deutschen Pläne mit dem Brester Frieden 1918,Russland auf das Großfürstentum Moskau zu reduzieren, scheiterten ebenso wie die westlichen Interventionen gegen die junge Sowjetmacht und der "Barbarossa"-Plan Hitlers gegen die Sowjetunion.

Nach dem Zweiten Weltkrieg trat die deutsche Frage in den Mittelpunkt des Kalten Krieges. Es dominierte zunächst die Furcht der entscheidenden Mächte vor einem wiedererstarkenden einigen Deutschland. Die westlichen Mächte traten für eine Aufteilung und somit Spaltung Deutschlands ein. Stalin war für ein einheitliches Deutschlands, jedoch als neutraler Staat. Erklärt sich in diesem Zusammenhang Stalins Entscheidung bezüglich eines neutralen Österreichs? Welche Hoffnungen setzte Stalin nach dem Krieg auf die Fortsetzung der Antihitlerkoalition unter den neuen Bedingungen und zu welchen Kompromissen bei der Gestaltung der europäischen Nachkriegsordnung war er bereit bzw. auf welche Kompromisse ging er praktisch ein (Ereignisse in Griechenland, in Italien)?

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die verschiedenen Dimensionen des Kalten Krieges - militärische, politische, ökonomische, ideologische. Der Kalte Krieg begann seitens der USA bereits während des Zweiten Weltkrieges, denn das amerikanische Atombombenprojekt hatte zum Ziel, als Erpressungsmittel gegen die Sowjetunion zu dienen. Dem entgegenzuwirken bedeutete für die sowjetische Führung zumindest gleichzuziehen und um strategische Parität zu ringen. Für die USA ging es im Kalten Krieg vorrangig darum, ihren "Einfluss in Europa zu sichern, die Deutschen unten und die Russen außerhalb Europas zu halten". Das erklärt auch bis heute, warum die USA keinerlei Interesse an gedeihlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Russen haben. Der 1949 gegründeten BRD war die Rolle einer Speerspitze gegen den Osten zugedacht. Die Westmächte tolerierten den konservativen antikommunistischen Kurs Adenauers, die Remilitarisierung Westdeutschlands und dessen Einbindung in die NATO. Gegen die ebenfalls 1949 gegründete DDR verfolgte man mit der Hallsteindoktrin eine massive Blockade- und Isolierungspolitik.

Die deutsche Frage, die Existenz von zwei deutschen Staaten und damit auch die internationale Anerkennung der DDR durch die UNO und 135 Staaten waren nicht zu trennen vom realen internationalen Kräfteverhältnis, von der Auseinandersetzung zwischen den beiden Weltsystemen und Supermächten. Bestimmend waren schließlich die strategische Parität zwischen den beiden Supermächten, auch ein deutsches Patt nach 1961, denn mit der Grenzsicherung fanden sich die Westmächte stillschweigend ab. Ein großer Krieg auch zwischen den Großmächten wurde zu einem Überlebensrisiko und damit zu einem Anachronismus. Die militärische Stärke hörte somit auf die entscheidende Garantie für Macht und Einfluss eines Staates zu sein, der Schutz des eigenen Territoriums war nicht mehr möglich.

Der Kalte Krieg war jedoch nicht schlechthin ein Wettbewerb zwischen zwei Gesellschaftssystemen. Er war ein gnadenloser Krieg zur Liquidierung einer antikapitalistischen, sozialistischen Alternative. Es ging dabei auch um den Sieg des entwickelten kapitaldominierten Westen über den Sozialismus in einem geoökonomischen Krieg. Dazu diente nicht nur der der Sowjetunion aufgezwungene Hochrüstungskurs. Während im Zuge der sich anbahnenden Energiekrise der Westen zur postindustriellen Gesellschaft überging, hielt die sowjetische Führung am Modell der Industriewirtschaft fest. Gleichzeitig bremsten die westlichen Staaten die sowjetischen Erdöllieferungen, drückten mit der Verdoppelung der Erdölförderung Saudi-Arabiens im iranisch-irakischen Krieg 1984 den Erdölpreis von 30 US$ pro Barrel auf 12 US$. Ende der 80er Jahre stand die UdSSR aufgrund fehlender Valutamittel vor einer Nahrungsmittelkrise.

Die USA und andere westliche Staaten beantworteten sowjetische Kreditersuchen mit immer weitgehenderen Forderungen nach militärpolitischen Zugeständnissen. Sie nutzten die Schwäche der UdSSR und ihrer Führung unter Gorbatschow, um die Forderung nach völligem Abzug sowjetischer Truppen aus der DDR durchzusetzen. Und das für lediglich 8 Milliarden DM, wogegen die sowjetischen Truppen ein Eigentum im Wert von 30 Milliarden DM hinterließen. Inzwischen sank der Erdölpreis auf 9 US$. Im Juli 1991 wandte sich Gorbatschow an die Gruppe der 7 Industriestaaten wegen einer Teilnahme an deren Gipfeltreffen. Er erhielt jedoch keine zusätzlichen Kredite, da die UdSSR bereits mit 80 Milliarden US$ verschuldet war. Die sowjetische Führung konnte keine Futtermittel und Getreide im Ausland mehr kaufen. Das Land geriet nunmehr in eine finanzielle, ökonomische und politische Krise. Das sinnlose Wettrüsten in den 70er bis 90er Jahren trug entscheidend dazu bei, die so notwendige Modernisierung der Industrie, Landwirtschaft und der sozialen Sphäre zu verhindern.

Nach der Zerstörung der UdSSR konnte der Westen mit der Umverteilung der Ressourcen zu seinen Gunsten, der Einbindung von Hunderten Millionen von Menschen in die kapitalistische Produktion zunächst sein ökonomisches Wachstum sichern und seine eigene Krise hinauszögern. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise stellt den Triumph des Westens und den Beweis der Überlegenheit seines neoliberalistischen Modells mehr als infrage. Die USA und ihre Verbündeten erwiesen sich als ahnungslos nicht nur über die katastrophalen Folgen des Zerfalls der UdSSR für die ganze Welt. Sie sind auch ignorant an ihre eigene Krise herangegangen, überschätzten die Möglichkeit mit einer neoliberalistischen Politik die globalen Probleme in der heutigen Welt zu lösen. Ihnen ist auch ein wichtiger Konkurrent ebenso verloren gegangen wie die mögliche Wahl zwischen Methoden der Planwirtschaft, einer staatlichen Regulierung und der Marktwirtschaft. Eine Besonderheit des Wettbewerbs zwischen den beiden Gesellschaftssystemen bestand im Westen zumindest seit den Zeiten Roosevelts darin, dass er sich gezwungen sah der kapitalistischen Gesellschaft wesensfremde Reglungen zu übernehmen (dies erklärt zum Teil auch das Aufkommen der so genannten Konvergenztheorie) und insbesondere in der 2. Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine Art Anpassungsstrategie zu betreiben. Zu ihrem Bestandteil könnte man vielleicht auch die bundesdeutsche Ostpolitik des "Wandels durch Annäherung" rechnen.

Auch die Vorbereitung und Durchführung der Helsinki-Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ist nicht zu trennen von den widersprüchlichen Prozessen in der Entwicklung der Weltlage. Die UdSSR, die Warschauer Vertragstaaten waren die Initiatoren dieser Konferenz und des KSZE-Prozesses. Leider erwies es sich, dass diese Staaten zwar militärisch die strategische Parität sichern konnten, jedoch ungenügend auf die Entspannungspolitik, auf die Konsequenzen, die sich für sie aus den Körben 2 und 3 und damit in den Sphären der Ökonomie und der Menschenrechte ergaben, vorbereitet waren.

In Russland selbst scheiterte die ihm aufgezwungene Schocktherapie. An politische Bedingungen geknüpfte Kreditpolitik, willkürliche Privatisierung von über 145.000 Betrieben, einseitige Abrüstung, Förderung separatistischer Tendenzen, demographische Krise, die rücksichtslose Abwicklung der Industrie und Landwirtschaft, die weitgehende Machtübernahme durch eine Oligarchie ohne freie Konkurrenz drängten Russland an den Rand des Abgrunds, des Zerfalls der Russischen Föderation. Diese Gefahren mussten gebannt werden, denn es ging um das Überleben, um die Wiederherstellung der Souveränität des russischen Staates. Der Führung unter Putin gelang es, die Lage zu stabilisieren. Nunmehr müssen die USA, ihre NATO-Verbündeten wieder auf Russland hören.

Die Spannungen zwischen Russland und den NATO-Staaten haben sich nach dem Reagieren Russlands im Kaukasuskonflikt eher noch verschärft. Seit Ende der 80er Jahre setzen USA und NATO-Kreise auf die Durchsetzung ihrer Hegemonieinteressen, auf NATO-Osterweiterung, die Einkreisung und Zerstückelung Russlands. Anstelle der strategischen Parität erwachsen zunehmende Gefahren für Frieden und Sicherheit. Nach der Niederlage des sozialistischen Staatensystems in Europa forcierten die USA und die NATO ihre Politik der Revanche, der Revision der Geschichte und territorialer Realitäten. Die NATO-Expansion gen Osten soll den USA-Einfluss in den ehemaligen Sowjetrepubliken sichern und all dies mit Unterstützung seitens der EU und damit vor allem Deutschlands, das dabei gleichzeitig unter Kontrolle gehalten werden soll.

Aus dem obendargelegtem ergibt sich, dass erst mit der Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses zugunsten der USA und NATO-Staaten, mit dem Wegfall der Blockkonfrontation durch die Auflösung des Warschauer Vertrages, der Kapitulation der sowjetischen Führung und dem Zerfall der UdSSR, es mit dem Anschluss der DDR an die BRD zur deutschen Vereinigung kam. Dies festzustellen ist wichtig für eine wahrheitsgetreue Einordnung der Hauptakteure der deutschen Einheit, für das Ausräumen von Legenden um deren "Väter" oder den Kanzler der Einheit. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass der Kalte Krieg auch nach dem Fall der "Berliner Mauer" nie aufgehört hat. Denn historisch gesehen lagen ihm nicht so sehr und allein ideologische als vielmehr geopolitische Ursachen, unterschiedliche Interessen und Ziele für eine Nachkriegsordnung zugrunde. Deshalb kann es niemand erstaunen, dass ein erstarkendes anderes Russland nicht weniger Widerstand im Westen hervorruft als früher die UdSSR.

Wie stellt sich also gegenwärtig die deutsche Frage? Wie sollte sich die das vereinte Deutschland im 21. Jahrhundert in die Weltpolitik einordnen?

Raute

Fakten und Meinungen

Daniela Dahn

Im Westen was Neues

Was würde mich erwarten, wenn ich aus dem Buch "Wehe dem Sieger" im Land der Sieger lese? Würden sich die Besucher angesprochen und provoziert fühlen? Oder könnte ich mich mit meiner Auffassung durchsetzen, wonach die Profiteure der deutschen Vereinigung, die Konzerne und ihre Aktionäre, Banken, Versicherungen, Anwaltskanzleien, höhere Beamte und erhöhte Hochschulprofessoren seien, die politische und wirtschaftliche Elite also, auf die Dauer aber nicht die Bürger jenseits dieser Privilegien.

Zwar hat die Art der Vereinigung mit ihrer überstürzten Währungsunion, der Treu(losen)hand und dem Prinzip Rückgabe vor Entschädigung den Osten entindustrialisiert und dem Westen zwei Millionen Arbeitsplätze beschert. Aber diese goldenen Zeiten waren schon vor der Krise vorbei.

Inzwischen haben die normalen Bürger in Ost und West längst ähnliche Probleme. Auch wenn diese im Osten immer noch deutlich verschärfter sind, wie der jüngste Armutsatlas gezeigt hat, in dem sich die einstige innerdeutsche Grenze immer noch deutlich abzeichnet.

Außerdem konnte ich von früheren Lesungen, etwa zu dem Buch "Westwärts und nicht vergessen", davon ausgehen, dass sich die Erfahrung wiederholt, wonach das Publikum sich im Vorfeld sortiert. Die wirklichen Sieger würden mir nicht die Ehre eines Besuches geben. Wer im Westen zu meinen Lesungen kommt, der hat meist irgend eine biografische oder berufliche Beziehung zum Osten, ist aufgeschlossen und neugierig. Oder er ist Freitag-Leser, Gewerkschafter, attac-Sympathisant und friedensbewegt.

Dennoch habe ich eine neue Tendenz beobachtet. Seit der Krise hat die Selbstgerechtigkeit gegenüber der eigenen Ordnung deutlich nachgelassen. Überlegungen zur Gefährdung der Demokratie, zum destruktiven Treiben des Turbokapitalismus oder Zweifel an seiner Friedensfähigkeit werden nicht mehr brüsk zurück gewiesen. Die Stimmung ist kleinlauter geworden, auch verbitterter, nicht aber kämpferischer. Geschichten über Anpassungszwänge auf dem Arbeitsmarkt werden nur angedeutet, niemand kann es sich leisten, gegenüber seinem Arbeitgeber öffentlich illoyal zu sein. Dass wir in einer Angstgesellschaft leben, wird nicht nur nicht bestritten, sondern bestätigt. Aus Angst aber öffentlich nicht konkret belegt.

Dennoch löst nicht nur eine Stelle im Buch Erstaunen, wenn nicht Unglauben aus: "Der Realsozialismus hat andere Ängste bei anderen Leuten ausgelöst als der Realkapitalismus. Die politischen Ängste waren intensiver, verfolgten aber längst nicht alle; die sozialen Ängste sind diffuser, verfolgen aber fast alle. Vergleichende Forschungen gibt es nicht. Deshalb wage ich die Vermutung, dass die Summe der Ängste im Realsozialismus nicht größer war als die Summe heutiger Befürchtungen. Gemessen an dem, was der Sozialismus sich einmal vorgenommen hatte, ist diese Aussage peinlich genug."

Das in den Leitmedien in den letzten zwanzig Jahren verbreitete Bild, wonach die DDR eigentlich noch durchherrschter und brutaler war als die NS-Zeit, hat seine Wirkung getan. In Osnabrück lese ich in einer Gesamtschule vor mehreren Klassen, deren einzige sinnliche Erfahrung mir der DDR ein Besuch in der Gedenkstätte Hohenschönhausen war. Wie dort permanent gefoltert wurde, hat ein einstiger Häftling, der jetzt die Touristen durch das Haus führt, ihnen erzählt. Mein Einwand, dass trotz 75.000 Ermittlungsverfahren gegen 100.000 Personen der DDR-Führungsschicht kein einziger Fall von Folter nachgewiesen wurde, macht sie misstrauisch. Sie glauben dem Rechtsstaat weniger als einzelnen Zeugen, was immer deren Erinnerung motiviert. Der Unterschied zum Straftatbestand "Misshandlung von Gefangenen" ist ihnen schwer zu vermitteln. Den hat es in Einzelfällen gegeben, soviel ich weiß nicht in Hohenschönhausen. Und soviel ich weiß auch in den alten Ländern. Sogar mit Todesfolge. Aber diese Opfer waren meist Ausländer.

Dass in einem Buch behauptet wird, es gab in der DDR auch emanzipatorische Ansätze und Bereiche, in denen sogar ein Freiheitsvorsprung bestand, ist im Westen gewöhnungsbedürftig. Reflexartig wird gefordert, auch die dunklen Seiten nicht zu verschweigen. Das war nie meine Absicht. Aber auffällig ist schon, dass bei den etwa 10.000 Buchtiteln, die zur SBZ und DDR auf dem Markt sind, und die sich meist mit der Repressionsgeschichte befassen, nie der Vorwurf erhoben wurde, man müsse aber auch positive Seiten beleuchten. Das unstillbare Bedürfnis nach Differenziertheit kann also kaum dahinter stecken.

In solchem Diskursgemenge haben Versuche von Gegenöffentlichkeit es nicht ganz leicht. Dennoch sind meine Westbesuche unterm Strich ermutigend. Die Erfahrung, dass es dort viel mehr Ähnlichgesinnte gibt, als man ahnt und dass der Dialog gesucht wird, ist wohltuend. Die eigene Gesellschaft wird zunehmend kritisch gesehen und meine Schilderungen darüber, wie der Osten über den Tisch gezogen wurde und dabei Einzelne behandelt wurden, löst oft Scham, wenn nicht Entsetzen aus. Sich nicht resigniert abzuwenden, sondern den Dialog auf allen Ebenen fortzuführen ist eine Möglichkeit, die jedem von uns offen steht.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ralf-Alex Fichtner, 2009. Lavierte Finelinerzeichnung, 14,8 x 21 cm

Raute

Fakten und Meinungen

Hans Fricke

Illusion vom demokratischen Rechtsstaat BRD

Solange die Bundesrepublik Deutschland existiert, solange bemühen sich die Herrschenden, assistiert von den Konzernmedien, den Bundesbürgern die Illusion zu vermitteln, sie würden in einem Rechtsstaat leben, dem die demokratische Willensbildung des Volkes, des "Souveräns", wesenseigen sei. Dabei bedarf es nur eines Minimums an kritischer Sicht und Erinnerungsvermögen, um die Haltlosigkeit dieser Bemühungen zu erkennen.

Allein die Fremdbestimmtheit beim Zustandekommens des Grundgesetzes und bei der Gründung der BRD - beides erfolgte auf der Basis eines Befehls der westlichen Militärgouverneure - und der Inhalt dieses Grundgesetzes machen deutlich, was es mit demokratischer Willensbildung des Volkes und mit Rechtsstaatlichkeit in Wahrheit auf sich hat.

Obwohl nach der Zerschlagung des Faschismus die Notwendigkeit der Beseitigung der Existenz und Macht der großkapitalistischen Monopole einer auch in der westdeutschen Bevölkerung weit verbreiteten Überzeugung entsprach, welche den Faschismus und seine Eroberungskriege in enge Verbindung mit der Macht dieser Monopole brachte, und von den meisten Parteien, nicht nur von den sozialistischen, die Überführung der Schlüsselindustrie in Gemeineigentum gefordert wurde, ließen die westlichen Besatzungsmächte im engen Zusammenspiel mit dem deutschen Kapital und den nach 1945 in seinem Interesse Regierenden den erklärten Willen des Volkes ins Leere laufen.


Zur Erinnerung einige Fakten

Aus dem Gründungsaufruf der CDU vom Juni 1945: "(...) Dabei ist es unerlässlich, schon, um für alle Zeiten die Staatsgewalt vor illegitimen Einflüssen wirtschaftlicher Machtzusammenballung zu sichern, dass die Bodenschätze in Staatsbesitz übergehen. Der Bergbau und andere monopolartige Schlüsselunternehmen unseres Wirtschaftslebens müssen klar der Staatsgewalt unterworfen werden." (Unterzeichnet von Jacob Kaiser und Ernst Lemmer.)

Die SPD forderte im Aufruf vom Juni 1945 unter anderem: "(...) Verstaatlichung der Banken und Versicherungsunternehmen und der Bodenschätze, Verstaatlichung der Bergwerke und der Energiewirtschaft (...) Scharfe Begrenzung der Verzinsung aus mobilem Kapital."

Das Ahlener Programm der CDU vom 3. Februar 1947 begann mit folgenden Worten:

"Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden (...) Inhalt und Ziel (einer) sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur noch das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde der Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert."

Das Programm forderte im weiteren eine teilweise Vergesellschaftlichung der Großindustrie und starke Mitbestimmungsrechte.

Bereits ein Jahr zuvor hatte die SPD auf ihrem Reichsparteitag vom 8. bis 11. Mai 1946 in Hannover die Sozialisierung als "Aufgabe der unmittelbaren Gegenwart" und "als Prinzip der Wirtschaftsgestaltung in einem neu zu bauenden Deutschland" verlangt. Kurt Schumacher forderte die Partei auf, "sogleich und mit starker Initiative zu beginnen (...) das große Ziel vorzubereiten, das die Sozialisierung sein muss".

Am 1. Dezember 1946 bestätigten bei einer offiziellen Volksabstimmung in Hessen 72 Prozent der Teilnehmer den Artikel 41 der Verfassung, wonach der Bergbau, die Eisen und Stahl erzeugende Industrie sowie das an Schienen und Oberleitungen gebundene Verkehrswesen in gesellschaftliches Eigentum überführt werden sollten. Im Gegensatz zu einem Plebiszit in Sachsen im Juni des gleichen Jahres, in dessen Ergebnis sich 77 Prozent für die Vergesellschaftlichung von Monopolunternehmen und Betrieben von aktiven Nazis und Kriegsverbrechern entschieden hatten (eine Willensbekundung, die in Landtagsbeschlüssen für die gesamte sowjetische Besatzungszone verallgemeinert wurde), war dagegen in Hessen der Text, welcher der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt wurde, bereits durch die Einflussnahme der CDU, die den Artikel 41 - anders als die LPD - mittrug, gemildert worden (Herausnahme der Chemieindustrie aus den Sozialisierungen).

Nach der Volksabstimmung kam es zu "Schwierigkeiten" bei der Formulierung des Ausführungsgesetzes. Dieses lag voll im Interesse der USA. Darum verwunderte es auch nicht, dass der US-amerikanische Militärgouverneur Clay die unmittelbare Wirksamkeit dieses Artikel kurzerhand aufhob. Um den Schein zu wahren, vertröstete er die zu gesellschaftlichen Veränderungen entschlossene westdeutsche Bevölkerung auf eine "spätere zentrale Regelung", also auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. In ähnlicher Weise wurde vorgegangen, um Versuche zur Sozialisierung des Bergbaus in Nordrhein-Westfalen versanden zu lassen.

Das auf Befehl der westlichen Besatzungsmächte von einem "Parlamentarischen Rat", abgeschirmt von der demokratischen Öffentlichkeit, erarbeitete und verkündete Grundgesetz, welches an seinem 60. Jahrestag am 23. Mai von Bundesregierung und etablierten Parteien als beispielgebend gefeiert wurde, enthält alle in den Verfassungen moderner Staaten des 20. Jahrhunderts üblichen bürgerlichen Rechte und Freiheiten, die insofern keiner besonderen Hervorhebung bedürfen. Viel wichtiger ist dagegen, sich vor Augen zu führen, was nicht im Grundgesetz steht. So fehlen solche grundlegenden sozialen Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit, auf Wohnung und auf Bildung. Gleichfalls fehlen alle plebiszitären Elemente (Volksbefragung, Volksabstimmung, Volksentscheid) und auch das Recht auf Generalstreik. Mit anderen Worten: Alle für die überwiegende Mehrheit der Bundesbürger lebenswichtigen sozialen Grundrechte fehlen im Grundgesetz ebenso wie alle Möglichkeiten der direkten Einflussnahme des Volkes, des eigentlichen Souveräns, auf wichtige politische Entscheidungen und Entwicklungen.

Doch nicht nur das; der Parlamentarische Rat maßte sich auch an, dieses Provisorium des Spalterstaates der Monopole und Konzerne im Namen "des deutschen Volkes" zu verkünden und verwehrte gleichzeitig diesem Volk sein elementares Recht, über das Grundgesetz abzustimmen.

Das Ergebnis ist ein politisches System, dessen Kern der Kabarettist Georg Schramm in einer seiner Fernsehsendungen mit den folgenden Worten beschrieb: "Die Politik wird woanders gemacht. Unternehmerverbände machen die Politik und an denen hängen politische Hampelmänner, die dann auf der Berliner Puppenbühne Demokratie vorspielen dürfen."

Eine an Offenheit und Deutlichkeit kaum zu überbietende Abrechnung mit dem Parlamentarismus der BRD war bereits vor Monaten vom langjährigen Bundestagsabgeordneten Dr. Peter Gauweiler (CSU) zu vernehmen, ohne dass die Massenmedien davon sichtbar Kenntnis genommen haben. In einem Spiegel-Gespräch warf er Abgeordneten Duckmäusertum vor und geißelte ihr Verhalten als angepasst, unkritisch und uneigenständig. Viele Abgeordnete wollten lediglich "im System funktionieren". Er habe den Eindruck, "dass Abgeordnete, die eigenständig über das eigene Land reden sollten, nicht mehr erwünscht sind". Abgeordnete, die ihr abweichendes Votum bereits angekündigt hatten, wurden von der Fraktionsführung der CDU/CSU in einer Weise geknetet und gedreht, dass einem schlecht werden konnte. "Manchmal haben wir vor Feigheit gestunken."

Welchen Kräften die grundgesetzlich verankerte Verweigerung jeder direkten politischen Einflussnahme des Volkes der BRD auf besonders wichtige Entscheidungen und Entwicklungen nützen sollte (und bis heute nützt), zeigte sich bereits sieben Monate nach Verkündung des Grundgesetzes an den verstärkten Anstrengungen der Adenauer-Regierung zur Remilitarisierung. Anfang Dezember 1949 konnte Adenauer sich erlauben, den Willen der überwiegenden Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung zu ignorieren und erstmals zu erklären, falls die Westmächte von der Bundesrepublik einen militärischen Beitrag verlangen sollten, sei eine positive Reaktion denkbar. Es dauerte nicht mehr lange, bis sich die Aufrüstung als ein Kernstück seiner aggressiven außenpolitischen Konzeption ("Politik der Stärke") erwies, die die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in den Grenzen von 1937 verbunden mit einer "Neuordnung Europas" zum Ziel hatte. Sein Staatsekretär Hallstein äußerte sogar die wahnwitzige Idee, dass diese "Neuordnung Europas" das gesamte Gebiet bis zum Ural umfassen müsse.

Welche undemokratischen und rechtswidrigen Entwicklungen die Illusion vom "Demokratischen Rechtsstaat" BRD in den Folgejahren ermöglichte, ist auch heute noch nicht vergessen:

- Über vier Jahrzehnte lang übte die Justiz der BRD sich in "Vorneverteidigung" gegen "Staatsfeinde", vor allem Kommunisten, aber auch des Leninismus unverdächtige pazifistische Christen oder zur nationalen Einheit willige Gewerkschaftler.

- Mit 1951 verabschiedeten Gummiparagraphen und damals gebildeten 17 übers Land verteilten speziellen "Staatsschutzkammern" wurde gegen rund 150.000 Westdeutsche wegen "Staatsgefährdung", "Geheimbündelei", "Rädelsführerschaft" und anderer schwammiger "Delikte" ermittelt, wo statt der Tat die Gesinnung zählte. Rund 60.000 Leute landeten in Gefängnissen. Zu den "Delikten" zählten sogar Besuche und Delegationsreisen in die DDR.

Rechtsanwalt Heinrich Hannover schreibt über seine langjährigen Berufserfahrungen mit der politischen Justiz der BRD: "Als ich 1954 in Bremen als Rechtsanwalt zugelassen wurde, steckte ich voller rechtsstaatlicher Ideale, die mir auf der Universität beigebracht worden waren (...) Und ich glaubte, in der Justiz ein Berufsfeld vorzufinden, auf dem nach Gerechtigkeit für jeden Bürger dieses Staates gestrebt wurde. Aber meine Erfahrungen in der Berufspraxis ließen meine rechtsstaatlichen Illusionen wie eine Seifenblase zerplatzen." (Ossietzky, Heft 08/2009, S. 299)

Ein anderer langjähriger Rechtsanwalt wird noch deutlicher, indem er schreibt: "Ich war früher - beim Studium und in den ersten Berufsjahren - im Prinzip (also mit Einschränkungen) sehr stolz auf unseren Rechtsstaat. Das hat sich gelegt, nachdem ich erkannt habe, was alles so unter der Flagge des Rechtsstaates dahinsegelt. Juristischer Saustall wäre die korrekte volkstümliche Bezeichnung.

- In den 1960er Jahren saßen auch Menschen in Haft, weil sie "staatsgefährdenden Nachrichtendienst" und "landesverräterische Beziehungen" betrieben hatten, indem sie ab 1954 mit Genehmigung der Bundesregierung Zehntausende Kinder preiswert in DDR-Ferienlager verschickten. 1961 - noch vor dem Mauerbau - drehte sich der Wind. Bonn verbot "Frohe Ferien für alle Kinder" und die Justiz verknackte die Initiatoren für ihre Arbeit vor dem Verbot.

- Erst 1968, als die Aufhebung der 1951 eingeführten Gummiparagraphen in Kraft trat, war die strafrechtliche Hatz wegen derartiger "Delikte" zu Ende.

- Bekanntlich fand diese Hatz gegen Bundesbürger wegen ihrer Gesinnung seit 1972 mit den Berufsverboten eine arbeitsrechtliche Fortsetzung. Bis 1980 gab es nach Angaben der GEW 11.000 Verfahren, 2200 Disziplinarverfahren und 136 Entlassungen aufgrund des "Radikalenerlasses". Es bedurfte eines mehr als zwei Jahrzehnte dauernden Kampfes von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, anderen Organisationen und namhaften Persönlichkeiten des In- und Auslands bevor 1994 der Europäische Gerichtshof der deutschen Bundesregierung, dem Bundesverfassungsgericht und den Bundesländern bescheinigte, dass die Praxis des "Radikalenerlasses" illegal sei und der "Rechtsstaat" BRD viele Jahre Menschenrechte verletzt habe.

Dass es seitens der Bundesregierung bis heute gegenüber den Betroffenen keinerlei Entschuldigung, geschweige denn die vom Europäischen Gerichtshof ausdrücklich verlangte Wiedergutmachung gibt, rundet das Bild ab.

- Die Richter, welche bis Ende der 1960er Jahre diese Urteile "im Namen des Volkes" sprachen, waren zum größten Teil noch die aus der Nazi-Zeit. Jene, die später Kernkraftgegner verurteilten beziehungsweise Klagen von Hinterbliebenen der Opfer faschistischer Terrorjustiz gegen noch lebende Täter mit der Begründung ablehnten, es liege "kein hinreichender Tatverdacht vor", waren bereits der Nachwuchs. Ihre Sozialisation erfuhren sie sowohl in ihrer Ausbildung als auch im Beruf durch diese alten Richter.

Nach dem Anschluss der DDR an die BRD entwickelte die politische Justiz in Erfüllung der Kinkelschen Weisung, die DDR zu delegitimieren, einen regelrechten Verfolgungseifer gegen ehemalige DDR-Bürger, der ihr den Namen "Siegerjustiz" einbrachte. H. Rittstieg erklärte dazu im Freitag, vom 10. September 1993: "Die Alternative, für die sich die BRD offenbar entschieden hat, ist Fortsetzung des Bürgerkrieges mit den Mitteln des Strafrechts, der öffentlichen Diffamierung und der beruflichen und gesellschaftlichen Diskriminierung."

Heute ist rückblickend festzustellen, dass die BRD sich in der Tat für den Bürgerkrieg in Deutschland als Form der Weiterführung des Kalten Krieges entschieden hat. In diesem unblutigen Krieg stellte die strafrechtliche Verfolgung von Amts- und Hoheitsträgern der DDR die krasseste, entwürdigendste und schmerzhafteste Form dar. So sehr man sich auch bemühte, das frühere hoheitliche Handeln der Verfolgten juristisch als "normales" kriminelles Handeln mit individueller Schuld hinzustellen, von den Medien bis in die Gerichtssäle hinein waren die politischen Ziele, Absichten und Zusammenhänge unübersehbar. Mit allen Mitteln der Manipulation, in jedem einzelnen Verfahren, mit jeder Anklage und vor allem mit jeder Verurteilung wurde versucht, die DDR zu treffen. Zu Recht wird deshalb diese Verfolgung als politische Strafverfolgung bezeichnet. Politik wird mit juristischen Mitteln verwirklicht, ein Zusammenhang, der in demagogischer Absicht immer wieder bestritten und verschleiert wurde. Auch in der BRD von heute bewahrheitet sich der Spruch "Wer die Macht hat, hat das Recht". Da Macht und Recht der "Sieger" gegen die Besiegten eingesetzt werden, ist es völlig legitim, von Siegerjustiz zu sprechen.

Aber so einfach ließ sich diese politisch motivierte juristische Abrechnung mit ehemaligen Hoheitsträgern der DDR nicht verwirklichen. Ihr standen international geltende fundamentale Rechtsgrundsätze, das eigene Grundgesetz, der Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten von 1972 und der Einigungsvertrag entgegen. Doch davon ließ sich der zur Strafverfolgung entschlossene "Rechtsstaat" nicht abhalten. Aufgabe der Justiz war es, trotz dieser "Hindernisse" Mittel und Wege zu finden, um den Auftrag, die Regierung, die DDR zu delegitimieren, dennoch zu erfüllen und dem Ganzen den Anschein von Rechtsstaatlichkeit zu geben.

Als die größte Barriere erwies sich Artikel 103, Abs. 2, des Grundgesetzes, in dem es heißt: "Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Dieses absolute Verbot rückwirkenden Strafverfolgung wurde mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996 für ehemalige DDR-Bürger ausgesetzt, was zur Folge hatte, dass für sie ein Art Sonderrecht galt, welches wegen seiner Sonderheit nur Unrecht sein konnte. Besonders bemerkenswert ist, dass dieser geradezu skandalöse Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nur zwei Jahre nach der öffentlichen Rüge des Europäischen Gerichtshofes an der Illegalität des "Radikalenerlasses" der BRD gefasst wurde, mit dem ebenfalls festgelegt und vom Bundesverfassungsgericht als grundgesetzkonform gebilligt worden war, dass das Grundgesetz nicht uneingeschränkt für alle Bundesbürger gilt.

Der für die Zivilisierung des Rechts stehende Grundsatz: "Keine Strafe ohne Gesetz" fand auch im Einigungsvertrag seinen Niederschlag. Danach durften nach dem 3. Oktober 1990 nur Handlungen als Straftat verfolgt werden, die auch nach DDR-Recht strafbar waren. Allein aus diesem einfachen aus dem Einigungsvertrag resultierenden Grund waren die massenhaft geführten Strafverfahren rechtswidrig. H. Ridder dazu: "(...) es ist nicht geltendes Recht falsch angewandt worden; es handelt sich um gesetzlose Verurteilungen bzw. beim BVerfG um die Bestätigung solcher rechtlosen Justizakte".

Dass vor diesem eindeutigen Hintergrund Strafverfolgungen ehemaliger Hoheitsträger der DDR nur mit Hilfe nebulöser Rechtsauffassungen und -argumentationen, abenteuerlicher Rechtskonstruktionen und unter Anwendung von (in der DDR verbotenem) ungeschriebenem Naturrecht möglich waren, liegt auf der Hand. Deshalb schätzten auch solche namhaften Rechtswissenschaftler wie Prof. Dr. Dr. hc Frowein, Heidelberg und Prof. Dr. Wesel, Berlin, ein, dass es sich bei den in diesen Verfahren angewandten Recht nicht um DDR-Recht, sondern um ein bundesdeutschen Vorstellungen entsprechendes Recht handelt. Ein Recht, das nach den Rechtsauffassungen bundesdeutscher Staatsanwälte und Richter damals in der DDR hätte bestehen sollen - aber nicht bestand.

Einer der Verteidiger in Prozessen gegen DDR-Hoheitsträger gab auf die Frage, welches Recht die Gerichte in Prozessen gegen ehemalige "staatsnahe" DDR-Bürger anwenden, folgende sarkastische Antwort: "Halb DDR-Recht, halb BRD-Recht, dazu noch etwas von der UNO - und das alles heißt dann Nach Recht und Gesetz. Die Gerichte klagen an und verurteilen nach DDR-Recht, indem sie BRD-Recht anwenden."

Wie weit der "Rechtsstaat" BRD auf dem Wege zum grenzenlos biegsamen Recht bereits fortgeschritten ist, beweist nicht nur die Aussetzung des absolut geltenden Rückwirkungsverbots des Grundgesetzes für ehemalige DDR-Bürger, sondern auch die Entscheidung einer Bundestagsmehrheit vom 28. Mai 2009, den Deal vor Gericht, dessen Abschaffung nicht nur verantwortungsbewusste Juristen seit Jahren fordern, zum Gesetz zu erheben. Damit endet eine Epoche: Der aufgeklärte klassische Strafprozess geht zu Ende; er wird abgelöst vom ausgehandelten Konsensprozess. "Bisher", so erklärte Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 28. Mai, "waren die Gerichte nach dem Amtsermittlungsgrundsatz und dem Legalitätsprinzip verpflichtet, von Amts wegen die Wahrheit zu erforschen und nicht einfach das für die Wahrheit zu nehmen, was Angeklagte oder Verteidiger dafür erklären. Diese Prinzipien sind nicht mehr. Sie wurden an diesem Donnerstag mit dem Gesetz zur Regelung von Absprachen im Strafprozess verabschiedet. Künftig ist der Deal, der Handel mit der Gerechtigkeit also, ganz offizieller Teil und Wesenskern des deutschen Strafrechts. Aus Mauschelei wird Gesetz, aus dem Strafrichter ein Strafen-Makler, aus dem Strafgesetzbuch eine Art Handelsgesetzbuch."

Dieses Gesetz beweist einmal mehr, dass der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Aussetzung des Rückwirkungsverbots für Teile der Bevölkerung der BRD kein Irrtum, keine fatale Fehlentscheidung eines Gerichtes, sondern wie der mit der Legalisierung des Deals zu Grabe getragene klassische deutsche Strafprozess Methode - eben Imperialismus - ist.

Außer dem zum Gesetz erhobenen Deal gehören zu den von der großen Koalition am Schluss der Legislaturperiode beschlossenen Neuregelungen auch das "Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten" und die neuen Strafgesetzbuch-Paragraphen 89a und 89b, mit denen das Tatprinzip verlassen und ein rechtswidriges Gesinnungsstrafrecht eingeführt wird. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen charakterisierte den Entwurf der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, die selbst einräumte, dass die von ihr vorbreiteten Gesetze "verfassungsrechtlich auf Kante genäht" seien, mit den Worten: "Das ist nicht weniger als das Gedankenverbrechen aus Orwells 1984".

Wie ernst die Lage auf diesem Gebiet ist, hat zum Beispiel Prof. Peter-Alexis Albrecht, Strafrechtler an der Universität Frankfurt, mit Blick auf die zunehmende Einschränkung und Beseitigung demokratischer und persönlicher Grundrechte unter dem Vorwand der Erhöhung der Inneren Sicherheit im ZDF-Magazin frontal am 8. Mai 2007 deutlich gemacht: "Der Rechtsstaat ist mittendrin in der Auflösung, weil es eine Herstellung von Sicherheit in dem Maße, wie es der Politik vorschwebt, nicht gibt (...) Das ist ein Wahnsinn, der die Politik im Grunde beherrscht; die Politik sucht nach Mitteln, um zu zeigen, was sie kann, und dabei vernichtet sie den Rechtsstaat, und das ist im Grunde das Verbrechen (...)"

Deshalb sollten wir über die Feststellung der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke, DIE LINKE, in Ossietzky, Heft 12/2009: "Mit diversen Neuregelungen haben sie (die CDU/CSU und SPD) dem Rechtsstaat tiefe Wunden geschlagen" nachdenken und ihre Warnung vor den Folgen ernst nehmen: "Das Bundeskriminalamt wird die neuen Strafbestimmungen zu noch mehr Lauschangriffen, Spähangriffen in Wohnungen und heimliche Online-Durchsuchungen von Computern nutzen können. Das ist wahrscheinlich sogar der Hauptzweck: Gummiparagraphen im Strafgesetzbuch geben den Strafverfolgungsbehörden neue Möglichkeiten, in die Bürgerrechte einzugreifen. Schon die behauptete Annahme einer bösartigen Gesinnung, hinterlegt mit einer entsprechenden Legende, wird dazu ausreichen, strafprozessuale Eingriffe in die Privatsphäre zu rechtfertigen, selbst wenn die Beweislage am Ende nicht zu einem Schuldspruch reichen wird. Die Überwachungsmöglichkeiten werden uferlos ausgedehnt." - alles im Namen des "Demokratischen Rechtsstaates" BRD.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Herbert Sandberg: "... wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist", 1967. Farbiger Decilithschnitt, Blatt 18 aus der Folge "Bilder zum kommunistischen Manifest"

Raute

Fakten und Meinungen

Werner Schneider

Demokratischer Rechtsstaat - und was war die DDR?

"Wo keine Gerechtigkeit ist, ist keine Freiheit, und wo keine Freiheit ist, ist keine Gerechtigkeit"
Johann Gottfried Seume

Der Rechtsstaat gewährleistet die Würde und die freie Entwicklung eines jeden Menschen. In diesem Sinne ist Rechtsstaatlichkeit entschieden mehr als das Vorhandensein einer freiheitlichen Rechtsordnung. Das heißt mit anderen Worten, man muss in einem Rechtsstaat in Würde leben können. Und es bedeutet eben auch, ohne gesicherte Existenz wird die Freiheit zu einem schönen Traum. Man kann sie nicht genießen.

Zum demokratischen Rechtsstaat gehören, ausgehend von den von den Vereinten Nationen verkündeten Menschenrechten, folgende Grundbedingungen und Grundrechte:

1. Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung (Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinische Versorgung, Erholung)

2. Bildung und Kultur, Berufsbildung, Chancen für weiterführende Bildung

3. Beschäftigung (Erwerbsarbeit, andere nützliche Arbeit in Familie und Gesellschaft). Diese Arbeit muss insgesamt die Existenz für ein ganzes Leben sichern und der Würde des Menschen entsprechen.

4. Gewährleistung solcher Freiheitsrechte, die sich aus den Grundbedingungen für den demokratischen Rechtsstaat als Grundrechte ableiten und einklagbar sind:

- Recht auf Arbeit
- Recht auf Wohnung und Freizügigkeit
- Recht auf Bildung und Berufsausübung
- Recht auf Versorgung bei Krankheit und Alter.

Ferner die politischen und weiteren Freiheitsrechte wie die Gründung, Mitgliedschaft und Betätigung in demokratischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen (Gewerkschaften, Verbänden, Vereinigungen), demokratische Wahlen, Religionsfreiheit, Rede- und Versammlungsfreiheit, Freiheit der Medien und Gewerbefreiheit.

Alle Freiheitsrechte gelten im Rahmen der Gesetze, im Sinne der Hegelschen Maxime von der Einsicht in die Notwendigkeit.

5. Gesetze sollen vernünftig und gerecht sein. "Summum ius summa iniuria" (Cicero: höchstes Recht - höchstes Unrecht) darf es weder im öffentlichen Recht noch im Privatrecht geben.

Die Rechtsinstitute müssen so ausgestaltet sein, dass sie dem Staatsbürger verständlich und gerecht erscheinen und den Konfliktparteien unverzüglich und ohne rechtliche Hürden, insbesondere dem Schwächeren zum Beispiel in der Frage der Beweislast Recht verschaffen. Der Rechtsstaat darf keine betrügerischen Handlungen der Bereicherung Dritter dulden. Er sanktioniert strafrechtlich den Betrug, wozu es keines Nachweises des Vorsatzes bedarf.

Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich, können vor unabhängigen Gerichten ihre Interessen wahrnehmen und genießen den Schutz der Staatsmacht. Die historisch überholte Gewaltenteilung wird suspendiert, da mit ihr heute eine Einschränkung der demokratischen Kontrolle der Judikative und der Exekutive verbunden ist.

Höchstes Machtorgan ist das direkt vom Volk gewählte Parlament.

6. Gleichheit und Gleichberechtigung aller Staatsbürger in Bezug auf Rasse, Religion, Geschlecht, Weltanschauung und Zugang zu Bildung und zu öffentlichen Ämtern. Und schließlich

7. die unbedingte Friedfertigkeit in der Völkergemeinschaft und der Verzicht auf Repressalien, Aggressionen und Gewalt gegenüber Schichten der eigenen Bevölkerung sowie gegenüber anderen Staaten auf Grundlage einer konsequenten Friedenpolitik und internationaler Solidarität.

Ein demokratischer Rechtsstaat ist im Gegensatz zum bürgerlichen Rechtsstaat dasjenige politische Gemeinwesen, in dem alle Grundbedingungen zumindest approximativ erfüllt sind oder sich auf dem Wege dahin befinden, und das sich zu diesen Grundbedingungen und Grundrechten normativ bekennt.

Rechtsstaat kann kein politisches Gemeinwesen sein, das permanent

Volksmassen unterdrückt, benachteiligt und ihnen ihre Existenzgrundlagen entzieht,
sie für die eigene Herrschaftsausübung ausbeutet und ihrer Freiheit beraubt,
seine Bürger für imperialistische Kriege bzw. Eroberungskriege missbraucht,
in seiner Machtausübung die Grenzen des Rechts und die Prinzipien der Humanität bestreitet und missachtet,
die Wahrheit massiv verfälscht und unterdrückt.

Diese Merkmale gelten auch, wenn der Staat die Missstände duldet und fördert, ohne selbst bei diesen Handlungen die Führung auszuüben oder selbst der Nutznießer zu sein.

Die genannten Handlungen sind kennzeichnend für den Unrechtsstaat. Bei grundlegender Veränderung der Produktionsverhältnisse und der Politik in Richtung Rechtsstaat können die Merkmale des Unrechtsstaates überwunden werden.

Zwischen dem demokratischen Rechtsstaat und dem Unrechtsstaat gibt es zahlreiche Zwischenstufen. Ihre politische Bewertung bedarf der exakten Gesellschaftsanalyse, um die Richtung ihrer Entwicklung zu bestimmen und den Stand ihrer Rechtsstaatlichkeit zu definieren.

Auf die DDR angewandt, kommt man zu dem Schluss:

Die DDR hat die Grundbedingungen und die Grundrechte in unterschiedlicher Qualität erfüllt, hatte keine Gebietsansprüche und imperiale Ambitionen gegenüber anderen Staaten, schränkte aber die Freiheitsrechte ihrer Bürger zugunsten der sozialistischen Umgestaltung der Republik erheblich ein.

Die DDR war insofern eine kommunistische Diktatur ohne demokratische Kontrolle. Sie wurde ausgeübt durch das Politbüro der SED. Die führende Rolle der Partei hatte Verfassungsrang. Gleichwohl besaß die DDR eine funktionierende, auf vielen Gebieten bürgerfreundliche Rechtsordnung.

In ihrer Gesamtbeurteilung konnte aber die DDR noch kein so beschaffener Rechtsstaat sein. Diese Bewertung teilt sie mit vielen anderen noch existierenden Staaten dieser Welt.

Die DDR war aber ebenso wenig ein Unrechtsstaat, obwohl innerhalb ihrer Rechtsordnung Unrecht geschah. Und manche Kreise empfanden sozialistische Rechtsnormen und Handlungen als Unrecht. Die Beurteilung kann nur in der Komplexität aller gesellschaftlichen Erscheinungen getroffen werden. Und die besagt, dass Grundrechte verwirklicht waren, die in Deutschland heute nicht mehr bestehen, und soziale Errungenschaften realisiert und weiter ausgebaut wurden, die Vorbildcharakter hatten.

Das politische System des Sozialismus in der DDR hätte unter anderen nationalen und internationalen Bedingungen, wie dem Kalten Krieg, eine echte Gesellschaftsalternative mit mehr Rechtsstaatlichkeit sein können. Die politische und ökonomische Destabilisierung der DDR, insbesondere durch die alte BRD, misslang zwar auf dem Feld der Diplomatie, auf dem Gebiet der Ökonomie wirkte sie umso nachhaltiger. Ohne diese Begleitumstände zu bedenken, ist ein fundiertes Urteil nicht zu gewinnen.

Schließlich muss die Frage nach dem Wesen des Staates gestellt werden, für deren Beantwortung eine Einengung auf Freiheitsrechte im Staat zu kurz gesprungen wäre.

Der Staat ist auch heute das Machtinstrument der herrschenden Klasse und ihres Führungspersonals. Die Machtausübung kann sich durchaus nach gewissen demokratischen Regeln vollziehen. In der kapitalistischen Gesellschaft verkörpert diese führende Klasse die Monopol- und Großbourgeoisie. Ihre Repräsentanten sitzen als Vertreter der bürgerlichen, konservativen Parteien und im weiteren von politischen Gruppierungen und von Interessenverbänden in den Parlamenten des Gesamtstaates und der Länder sowie in staatlichen Ausschüssen und Kommissionen.

Auch in der repräsentativen Demokratie verfügen sie in den Parlamenten, Ausschüssen und Kommissionen über die Mehrheit und majorisieren die Abstimmungen. Ihre Politik und ihre Programmatik weist sie zusammen mit den Lobbyisten aus Wirtschaft und Gesellschaft als Sachwalter und Interessenvertreter der Oberschicht, der dem Kapital verbundenen Eliten sowie der vom bürgerlichen Staat Privilegierten aus. An der Spitze steht das Finanzkapital, das sich als Symbiose von Industrie- und Bankkapital sowie Assekuranzkapital herausgebildet hat und weltweit mit enormen Ressourcen zur Erringung von Maximalprofiten operiert.

Im Sozialismus mit demokratischen Antlitz, der sich als Rechtsstaat erweisen will, ist die Macht des Finanzkapitals gebrochen. An die Stelle der Kapitalinteressen tritt der die Demokratie verkörpernde Wille der Volksmassen. Dieser hat eine andere Qualität als Geld und Macht, indem er auf eine freie Entwicklung aller abzielt.

Die Machtausübung im Staat kann demokratischer bzw. föderalistisch oder mehr diktatorisch bzw. zentralistisch erfolgen.

Sie kann sich auf ein liberales Mehrparteiensystem oder auf ein monolithisches Einparteiensystem stützen mit verschiedenen Zwischenformen.

Der Staat bleibt seinem Wesen nach aber stets das Macht- und Herrschaftsinstrument einer bestimmten Klasse und ihres Führungspersonals, der ein bestimmtes Modell der Machtausübung und der diesem innewohnenden Führungszielen eigen ist. Die großen Philosophen, Dichter und Denker von der Antike an haben sich über die ideale Staatsform geäußert. Den idealen Staat hat es in der Menschheitsgeschichte bis heute nicht gegeben. Und es wird ihn nicht für alle seine Bewohner geben können. Denn was als ideale Staatsform gilt, wird stets determiniert von der Stellung und der Befindlichkeit des Menschen in der Gesellschaft, der dazu ein Urteil abgibt.

Der Sozialismus mit demokratischem Antlitz kommt dem idealen Staat wohl am nächsten. Ihn wieder mit neuem Leben zu erfüllen, bleibt eine Frage an die Zukunft.

Und hier könnten die Worte von Hugo Chavez, dem venezolanischen Präsidenten, für eine plausible Antwort hilfreich sein, womit denn dieser Beitrag - auch eingedenk seiner anfänglichen Worte - schließen möchte:

"Der Sozialismus steht nicht im Widerspruch zur Demokratie, nein, das eine ist ein Teil des anderen, der Sozialismus ist demokratisch, die Demokratie ist sozialistisch."

Raute

Fakten und Meinungen

Erhard Thomas

Von Deutschland über Deutschland nach Deutschland

Mein Weg: 1936 in Dambitsch im Warthegau hineingeboren ins faschistische deutsche Reich, nach dessen Untergang später vier Jahre mit meinen Eltern, die als Hilfs- und Leiharbeiter auf polnischen Bauernhöfen ohne Bezahlung arbeiteten, in einem Umsiedlerlager bei Lezno, kam ich am 5. Juni 1949 in die Sowjetische Besatzungszone. Seit dem 7. Oktober 1949 war ich DDR-Bürger. Am 3. Oktober 1990 bin ich unfreiwillig in meinem dritten Deutschland angekommen. In den 73 Jahren meines Lebens habe ich auf meinem Weg Menschen erlebt, durch sie und von ihnen gelernt. Und ich hatte literarische Wegbegleiter: Einem von ihnen, dem französischen Soziologen Gustave Le Bon, danke ich besonders.


Nachdenken 1919 - 1929 - 1939 - 1949 - 1989 - 2009

Ich muss sie Revue passieren lassen, die deutsche Geschichte. Für mich hält sie schon die dritte Heimat parat. Was meine ich eigentlich, wenn ich den Begriff Deutschland im Munde führe? Allein in über 130 Jahren unserer jüngeren Geschichte gab es fünf extrem verschiedene Staaten, Identitäten, Regimes Grenzen und Konstrukte: die Kaisermonarchie, die Weimarer Republik, die Hitlerdiktatur, die sich in zwei Staaten getrennt entwickelnden und auch international respektierten beiden deutschen Republiken und die durch Eingemeindung der DDR geschaffene Bundesrepublik Deutschland. Fünfmal Deutschland seit Gründung des zweiten Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 ist wohl ohne Übertreibung staatspolitischer Anarchierekord.

National wie international muss das ohne jeden Zweifel den Eindruck entstehen lassen, als hätten wir Deutschen den politischen Kompass im Verlauf unserer historischen Entwicklung zur Nation verloren und irren ohne Kurs zu halten durch eine turbulente Weltgeschichte. Viele, die ich kenne, denken so, gleich, ob sie hüben oder drüben von der Mauer lebten.

Überhaupt das Wort "Mauer". Ist sie wirklich schlagartig am 9. November 1989 gefallen? Existiert sie vielleicht weiterhin in einer anderen Form? Hat sie sich vielleicht in den vergangenen zwanzig Jahren nur gewandelt?

Als Bauwerk, im Sinne einer staatlichen Trennlinie, ist sie nicht mehr erkennbar, aber mit Unbehagen und Enttäuschung muss man schon registrieren, dass sie nach zwanzig Jahren offenbar als geistig-ideologische Barriere in den Köpfen eigenwilliger Politiker der BRD und bei einer großen Zahl politisch zwar betroffener, aber politisch uninteressierter Bürger existiert.

Es gibt kein Ereignis dieser Tage, Wochen und Monate, das so viel verbalen Aktionismus und medialen Rummel auslöst, wie der "Fall der Berliner Mauer" vor 20 Jahren. Und alles begleitet von den Vokabeln aus dem Kalten Krieg: "Eiserner Vorhang", "Stacheldraht", "Todesstreifen", "SED-Regime", "marode Staatswirtschaft". Aber es gab doch durchaus auch andere Sätze, vom bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß z. B.: "Die DDR ist kreditwürdig." So jedenfalls im Bayrischen Rundfunk, als es um den Zwei-Milliarden-DM-Kredit für den anderen deutschen Staat ging.

Statt in der Bundesrepublik darüber glücklich zu sein, dass die Teilung ohne Blutvergießen durch die Bürger überwunden wurde, werden seither über die DDR-Bürger Verdächtigungen, Misstrauen, Verunglimpfungen, Erniedrigungen und Schmähungen unters Volk gebracht. Unüberhörbar sind auch 2009 die Modeworte noch Unrechtsstaat DDR, Mauer, Stasi, Schießbefehl. Wie und auf welche Weise nach dem Beitritt der DDR mit deren Bürgern zu verfahren sei, erdreistete sich schon 1991 Prof. Arnulf Baring von der FU Berlin vorzugeben: "Da ist nichts zu retten, die Leute drüben sind verzwergt, sie sind verhunzt. (...) Ob sich einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken unbrauchbar."(1)

Na, da haben wir es ja schwarz auf weiß und öffentlich verkündet bekommen. Da von einer Mehrheit maßgeblicher Politiker der im Parlament vertretenen Parteien auch weiterhin die Einheit nicht sittlich interpretiert werden wird, liegt es wohl an uns selbst, uns Gehör zu verschaffen.

Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, dass die kapitalistische Bundesrepublik Deutschland Siegerin über die sozialistische DDR geworden ist. Damit gehört auch die Mehrheit der ehemaligen DDR-Bevölkerung zu den Verlierern, zu den Besiegten.

Auch mich ereilte dieses Schicksal. Wie abertausend andere auch, da ich von den neuen Entscheidungsträgern bald in den großen Wegwerfbehälter gestoßen wurde, nur weil ich Arzt in leitender Chefarztposition am Regierungskrankenhaus, Fachberater für alle chirurgischen Bereiche des Regierungsapparat und Arzt für Werner Lamberz, Alfred Norden und für Willy Stoph gewesen war, für den man, nach Arnulf Baring, keine Arbeit mehr haben durfte. Das war demütigend, entwürdigend und entehrend.

Zudem wird von den Regierenden die ehemalige DDR zielstrebig mit dem Begriff Unrechtsstaat gleichgesetzt.

Auch die Legende vom Schießbefehl wird wieder und wieder vorgetragen. Niemand wird die militärische Grenzsicherung zwischen der DDR und den Nachbarstaaten bestreiten, die es aber ebenso zwischen anderen souveränen Staaten der Erde gab und weiterhin gibt. Dazu authentische Beispiele zum sogenannten Schießbefehl. Bezogen auf die Leipziger Demonstrationen 1989 sagte Erich Honecker: "Der von Krenz nur vorbereitete und von mir unterzeichnete Befehl untersagt ausdrücklich die Anwendung der Schusswaffe." Und in einem Brief des Armeegenerals Heinz Kessler an Erich Honecker vom 7.1.1989: "Aufgrund der Erfahrungen der UdSSR und anderer sozialistischer Staaten wurde bereits mit der inzwischen außer Kraft gesetzten Verordnung zum Schutz der Staatsgrenze der DDR vom 16.3.1964 der Begriff Sperrgebiet durch den Begriff Grenzgebiet ersetzt. Die Umbenennung des Grenzgebietes in militärisches Sperrgebiet würde eine Reihe politischer, militärischer und rechtlicher Konsequenzen nach sich ziehen, insbesondere eine umfassende Änderung geltender Rechtsvorschriften ... gestatte ich mir vorzuschlagen, die gegenwärtigen Festlegungen beizubehalten und die Umbenennung in militärisches Sperrgebiet nicht vorzunehmen. Signum E. H: einverstanden 7.1.1989/Tgb.-Nr A 11/89"


Eine Lehre

Für Lehren, die man nicht gezogen hat, für Erkenntnisse, die man nicht gewonnen hat, wird man gestraft, im politischen Kampf vom Klassengegner. Zwei dieser Lehren, die ich nicht selbst aufgestellt habe, deren Richtigkeit ich aber nachdrücklich bestätigen will, stelle ich voran: Wenn der politische Gegner einen lobt, ist man mit Sicherheit auf dem falschen Weg.

Und die andere: Die gesellschaftliche Demontage des Gegners beginnt in der Regel in tiefsten Friedenszeiten.

Diese hier erlebte ich 1987. Erich Honecker hatte als Staatsoberhaupt die Bundesrepublik besucht und es gab ein Gemeinsames Kommunique über den offiziellen Besuch des Generalsekretärs der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Erich Honecker, in der Bundesrepublik Deutschland vom 7. bis 11. September 1987. Schon wenige Tage danach bekam ich von einem Mitglied des ZK dieses Papier vertraulich zum Lesen. Was ich da zu lesen bekam, hat mich empört, entsetzt und auch erschüttert: 22 mal wurde Honecker von Helmut Kohl persönlich angesprochen, 18 mal als Herr Generalsekretär und nur vier mal als Generalsekretär und Vorsitzender des Staatsrates der DDR. Kein einziges mal wurde er während diese Staatsbesuches ausschließlich als Vorsitzender des Staatsrates begrüßt. Auf der einen Seite also eine gelungene Inszenierung der bundesdeutschen Politik, auf der anderen Seite die Blamage unserer Delegation. Das heißt, nach neudeutscher Lesart, zu diesem Zeitpunkt hat die DDR für die Bundesrepublik nicht mehr existiert. Wann, wo und bei wem ich nach dem September 1987 auch anrief, ich stieß auf taube Ohren. So auch bei einem Hausbesuch bei Willi Stoph. Als ich meine Zahlen 18 : 4 : 0 vorbrachte, stand er wortlos auf, was bedeutete, der Hausbesuch ist beendet. Vergessen hat Stoph dieses versuchte Gespräch nicht, denn bei meinem letzten Hausbesuch 12 Jahre später vor seinem Tod im März 1999 erinnerte er mich daran, ohne jedoch weiter darüber zu sprechen.

Die Demontage hatte in tiefsten Friedenszeiten begonnen.


9. November 1989

An diesem Tage hatte ich den üblichen Nachtdienst in der Klinik in Berlin-Buch. Am gleichen Tag war auch eine Politbürositzung und ich hörte schon am Vormittag von mehreren Patienten, dass es am Abend eine Pressemitteilung zum Inhalt dieser Sitzung geben würde. Ab 18.30 Uhr saß ich mit mehr als zehn Patienten in einem Appartementzimmer vor dem Fernseher. Wir warteten voller Spannung auf die Pressekonferenz. Offensichtlich wussten die meisten Patienten von allem etwas, aber nichts Genaues. Den ganzen Tag über hatte eine ängstliche und unerträglich gespannte Atmosphäre in der Klinik geherrscht. Ich war nicht so sehr als Chirurg, sondern mehr als Sozialmediziner, als Psychologe, als Telefonist und als atheistischer Seelsorger gefragt. Patienten baten mich um die Verschiebung anstehender Operationen.

Um 18.53 Uhr war es dann so weit. Ein verwirrter G. Schabowski verkündete stammelnd die neue Reiseregelung der DDR.

"Wann?" "Das tritt nach meiner Kenntnis ... ä ist das sofort ... ä ... unverzüglich."

In diesem Augenblick entbrannte in dem Zimmer die erregte Diskussion. Unter den Patienten waren Botschafter, ZK-Mitglieder, Minister und Funktionäre von Massenorganisationen. Aus dieser tumulthaften Szene haben sich mir drei Äußerungen dauerhaft eingeprägt.

Harry Schwermer, Staatssekretär im Ministerium der Arbeiter- und Bauerninspektion: "Das ist der Untergang der DDR. Das wird für uns alle schlimm."

Robert Menzel, einst Mithäftling von Erich Honecker im Zuchthaus Brandenburg: "Jetzt haben wir bald wieder 1933." "Aber Robert, was redest du da?" "Ihr habt mich unterbrochen - in maskierter Form."

Ein dritter, alter Genosse, Spanienkämpfer und ehemals rassisch Verfolgter schloss sich an: "Und bald folgt die Enteignung, wie ich sie schon mal erlebt hab."

Die Gruppe diskutierte hitzig. Um 1.30 Uhr habe ich dann alle zur Nachtruhe aufgefordert. Obwohl ich allen eine Beruhigungstablette verordnet hatte, hat keiner die Nacht durchgeschlafen. Auch ich nicht.

Dann überschlugen sich die Ereignisse und bald schon begann auch die Hatz auf die Einrichtung Regierungskrankenhaus Berlin-Buch. Presse und Fernsehen interessierten sich am Bau und am Innenleben der Klinik. Alle wollten sie das Krankenzimmer von Herrn Honecker sehen. Sie vermuteten dort feinstes Tafelsilber und goldene Wasserhähne. Ich musste sie enttäuschen, worauf einige auf die absurde Idee verfielen, wir hätten all die schönen Armaturen inzwischen entfernt.

Investoren aus den alten Bundesländern hatten großes Interesse an der Übernahme des Hauses, allerdings zum Nulltarif. Einige wollten es der Belegschaft abnehmen, in der irrigen Annahme, dass es als Volkseigentum den Mitarbeitern gehören würde. Die griffigste Parole steuerte der Senat bei: "Wenn wir nicht sofort das Regierungskrankenhaus übernehmen, dann bricht die Gesundheitsversorgung in Buch zusammen." Heute steht das Haus ungenutzt leer.


Abstand

Schon wenige Wochen nach diesem November gaben neben Schabowski und besonders eifrigen Anpassungstalenten auch Leute aus der Wirtschaft, der Kultur und der Wissenschaft zu verstehen, dass sie diese Entwicklung geahnt, ja sogar prophezeit hätten. Unter den Rednern auf dem Alexanderplatz vermisse ich sie allerdings. Unter denen fand ich keinen Arbeiter, keinen Arzt, keine aus der großen Zahl werktätiger Frauen, keinen seriösen Naturwissenschaftler.

Vielfach höre ich heute eine seltsame, wie auch erstaunliche Bemerkung: Die politischen Posaunisten vom 4. November verträten ja nicht unbedingt die Schicht der Menschen, die die materiellen Lebensbedingungen des untergegangenen Landes geschaffen hätten. Denn das da Lebens- und Arbeitsbedingungen geschaffen worden waren, war selbst beim Gegner bekannt.

Franz Joseph Strauß bekundete Erich Honecker gegenüber er verstehe die Devisensituation der DDR und würdigte die Zusammenarbeit mit ihr auf dem Gebiet der AIDS-Forschung und anderen wissenschaftlichen Fachgebieten ... Die bayrischen Mediziner seien überrascht von der hohen Qualität, die sie auf der DDR-Seite angetroffen hätten.(2)

Einige Ossis beeilten sich, ihre eigene Vergangenheit als gewaltigen Irrtum zu verdammen. Sie schienen auf die Gelegenheit gewartet zu haben, sich und ihren Charakter zu offenbaren. Viele brauchten Zeit, die Umwälzungen zu begreifen, aber auch ihre Identität zu verstehen und damit auch ihren Platz in der Marktwirtschaft, in der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft real zu bestimmen. Es gibt aber auch die, die zwanzig Jahre nach dem November 1989 den Umbruch nicht bewältigt haben. Sie sind nicht angekommen. Sie lebten in einem sozial gerechteren Staat. Nun leben sie im Kapitalismus und "der Kapitalismus ist", nach Reinhard Mohn, Besitzer des Medienmultis Bertelsmann, "nicht gerecht. Nur effizient."(3)


Anmerkungen:

(1) Baring, A.: Deutschland, was nun? Ein Gespräch mit Dirk Rumberg und Wolf J. Siedler, Berlin 1991, zitiert nach
   Otto Köhler: "Die große Enteignung", S. 120, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1994
(2) Honecker, E: "Moabiter Notizen", edition ost, Berlin 1994, S. 215
(3) Mohn, R.: in Berliner Zeitung, Nr. 285, 7/8. Dez. 1991, S. 35


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Chirurg Dr.sc. Erhard Thomas

Raute

Fakten und Meinungen

Hans Rentmeister

Israel - Erlebnisse und Erkenntnisse einer Reise

Mit dem Rucksack reisten meine Frau und ich im März 2009 drei Wochen lang durch Israel und übernachteten problemlos in Jugendherbergen. Für die Reise hatten wir zwar ein Konzept, aber den konkreten Ablauf entschieden wir spontan.

Jerusalem (Yad Vashem, Ölberg, Klagemauer, Tempelberg usw.), Bethlehem, Tel Aviv, Totes Meer, Massada, Rotes Meer, Wüste Negev, See Genezareth, Tiberias, Akko, Caesarea, Haifa waren die wesentlichen Stationen durch dieses politisch brisante, historisch hoch interessante und geografisch vielfältige Land. Hervorheben möchte ich die Tage, die wir im Kibbuz Naan bei unserem Kameraden Jacov T. lebten, und das Treffen mit Vorstandsmitgliedern des Vereins der ehemaligen Häftlinge des KZ Sachsenhausen in Tel Aviv. Der langjährige Vorsitzende des Vereins und Vertreter im Internationalen Sachsenhausen-Komitee Abram L. hat den israelischen Verein der ehemaligen Häftlinge des KZ Sachsenhausen zu einem aktiven Leben geführt. Leider schränkt ihn seine Gesundheit immer stärker ein. Das zu sehen tat uns besonders weh, weil wir ihn in unser Herz geschlossen haben. Umso dankbarer waren wir für ein weiteres Gespräch bei einem gemeinsamen Essen. (Vgl. ICARUS 3/2007, S. 56/57)

Mehrere Tage waren wir in Jerusalem, wohnten direkt in der Altstadt, von deren Besuch uns einige Unkenrufer abgeraten hatten. So wie das ganze "Heilige Land", "Eretz Israel" oder Palästina" ist speziell Jerusalem einer der zentralen Punkte der menschlichen, auch unserer Geschichte. Als Drehkreuz europäischer, afrikanischer und asiatischer Entwicklung trafen sich in dieser Region über Jahrtausende unendlich viele Kulturen sowie politische und andere Machtinteressen.

Eine erste Erkenntnis unserer Reise war, wie einseitig ich das dortige politische Geschehen bislang beurteilt hatte. Gewohnt das Geschehen im Nahen Osten als Teil der globalen und imperialen Interessen über Rohstoffe, Einfluss- und Machtsphären zu beurteilen, musste ich erkennen, dass die Menschen und Völker in diesem Gebiet ja auch ureigene Interessen haben. Diese gingen mir in dem großen Blick fast unter. Das Volk der Juden lebte bereits vor über 3500 Jahren im wesentlichen in dieser Region. Es hat große Königreiche hervorgebracht und böseste Vertreibung und Vernichtung erfahren. Der Höhepunkt in seiner Vernichtung war der Holocaust. Bei aller Vertreibung über den ganzen Erdball hatte ein großer Teil des jüdischen Volkes den Wunsch, in der Region, wo es ursprünglich gelebt hatte, sich ohne Verfolgung und selbstbestimmt wieder niederlassen zu können. 1948 erzwangen sie diesen Staat. Viele Juden glaubten, dort ihre Träume verwirklichen zu können und nicht mehr Spielball fremder Mächte zu sein. Mit der Staatsgründung Israels haben die herrschenden Kreise aus den umliegenden arabischen Staaten den Staat Israel mit allen Mitteln bekämpft. Noch in der Gründungsnacht erklärten die Anliegerstaaten Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien Israel den Krieg. Sie wollten, wie einige bis heute sagen, die Juden wieder ins Mittelmeer werfen.

Die Liste der gegenseitigen Schuldzuweisungen und Vorwürfe ist lang. Vieles hängt davon ab, auf welches Datum man die Stunde Null in der Geschichte setzt. Wir wissen aus unserer aktuellen deutschen Geschichtsdarstellung, wie interessengesteuert solcherart Geschichtsdarstellung ist. Je nach Zielstellung setzen deutsche Politiker, Wissenschaftler, Journalisten u. a. die Stunde Null jüngster deutscher Geschichte in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, 1933, nach dem 8.5.1945 oder dem 3.10.1990 an. Bei unseren Gesprächen in Israel und bei unserem kurzen Abstecher in palästinensisches Gebiet (hinter einer 8 m hohen Mauer) spürten und hörten wir von den einfachen Leuten, dass sie einfach nur Frieden wollen. Die israelischen Juden wollen zunächst nur die Sicherheit, dass sie nicht mehr befürchten müssen, ins Mittelmeer geworfen zu werden. Sie wollen die tägliche Angst loswerden, in diesem Krieg nahe Angehörige oder das eigene Leben zu verlieren. Ich maße mir kein Urteil an. Eine allen gerecht werdende Lösung wird es nicht geben. Es wird sicher Verzicht an eigenen Interessen geben müssen. Aber das Töten und die Gewalt müssen aufhören. In der Altstadt von Jerusalem sammelte beispielsweise ein Jude Geld für in diesem Krieg geschädigte Palästinenser. Die unterschiedlichen Positionen gehen quer durch die Gesellschaften.

Für uns war die Vielfalt der israelischen Gesellschaft nur zu erahnen. Israel hat etwa 7,4 Mio. Einwohner. Von Norden nach Süden misst es 470 km. Die breiteste Stelle des Landes beträgt 135 km, die schmalste nur 15 km. 78,4 % der Bevölkerung sind Juden, 20,1 % Araber und 1,5 % Drusen(1). Dieses Verhältnis verschiebt sich immer stärker zu Ungunsten der Juden. Mehrfach haben wir von israelischen Juden die Sorge vor einer südafrikanischen Lösung gehört. Diese Sorge beeinflusst bestimmte politische Entscheidungen.

Die wie ein Chaos anmutende Vielfalt der 3 monotheistischen Religionen (Christen, Juden, Moslems) mit ihren unüberschaubaren sowie unbegreifbaren Verästelungen, Interpretationen und Machtansprüchen wirft viele Fragen und Zweifel auf. Man sagt, dass in Jerusalem über 30 religiöse Richtungen, d. h. letztendlich ihre Kirchen, um Ansehen, Glauben und Macht ringen. Sie beanspruchen dort ihre Wurzeln, ihre Heiligtümer und ihre religiösen Maßstäbe. Die Art und Weise wie diese Ansprüche durchgesetzt werden, reichen von taktvollem Verhalten über für uns kuriose Methoden bis hin zum Körpereinsatz.

Unsere Erfahrung vor Ort war, im Alltag wird die sich aus der Vielfalt unverzichtbar notwendige Toleranz so gelebt, dass man als Tourist ziemlich problemlos Land und Leute kennen lernen kann. Der Grundsatz, dass man als Fremder lernen und nicht lehren/missionieren sollte, ist dort umso mehr die Basis für das Kennenlernen des Anderen und Neuen.

Hierzulande begegnet uns immer wieder Unkenntnis hinsichtlich des Begriffs Jude/Judentum. Dieser Begriff steht für ein Volk, aber auch für eine Religion. Beides ist nicht identisch. Vom jüdischen Volk leben zwischen 4 und 5 Millionen in Israel. Unter den israelischen Juden gibt es Ultraorthodoxe (6 %), orthodoxe (9-10 %), traditionell religiöse (13 %),Traditionalisten (28 %) und nicht religiöse Juden (43 %). Die Vielfalt politischer Ansichten dürfte in Israel nicht geringer sein als in den Ländern Europas. Allerdings sind viele Riten, die ihren Ursprung in der jüdischen Religion hatten, in die Alltagskultur eingegangen. So wie bei uns beispielsweise das Wochenende, Weihnachten, Ostern usw. aus der christlichen Religion in die Alltagskultur übergegangen sind und von allen, unabhängig von Weltanschauung, genutzt werden. Der Schabbat wird beispielsweise, wenn auch auf unterschiedliche Weise, in ganz Israel eingehalten. Freitagnachmittag bis Sonnabendabend geht teilweise fast nichts mehr. In Jerusalem zum Beispiel riegeln am Schabbat ultraorthodoxe Juden ihr Wohngebiet ab und machen so faktisch eine Magistrale sowie die umliegenden Straßen zu einer wenig benutzten Fußgängerzone. Israelische Verkehrsmittel fahren nicht. Das wird andererseits durch die Taxis und Busse arabischer Israelis kompensiert. In Tel Aviv hingegen spürt man vom Schahbat kaum etwas.

Von unserer Reise haben uns viele wegen der dortigen Sicherheitsrisiken abgeraten. Speziell waren diese Warnungen auf die kriegerischen Handlungen in dieser Region bezogen. Israel befindet sich in einem so genannten asymmetrischen Krieg. Was heißt das? Die eine Front ist militärisch hochgerüstet und auf modernstem Stand der Technik, die andere Seite der Front sucht den verdeckten Kampf. In der deutschen und in der Sprachregelung anderer Militärmächte ist letzteres als Terror definiert. Krieg ist Krieg, egal wie er geführt oder wie der Gegner und seine Kampfformen betitelt werden. Es ist Krieg mit allen seinen Grausamkeiten, seinen massenhaften Menschenrechtsverletzungen, seinen Kollateralschäden und seinen hinter Friedenslosungen verborgenen Zielen. Wenn das eigentliche Übel, der Krieg, nicht beendet wird, gibt es keine Lösung im Nahen Osten und das Leiden hat kein Ende. Sucht man die Ursachen, warum ansonsten friedliche Menschen aufeinander gehetzt werden, hilft am besten die Frage nach dem cui bono weiter.

Hier in Deutschland höre ich, je nach politischem Standpunkt, immer eine Aufrechnung des Unrechts auf der einen und die Rechtfertigung der Gewalt auf meiner Seite. In der offiziellen Politik und Mediendarstellung scheint mir das manchmal so: Oben herzliche Umarmung und unten Tritte vors Schienbein. Beim Leid derjenigen, mit denen man sympathisiert, müssen immer die einfachen Leute als Beispiel herhalten. Selbst wenn man die Vielfalt und Komplexität der Interessen in diesem Raum berücksichtigt, das einfache Volk will diesen Krieg und die Herrschaftsansprüche nicht. Die Drahtzieher sind wie immer die Milliardäre, großen Kriegsgewinnler, Besitzer von Land und Bodenschätzen sowie diejenigen, die Sorge um ihre politischen, religiösen, mittelalterlichen u. a. Machtstrukturen haben. Das betrifft nicht nur die Machtausübenden in diesem Raum, sondern weltweit. Bei mancher Diskussion kommt es mir so vor, als hätten die Beteiligten das Elementare vergessen und fahren jetzt auf die Propaganda der ihnen plausiblen Seite ab.

Auf unserer Reiseroute haben wir von militärischen Auseinandersetzungen nichts gespürt. Die israelischen Sicherheitsmaßnahmen waren allgegenwärtig. Überall, speziell in Bussen und Bahnen, fahren Soldaten und Soldatinnen in Uniform und Marschgepäck als normale Passagiere. Alle Jungen und Mädchen haben eine 3- bzw. 2-jährige Wehrpflicht. Wer zu den Soldaten gehört, die mit einer Maschinenpistole kämpfen müssen, der hat seine Waffe einschließlich Munition die ganze Militärzeit immer dabei. So kann einem in einem vollen Eisenbahnwagen (wenn die Soldaten zum Schabbat nach Hause fahren) schon mal der Lauf einer Maschinenpistole, die eine 160 cm große Soldatin trägt und neben einem sitzt, schmerzhaft in die Wade drücken. Busbahnhöfe, Kaufhäuser, Eisenbahnhöfe, Museen usw haben immer eine Personen- und Gepäckkontrolle. So wie wir sie von Flughäfen kennen. Das wird je nach Lage manchmal sehr streng und manchmal locker praktiziert. Bei Ausflügen von Schulklassen haben wir stets einen bewaffneten Begleiter gesehen. Man gewöhnt sich schnell daran und ärgert sich nur, wenn man es eilig hat und die Kontrolle länger dauert.

Besonders wichtig war es uns, den Umgang mit der jüngeren Geschichte kennen zu lernen. Beeindruckend und erschütternd das Holocaust-Museum Yad Vashem. Überzeugend auch die sachliche, objektive, fundierte und gut komprimierte Darstellung der Verbrechen der Nazis an den Juden. Dazu gehörte für mich auch die Darstellung, wie komplex deutsche Wirtschaft, Kirchen, Medien und breite Teile der Bevölkerung und andere das Naziregime bis zum 8. Mai 1945 getragen haben. Auch die Helfer der Nazis, speziell in den europäischen Ländern, werden benannt. Eine solche Darstellung ist in Deutschland kaum noch zu finden. Diese Holocaustgedenkstätte ist ein wichtiger Ort, nicht nur für Israel. Aber er ist nicht der zentrale Punkt israelischen Gedenkens. Die Vereidigung israelischer Soldaten erfolgt in Massada. Massada wurde zwischen 37 und 4 vor Christus von Herodes als eine uneinnehmbare Felsenfestung am Toten Meer erbaut. Die Römer erstürmten im Jahr 73 unserer Zeitrechnung diese über zwei Jahre von 1000 aufständischen Juden verteidigte Festung. Um nicht in die Hände der Römer zu fallen, brachten die Verteidiger ihre Frauen und Kinder und zum Schluss sich selbst um. Im Fahneneid der israelischen Soldaten heißt es: "Massada darf nie wieder fallen".

Die Museen und Gedenkstätten, die wir in Israel in den verschiedenen Städten besuchten, hatten den Kampf des jüdischen Volkes um das Überleben und für ihren jetzigen Staat als tragendes Thema. Die bekannte jüdische paramilitärische Untergrundorganisation Hagana hat beispielsweise ihre Ursprünge in den ersten Jahren des vorigen Jahrhunderts in Russland. In den Kampf der Juden werden auch ihre Leiden, einschließlich des Holocaust, eingebettet. Die nicht endgültig zu beantwortende Frage zwischen Kämpfern und Opfern, die ja auch in der Geschichte der VVN eine Rolle spielte, war immer wieder zu erkennen. Juden haben in allen Ländern der Antihitlerkoalition in militärischen Einheiten und im Untergrund als Widerstandskämpfer oder Partisanen gegen die Faschisten gekämpft. Auch im deutschen Widerstand, so klein er auch war, gab es viele jüdische Kameraden. Die Gedenkstätten in Israel erinnerten mich sehr an die Gedenkstätten in Russland, Tschechien, Frankreich, Niederlande, Belgien, der DDR, der Ukraine, Norwegen und vielen anderen Ländern der Welt. Nur in der BRD gibt es eine derartige Geschichtsdarstellung nicht. Diejenigen, auf deren heldenhafte Traditionen sich hierzulande maßgebliche politische Kräfte gern berufen würden, können sie mit Rücksicht auf das Ausland und demokratische Kräfte in Deutschland nicht öffentlich würdigen. Die Helden des antifaschistischen Widerstandes will man aber nicht zum Vorbild nehmen. Man käme damit zwangsläufig auf die bedeutende Rolle der Kommunisten, auch in Deutschland. Und die hatten den Faschismus bekanntlich mit einer Systemkritik am Kapitalismus verknüpft.

Der Aufstand der Anständigen ist für einige offensichtlich nur eine rhetorische Floskel. Deshalb hat die BRD für die jüngere Geschichte vermutlich als einziges Land in der Welt eine Gedenkkultur, die beim anderen zugefügten Leid - einschließlich des Selbstmitleides für den verschuldeten Krieg - und des Verschmähens ideologischer Gegner stecken geblieben ist.

Ein besonderer Höhepunkt unserer Reise war das Zusammentreffen mit sieben Kameraden des Vorstandes des israelischen Vereins der ehemaligen Häftlinge des KZ Sachsenhausen. Wissend, dass ich keine Funktion im Internationalen Sachsenhausenkomitee mehr ausübe, hatten sie uns eingeladen. In das lebhafte und herzliche Gespräch war auch der Dank an mich eingeschlossen, dass ich mich, wie sie es sagten, ohne Rücksicht auf die eigene Person öffentlich für ihre Interessen eingesetzt habe, als der brandenburgische Innenminister Schönbohm im Jahr 2006 auf einer Gedenkveranstaltung im KZ Sachsenhausen Naziverbrechen mit den infolge des Krieges entstandenen Leiden der Internierten gleichgesetzt hat. Wiederum war ich beeindruckt, wie aufmerksam und sachkundig in Israel alle politischen Ereignisse in der BRD, speziell was das Erinnern an die Naziverbrechen und die Aktivität der Neonazis betrifft, tagfrisch verfolgt wird. Das geschieht mit Hilfe des Internets, mit persönlichen Kontakten und im Resultat von Vortrags- und anderen Reisen in die BRD. So wurde ich gefragt, warum in Deutschland Tausende auf die Straße gehen, wenn Israel Krieg gegen die Palästinenser führt, aber wenn der iranische Ministerpräsident Ahmadinedschad den Holocaust leugnet, gibt es nur einen kleinen Protest in den Medien. Verständlicherweise ist die Sicht der Überlebenden vorrangig auf jüdisches Leiden, Antisemitismus und Neofaschismus fokussiert. Mit deutscher Symbolik fühlen sich manche Kameraden mit dem roten Winkel nicht ausreichend vertreten. Der rote Winkel ist zwar nicht das allumfassende Zeichen für alle KZ-Häftlinge, doch er umfasst am stärksten die Vielfalt der politischen Gefangenen. Er repräsentiert die Häftlinge aus einer sehr großen Zahl von Völkern der Welt. Die auch hierzulande immer wieder auftretende Assoziation mit kommunistischen Häftlingen ist so nicht korrekt. Die Kommunisten waren nur ein Teil derer, die einen roten Winkel tragen mussten. Im KZ Sachsenhausen, wie auch in anderen (nicht in allen) KZ hatten Juden als Kennzeichen ein rotes Dreieck. Dem roten Dreieck wurde dann, wie bei Häftlingen aus anderen Ländern oder Gruppen auch, eine zusätzliche Kennung (Buchstabe oder Symbol), in dem Falle ein gelbes Dreieck, hinzufügt.

Die Verbrechen der Nazis in den KZ waren so vielschichtig, dass es auch für die ehemaligen Häftlinge immer wieder Neues zu erfahren gibt. So konnte beispielsweise ein Kamerad bei dem Gespräch in Tel Aviv überhaupt nicht verstehen, dass Familienangehörige von mir über 10 Jahre in den KZ und Zuchthäusern der Nazis waren und überlebt haben. Die normale Lebenserwartung eines jüdischen Häftlings war entschieden kürzer. Seine Eltern und Verwandten waren im KZ ermordet worden.

Dem Treffen vorausgegangen waren 3 Tage im Kibbuz Naan. Unsere Freunde Jacov und seine Frau Lois hatten uns dazu eingeladen. Jacov hat jetzt den Vorsitz des Häftlingsvereins. Kibbuzim sind seit Gründung des Staates Israel eine bedeutende Säule der Existenz seiner Gesellschaft. Es gab sie schon vor Gründung des Staates Israel. Mittlerweile gibt es unterschiedliche Organisationsformen. Ich will nur berichten, was wir erlebt haben. Im Kibbuz Naan lebt man zumeist in Ein- bzw. Zweifamilienhäusern im Grünen. Der Kibbuz hatte eine ausgiebige Feldwirtschaft. Jetzt ist der größte Teil der Felder verpachtet. Gemeinsam mit anderen Kibbuzim betreiben sie etliche Kilometer entfernt eine Viehwirtschaft. Ein weiteres wirtschaftliches Standbein des Kibbuz Naan ist die Produktion von Bewässerungsanlagen. Zum Kibbuz gehören Seniorenheim, Kindergarten, Sporthalle, Schwimmbad, Büchereien, Kulturbau, Supermarkt, ein großer Speisesaal mit Cafeteria und weitere soziale und kulturelle Einrichtungen und Dienstleistungen. Wer nicht zu Hause kochen möchte, kann im Speisesaal vom Frühstück bis zum Abendbrot ein vielfältiges Wahlessen bekommen und mit anderen gemeinsam oder auch alleine speisen, beziehungsweise das Essen mit nach Hause nehmen. Wir kamen uns etwas wie auf einer organisierten Urlaubsreise vor, nur dass es dort Alltag ist. Im Seniorenheim haben wir Pflegefälle gesehen, die dort mit ausreichendem Personal als Teil der Gemeinschaft im Kibbuz betreut werden. Die gesundheitliche Versorgung, einschließlich der zahnärztlichen Versorgung ist für Mitglieder kostenlos. In diesem Kibbuz gilt der Anspruch, dass diese, so wie auch die Altersbezüge, immer über dem israelischen Durchschnitt liegen müssen. Hat man keinen eigenen PKW und benötigt man aber einen, so geht man zur Außenstelle des Autoverleihers Sixt im Kibbuz, gibt dort seine persönliche Kennung ein, schaut, welches der Fahrzeuge frei ist und reserviert es für den gewünschten Zeitraum. Wenn es soweit ist, holt man sich die Autoschlüssel und fährt los. Die Steuern für seine Mitglieder zahlt der Kibbuz. Jeder hat ein Einkommen, das gut über dem Durchschnitt der israelischen Gesellschaft liegt. Entscheidungen, und derer scheint es viele zu geben, werden kollektiv getroffen. Wer es dabei einfach haben will, kann das auch mit Hilfe des kibbuzeigenen Kommunikationsnetzes bei der Liveübertragung der Versammlung machen. Sicher ist ein Kibbuz kein Schlaraffenland. Einem Besucher zeigen sich die Probleme nicht auf den ersten Blick. Und die Tatsache, dass einerseits ständig neue Mitglieder aufgenommen werden und andererseits andere dort überhaupt nicht leben wollen, deutet auf eine ganz natürliche Vielfalt menschlicher Interessen hin. Beim Erleben eines Kibbuz drängen sich Gedanken an unsere jüngere deutsche Geschichte auf. Die LPG der DDR haben nie den gleichen Grad an Kollektivität wie in den Kibbuzim erlangt. Doch gibt es viele Parallelen zu dieser gesellschaftlichen Organisationsform. So waren auch die LPG in der DDR kulturelle Zentren der Gemeinden. Wären sie nicht nach den selbst gemachten Gesetzen der BRD ganz rechtsstaatlich in Kapitalgesellschaften umgewandelt worden, könnten sie heute zur ökonomischen, kulturellen und demografischen Stabilität in den neuen Ländern beitragen. Aber auch hier sollte schon der Ansatz für andere als rein kapitalistische Modelle und eine lebensstarke Konkurrenz aus dem Osten nicht zugelassen werden.

Über diese ausgewählten, vorrangig politischen Eindrücke hinaus, haben wir einen ganzen Berg von Erlebnissen und Erkenntnissen mitgebracht. Dazu gehören die Bilder emsig, meist ausgiebig mit dem Handy telefonierender, hilfsbereiter und freundlicher Menschen. Sie kamen nicht nur aus Israel, sondern aus der ganzen Welt. Kommuniziert wird in Hebräisch, Englisch, Russisch, Arabisch oder mit Händen und Zeichen. Die begeisternde Vielfalt der Natur und der Geschichte bleibt zum großen Teil in unserer Erinnerung und auf unseren Fotos und Filmen erhalten.


Anmerkung:

(1) Zur Zeit hat Israel 7.411.000 Einwohner. 74 Prozent davon sind Juden, 20,1 Prozent der israelischen Bevölkerung sind arabischer Herkunft. Zu ihnen zählen u. a. 170.000 Beduinen, von denen etwa die Hälfte sesshaft ist. Andere leben traditionellerweise nomadisch, halten sich jedoch meist in denselben Gebieten auf. 322.000 (4,4 %) sind Einwanderer nichtjüdischer Herkunft, werden aber als Juden betrachtet und dienen im Militär. Eine weitere Minderheit sind die Drusen (1,5 %).


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Blick auf einen Teil von Alt-Jerusalem
Die Mauer zwischen Jerusalem und Betlehem
Grenzkontrollpunkt in der Mauer
Der Felsendorn auf dem Tempelberg in Jerusalem
Normalität in Israel - bewaffnete Soldaten in den Straßen
Das Holocaust-Museum Yad Vashem
Friedenstaube an einer Hauswand in Betlehem
Bild an einer Hauswand in Betlehem symbolisierend für Jerusalem und Betlehem
Zu Besuch bei der Familie von Jacov T.

Raute

Fakten und Meinungen

Hans Schilar

Moritat vom fleißigen Maulwurf

Als alles gelaufen war, wie es sein sollte,
und Herr von der Zenk besaß das, was er wollte,
das Schloss seiner Eltern mit all dem Besitz,
da war er zufrieden, der Herr aus Steglitz.
Nun hatte er neben der Villa am Park
auch noch den Besitz in der Uckermark.
So wurde die Einheit für Herrn von der Zenk
zum schönsten Ereignis und größten Geschenk.

Nun konnt's also losgehn, das Rekonstruieren,
nach Fotos und Bildern in alten Broschüren.
Der Kern war der Park in der einst'gen Gestalt,
umgeben von Seen und herrlichem Wald,
auch mit englischem Rasen und englischem Flair,
denn ein Vorfahre war einst im englischen Heer.

Besonders den Rasen, den liebte Zenk mächtig.
Und durch seine Hände gedieh er auch prächtig.
So wuchsen heran all die die Gräser, die zarten.
Der Herr von der Zenk konnt es kaum noch erwarten,
bis dass sie sich formten zum krönenden Schluss.
Doch ach, was war das denn? Da machte Verdruss
ihm ein Maulwurf, der gänzlich nach seinem Belieben
die Erde begann in die Höhe zu schieben.

Und das, was noch eben zum Werk wurd der Kunst,
das war über Nacht nun entstellt und verhunzt.
So gut wie fast gar nichts erinnerte mehr
an englischen Rasen und englisches Flair.
Der Zorn des Herrn Zenk ob des bösen Gesellen
war mächtig gewaltig. Er musste ihn stellen,
ganz gleich, welche Mittel dazu wär'n vonnöten.
Er wusste nur eines: Er musste ihn töten.

Und mit diesem Vorsatz und mit einer Stange
stieß Zenk in die Haufen nun gründlich und lange,
bis dass er vermeinte, ein Piepen zu hören.
Da tat er das Stochern ganz schnell noch vermehren.
Und hörte auch bald noch ein Röcheln heraus.
Jetzt hatte er Klarheit - mit dem war es aus.

Und wieder ging alles von vorn noch mal los.
Das zartgrüne Gras wuchs heran und ward groß.
Und der englische Rasen gedieh Stück um Stück.
Für den Herrn von der Zenk war's Erfüllung und Glück.
Doch das Schicksal, das meinte es schlecht mit Herrn Zenk,
als wär etwas faul mit dem Einheitsgeschenk.
Erneut liquidierte die herrliche Pracht
ein fleißiger Maulwurf in nur einer Nacht.

So gut wie fast nichts erinnerte mehr
an englischen Rasen und englisches Flair.
Wo eben noch zartgrüne Gräser sich reckten,
nun schwarzbraune Haufen den Rasen bedeckten.
Der Zorn des Herrn Zenk ob des bösen Gesellen
war diesmal noch größer. Er musste ihn stellen,
ganz gleich, welche Mittel dazu wär'n vonnöten.
Er wusste nur eines - Er musste ihn töten.

Und mit diesem Vorsatz schritt rasch er zur Tat.
Ein Gartenschlauch lag auch dafür schon parat,
bot der sich als Werkzeug doch geradezu an,
da Wasser in jedes Loch eindringen kann.
Zenk führte den Schlauch nun gezielt in die Haufen
und war fest entschlossen den Kerl zu ersaufen.
Das Wasser, vermeinte er, strömt durch die Gänge
und treibt so den Maulwurf geschickt in die Enge.
Und sind alle Gänge am Ende gefüllt,
dann ist es geschafft, denn dann ist er gekillt.
Und als das erreicht schien, war alles im Lot.
Herr Zenk war zufrieden. Der Maulwurf war tot.

Und noch mal ging alles von vorn wieder los.
Das zartgrüne Gras wuchs heran und ward groß.
Und der englische Rasen gedieh Stück um Stück.
Für den Herrn von der Zenk war's Erfüllung und Glück,
doch das Schicksal, das meinte es schlecht mit Herrn Zenk,
als wär etwas faul mit dem Einheitsgeschenk.
Erneut liquidierte die herrliche Pracht
ein fleißiger Maulwurf in nur einer Nacht.
So gut wie fast gar nichts erinnerte mehr
an englischen Rasen und englisches Flair.
Wo eben noch zartgrüne Gräser sich reckten,
nun schwarzbraune Haufen den Rasen bedeckten.
Herr Zenk war am Ende. Der Schaden wog schwer.
Jetzt galt nur noch eines - Der Kerl oder er.

Und mit diesem Vorsatz schritt Zenk rasch zur Tat.
Ein Stromkabel lag schon als Mittel parat.
Ganz ohne Erfahrung und mit blinder Wut,
Herr Zenk tat nun das, was man sonst niemals tut.
So schob er das Kabel durch Löcher und Gänge
und meisterte dabei grandios manche Enge.
Bis schließlich nach fast labyrinthischer Tour
das Kabel sich zeigte und Zenk nun die Schnur
am Netz mit dem anderen Ende verband.
Und ging ihm das alles auch flott von der Hand,
so hatte er dabei doch nicht ganz bedacht,
wo der Stromschlag bei Kurzschluss sein Ungemach macht.

Im Knall, der nun folgte, ein Schrei höchster Not.
Der Maulwurf, der lebte, doch Zenk, der war tot.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

George Grosz: "Mord", 1917. Federlithografie

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Maria Heiner

Im Tal des Todes

Eine Ausstellung in Wasserburg erinnerte an das künstlerische Wirken Lea Grundigs

Kürzlich wurde in Wasserburg am Inn in der Schmidzeile 10, im Atelier von Dr. Schmutterer, der vollständige Zyklus von 17 Tusch-Pinsel-Zeichnungen (Reproduktionen) "Im Tal des Todes" von Lea Grundig, gezeigt. Ein Teil der Originale gilt heute als verschollen. In der Blattfolge wird der Leidensweg der Juden unter dem Faschismus in Deutschland und Europa, ihre Verfolgung und Vernichtung, aber auch ihr Widerstand dargestellt.

Lea Grundig, der die Flucht aus Deutschland gelungen war, gedachte in ihren Bildern der Vielen, für die es keine Flucht gegeben hatte.

Als sie selbst 1940 endlich aus Deutschland herausgekommen war, hatte sie 20 Monate Gefängnis hinter sich, die letzten davon in Gestapohaft; denn sie sollte nach Ravensbrück deportiert werden.

Unter menschenunwürdigen Bedingungen gelangte sie über ein Lager bei Bratislava und auf einem Flüchtlingsschiff in den Hafen von Haifa. Da nur Schiffbrüchige an Land gelassen wurden, sprengte die Haganah das Schiff, über 250 Menschen ertranken dabei.

Nach dem Aufenthalt im britischen Internierungslager in Atlit/Palästina, fing Lea Grundig 1942 in Haifa mit Zeichnungen zu diesem Zyklus an, den sie 1944 beendete. Noch im selben Jahr erschienen die Bilder unter dem Titel "In the Valley of Slaughter" in Buchform in Tel Aviv. 1945 gelangte das Buch nach London, wo es Oskar Kokoschka in der "Freien Tribüne" vom März 1945 den Lesern vorstellte. Im Sachsenverlag Dresden erschien ein Nachdruck 1947 unter dem Titel "Im Tal des Todes" mit Texten von Kurt Liebmann.

Lea Grundig erfuhr in Haifa, was in Deutschland und Europa geschah und schrieb später dazu in ihren Erinnerungen: "Eines Tages flüsterte eine grauenhafte Geschichte uns unglaublichen Mord. Das Unmögliche, es war kaum zu fassen. Es fahren Züge mit Auswanderern. Alle haben viel Geld aufgebracht, um die kostbaren Stempel ausländischer Konsulate zu erhalten und sie glauben, sie fahren heraus aus Deutschland. Sie fahren in die Rettung, wo die Nazimörder nicht mehr sind. Aber irgendwo halten die Züge - umsteigen dachten sie - und verwirrt stehen sie. Da aber werden sie in große Häuser getrieben, zum Baden heißt es. Da stehen sie in dem Raum: nackt, Männer und Frauen und Kinder, dicht aneinander gedrängt, und da strömt das Gas - in die Lungen, da ersticken Schreie und eine grausige Erkenntnis bricht in Agonie aus." "Treblinka" nannte Lea Grundig das Blatt.

Sie malte ein weiteres Bild: Gejagte, auf die Scheinwerfer gerichtet sind und Maschinengewehre zielen: Männer, Frauen und Kinder fallen nieder, aufeinander, von den faschistischen Mördern getroffen, "Bluthunde" ist diese Zeichnung benannt.

Lea Grundig zeichnete auch die "Flüchtenden"; sie zeichnete ihren Vater, der in seinen Armen eine Thorarolle trägt, die er beim Synagogenbrand in Dresden aus dem Scheiterhaufen gerettet hatte, sie zeichnete die Freundin Anda Pinkerfeld, und auch sie selbst ist mit unter den Flüchtenden. In weiteren Blättern gab Lea Grundig auch denen, die zurückbleiben mussten im Schlachthaus Europa, die gegen Gitter rannten und gegen Mauern stießen und vor verschlossenen Türen fielen, ein Gesicht. "Öffnet!" und "Helft!" nannte sie diese Blätter.

Obwohl Lea Grundig von ihrem Wesen her ein fröhlicher und optimistischer Mensch war, schrieb sie später: "In mir war es düster, furchtbare Bilder bedrängten mich, Tag und Nacht, und ich nahm sie aus mir heraus und ich malte sie."

Sie sah die Transportwagen, die Waggons IM TODESZUG, Männer, Frauen, Kinder, Greise, nebeneinander, übereinander, in Viehwagen gepfercht. Tausende, Abertausende rollen der Vernichtung entgegen. "Ich musste immerfort an das denken, was gleichzeitig mit meinem Leben, das nur des Tages Sorgen trug, geschah. Und ich lebte dieses andere Leben mit. Denn die anderen, das waren wir doch auch."

Sie malte "Die Mütter", denen ein bestialischer Herodes die Kinder nahm und sie zeichnete die Kinder, die den Weg in die Vernichtung gehen. In Polen gab es den Befehl der Nazimörder, dass alle jüdischen Kinder zwischen ein und 12 Jahren abzuliefern sind - und sie ist unter ihnen und sie geht mit ihnen. "Ich hörte und sah sie", schreibt Lea Grundig, "Tausende, Hunderttausende. Ihre Leiden, ihre Schreie, ihre Tränen vergehen nie. Es war mir auferlegt, ich musste es malen."

Sie gedachte des Aufstandes im Warschauer Ghetto im April 1943 und sie zeichnete das Bild "Revolte im Ghetto". Drei Wochen lang schossen die Nazimörder mit allen Waffen in die Menschenfalle des Ghettos und sie malte ihn, den Würger im Ghetto, "Das Monster". "Die Juden im Warschauer Ghetto" schrieb Lea Grundig, "verteidigten mit ihrem Kampf die Würde aller Menschen."

Jene aber, die nichts hören und jene, die nichts sehen und die Gleichgültigen, sie sind die Helfershelfer der Henker. "Verflucht seien sie! ruft in einem Bild "Der Fluchende im Tal des Todes".

Lea Grundig zeichnete auch den Widerstand. "Im Untergrund", nennt sie ein Bild und sie zeichnete die "Partisanen". Die Bilder zeigen die Gesichter ihrer liebsten Menschen. Sie zeichnete Hans Grundig, ihren Mann, Christi Beham, den Freund, Dore Hoyer, die Tänzerin und auch sie selbst ist mit unter den Kämpfenden.

Bewegt von diesem grausamen Geschehen stellte Lea Grundig ihre künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten in den Dienst der reinen Menschlichkeit, wie es Oskar Kokoschka empfand und formulierte. Zur Vernissage kamen neben der stellvertretenden Bürgermeisterin der Stadt Wasserburg auch Stadträte und Lehrer, denen die Ausstellung Anregung gab, den Holocaust im Unterricht zu behandeln. Alle Besucher waren von der Ausstellung sehr beeindruckt, zumal Lea Grundigs Arbeiten bisher in Wasserburg unbekannt waren.

Im November/Dezember 2009 wird die Ausstellung in Schwedt an den Uckermärkischen Bühnen zu sehen sein.


Anmerkung:

Alle Zitate sind aus der Autobiografie von Lea Grundig "Gesichte und Geschichte", Dietz Verlag Berlin, 1961


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Lea Grundig: "Im Todeszug", aus dem Zyklus "Im Tal des Todes", Bl. 5, 1942. Tusch-Pinsel-Zeichnung - verschollen

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Kurt Neuenburg

Akademische Bêtise

Als junge Lehrer fuhren meine Frau und ich mit dem Fahrrad in die LPG Sehma, weil im dortigen Kultur- und Speiseraum Lea Grundig zu einem Kunstgespräch eingeladen hatte. Auf dem Tisch lagen ihre Druckgrafiken und Zeichnungen, über die lebhaft diskutiert wurde.

Was uns jedoch am meisten interessierte, war ihre neunjährige Exilzeit in Palästina; dort waren neben dramatischen Landschaften u. a. ihre Zeichnungen zu den Folgen "Niemals wieder!" und "Im Tal des Todes" entstanden. Immer wieder betonte sie in ihrer freundlichen Art, für sie sei die Kunst kein Tempel, in den man ehrfürchtig eintritt, um zu staunen und zu vergessen, sondern sie komme aus den Widersprüchen des Lebens, dürfe nicht aus der Realität fliehen und müsse im Geist von Käthe Kollwitz in ihrer Zeit wirken. Mit Begeisterung erzählte sie von ihren Erlebnissen und Erfahrungen im Kibbuz. Für sie waren die Gemeinschaftlichkeit, das solidarische Miteinander, die Gleichheit unter Gleichen, die sinnvolle Teilung der Arbeit und ihrer Ergebnisse unter den jungen Israelis in den Kibbuzim vorbildhaft für die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der DDR. Sie nahm den jüdischen Staat, der ein Jahr nach ihrer Rückkehr nach Europa gegründet worden war, in Schutz, trat undogmatisch auf und verteidigte ihre Meinung hartnäckig. Die Jüdin Lea Grundig hatte unsere Vorurteile abgebaut. Das war um 1960. Bis zu ihrem Tod, den sie auf einer Schiffsreise erlitt, kam es zu zahlreichen weiteren Begegnungen.

Nun schreiben wir das Jahr 2009, 49 Jahre nach diesem ersten Zusammentreffen und 32 Jahre nach ihrem Sterben. Ihre Kunst ist in den Bestand der deutschen Nationalkultur eingegangen - so wie das Werk anderer jüdischer Künstler auch. Doch es gibt heute einen Vorgang, der daran zweifeln lässt, ob die vermeintlichen Eliten des Landes aus der Geschichte gelernt haben, ob kulturelle Offenheit, von der so viel geredet wird, tatsächlich herrscht und ob der Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland Realität ist: 1972 hatte Lea Grundig, nachdem ihr die Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald verliehen worden war, dieser Universität eine "Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung" übergeben. Sie hatte ein Stiftungskapital von 40.000 Mark der DDR eingezahlt und im Einvernehmen mit der Universität den Förderzweck festgelegt. Mit dem Preis der Stiftung sollten hervorragende künstlerische, kunstwissenschaftliche und kunstpädagogische Leistungen von Studenten und Absolventen anerkannt werden. Das geschah bis 1996. Danach wurde kein Preis mehr verliehen, da einigen Mitgliedern des nunmehr neuen Lehrkörpers der Name Lea Grundig nicht mehr geeignet für einen Preis erschien. Nun wird daran gedacht, die Stiftung umzuwidmen, um diesen Namen völlig zu tilgen. Ein Forschungsauftrag zur "Klärung der politisch-kulturellen Position Lea Grundigs" soll vergeben werden, da sie "auf direkte und problematische Weise mit dem DDR-Regime verbunden war". Man wirft ihr vor, sie habe in etlichen Fällen dazu beigetragen, dass engagierte, jedoch nicht "linientreue" Künstler aus dem Künstlerverband ausgeschlossen wurden, dass sie keine Ausstellungsmöglichkeiten erhielten und in ihrer Karriere behindert wurden. Und das alles ohne jeden Beweis.

Dieses Geschehen ordnet sich nahtlos in alle Bemühungen ein, auch auf kulturellem Gebiet die Vergangenheit im Osten Deutschlands zu verteufeln. Kurt Tucholsky schrieb - als habe er diesen Vorgang schon gekannt: "So haben Erben oft geradezu katastrophale Rechte an geistigem Eigentum." Und Nicolò Machiavelli: "Die Menschen sind so einfältig und gehorchen so den Bedürfnissen des Augenblicks, dass der Betrüger immer solche findet, die sich betrügen lassen." Hoffen wir, dass in die Alma Mater in Greifswald wieder Vernunft einzieht und dass es genügend Hochschullehrer und Studenten gibt, die eine unheilvolle Entwicklung aufhalten. Altbundeskanzler Gerhart Schröder und Wolfgang Thierse sprachen vor nicht allzu langer Zeit vom "Aufstand der Anständigen" ...

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter Michel

Brief an den Rektor der Greifswalder Universität


Berlin, d. 1. August 2009

Ernst-Moritz-Arndt-Universität
Rektor
Prof. Dr. rer. nat. Rainer Westermann
Domstraße 11
17489 Greifswald

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Westermann,
aus der Tagespresse, aus Gesprächen mit kunstwissenschaftlichen Fachkollegen sowie mit der über viele Jahre eng mit Lea Grundig verbundenen Ärztin Dr. Maria Heiner erfuhr ich von den Vorgängen um die Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung Ihres Caspar-David-Friedrich-Instituts. Sie und alle, die damit befasst sind, möchte ich sehr herzlich bitten, mit der unwürdigen Diskussion über Lea Grundig Schluss zu machen und den normalen, satzungsgemäßen Umgang mit dieser Stiftung wieder herzustellen.

Ich kannte Lea Grundig seit dem Ende der Fünfzigerjahre bis zu ihrem Tod und habe sie als warmherzige, mütterliche Frau in Erinnerung, die aus ihrer dramatischen jüdischen Biographie auch jene Toleranz und Hilfsbereitschaft gewann, die sie im Umgang mit anderen Menschen pflegte. Dass sie - wie ihr Mann Hans - sozialistisch dachte und handelte, war die Folge ihrer Lebenserfahrungen. Allen, die sie kannten, war bewusst, dass ihre Kunst die Qualität der Werke ihres Mannes nicht erreichte; vielleicht hatte sie das auch selbst verinnerlicht. Mir ist jedoch kein Fall bekannt, in dem sie in der Zeit ihrer Präsidentschaft den Ausschluss von Künstlern aus dem Verband Bildender Künstler Deutschlands (seit 1972 Verband Bildender Künstler der DDR) betrieben hat. An der Behinderung und Relegierung von Prof. Günter Regel war sie nicht beteiligt; das haben sicher andere zu verantworten. Prof. Dr. Günter Bernhardt hat vollkommen Recht, wenn er daran erinnert, wie Lea Grundig Menschen, die in Not waren, half und wie sie sich für Kollegen einsetzte (Ostseezeitung vom 3. Juli 2009).

Die Universität Greifswald kann stolz darauf sein, eine Stiftung zu besitzen, die den Namen von Hans und Lea Grundig trägt. Ich bitte Sie, mit der Souveränität Ihres Amtes als Rektor dafür Sorge zu tragen, dass mit dieser Stiftungs-Diskussion nicht wieder Töne des Kalten Krieges laut werden und dass die mühevoll errungene deutsche Einheit nicht durch einen Vorgang gestört wird, der die mentale Vereinigung der Deutschen behindert. Gerade auf dem Gebiet der bildenden Künste ist in den letzten zwanzig Jahren genug Schlimmes geschehen - bis hin zu Vandalenakten.

Natürlich würde ich es außerordentlich begrüßen, wenn diese Stiftung - wie vorgesehen - für immer an Ihrer Universität bliebe. Wenn jedoch aus durchsichtigen politischen Gründen daran kein weiteres Interesse bestehen sollte oder wenn gegen die Satzung verstoßen würde (z. B. durch die Vergabe eines stiftungsfinanzierten Forschungsauftrages, der sich gegen die Stifterin selbst richtet), kenne ich Institutionen und Vereinigungen - u. a. den Jüdischen Kulturverein Sachsens -, die glücklich darüber wären und ganz im Sinne von Hans und Lea Grundig damit arbeiten würden.

In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich mit freundlichen Grüßen

Dr. Peter Michel

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Angelika Haas

Laudatio auf Gabi Senft

"Jahrgang '49" - eine Ausstellung im Jahre 2009. Ein Assoziationsfeuerwerk wird initialisiert - und konterkariert von den offiziellen und offiziösen Feiern, die auf den Zeitraum der letzten zwanzig Jahre abheben, die die Niederlage markieren.

Konterkariert werden unsere Assoziationen, ja, aber nicht durchkreuzt. Denn glücklicherweise sind nicht nur die Gedanken, sondern ist auch die Erinnerung frei ...

Die Fotografiejournalistin Gabriele Senft ist vom selben Jahrgang wie der Staat, der sie prägte. Nicht die schlechteste Prägung. Selbst, wenn man sonst nichts von ihr keimte, nur ihre hier heute ausgestellten Arbeiten Zeugenschaft ablegen lässt.

Die kleine Person selbst, die Zeitzeugin mit der Kamera und der akkumulierten Stärke der Schwachen noch gar nicht betrachtet. Gewiss, nicht unbedingt ist aus dem Werk auf die es schöpfende Persönlichkeit zu schließen. Bei Gabriele Senft schon. In hohem Maße.

Sie ist unsichtbar in ihren Fotos anwesend.

Wer uns aus ihren Porträts ansieht, hat ihr ins Gesicht gesehen, als sie porträtierte.

Der Blick - ihr zugedacht - fällt auf uns. Reflex auf ihren, der der Aufnahme vorausging.

So ist sie als Person involviert.

Worauf ihr Blick fällt, was davon sie festhält und an welchen Orten - Mainzer Straße, Varvarin, Bagdad, Belgrad, bei Berliner Demonstrationen gegen den Krieg - das alles schließt Gabriele Senft ein.

Sie, die freie Fotografin - bedroht in den Mechanismen des Marktes - wirkt.

Weit über ihre Kraft hinaus.

Sie bedarf der Gemeinschaft, ist anlehnungsbedürftig - und kann sich trennen: Wo die Bindung zur Fessel wird, kann sie sie zerschneiden, nicht ohne Verletzung, von der Narben bleiben - aber gestärkt von der Erfahrung des eigenen Schritts, der eigenen Kraft, die auch aus der neu gewonnenen Freiheit erwächst.

Haben Sie ihre Collage gesehen?

Friedenstaube, die Bäume vom Darß und die Roten Lieder im Mittelpunkt, die Fotografin LINKS im Bild, nachdenklich und freundlich und kindlich ihre Gesichter im Wechsel der Zeiten - und doch immer kenntlich.

Sie ist immer ganz, ist immer alles: Sie fotografiert als Mutter und als auf Kunstgenuss Angewiesene, wenn sie Theo Balden und ihren Sohn ablichtet. Was René Graetz über ihn sagt, beschreibt auch ihre Nähe: "Theo Balden träumt den Traum von der Gewalt der Güte".

Sie ist als Mutter zweier Söhne eine der "Mütter gegen den Krieg", deren Aktionen sie mit der Kamera begleitet. Sie ist Tochter, die ihre Mutter am Gehstock bei der Eroberung des Eiffelturms aufnimmt - und die Gedanken ihres Vaters, der sie früh für ihr späteres Metier interessiert. Sie ist Freundin und Kollegin, sieht sich in eine Traditionslinie gestellt und in die Pflicht zur deutlichen Äußerung, zur Abbildung ihrer Erkenntnis, ihrer Meinung, ihres sich entwickelnden Standpunkts. Sie bekennt sich - nicht nur in ihren Bildern - immer ganz.

So treffen wir auch die hier, mit denen sie eines Sinnes ist, denen sie sich verbunden und verpflichtet fühlt: Angela Davis und Theo Balden, Heidrun Hegewald und Willi Sitte, Mikis Theodorakis und Berta Waterstradt, Arno Mohr und Mercedes Sosa, Kurt Goldstein, Arua und Ibrahim aus Bagdad, Horst Sturm und Gerhard Kiesling, Ruth Werner und Gerhard Gundermann, Manuel Garcia Moia und selbst "Hirsch Heinrich" aus dem Darßwald.

Ich kenne kein besseres - weil tief analytisches - Foto von der Demonstration am 4. November in Berlin als Gabriele Senfts von den Zuhörenden auf den Treppenstufen zur inzwischen zugeschütteten Passage auf dem Alexanderplatz. Heute - 20 Jahre danach und noch vor dem, was heute immerzu gefeiert wird (gerade auch mit einer Exposition auf dem Alexanderplatz) - in diese Gesichter zu sehen hat mich tief getroffen.

Gabriele Senft hat eine große Affinität zur Kunst ihrer Kolleginnen und Kollegen aus den Schwesterkünsten. Das hat mit der erwähnten Prägung zu tun, die damals zum Alltag gehörte, vielen widerfuhr und bei ihr offenbar auf eine besondere Sensibilität traf:

Sie besuchte die Erweiterte Oberschule "Karl Liebknecht" in Luckau just in der Zeit, als Theo Balden für diese Stadt an einem Liebknecht-Denkmal arbeitete. Die künftig an ihm vorübergehen würden, waren aufgerufen, des Bildhauers Entwürfe mit ihm zu diskutieren. So wurde es auch ihr Mahnmal, das nun an der Luckauer Stadtmauer zu sehen ist.

Sozialisation durch Auseinandersetzung mit Kunst, millionenfach "typisch" für die, die in und mit der DDR nach alternativer Lebens- und Staatsform zum täglichen Gegeneinander der Konkurrenz, zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft um jeden Preis suchten. In der DDR-Nachrichtenagentur ADN fotografiert sie vor allem dort, wo Kunst produziert, ausgeübt und aufgenommen, angeeignet wird.

Diese Arbeit beendete sie mit Beginn des Oktober 1990 - nicht aus freiem Entschluss, sondern der Abwicklungslogik der Sieger folgend. Und doch sagt sie darüber: "... ich ging nicht ungern, denn die Nachrichtenagentur bediente nun bundesdeutsche Medien." Sie empfindet: "Die Bilderflut in den Illustrierten bringt den Betrachter nicht mehr zum Wesentlichen." und geht zur "jungen Welt". Festhaltend am selbstgewählten Auftrag: "soziale Entwicklungen parteilich zu begleiten ... Momente fotografisch festhalten und damit vermittelnd wirken, um linke soziale Bewegungen zu stärken."

So kommt es, dass sie bei allen Demonstrationen treffen kann, wer selbst dort ist. Und wohin es schwieriger ist - zum Sozialforum in Paris, zur Brücke in Varvarin, nach Gomel in Bjelorußland, zum Weltfrauenmarsch in Brüssel oder Friedenskonvoi in Belgrad, nach Nicaragua oder Pinar del Rio auf Cuba - dahin nimmt sie uns mit: Wenn wir ihre Fotos ansehen, folgen wir ihr, und ihre Eindrücke können zu unseren werden.

Sie weiß, dass sie nicht mehr irgendeine Fotografin auf ihrer ungefährlichen Spielwiese blieb, seit sie im April 2001 das NATO-Verbrechen in Varvarin dokumentierte, an dem Deutschland beteiligt ist. Sie ließ uns nicht nur den Opfern ins Gesicht sehen - sie unterstützte die Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland.

Gabriele Senft - vom Jahrgang '49 wie das abgeschaffte Land, Liebhaberin der Lieder der gleichnamigen Musikgruppe - will ihr Engagement (und ihre Arbeit ist ihr Engagement, wie ihre Arbeit ihr Beteiligtsein an den Dingen dieser Welt ist) als einen, ihren Beitrag für ein friedliches Deutschland werten.

Dazu muss sie sich nicht wenden, ein friedliches Deutschland ist ihr Credo seit je - auch wenn sie und wir es heute nicht mehr mit dem Staat, in dem wir leben, erkämpfen können, sondern gegen ihn durchsetzen müssen.

Gabis eigenes 49er Jubiläum ist erst im Juli, also gibt's hier heute nichts zu gratulieren.

Aber zu danken:

Dafür, dass wir sie an unserer Seite wissen können - woran sie nach eigenem Wort Vergnügen hat für ihre AUSSTRAHLUNG, die die Kraft der Schwachen ist: Stärke aus Stringenz und Beharrlichkeit beim Verfolgen ihres Anliegens; für den REALISMUS, der uns keinen Moment vergessen lässt, wie viel zu tun bleibt für den einfachen Frieden, und wie schwer das ist mit dem Friede auf unserer Erde! Friede auf unserem Feld, dass es auch immer gehöre, dem, der es gut bestellt" wie Neruda und Brecht dichteten; für die HOFFNUNG, die aus ihren Fotos kommt, weil sie die vielen zeigt, die sie mit uns teilen und für sie arbeiten; aber auch die, bei denen wir sehen, dass sie ihnen fehlt, gemahnen uns, sie nicht aufzugeben ...

Danke, Gabi.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

September 1997 - Solidaritätsbasar der Berliner Journalisten - Schriftstellerin Ruth Werner

Februar 1994 - Bildhauer Theo Balden vor seinem 90. Geburtstag und mein 1-jähriger Sohn Ole

Zuhörer bei der Kundgebung am 4. November 1989 - Impressionen von der Kundgebung auf dem Alexanderplatz "Wir wollten doch eine bessere DDR und nicht eine schlechtere BRD"

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter Arlt

Kunst und Kalter Krieg in Nürnberg

oder Rückblick auf einen Ausstellungsgegensatz

Wer war nicht baff, als jene "Grundgesetzkunst"-Ausstellung mit der Schlichtheit des Gedankens überraschte, aus einer unterdrückenden Zeit könne keine freie Kunst hervorgehen. Nur die Kunst, die auf dem Boden des Grundgesetzes entstanden ist, garantiert den Höhenflug der Kunst. Da waren wir mit Marx, der vom unegalen Verhältnis zwischen Gesellschafts- und Kunstentwicklung sprach, schon etwas klüger.

Ein wenig erstaunt doch, dass auf die Idee, ihre Auswahl von 60 Werken ans Grundgesetz zu binden, solch hochintelligenten Kunstexperten verfielen. Obwohl. Kunstexperten? So kann man sie eigentlich nicht nennen, denn in ihrer Kunstmarkt-Auswahl fehlen bereits aus westdeutscher Sicht bedeutende Künstler, wie Gerhard Marcks. Und hochintelligent? Wer nicht weiß, dass seit dem Fabeldichter und Sklaven Äsop freieste Kunst in unfreien Verhältnissen entstanden ist, wer also nicht erkennt, dass deutsche Kunst der Vergangenheit, so die der "Fürstendiener" von Albrecht Dürer bis Gottfried Schadow oder der in Nazi-Deutschland tätigen, wie Otto Dix und Gerhard Marcks, und natürlich der Künstler in der DDR, deren Werke oft gegenwärtiger sind als solche der Gegenwart, freie Kunst ist, kann nicht als intelligent gelten. Denn für die Entstehung von Kunst ist weniger das im Tiefgang treibende Grundgesetz verantwortlich, über das die DDR - teils schlechter, teils besser - auch verfügte, sondern die konkrete Politik, die in der BRD beispielsweise die abstrakte Kunst hochjubelte oder einen Bert-Brecht-Boykott bewirkte, oder die Kunstmarktpräferenzen. Genau genommen sind die "Grundgesetz"-Kuratoren in ihrer Ignoranz von dümmlicher Pfiffigkeit.

Wohltuend unterscheiden sich von diesen die Kuratoren der Nürnberger Ausstellung "Kunst und Kalter Krieg" (28.5. - 6.9.09), die zuvor in Los Angeles, wo sie konzipiert worden war, ihre erste Station erlebte. Bei der Eröffnung im Germanischen Nationalmuseum kam der bayrische Kunstminister nach einem fünfminütigen Rundgang blitzschnell zu der Erkenntnis, dass die Kunst der DDR doch nicht so staatsgelenkt und einheitlich war, wie er jahrzehntelang geglaubt hatte. Seine Landsleute verloren dagegen nicht so schnell die eingeübten Klischeevorstellungen. Nach dem Rundgang behaupteten sie im Gespräch weiterhin, die Kunst der totalitären DDR könne nicht frei gewesen sein. Worauf nur zu empfehlen ist, diese Ausstellung, wenn sie ab 3. Oktober im Deutschen Historischen Museum in Berlin ihre 3. Station erreicht hat, und in einem wiederum anderen Zuschnitt zu erleben sein wird, wirklich gründlich anzusehen. Die Lektion über Kunst und Geschichte lohnt sich!

Die Kunst leistet Erinnerungsarbeit, dass der Faschismus die Ursache aller Verwerfungen war und die Zeit nach 1945 einen Januskopf mit Ost-West-Gesichtern trug. Die Systemgegensätze spalteten den alten Kontinent. Mit der Atombombe eröffneten die USA gegen den sowjetischen Alliierten den Kalten Krieg, der dann zwischen den beiden Machtblöcken in vielfältigsten Konfrontationsszenarien ausgetragen wurde. Den Eisernen Vorhang befestigten auf der einen Seite die amerikanische "roll back"-Politik wie auf der anderen Seite die sowjetische "Unifizierung" und Abschottung bis hin zur Berliner Mauer; in Deutschland folgte der Staatsgründung im Westen die Gründung der DDR im Osten. Janusköpfig auch Kunst und Kunstpolitik.

Im Osten wurde die Überlegenheit des Sozialistischen Realismus deklariert und im Westen die abstrakte als moderne, freie Kunst gefeiert. Große Kunst entstand hier wie dort. Dem eindrucksvollen Beginn mit Curt Querners "Bild der Eltern" mit schicksalsgegerbten Gesichtern (1948), neben Hannah Höchs "Trauernden Frauen" (ca. 1945) und Karl Hofers "Totentanz" (1946) folgen im starken Kontrast die farbenfrohen Abstraktionen Wilhelm Nays, Fritz Winters und Willi Baumeisters und auf einer anderen Raumachse Trauer und Melancholie von Gerhard Altenbourgs monumentaler Zeichnung "Ecce Homo" (1949), der Plastik "Gefesselter Prometheus" (1948-50) von Gerhard Marcks, des Berliner Trümmermeeres auf Bildern Werner Heldts und der Ruinen Dresdens bei Wilhelm Rudolph und auf Fotos Richard Peter sen. Hans Grundigs "Opfer des Faschismus" war nicht mehr ausleihbar.

In der Ausstellungsregie des Kurators Eckhart Gillen stehen die Bilder in einer solchen Weise nebeneinander, dass unklar bleiben soll, woher sie stammen, Altenbourg und Schumacher oder Hermann Glöckner, reich vertreten, und die Gruppe Zero oder Künstlerbücher und die zeitkritischen Fotos von Ost und West. Nur einmal entsteht so etwas wie Konfrontation, wenn auf den idealtypischen, affirmativen Sozialistischen Realismus von Rudolf Bergander und vor allem von Heinrich Witz die Stilerweiterungen durch Fritz Cremers ersten Entwurf des Buchenwalddenkmals und Werner Tübke, Willi Sitte, Harald Metzkes stoßen. Das hier zugeordnete Schreibmaschinenbild "Der Wille zur Macht" von Konrad Klapheck besitzt zwar eine beeindruckende Metaphorik, lässt aber auch spüren, wie sinnenerfassender die figurative Kunst wirkt, die sich als eine Stärke der Kunst der DDR erweist, wie einmal mehr an Gemälden Wolfgang Mattheuer zu sehen, der schon 1965 mit seinem Gemälde "Kain" eine Richtungsänderung in der Kunst der DDR markierte. Aber diese Stärke findet sich gleichfalls bei Markus Lüpertz, Gerhard Richter, Jörg Immendorff oder Johannes Grützke. Schon in der Oberhäuser Ausstellung von 2006 "Deutsche Bilder" wurde die betonte Gedankentiefe als eine gemeinsame Bilddimension in der zweistaatlichen Kunst, deren gemeinsamen Wurzeln weit zurückreichen, vor Augen geführt. Neben dem quantitativ(!) überlegenen Geschichtsbildern Georg Baselitz' entfaltet Bernhard Heisig in seiner Bildwelt ein kritisches Panorama deutscher Geschichte als ein Denk-Bild für die Nachfahren, um aus dem Rückblick für die Zukunft Schlüsse zu ziehen. Die expressive Gestaltungsmethode, mit der er Motiv- wie Zeitschichten ineinander verflochten hat, weisen ihn als eine Leitfigur aus, der neben Willi Sitte und anderen eine produktive Aneignung der Moderne in der DDR verfolgt hat und beileibe nicht nur Altenbourg, Claus und Glöckner, wie es der Katalog nahelegt. Vom Katalog aber die Ausstellung zu bewerten, wie im ND geschehen, wäre nicht nur ein Kardinalfehler eines Rezensenten, sondern auch ungerecht.

Verbunden sind aber auch die nach formalen Lösungen suchenden, mit neuen Materialien experimentierenden Positionen in Ost und West, die in Nürnberg ihr subversives Potential voll ausspielen können. So wird ein fiktiver Handlungsraum für Freunde von Jörg Immendorff, die Urversion "Cafe Deutschland", aufwändig präsentiert.

Im zweiten Ausstellungskomplex der 60er bis 80er Jahre gerät es zwar etwas unübersichtlich und eng, wodurch aber jeglicher zelebrierender Eindruck vermieden wird und gedankenüberspringende Reibung entsteht. Da stehen etliche Monitoren in den Räumen, die Filmausschnitte und Videos vielfältiger Performances (Joseph Beuys, Rebecca Horn). Von Dieter Roth und Hans Haake gibt es so intelligente wie witzige Installationen. Dagegen trifft Wolf Vostell mit politischer Schärfe den geschichtsvergessenen, kriegerischen, visionslosen Kapitalismus. Die "Westlastigkeit" in der Ausstellung rückt verstärkt in den Blickpunkt, was in der politischen Diskussion ziemlich ausgeblendet bleibt: die Verwerfungen im kapitalistischen System. Kritische Sichten auf den DDR-Sozialismus liefern aus dem "Underground" die Autoperforationsartisten, so Via Lewandowski, oder Cornelia Schleime mit "Horizonte", 1986, oder Lutz Dammbeck mit "Nibelungen", 1986-88. Ronald Paris spiegelte 1962 mit dem Gemälde "Regenbogen über dem Marx-Engels-Platz in Berlin" eine "Verluststimmung, die der Bau der Mauer ausgelöst hat" (Gillen). Oder der mit dem Bau des neuen Stadtzentrums verbundene Abriss? Ein dominantes Halbrund besitzt Werner Tübkes Panoramabild, das in der eigenhändigen 1:10-Fassung zu erleben ist und in dem die "Perforation der Zeitachsen" (Tübke) den Bauernkrieg mit dem Scheitern des Sozialismus und einer tiefen globalen Krisenhaftigkeit verbindet. Einen meditativen, tief berührenden Schlusspunkt setzen in der Karthäuserkapelle acht Figuren Will Lammerts für das KZ Ravensbrück von 1957, denen Raffael Rheinsberg Schuhe, Stiefel und Handschuhe von Zwangsarbeitern gegenübergelegt hat vor einem spätgotischen Hochaltar mit dem Gekreuzigten. Das wird nur in Nürnberg so zu sehen gewesen sein.

Die eingangs erwähnten Kuratoren von "60 Jahre - 60 Werke" taten ihre guthonorierte staatstragende Pflicht. Und die heißt, fortwährend in die Schädel der Deutschen zu hämmern, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, und jede positive Erinnerung an sie wäre Lug und Trug. Das trägt angesichts der Krise des Kapitalismus groteske Züge. Im Aufstand der beleidigten Seele zeigt sich an der Bereitwilligkeit, die Kunst der DDR in ihren produktiven Zügen zu verteidigen, womit sie sich noch immer identifiziert. Solche Erfahrungen, die sich die Menschen nicht wegnehmen lassen wollen, stärkt die Ausstellung "Kunst und Kalter Krieg" und stellt sie zur Geschichte Deutschlands und der Welt nach 1945 in einen kritischen beziehungsvollen Kontext.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Werner Tübkes Entwurf des Panoramabildes in Bad Frankenhausen
- Raffael Rheinsberg

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Gottfried Ulbricht

In memoriam Jenny Mucchi-Wiegmann

Am 2. Juli dieses Jahres war der 40. Todestag der deutsch-italienischen Bildhauerin Jenny Mucchi-Wiegmann - von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Zu unrecht.

Die in Berlin geborene und verstorbene Künstlerin ist zweifellos eine der größten Bildhauerinnen des 20. Jahrhunderts, bekannt vor allem unter ihrem italienischen Künstlernamen Genni. Renato Guttuso schrieb 1980: "Käthe Kollwitz ist für mich die bedeutendste Grafikerin, Paula Becker-Modersohn die Malerin, die mich am meisten interessiert, eine Bildhauerin von Geist und Größe der Genni ist mir nicht bekannt".(1)

Im Leben und Schaffen der 1895 in Spandau als Tochter eines Konditormeisters geborenen Jenny Wiegmann gab es mehrere markante Wendepunkte, eng verflochten mit der politischen Zeitgeschichte.

1917-23 studierte sie in Berlin bzw. München Zeichnen bei Corinth und Bildhauerei bei August Kraus und Perathoner. Während dieser Zeit heiratete sie ihren Studienkollegen Berthold Müller-Oerlinghausen. Mit ihm zusammen gestaltete sie 1920-1930 eine Reihe von Ausstellungen und führte gemeinsame Aufträge aus - vor allem Bauplastik für Kirchen. Dabei griffen beide auch auf romanische und byzantinische Ausdrucksformen zurück. Das Bildhauerehepaar war zum Katholizismus konvertiert.

Während eines Arbeitsaufenthaltes 1925 in Rom - Arbeiten für die Vatikanaustellung - lernte Genni den italienischen Architekten und Maler Gabriele Mucchi kennen. Aus einer rasch aufkeimenden Neigung zueinander wurde 1929/30, als Mucchi in Berlin arbeitete, eine tiefe Beziehung, die zur Trennung von Müller führte. 1931-32 lebte und arbeitete Genni mit Mucchi in Paris. 1933 heirateten sie in Mailand.

Der Wechsel der persönlichen Lebensumstände, die Pariser Erfahrungen und die fortschrittliche italienische Kunstszene veränderten Genni's Kunstauffassung entscheidend. Sie ließ den religiös gefärbten Expressionismus hinter sich und schuf ruhige, statuarische Figuren in schweren Proportionen(2). Verstärkt begann die Bildhauerin, Plastiken politischer Thematik neben solchen von allgemeinem Humanismus zu schaffen, wobei sie von Holz über Stein, Gips, Zement bis zum Metall die verschiedensten Materialien einsetzte.

Bereits 1935 modellierte Genni eines ihrer vollkommensten Werke, den liegenden Akt "Le ciel est triste et beau" (Der Himmel ist traurig und schön) - benannt nach einem Vers von Baudelaire. Diese Plastik wurde auf der Pariser Weltausstellung von 1937 mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.

Als Italien 1940 in den Krieg Deutschlands eintrat und die Mucchis in Mailand erleben mussten, wie Frauen bei der Rede Mussolinis Freudensprünge machten und hysterische Schreie ausstießen, waren sie erschüttert. Mucchi schreibt in seinen Memoiren: "Später werde ich in verschiedenen Fassungen eine Frau zeichnen und malen, die die Hände vors Gesicht schlägt und der Titel dieser Figur wird lauten Schmerz und Scham ... Genni wird dieselbe Gestalt in einer Plastik wieder aufnehmen ... es sind unsere Arbeiten der Trauer, die unsere damalige Stimmung zum Ausdruck bringen".(3)

Trauer und Not (1943 wurden bei einem Bombardement die Mailänder Wohnung und Ateliers mit vielen ihrer Werke zerstört) führten zur klaren politischen Haltung, zum aktiven Widerstand gegen Faschismus und Krieg. Fast legendär sind die Aktivitäten der mutigen, zierlichen Frau z. B. als Fahrradkurier für die italienischen Partisanen.

Die Schlussfolgerungen von Gabriele und Genni aus der überstandenen Katastrophe waren konsequent, sowohl hinsichtlich ihrer linken Weltanschauung als auch neuer Formen und vor allem Motive ihrer Kunst. Genni schuf zahlreiche Arbeiten zur Erinnerung an getötete Partisanen sowie gegen die neuen Kriegsgefahren. Diese Wirkungsabsichten brachte sie auch mit nach Berlin, als Gabriele Mucchi 1956 eine Gastprofessur an der Kunsthochschule Weißensee übernahm und beider Aufenthalt bis zum Lebensende zwischen Mailand und Ostberlin wechselte. Genni wurde mit ihren Skulpturen, eindringlichen Porträts (Rosa Luxemburg, Albert Einstein, Paul Dessau, Heinrich Ehmsen, Arnold Zweig), Tierplastiken und Zeichnungen zum festen Bestandteil der Kunst der DDR. Ihre Arbeiten zogen dabei nicht nur durch ihre offensichtliche künstlerische Qualität Bewunderung auf sich. Ebenso wichtig waren ihre Erfahrungen für diejenigen Künstler und Kunstfreunde der DDR, die nach einem ausdrucksvollen Realismus ohne formale, glättende Schönfärberei strebten.

Genni's Schaffen erreichte einen Höhepunkt mit dem sitzenden Frauenakt "Das Jahr 1965". Peter H. Feist stellte dazu fest: "... dieses schwierige, schräge, von Unruhe erfüllte auf dem Boden-Sitzen mit der Sehnsucht, sich erheben zu können, meinte zweifellos in erster Linie die Menschheit in diesem Jahr, ihre Leiden, Ängste und Hoffnungen. Täglich hatten uns die Nachrichten aus Vietnam, aus dem Nahen Osten, vom Kampf gegen Atomwaffen, zuletzt auch von den kulturpolitischen Unsinnigkeiten des 11. ZK-Plenums der SED bedrängt ... Diese Plastik traf genau den Nerv der Zeit, das geistige Klima, das Zentrum der Empfindungen und Gedanken vieler".(4) Die Skulptur ist u. a. vor dem Kolbe-Museum in Berlin-Charlottenburg zu besichtigen.

Eindrucksvoll und demonstrativ ergriff Genni Partei für die weltweiten Kämpfe gegen imperialistische Kriege, für die antikoloniale Befreiung der Völker. Stellvertretend seien angeführt eine würdevolle, todgeweihte Partisanin aus dem algerischen Freiheitskampf gegen Frankreich, die erschütternde Skulptur einer Vietnamesin "Der Schrei - und die eindringliche Figur des gefesselt am Boden sitzenden Lumumba - nach dem Foto, das damals um die Welt ging. Diese von Genni erst nach dem bestialischen Mord am ersten Ministerpräsidenten der Demokratischen Republik Kongo fertiggestellte Arbeit ist gleichsam Gedenkfigur für den Befreiungskampf Schwarzafrikas.

Genni wurde 1969 im Künstlerhain des Friedhofs Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt - neben Käthe Kollwitz. Zur Gedenkausstellung 1970 im Alten Museum Berlin schrieb Diether Schmidt: "Großheit der Form und feine Nuancierung des Gefühls sind in Gennis Kunst vereint. Diese meisterliche Einheit und Ganzheit ihrer Kunst ist gewonnen aus Liebe zum Menschen und aus Achtung vor der Eigenart eines jeden Einzelnen, ob sie ihn als Persönlichkeit porträtierte oder exemplarisch als Inbegriff des Menschen schlechthin bildete. ... In Gennis Bildwerken steht ein reiches und würdiges Menschenbild vor uns als Ergebnis einer vorgelebten Menschlichkeit, die das Wesen dieser deutschen sozialistischen Künstlern bestimmte".(5)

Das Werk Gennis ist in Fachkreisen weithin anerkannt. Zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen zeugen davon. In letzter Zeit machten vor allem kleinere, liebevoll vorbereitete Ausstellungen wie 2005 in Eichwalde bei Berlin und 2008 in der Berliner Inselgalerie (letztere gemeinsam mit Arbeiten von Gabriele Mucchi) auf sich aufmerksam. Dabei leistete Susanne Mucchi, die auch Gennis Nachlass betreut, große Dienste.

Vor kurzem schenkte die Familie Mucchi der linken italienischen Gewerkschaft CGIL Gennis monumentales Bronzerelief aus den Jahren 1950/51 "Pace e lavoro" (Frieden und Arbeit). Es ist unter großer Anteilnahme anlässlich ihres 40. Todestages im Haupteingang des Mailänder Gewerkschaftshauses aufgestellt worden - Zeichen setzend im heutigen Berlusconi-Italien.

In Vorbereitung ist eine größere Ausstellung zum Werk von Jenny Mucchi-Wiegmann im Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen in Magdeburg, das allein über 21 Plastiken und 34 Zeichnungen der Künstlerin verfügt. Diesem Vorhaben ist voller Erfolg zu wünschen, damit Jenny auch weiterhin ihre verdiente Würdigung erfahrt.


Anmerkungen:

(1) Jenny Wiegmann-Mucchi, Zeichnungen und Skulpturen 1923-1969, Verlag der Galerie Poll, Berlin 1983, S. 10
(2) Jenny Wiegmann-Mucchi, 1895-1969, Galerie Bodo Niemann, Berlin 1980, S. 5
(3) Gabriele Mucchi, Verpasste Gelegenheiten, Ein Künstlerleben in zwei Welten, Dietz Berlin, 1997, S. 204
(4) Laudatio zur Ausstellung "Plastiken und Zeichnungen von Jenny Mucchi-Wiegmann" am 15.4.2005 in Eichwalde
(5) Diether Schmidt, "Zum plastischen Werk von Jenny Mucchi-Wiegmann", Katalog, Genni, Altes Museum, Berlin 1970


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- "Pace et lavoro", 1950/51. Gipsmodell, 165 x 120 cm
- Genni im Berliner Atelier, Foto 1968

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Klaus Georg Przyklenk

Bild eines springenden jungen Mannes

Wahrheiten sollen geglaubt sein, nicht gewusst. Und mehr als jedem Wort wird dem Bild geglaubt. Das kann doch nicht gelogen sein, wenn da einer die Kamera einfach so in die Wirklichkeit hält. Wohin sollte da die Wahrheit geraten, wenn nicht auf den Film?

Das ist so ein Bild, mit dem Geschichte geschrieben worden ist, das "Mauerbild" schlechthin, obwohl die Mauer noch gar nicht steht. In Zeitungen, auf Plakaten, in Geschichtsbüchern, überall das Bild des sympathischen jungen Mannes, der das Problem der Vereinigung beider Deutschlands so sportlich und gleich im ersten Anlauf löst. Dem Fotografen, natürlich nur einem von vielen Kameraleuten und Leuten seiner Profession, die da am 15. August 1961 guter Hoffnung auf ein spektakuläres Bild zusammengekommen sind, gelang das, was heute mit Kultfoto umschrieben wird: ein Bild von hohem Gebrauchswert. Es ersetzt eine ganze Reihe mühsam ersonnener Argumente. Vermittelt es doch überzeugend und auf den ersten Blick seine Botschaft: Nicht auszuhalten der Sozialismus. Selbst die Schergen des Systems flüchten in eine bessere Welt. Und die bessere Welt ist natürlich da, wo der junge Mann wieder auf den Boden kommt. Alle kennen das Bild. Aber kennen auch alle alles über das Bild?

Wer weiß schon, wer da springt? Er hat einen Namen. Conrad Schumann. Er war 1961 achtzehn Jahre alt. Nach dem Sprung soll er die Westberliner Polizei um eine Wurststulle gebeten haben. Die bekam er. Er bekam auch einen Nachruf im SPIEGEL 27/1998:

"Sein Bild ging um die Welt, Schumann nach Bayern. Bei Audi fand der ausgebildete Schäfer als Maschineneinrichter sein Auskommen. Conrad Schumann erhängte sich am Sonntag, dem 20. Juni (1998) in einem Schuppen unweit seines Hauses im oberbayrischen Kipfenberg."

Auch davon wird es ein Bild geben, ein Polizeifoto.

Raute

Rezensionen

Horst Schneider

Karl Nolle contra Stanislaw Tillich

oder: "Die Krippen haben gewechselt, die Ochsen blieben dieselben."

Anmerkungen zu einem bemerkenswerten Streit um das Buch:
Karl Nolle: "Sonate für Blockflöten und Schalmeien - zum Umgang mit der Kollaboration heutiger CDU-Funktionäre im SED-Regime." Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Cornelius Weiss, Christoph Jestaedt und Michael Lühmann, Druckhaus Dresden GmbH, Dresden 2009, 336 Seiten, 9,80 Euro

Karl Nolle will nach seinen eigenen Worten (S. 5) das "harmonische Zusammenspiel" zwischen "Blockflöten", womit er DDR-treue CDU-Mitglieder meint, mit "Schalmeien" in der SED aufdecken. Er zählt die bekannten historischen Daten auf, von Juni 1953 bis zur "friedlichen Revolution" im Herbst 1989, wo das besonders sichtbar geworden sei. Er definiert den Begriff "Sonate", nicht aber seine Interpretation seines wichtigsten Wortes "Blockflöte". Wer (wie ich) jahrzehntelang mit Blockfreunden der CDU freundschaftlich zusammengearbeitet hat (mit einigen auch bis jetzt) und den Nutzen der Blockpolitik zu schätzen wusste, hat keine negativen Assoziationen bei dem Wort "Blockflöte". Nur wer die Blockpolitik, einen politischen Eckpfeiler der DDR, verurteilt, kann diesem Begriff eine negative Färbung geben. Nolle verurteilt jene CDU-Mitglieder, die aktiv an der Seite der SED an der Entwicklung der DDR mitwirkten.

Ich kann deshalb Cornelius Weiss, nach 1990 Rektor der Universität Leipzig, kaum folgen, wenn er in seinem Vorwort (S. 9) zu Nolles Buch schreibt, dass er den vorliegenden Text nicht als Anklage, sondern als "Aufklärungsschrift" versteht: "Es behandelt ausschließlich die Verhaltensweisen einiger ganz normaler DDR-Bürger damals und vor allem heute." Wie sich auch an der Biographie des sächsischen Ministerpräsidenten bestätigt: Es bestätigt sich auch am "Fall" Tillich: Nicht seine Biographie vor 1990 ist beschämend und verdammenswert, sondern der heutige Umgang mit ihr durch die "Betroffenen" und sensationsgeile Medien. Richard von Weizsäcker hatte als Bundespräsident ausgerechnet in Bautzen davor gewarnt, mit DDR-Schicksalen ein Mediengeschäft zu betreiben - vergebens.

Das Erscheinen der "Sonate ... " und der Streit um seine Aussagen ist mit manchen Merkwürdigkeiten verbunden.

Obwohl Karl Nolle sein Buch erst am 20. Juni 2009 im Presseraum des sächsischen Landtags vorstellte, war es schon am 2. Dezember 2008 Gegenstand einer Hetztirade auf dem Stuttgarter Parteitag der CDU.

Dem CDU-Parteitag lag der Beschluss "Geteilt - Vereint - Gemeinsam" vor, in dem die Geschichte der CDU in der DDR kaum vorkam und das die Perspektiven für Ostdeutschland zeichnete. Dagmar Schipanski hielt die Einführung, die nicht veröffentlicht wurde.

Tillich leitete die "Diskussion", die von einem Delegierten bestritten wurde.

Fritz Niedergesäß von der Berliner CDU (Treptow/Pankow) drosch hasserfüllt und unqualifiziert - ohne Widerspruch von Delegierten - auf die verblichene DDR ein.

Der infame Angriff auf Nolle lautete: "Und wenn heute Leute wie Nolle in Sachsen, sowieso aus meiner Sicht der übelste Schmierfink, der aus dem Westen herübergekommen ist in die neuen Bundesländer, wenn diese Typen uns jetzt hier für 'ne Sache verantwortlich machen wollen, für die wirklich keiner verantwortlich ist, dann können wir uns dagegen nur ganz energisch aussprechen." (Karl Nolle, S. 278)

Das ist der Stil eines Demokraten gegenüber einem Abgeordneten des Koalitionspartners?

Und da meldete sich kein Protest? Da hörte Angela Merkel ruhig zu?

Ich wiederhole: Zu diesem Zeitpunkt war Nolles Buch noch nicht erschienen, aber die Richtung der medialen Giftpfeile war vorgegeben. Allerdings hatte Nolle durch zahlreiche Anfragen im Landtag schon für Unruhe bei der CDU gesorgt. Steffen Flath, Chef der CDU-Fraktion, verstieg sich am 14. März 2009 zu dem Satz: "Die Saat des Spalters Nolle darf nicht aufgehen." (Karl Nolle S. 281) Bei der Buchvorstellung machte es Nolle sichtlich Vergnügen, gegen die Dummheiten Flaths zu polemisieren. Wer die Argumente Flaths und seiner Parteigänger prüft, wird eine weitere Merkwürdigkeit entdecken.

Diejenigen, die jeden Furz Kohls und Biedenkopfs und anderer westdeutscher Politiker als unfehlbare päpstliche Order interpretiert hatten, protestierten nun gegen die "Einmischung" des West-Imports Nolle, der in Sachsen gewählter SPD-Abgeordneter ist und vermutlich damit auch Rederecht hat. Der Ost-West-Gegensatz wird auf den Landtag Sachsens übertragen. Das spiegelt sich auch in den Zuschriften wider, die die Medien druckten.

Karl Nolle hat in seinem Buch 132 Stellungnahmen (S. 299 f.) abgedruckt, die bis Februar 2009 erschienen sind. 96 Bürger unterstützten Nolles Position, 36 lehnten sein Vorgehen ab. Nach Erscheinen des Buches geht der Streit in den Medien weiter.

Allein am Montag 6. Juli 2009, druckte die Sächsische Zeitung sechs Leserbriefe ab, nun allerdings hat sich der Streit auf Tillichs nach 1990 angefertigte Fragebögen verlagert.

Auch dieses Thema hatte Karl Nolle mit Landtagsanfragen auf die Tagesordnung gesetzt und damit einen Stein ins Rollen gebracht, der nicht nur in Sachsen zur Gefahr für Karrieren wird.

Er hat auf 136 Seiten (S. 141 f.) die Namen von "Blockflöten" aufgelistet, die nach 1990 im Landtag oder in wichtigen Staatsämtern untergekommen sind. In der 4. Legislaturperiode, die im August 2009 zu Ende ging, sind von 55 CDU-Abgeordneten 23 (41 %) "Blockflöten" gewesen. Nolle nennt sie "Heuchler", die der SED bei der Sicherung der "Diktatur" geholfen hätten und jetzt "Wendehälse" geworden seien: "Die Krippen haben gewechselt, die Ochsen blieben dieselben."

Den größten Platz nehmen Ministerpräsident Stanislaw Tillich, Ex-Innenminister Heinz Eggert (Pfarrer Gnadenlos"), Innenminister Buttolo, der berühmte Trompeter Ludwig Güttler, der Ex-Minister für Wissenschaft und Kunst und Präsident des Zentralkomitees deutscher Katholiken, Professor Dr. Hans-Joachim Meyer und der jetzige Polizeipräsident Sachsens, Bernd Merbitz, ein.

Stanislaw Tillich war vor der Wende als gewählter Kreistagsabgeordneter in Kamenz Stellvertreter des Ratsvorsitzenden. Er hatte auch einen Lehrgang an der Akademie für Staat und Recht "Walter Ulbricht" in Babelsberg besucht. Was ist daran verurteilenswert?

Im Grunde nichts. Was macht die Sache - nicht nur aus der Sicht Nolles - zum Problem?

Neben den vielen Details kristallisierten sich zwei Vorwürfe heraus, die exemplarische politische Bedeutung haben.

Der Freistaat Sachsen forderte von seinen Bediensteten mehrfach, einen Fragebogen auszufüllen, auf dem u. a. nach früheren Funktionen, Schulbesuchen und Kontakten mit der Staatssicherheit gefragt wurde. Für viele Lehrer, die wahrheitsgemäß antworteten, war das das Ende ihrer beruflichen Tätigkeit. Der Vorgang hieß damals "Kündigungstatbestand". Die heutige Bildungsministerin (SPD), Dr. Eva-Maria Stange, hat 1997 als Vorsitzende der Lehrergewerkschaft öffentlich angeprangert, dass 5700 Lehrer verfassungs- und gesetzwidrig entlassen worden seien. (Erziehung und Wissenschaft 9/1997, S. 25)

Ähnlich ging es an den Hochschulen Sachsens zu, worauf wir später zurückkommen.

Damit ergeben sich Fragen:Wäre Tillich nach 1990 auch entlassen worden, wenn er den Fragebogen richtig ausgefüllt hätte? Die Frage ist mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit zu bejahen. Kann jemand Ministerpräsident bleiben, der sich sein Amt durch Urkundenfälschung erschlichen hat? In anderen ähnlichen Fällen erfolgte auch die Entlassung. Oder wird jetzt gefolgert, dass das ganze Abwicklungsverfahren in Sachsen ein juristisches, politisches und moralisches Fiasko war?

Zu dem Vorwurf an Tillich, Urkundenfälschung begangen zu haben, kommt die Enthüllung, er habe bei rechtswidrigen Enteignungen mitgewirkt. Diese Diskussion zielt darauf ab, die Verletzung von Menschenrechten (Eigentum) ins Spiel zu bringen. Leser des "ICARUS" wird vor allem Nolles Polemik gegen Professor Dr. Hans-Joachim Meyer interessieren. Meyer verkörperte als Mitglied des Zentralkomitees deutscher Katholiken Prinzipien christlicher Ethik und in seinen Händen lag das Schicksal früherer Arbeitskollegen.

Meyer, 1952 in die CDU eingetreten, war vor 1989 an der Humboldt-Universität außerordentlicher Professor, Anglist, Reisekader und stellvertretender Sektionsdirektor für Erziehung und Ausbildung, trug also eine besondere Verantwortung für die kommunistische Erziehung. 1990 schaffte er den Sprung in das Kabinett de Maiziere, dann in die Regierung Biedenkopfs. Zu seinen "Leistungen" gehörten die "Selbstberufung" zum ordentlichen Professor und die Abwicklung hunderter sächsischer Wissenschaftler. Am 7. November 1991 erließ er "Richtlinien zur Prüfung der personellen Integrität von Angehörigen der Universitäten und Hochschulen". Verbunden damit wurden den Rektoren geheim zu haltende "Schwarze Listen" mit 884 Namen von Wissenschaftlern übergeben, die entlassen werden sollten, ohne dass sie eine Begründung erfuhren.

(An der Leipziger Universität gab es zwei Professoren gleichen Namens. Es wurde der "falsche" entlassen. Bei einer Befragung im Landtag fragte ich den Minister, was geschehen wäre, wenn er die Todesstrafe verhängt hätte. Der Spaß gefiel ihm ganz und gar nicht.)

Bemerkenswert an Meyers Richtlinien war auch, dass stellvertretende Sektionsdirektoren automatisch zu entlassen waren. Hätte Meyer noch an einer Hochschule gearbeitet, hätte er sich selber entlassen. Meyer verfügte nicht nur die Entlassungen, sondern auch, dass die Betroffenen "lebenslänglich" vom Dienst an einer sächsischen Hochschule ausgeschlossen sind. Er verstieß damit gegen die sächsische Verfassung, die in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz (Art. 3.3) festlegt: "Niemand darf wegen ... seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden." Der Katholik Meyer kennt den Satz des Jesus am Kreuz: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Politiker wie Meyer wissen durchaus, was sie tun.

Und diese Gesetzesverletzungen werden von der "unabhängigen" Justiz toleriert.

Das zeigt eine Analyse der Prozesse, in denen Hochschullehrer vergebens ihr Recht suchten. (20 Jahre Beitrittsdeutsche und die Menschenrechte, Dresden 2009, herausgegeben von der Gemeinschaft für Menschenrechte in Sachsen. Dort sind zahlreiche Beispiele dokumentiert.) Heinz Eggert erwarb in der "Wende"-Zeit als Zittauer Landrat den Titel "Pfarrer Gnadenlos", was ihm scheinbar behagte. Ein Protest wurde nicht bekannt.

Über seine "Heldentaten" als Landrat hat er selbst berichtet. (Zufällig war ich im November 1989 Urlauber in Oybin und hörte kaum glaubhafte Geschichten über den Pfarrer, die ich damals nicht beachtete.)

Karl Nolle listet die "Sünden" des Pfarrers auf, von denen viele durch die Medien gingen. Er habe Führungskader der DDR-Polizei übernommen und geriet in die Schlagzeilen, als er mit jungen Polizisten in bestimmten Lokalen gesichtet wurde. In ganz Deutschland wurde er bekannt (und in der CDU Stellvertreter Helmut Kohls), als er Anfang 1992 vor laufender Kamera behauptete, das MfS habe ihn mit Hilfe der Psychiatrie beseitigen wollen.

Den Ärzten wurde auf Grundlage von Aussagen Eggerts Freiheitsberaubung, Nötigung, Vergiftung und Körperverletzung vorgeworfen. Nur es war nichts davon wahr, wie ein Gericht feststellte. Und wie hat sich der Christdemokrat Eggert gegenüber den geschädigten Ärzten verhalten? Es wäre unappetitlich, hier zu wiederholen, wie Medien das "Stasi-Opfer" in einen Helden verwandelten. Karl Nolle ist kaum zu widersprechen, wenn er an die unrühmliche Rolle Heinz Eggerts erinnert, der in den Streifen Kohls und Biedenkopfs passte.

Obgleich Ludwig Güttler, der "Startrompeter", nicht zu den Abgeordneten und Politikern in Sachsen zählt, hat ihn Nolle als eine der schillerndsten Figuren der "Wende"-Zeit in die Reihe der "Blockflöten" aufgenommen.

Schon in den siebziger Jahren war Güttler Nationalpreisträger. Er avancierte zum privilegierten Reisekader und wurde IM. Ende 1989 gab er spektakulär den Nationalpreis zurück, um öffentlich vom Saulus zum Paulus zu mutieren. Als 1992 seine IM-Tätigkeit in die Schlagzeilen geriet, fand er Schutz und Hilfe nicht nur beim Oberbürgermeister Dr. Wagner. Ludwig Güttler wurde bekannt/berühmt, als er sich für den Wiederaufbau der Frauenkirche einsetzte: "Mit dem Wiederaufbau der Frauenkirche lassen Deutsche Schatten und Fluch der Vergangenheit hinter sich." Wessen Wunsch war hier Vater des Gedanken? Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an den IM Ludwig Güttler wurde zum Präzedenzfall. Güttler bemüht sich seit langem, Ehrenbürger der Stadt Dresden zu werden. Was würden seine Vorgänger in der Reihe der Ehrenbürger bei diesem Begehren sagen?

Machen wir noch auf einen "Fall" in der Nolles Liste der "Blockflöten" aufmerksam, der seine Besonderheiten hat. Bernd Merbitz, der sächsische Polizeipräsident, ist vor 1990 nicht Mitglied der CDU gewesen, sondern in der SED. Der "stramme Genosse" war zu DDR-Zeiten Offizier der Volkspolizei gewesen, zeitweilig Leiter der Mordkommission in Leipzig, zuletzt Major. Nach der "Wende" trat Bernd Merbitz in die CDU ein und blieb im Polizeidienst. 2007 ernannte ihn Milbradt zum Landespolizeipräsidenten.

Der "Fall" Merbitz zwingt dazu, prinzipielle Fragen der Menschen- und Bürgerrechte aufzuwerfen: War ein DDR-Polizist von vornherein mit dem Kainsmal der Verletzung der Menschenrechte gezeichnet und damit für den weiteren Dienst im "Rechts-Staat" BRD prinzipiell und ohne Ausnahme ungeeignet? Dann hätten 100 % entlassen werden müssen. Aber wer hat ein solches Kriterium festgelegt? Wieso wurde die Abwicklung in den Bundesländern völlig unterschiedlich betrieben (in Brandenburg sehr moderat, in Sachsen sehr rigoros)? Hing das vom jeweiligen Ministerpräsidenten (und seiner Parteizugehörigkeit) ab? Gab es ein Kriterium? In einem "Rechtsstaat" können nur die Konventionen für Menschenrechte und die Verfassung (das provisorische Grundgesetz) Maßstab sein. Das Grundgesetz legt - in Übereinstimmung mit der politischen Menschenrechtskonvention nach Art. 3.3 fest: "Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt." Es bedurfte also nicht eines "Wendehalses", um weiter Polizist zubleiben. Die Entscheidung fällt nicht nach moralischen oder opportunen Gesichtpunkten, sondern müsste auf der Basis des Rechts erfolgen. Zu kritisieren ist nicht, dass Merbitz seinen Dienst fortsetzte, sondern dass Hunderte "Staatsnahe" willkürlich abgewickelt worden sind, und heute Kritiker auftreten, die behaupten, dass das noch zu wenig gewesen seien.

"Fälle" wie der von Merbitz haben auch noch eine praktische Seite. Hätte die BRD in den Tagen der "Wiedervereinigung" über Nacht den gesamten Polizeiapparat ersetzen und die Sicherheit garantieren können?

Der "Fall" Merbitz zeigt exemplarisch eine der Schwächen der Arbeit Nolles. Er bewegt sich im Rahmen moralischer Kategorien. Die (welt-)politische Situation, (völker-)rechtliche Normen, soziale Aspekte usw. spielen für ihn keine Rolle. Scheinbar hat Nolle die Schwächen bei der theoretischen und juristischen Begründung seiner Polemik selbst gemerkt. Jedenfalls hat er die Recherchen dreier anderer Autoren in sein Buch aufgenommen. Der Historiker und Politologe Michael Lühmann untersuchte (S. 23 f.) "Die CDU und die Blockflöten", der Journalist und taz-Mitarbeiter Michel Bartsch berichtet (S. 37 f.) über die "Debatte über die Block-CDU in der DDR" und Richter Christian Jestaedt hält ein "Plädoyer für eine gesamtdeutsche Geschichtsbetrachtung als pluralistischen Prozess". Die drei Studien werden ergänzt durch Einzelaussagen von Politikern wie Wolfgang Tiefensee und Konrad Weiß.

Mit der Aussage: Die Schuld der "Blockflöten" besteht in der Kollaboration mit der SED stehen Anklage und Urteil also fest.

Nolle blendet die Politik der SPD vor und nach 1990 völlig aus. Das gilt für die Entspannungs- und Dialogpolitik mit der SED vor 1990, als auch die Politik im Osten nach der "Wiedervereinigung" 1990. Erst Recht vermeidet er, auf programmatische Aussagen der SPD aufmerksam zu machen wie auf das (West) Berliner Parteiprogramm vom Dezember 1989. Es bleibt ein weites Feld für weitere Sichten.

Vor 1990 hatten Willy Brandt, Egon Bahr und andere sozialdemokratische Politiker eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen der DDR und der BRD geforderte, die auf friedlicher Koexistenz, Entspannung und gedeihlicher und gegenseitig vorteilhafter Zusammenarbeit beruhen sollte. Das lag auch im Interesse der BRD und der Sozialdemokratie (nicht nur bei Tarifverhandlungen).

Was hat die Sozialdemokratie durch die große Koalition und die Satrapenrolle der Thierse und Tiefensee gewonnen? Ist sie dem 1989 im Programm versprochenen demokratischen Sozialismus oder wenigstens dem Frieden ein Stück näher gekommen?

Es wäre für den Leser interessant, wie Karl Nolle zur Geschichte und dem Vermächtnis der DDR steht, inwieweit er sich der Verleumdung der DDR durch die Gleichsetzung mit dem Dritten Reich anschließt oder nicht.


Ein Nachtrag: Als Nolle sein Buch vorstellte, erschien parallel dazu eine Dokumentation der Gemeinschaft für Menschenrechte in Sachsen (GMS). Sie enthält vier Arbeiten zur Thematik Verletzung der Menschrechte in Sachsen nach 1990:

Dieter Siegert, Ernst Woit: Kriminalisierung der DDR zur Diskriminierung ihrer Bürger
Arno Hecht: Elitewechsel
Dietmar Scholz/Eberhard König: Die Menschenrechte auf Arbeit und soziale Sicherheit müssen einklagbares Recht werden
Horst Schneider: Zum Umgang der bundesdeutschen Justiz mit Menschenrechten: Außer Spesen nichts gewesen? Der Bundestagsbeschluss vom 13. Dezember 2007 über die "Rehabilitierung" Die Dokumentation ist zu bestellen über GMS Postschließfach 120609, 01097 Dresden

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Rezensionen

Georg Grasnick

Gelungener Versuch

Daniela Dahn: Wehe dem Sieger - Ohne Osten kein Westen, 2009 Rowohlt Verlag GmbH Reinbek bei Hamburg, ISBN 978-3-498-01329-5

Mit dem vorliegenden Titel unternimmt die Autorin, wie sie sagt, "den bescheidenen Versuch, die Geschichte seit dem Untergang des Sozialismus noch einmal anders (zu) erzählen. Weil die bisherigen Deutungen weiße Flecke und Paradoxien haben."

Für sie ist die historische Zäsur von Anfang der 1990er Jahre nicht das damals prognostizierte "Ende der Geschichte". Vielmehr zeige sich, dass der Kapitalismus ohne die Konkurrenz des Sozialismus seinen Halt verloren habe, dass er haltlos geworden sei. Entfesselt betreibe er entsprechend seinem Grundgesetz, der Jagd nach Maximalprofit, die Selbstzerstörung seines Systems.

In der Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen System im allgemeinen und dem in der BRD im besonderen wird dargelegt, dass der Neoliberalismus forciert Sozialabbau betreibt, dem System Aggressivität wesenseigen ist und dass der Kapitalismus keine Zukunft hat.

Der Sozialismus habe bis zur historischen Zäsur dem Kapitalismus eine soziale Legitimation abverlangt, wird konstatiert. Das muss auch die zitierte "Frankfurter Allgemeine Zeitung" bestätigen, nämlich dass solange der Sozialismus bestand, dieser "auch den Kapitalismus gebändigt hat."

Doch, so wird die Meinung des Chefökonomen der Deutschen Bank, Walter, angefügt, "nachdem der Sozialismus der DDR überwunden wurde" müsse man "den westdeutschen Sozialismus überwinden". Wirtschaftsminister zu Guttenberg fügte inzwischen hinzu, dass "wir 20 Jahre nach dem Mauerfall, keinen gelebten Sozialismus in Deutschland brauchen".

Solchen Vorgaben gemäß erfolgt seit Jahren ein rigoroser Abbau des Sozialstaates, von sozialen Sicherungssystemen, eine Reduzierung der Reallöhne. Von den Neoliberalen werden als "Sozialismus" bezeichnete Errungenschaften der westdeutschen Gewerkschaften, die in Jahrzehnten, nicht zuletzt angesichts der Präsenz der sozialistischen DDR erkämpft wurden, geschleift. In dem Buch wird dargelegt, wie forcierte Profitmaximierung, Steuergeschenke an das Kapital und die stete Verringerung des Anteils der abhängig Beschäftigten an den Ergebnissen der Wertschöpfung die Polarisierung zwischen Arm und Reich beschleunigten. "Wieviel Prekariat verträgt die asoziale Marktwirtschaft?", wird im Buch gefragt.

Festgestellt wird auch der in den vergangenen Jahren betriebene "freie Fall" der Demokratie, die Einschränkung der Meinungsvielfalt und die Bestimmung des öffentlichen Diskurses durch die Massenmedien.

Die Autorin, die Gründungsmitglied des "Demokratischen Aufbruchs" war, verweist darauf, dass viele Ostdeutsche die Vereinigung als westlichen Beutezug empfanden, bei dem die Treuhand den Ausverkauf vollzog und Millionen Arbeitslose hinterließ. Die "praktischen Erfahrungen" der Menschen wurden "mit Füßen getreten". Die Deutsche Bank habe dagegen das Jahr 1990 als das beste Geschäftsjahr in ihrer hundertjährigen Geschichte abschließen können.

Es wird daran erinnert, dass mit einem noch einmal hochgefahrenen Kalten Krieg, mit Totschlagworten wie "Unrechtsstaat" oder "totalitäre Diktatur", das "größte Verbrechen der DDR, das Volkseigentum", beseitigt und die Restauration der alten Machtverhältnisse in der DDR vollzogen worden ist. Sehr detailliert und hervorragend recherchiert wird nachgewiesen, wie welche "Chancen im Sozialen" vertan wurden. Welche Leistungen der DDR im Gesundheitswesen, in der Kinderbetreuung, aber auch in der Frauenförderung, im Bildungswesen, in der Verkehrspolitik, im Güterverkehr, in der genossenschaftlichen Landwirtschaft negiert bzw. liquidiert wurden. Oder wie das Auslöschen der Erinnerung an die DDR-Kultur vollzogen wurde. Aufschlussreich auch ein Vermerk, der 1991 in der Zeitschrift "Das Parlament" veröffentlicht worden war, wonach in der DDR "sozial-, arbeits- und familienrechtliche Regelungen günstiger waren als in der alten BRD".

Daniela Dahn blendet aufschlussreich in anderem Zusammenhang zurück auf die Zeit nach der militärischen Niederlage des faschistischen Deutschland. Sie erinnert an die Übereinstimmung unterschiedlicher politischer Kräfte und Parteien in den damaligen Westzonen, mit dem Faschismus sei der Kapitalismus untergegangen und der Sozialismus stünde auf der Tagesordnung. Entgegen diesen Erkenntnissen wurde allerdings mit den gesellschaftlichen Grundlagen, mit den ökonomischen Machtverhältnissen nicht gebrochen.

Heute wird in den Diskursen über die globale Krise, ihre Ursachen, ihre Opfer und ihre Profiteure zunehmend der Kapitalismus in Frage gestellt. Daniela Dahn erwähnt den Soziologie-Professor Wallerstein von der Yale University, der von der "um sich greifenden Erosion der Gewissheiten der siegreichen Seite" spricht und davon, dass das "gegenwärtige System keine Zukunft" hat. Ein neues System werde installiert werden. "Das wird kein kapitalistisches sein."

Die Autorin bleibt bei dieser Feststellung nicht stehen, sondern plädiert für eine neue Weltordnung und für ein neues Denken. Sie greift bekannte Begriffe auf und erfüllt sie mit einem neuen, alternativen, humanistischen Inhalt.

Eine "neue Weltordnung" - das setze voraus, zwischenstaatliche Gewalt und Krieg zu ächten. Eine Welt, in der nicht 50 Millionen Menschen Jahr für Jahr infolge Unterernährung, Seuchen und fehlender medizinischer Betreuung sterben. So viele, wie Opfer in den sechs Jahren des Zweiten Weltkrieges gezählt wurden. Ein Zwanzigstel der gegenwärtigen Rüstungsausgaben in der Welt würden ausreichen, so die Autorin, um die schlimmste Armut zu überwinden.

Beeindruckend das Bekenntnis von Daniela Dahn, dass sie sich "niemals gewöhnen werde ..., in einem Land zu leben, das Angriffskriege führt."

Eine "neue Weltordnung" verlange die Inangriffnahme eines "neuen Modells" der Gesellschaft, das die Selbstzerstörung beendet, verlange die Durchsetzung von Demokratie plus Gemeineigentum an den wichtigsten Naturgütern, Dienstleistungen und Produktionsmitteln, also die Ausschaltung der Gier nach Maximalprofit. Solle "die Würde des Menschen unantastbar sein, muss das Eigentum an Produktionsmitteln und Finanzvermögen antastbar werden", so ihre Maxime. Basisdemokratie und Mitbestimmung des Volkes werden als grundlegende Voraussetzungen gesehen. Eine andere Welt brauche neues Denken und insofern neue Medien, brauche also die Überwindung der "kulturellen Hegemonie des Kapitals", der Verblödungsprogramme, der Dominierung des Denkens der Menschen, die nicht zuletzt durch die weltmarktbeherrschenden sechs Medienkonzerne ausgeübt wird.

Daniela Dahn entwickelt die Vision eines linksalternativen Informationspools, vernetzt mit und gespeist aus interessanten Quellen und Sendern, um Gegeninformationen für unabhängige Sender und Internetportale zu ermöglichen. Vertreter aus sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, alternativen NGOs und antikapitalistischen Parteien müssten die Möglichkeit erhalten, ihre Themen auf die TV-Agenda zu setzen. Verwiesen wird - als ein Beispiel - auf Nueva Television del Sur, der seit 2005 in Lateinamerika als Gegenöffentlichkeit zum US-amerikanischen CNN espanol Programme ausstrahlt.

"Neue Weltordnung" - wer soll sie schaffen?

Gegenentwürfe zum Raubtierkapitalismus gäbe es genug. Was vorerst fehle, seien handlungsfähige Kräfte für die notwendige historische Umwälzung.

Prekarier aller Länder, vereinigt Euch! - so die Erwartung und Hoffnung der Autorin.

Mit "Wehe dem Sieger" hat sie ein weiteres Buch vorgelegt, das viele interessante Fakten bietet, Hintergrundwissen vermittelt und viel Stoff für die Diskussion bietet. Ein gelungener Versuch, der antikapitalistischen Bewegung für das angebrochene Jahrhundert neue Denkanstöße zu vermitteln. In einer Zeit, da Jubel-Jubiläen-Feiern einander abwechseln, da die Bemühungen, die Folgen der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 80 Jahren wenigstens noch bis nach den Bundestagswahlen herunterzuspielen neue Paradoxien hervorbringen und phantastische Wahlversprechen der wieder oder neu in die Regierung drängenden Parteien auf der politischen Bühne dargeboten werden.


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Rezensionen

Klaus Georg Przyklenk

Operation Condor

Klaus Eichner: "Operation Condor", Verlag Wiljo Heinen, Berlin 2009, 320 S., brosch., ISBN 978-3-939828-42-6, 12 €

Sie ist schon wieder in Arbeit, die Mauer. Dieses Mal aber ist sie viel bunter und leichter. Ganz aus Styropor, damit sie sich leichter umstoßen lassen wird. Ein Bild, ein Geschichtsbild "20 Jahre Mauerfall" wird uns da auf den Bildschirm gemalt werden. So ist sie dann also gewesen, die Geschichte.

Ganz anders das Geschichtsbild, das Klaus Eichner zeichnet. Es ist scharf und genau. Obwohl er nur Südamerika im Blick hat, gerät es ihm doch zum Gesamtbild.

Schon Operation Condor hat diesen epochalen Bezug: Faschisten von jenseits des Atlantiks schaffen ihn zur Legion Condor der deutschen Kumpane.

"Das Terrornetzwerk Condor war ein struktureller Zusammenschluss und zugleich eine inhaltliche Aufgabenstellung der Geheimdienst- und Polizeiverantwortlichen der reaktionären Militärdiktatoren der südlichen Zone von Südamerika", der am 25. November 1975 mit den Eröffnungsworten Pinochets in Santiago begründet wurde. Dass alles schon viel früher begonnen hatte und auch über die offizielle Beendigung 1983 hinaus dauerte, belegt der Autor überzeugend. Auch die schreckliche Bilanz dieser Zusammenarbeit, die er zu Recht Staatsterrorismus nennt, führt er an: 400.000 Opfer. Erschlagene, Erschossene, zu Tode Gefolterte, vom Hubschrauber ins Meer Gestürzte, Verschwundene. Gegner der Großgrundbesitzer-Dynastien, Gegner kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung, Gegner der Herrschaft korrupter Kompradorenbourgeoisie, Bauern, Kommunisten, Sozialisten, bürgerliche Intellektuelle, Christen und Aufständische. Mehr als 400.000 Opfer. Ihr Kampf um ein menschenwürdiges Leben, also ihre wahrhaftige Forderung nach Menschenrechten, gefährdete den Machtanspruch des US-Kapitals. Und so beginnt die Geschichte des geheimgehaltenen Terrorbundes auch lange vor dem November 1975. Nach dem Sieg der kubanischen Revolution verkündete Kennedy 1961 die Allianz für den Fortschritt. Und diese "Alliierten", die südamerikanischen Diktatoren, wurden fit gemacht in der "U.S. Army School of Americas". Bei den Kritikern hieß sie bald "School of Assassins", so wie im Mittelalter die vom Alten vom Berge losgeschickten Mörder Assassinen hießen. Erst im Jahre 2000 wurde die Schule offiziell geschlossen. Ausgebildet wurde im Kampf gegen die sozialen Bewegungen in allen ihren Formen. Die Methoden, die da gelehrt worden sind, lassen sich nachlesen in den Schreckensnachrichten aus Lateinamerika. Die Liste der Absolventen ist lang. Somoza steht ebenso auf ihr, wie der Name zweier Juntachefs Argentiniens Viola und Videla. Pinochet steht nicht darauf, aber sein Polizeichef Ernesto Baeza Michelsen.

Es macht den Wert dieses Buches aus, dass alles belegt ist:

CIA-Direktor Helms in einem internen Memorandum: "Am 16. September 1970 informierte Direktor Helms eine Gruppe von leitenden Beamten der CIA, dass am 15. September Präsident Nixon entschieden hat, dass ein Allende-Regime für die Vereinigten Staaten nicht akzeptabel sei. Der Präsident forderte die CIA auf, die Machtergreifung Allendes zu verhindern oder ihn zu stürzen und stellt speziell dafür eine Summe von 10 Millionen US-Dollar zur Verfügung."

Und nachdem die Alternative verwirklicht worden war, sagt Pinochet zum US-Außenminister Kissinger: "Wir stehen hinter Ihnen. Sie sind die Führer."

Der Autor hat die nach 25 Jahren zugänglichen Dokumente sehr sorgfältig ausgewertet. Das führt bis zu den genauen Angaben, wie einzelne Summen verwendet worden sind.

Die im Anhang veröffentlichten Kopien weisen mit den vielen Schwärzungen durchaus darauf hin, wie stark auch in der gegenwärtigen US-Administration noch die Interessen derer berücksichtigt werden, die damals und mit Sicherheit auch noch heute das Sagen haben. Dass es dabei nicht um die Persönlichkeitsrechte noch lebender Personen geht, ist sicher. Ebenso sicher ist auch, dass der Kampf gegen die sozialen Bewegungen fortgeführt wird. Aktionen, wie der Einsatz von Reisejournalisten oder die Einflussnahme auf Medien, Gewerkschaften und Unternehmerverbände sind ja erfolgversprechende, somit schützenswerte Geheimnisse.

Die aktuellen Destabilisierungsunternehmungen gegen linke lateinamerikanische Regierungen belegen diesen Gedanken.

Dass Operation Condor immer nur Teilbereich globaler Klassenauseinandersetzungen war, deutet der Autor mit den Beziehungen dieses Netzwerks zu NATO-Dienststellen an. Auch mit der ausführlichen Personalie Generalleutnant Vernon A. Walters, eines Spezialisten für Umstürze, der im Sommer 1973 als CIA-Direktor amtierte und der als 72-jähriger im April 1989 als US-Botschafter in die Bundesrepublik Deutschland entsandt worden war.

Klaus Eichner hat aus den vielen Fakten keine Verschwörungstheorie gemacht, sondern ein exaktes Geschichtsbild gezeichnet. Das macht für mich den Lesegewinn aus.

Wissenschaftlicher Quellennachweis, Dokumentenanhang, Personenregister und Glossar vervollständigen das unaufgeregt sachlich geschriebene Buch.


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Rezensionen

Horst Schneider

Erzbischof Marx contra Karl Marx

Zu dem Buch Reinhard Marx "Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen" Pattloch Verlag, München 2008, 319 Seiten

Der Verfasser des Buches ist Dr. Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising.

Der Verlag hat sich etwas einfallen lassen, um die Werbung zu erleichtern. Das Buch hat jenen berühmten blauen Umschlag, den die Marx-Bände haben. Und schon auf dem Umschlag wird eine Verbindung zu den Ideen zu Karl Marx hergestellt: "Ein Kapitalismus ohne Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit hat keine Moral und auch keine Zukunft."

Wenn die (Un-)Moral entscheidend wäre für die Zukunft des Kapitalismus, wäre das Urteil gesprochen. Aber dann wäre auch das Buch des Kirchenhirten überflüssig.

Der Verfasser aber setzt sich das Ziel, Erkenntnisse von Karl Marx in Irrtümer zu verwandeln.

Er wendet eine reizvolle Methode schon in der langen Einleitung "Marx schreibt an Marx" an. (S. 11 f.) Er nutzt die Namensgleichheit und das Anliegen von Marx und der Kirche, für den Menschen zu wirken, als verbindende Aufgabe sozusagen zwischen den Kollegen Karl und Reinhard Marx. Anerkennend ist angesichts des Zeitgeistes: Der Erzbischof verketzert Karl Marx und seine Ideen nicht. Und er betont: "Ich hoffe, dass das Buch Diskussionen - auch kontroverse - hervorruft. Wir brauchen diese Debatte - um des Menschen willen!" (S. 9)

Reinhard Marx eröffnet die "Debatte" damit, Grundsätze der katholischen Soziallehre darzulegen, die Karl Marx nicht verstanden und sogar erbittert bekämpft habe: "Die Katholische Kirche hat in der Katholischen Soziallehre eine sozialethische Botschaft, die sich letztlich aus dem Evangelium selbst ergibt. So haben es besonders die Päpste der letzten hundert Jahre gesehen und ihren Enzykliken und Ansprachen entfaltet." (S. 7)

Zu Marxens Lebzeiten wirkte Emmanuel von Ketteler, 1848 Abgeordneter im Frankfurter Paulskirchen-Parlament, ab 1850 Bischof von Mainz, für die Verbreitung der katholischen Soziallehre. Karl Marx nahm wahr, dass Ketteler mit der "Arbeiterfrage kokettiert", also vom Standpunkt des revolutionären Sozialismus bekämpft werden müsse. Reinhard Marx dagegen behauptet, mit Kettelers Ansichten hätten Marxens Thesen "Unrecht bekommen." (S. 12)

Aber ganz sicher ist sich der Erzbischof nicht. "Wird der Lauf der Geschichte Ihnen am Ende also doch noch Recht geben, Herr Dr. Marx? Wird der Kapitalismus letztlich doch an sich selbst zugrunde gehen? Ich sage es Ihnen ganz offen: Ich hoffe es nicht". (S. 29) Nun hat Karl Marx bekanntlich nie behauptet, dass der Kapitalismus "an sich selbst zugrunde geht". Und die Hoffnung des Kirchenhirten deckt sich mit dem Grundinteresse aller Ausbeuter. Der Erzbischof prüft seine Aussagen auch nicht an der historischen Praxis, der Wirklichkeit. Wo sind denn die Ideen Kettelers je verwirklicht worden?

Nicht einmal in seinem damaligen Bistum Mainz. Und im heutigen München? Zugegeben: Johannes Paul II. mahnte in "Centesimus annus" vom 1. Mai 1991: "Die Wende von 1989 beinhalte nicht nur die Krise des Marxismus, sondern auch den Auftrag, nun in einer globalen sozialen Marktwirtschaft die bessere Alternative zur Überwindung von Ungerechtigkeit und Armut zu erarbeiten. Sonst werden die falschen Ideen von Karl Marx und seinen Epigonen Zulauf bekommen. Und das wäre verheerend." (S. 7) Es ist verständlich, dass der Erzbischof die Ideen von Karl Marx und seinen "Epigonen" fürchtet, aber hat die zitierte Enzyklika die Furcht vermindern können?

Erzbischof Marx nimmt sich die Zeit und den Platz, um viele Gebrechen der Marktwirtschaft aufzulisten, um dann den Brief an Karl Marx mit einem neuen Zitat von Nell-Breuning zu beenden: "Die katholische Soziallehre sieht in Marx ihren großen Gegner, sie bezeugt ihm ihren Respekt." Nun kann die Auseinandersetzung mit dem "großen Gegner" beginnen.

Im ersten der acht Kapitel äußert sich Reinhard Marx allgemein über Marxismus, Liberalismus und Christentum. (S. 33 f.)

Er urteilt über Menschen, die ihm begegneten, und philosophische Ansichten. Dabei kommt der Bischof nicht umhin, die Stellung von Marx zum bürgerlichen Freiheitsbegriff zu referieren: "Marx wollte statt einer bloß formellen Freiheit die reale Freiheit der Menschen verwirklicht sehen." (S. 42) In der Tat: Karl Marx wollte die Verhältnisse beseitigen, unter denen der Mensch ein entwürdigtes und versklavtes Wesen ist. Was ist einzuwenden, wenn nach christlicher Ansicht der Mensch Gottes Schöpfung und Ebenbild ist?

Am Ende des Kapitels kritisiert der Bischof unter Berufung auf Papstsätze, wie gegenwärtig der Freiheitsbegriff mit Beliebigkeit vertauscht und missbraucht wird. Er führt das (unter Berufung auf Röpke) auf die "praktischen Folgen der angenommenen Nichtexistenz Gottes zurück". (S. 64)

Im zweiten Kapitel S. 65 f. wirft Reinhard Marx einen Blick auf die "Ökonomie für den Menschen. Marktwirtschaft und Ethik".

Der Autor trägt ein leidenschaftliches Plädoyer für die christliche Soziallehre vor. Immerhin wird auch die berühmte Enzyklika des Papstes Pius XI von 1931 zitiert, die den Satz enthält: "Die Wettbewerbsfreiheit - obwohl innerhalb der gehörigen Grenzen berechtigt und von zweifellosem Nutzen - kann aber unmöglich regulatives Prinzip der Wirtschaft sein". (S. 83)

Aber wer legt die "Grenzen" fest und misst der "Nutzen"? Die Verhaltensregel des Bischofs: Die Kirche bejaht die Marktwirtschaft dann, "wenn sie an der Menschenwürde und am Gemeinwohl orientiert ist und diese Orientierung durch eine starke Rahmenordnung garantiert wird." (S. 94/95) Wo aber ist das der Fall?

Die vom Bischof befürchtete Vertiefung der Gräben zwischen Kirche und Wirtschaft (S. 96) dürfte unvermeidlich sein.

Das dritte Kapitel "Armut inmitten der Wohlstandsgesellschaft" ist eine Faktensammlung, die einem "Armutsbericht" entstammen könnte.Ich zitiere nur einen Satz: "Das Ausmaß an Armut, vor allem an Kinderarmut, das in Deutschland herrscht, ist ein Skandal". (S. 100)

Der Zorn des Bischofs ist sicherlich echt.Aber die Frage nach den tieferen Ursachen bleibt unbeantwortet. Da ist die Behauptung am Ende des Kapitels zu billig: "Mein Namensvetter Karl Marx hatte ... Unrecht, als er meinte, dass die Eigentumsverhältnisse die gesamte Sphäre des Sozialen determinieren." (S. 123)

Das was der Bischof an Fakten aufgelistet hat, beweist die Richtigkeit der Marxschen These.

Hätte er zudem noch einen Vergleich DDR-BRD im sozialen Bereich versucht, hätte er lernen können. Bei der Sorge für Kinder in der DDR wäre der Vergleich lehrreich gewesen.

Aber dann wäre sein Anspruch auf (christliche) Wahrheit unhaltbar geworden.

Das vierte Kapitel stellt eine aktuelle Frage: "Warum wir das Prinzip der Gerechtigkeit brauchen" (S. 125 f.) Wer wird gegen Gerechtigkeit sein? Aber auch wenn der Kirchenvater Augustinus schon vor 1600 Jahren die Reichen eine "Räuberbande" nannte, hat sich im christlichen Abendland nichts (außer den Methoden) geändert. Der Bischof postuliert: "Unsere Kultur ist eine durch und durch christlich-abendländische Kultur". (S. 130)

Sind da die Kriege, die das "Abendland" mit dem Segen von Bischöfen führt,in die Kultur eingeschlossen? Was nutzt es, dass die Urheber der Ungerechtigkeit nicht mehr in Königspalästen sitzen, sondern in Bankhäusern?

Werden die Banker vor der Botschaft des Erzbischofs zittern, dass "diese Investoren, die mit ihnen kooperierenden Banker und ihre (Un-)Rechtanwälte dereinst vor Gott Rechenschaft für das von ihnen begangene Unrecht werden ablegen müssen. Ich glaube nicht, dass ihnen dann der Hinwies auf bestehende Gesetzeslücken helfen wird. Die Gebote Gottes kennen keine Löcher, durch die jene schlüpfen könnten, die sich an der Not und dem Elend anderer bereichern."

Auch der Augsburger Bischof Walter Mixa prophezeite im "Spiegel" 23/2009 (S. 46 f.) Unternehmern, die Todsünden begehen, mit der Hölle.

Die Bibelsätze, die Reinhard Marx und Walter Mixa zitieren, existieren seit 2000 Jahren. Gerechtigkeit haben sie genau so wenig bewirkt wie Friedfertigkeit. Was segnen Militärbischöfe? Den "gerechten" Krieg?

Im fünften Kapitel setzt sich Reinhard Marx "Für eine gerechte und nachhaltige Reformpolitik" ein (S. 159 f.) Zwar ist das Wort "Reform" in Verruf gekommen wie kaum ein anderer politischer Begriff, aber wer wird die Notwendigkeit von Reformen ablehnen? In dem Kapitel finden sich treffliche Sätze,die auch von Marxisten stammen könnten:

"Wer materielle Not leidet, schert sich wenig um die politischen Freiheitsrechte wie Presse-, Meinungsfreiheit." Wie hat das Marx formuliert?

Dem Leser, vor allem der Kanzlerin, ist zu raten, die Reformvorschläge des Erzbischofs genau zu prüfen. Am Ende des Kapitels darf ein genialer Vorschlag bedacht werden:

"Wirtschaftliche Stabilität ist unbestreitbar wichtig, soziale Stabilität ist aber mindestens genauso wichtig. Und da sollte uns auch in Zeiten klammer öffentlicher Kassen guter Rat nicht zu teuer sein." Aber wer hat einen Rat parat?

Wenn der Erzbischof im sechsten Kapitel "Die Karten neu verteilen" will (S. 189 f.) klingt das wie die Propagierung eines modernen "New Deal". Es geht ihm um "Arbeit, Bildung und Familie": "Wir brauchen einen New Deal, eine Neuverteilung der Karten! Wir brauchen einen neuen 'Gesellschaftsvertrag‹."

Reinhard Marx läutet die Alarmglocke: "Wenn wir nicht wollen, dass die aus unserer Wohlstandsgesellschaft Ausgeschlossenen irgendwann auf die Barrikaden gehen, dann müssen wir die sozialen Ausschlussmechanismen bekämpfen. Dann brauchen wir eine New Deal, bei dem die bisher zu kurz Gekommenen bessere Karten, sprich: wirkliche soziale Beteiligungschancen bekommen. "

Ich wiederhole: Um künftige "Barrikaden" zu verhindern (von Kriegen ist keine Rede) müssen "wir" die "sozialen Ausschlussmechanismen" bekämpfen (oder überwinden?). Welchen praktischen Nutzen hat der Satz: "Wir (?) müssen ein System aufbauen, das wirtschaftliche Effizienz ermöglicht und Verarmung ausschließt. Ein Gemeinwesen, das dies nicht im Blick behält, ist unmenschlich". (S. 201). Und: "Materielle Armut und Bildungsarmut stehen in einem engen Zusammenhang". (S. 213) Wer bestreitet das?

Was würde der Erzbischof sagen, wenn ich behaupte: Das sind für DDR-Bürger keine neuen Weisheiten. Sie wussten auch schon: "Es kommt darauf an, in die Köpfe und Herzen der Menschen zu investieren". (S. 214) Die Erfahrungen der DDR in der Familien, Bildungs- und Rentnerpolitik hätten für Reinhard Marx nutzbringend sein können.

Im siebten Kapitel predigt der Erzbischof "Moral fürs Kapital". Er begründet die "soziale Verantwortung von Unternehmen". (S. 225 f.)

Die Notwendigkeit eines solchen Kapitels beweist zunächst: Das Kapitel hat keine Moral (im christlich-abendländischen Sinn). In diesem Kapitel befinden sich drastische Beispiele für "Investitionsheuschrecken" (S. 227), den "Karawanenkapitalismus" (S. 228) und Delikte unterschiedlicher Art, die die Öffentlichkeit empören. Unerfindlich ist, was der Seitenhieb (S. 234) soll, Marx habe den "Pioniergeist einzelner Unternehmer" nicht wahrgenommen. Schon im "Manifest" steht das Gegenteil.

Wenn Reinhard Marx mit den Werten des Papstes Johannes Paul II. unterstreicht: "Kein Profit rechtfertigt entwürdigende Arbeitsbedingungen" (S. 238) würde Karl Marx sicherlich zustimmen. Wenn es dem Autor um eine Art Verhaltenskodex für Unternehmer geht, entwertet er seine Ideen selbst, indem er Kritik an Managergehältern (zu der sich sogar die Kanzlerin aufschwang) als "populistisches Lamento" (S. 242) denunziert und ablehnt.

Das Buch des Erzbischofs zeigt, dass die katholische Kirche den "Sieg" von 1989/90, zu dem sie unter Johannes Paul II einen großen Beitrag leistete, nicht für endgültig hält. Reinhard Marx geht auch nicht vom Satz Blüms aus, wonach Marx tot sei.

Sicher ist: Seine Rezepte für Reformen ersetzen nicht ein wissenschaftliches Programm.

Das wird, wie 2000 Jahre Geschichte beweisen,nicht aus dem Vatikan kommen.

Besonders bedauerlich ist, dass der Erzbischof Erfahrungen sozialistischer Länder überhaupt nicht prüft - auch nicht verteufelt -, obwohl es in der Bibel heißt "Prüfet alles, das Gute behaltet." Insbesondere die Amtsbrüder aus Polen und der DDR hätten doch manches zu berichten. Auch hätte mancher Leser gern erfahren, wie die Kirchen heute zu dem Bibelsatz "Frieden schaffen ohne Waffen ohne Waffen" und "Schwerter zu Pflugscharen" stehen.

Erzbischof Reinhard Marx muss sich nicht grämen, dass er keine Marxsche Erkenntnis widerlegt hat. Stoff zum produktiven Streit zwischen Christen und Marxisten hat er geliefert. Und das kann nützlich für beide Seiten sein.

Raute

Marginalien

Echo

Aus dem Gästebuch der Gabi-Senft-Ausstellung in der GBM-Galerie

Liebe Gabi, ich habe als alte ehemalige Kollegin von ADN-Zentralbild mit viel Freude Deine Ausstellung betrachtet. Von der etwas schüchternen Absolventin, die bei ADN anfing, hast Du Dich zu einer Persönlichkeit entwickelt, die nicht nur bildjournalistisch sehr bemerkenswert ist, sondern auch zu einem Menschen - das zeigen Deine Bilder - von denen wir uns viele wünschen.

Eva Brüggmann, Berlin


Es gibt viele Leute, die eine Kamera haben und knipsen. Gabi hat eine Kamera und fotografiert, sie malt Bilder durch das Objektiv, ganz objektiv und ganz persönlich.
Herzlichen Dank dafür und auch noch viele Meter Film.

Mike und Mara, Berlin


Liebe Gabi, ein herzliches Dankeschön für diese wunderbare Ausstellung. Sie zeigt, was künstlerisch anspruchsvolle und engagierte Fotografie leisten kann.
Mit allen guten Wünschen für Dich

Maria und Pete, Berlin

Raute

Marginalien

Aphorismen

Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.
Jean-Jacques Rousseau

Erfolg steigt nur zu Kopf, wenn dort der erforderliche Hohlraum vorhanden ist.
Manfred Hinrich

Und wenn wir uns noch so anstrengen, Ideale haben weder eine Nationalität noch eine Rasse.
John Steinbeck

Kritik - wer ihr zutraut, sie werde Herrschaft liquidieren, Machtverhältnisse aus den Angeln heben, verschwendet seine Hoffnungen oder seine Besorgnisse. Kritik meint nicht gewaltsame Veränderung der Welt, sie deutet auf deren Alternative; sie ist nicht revolutionär, sondern revisionistisch gesonnen.
Hans Magnus Enzensberger

Alle Menschen haben eine Eigenschaft gemeinsam: sie sind gut, und die übrigen, die Hundesöhne, sind bös.
John Steinbeck

Aller Fortschritt ist reaktionär, wenn der Mensch daran zugrunde geht.
Andrej Wosnessenski

Von allem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des ganzen Lebens bereitstellt, ist bei weitem das Größte die Gewinnung der Freundschaft.
Epikur

Planen - sich den Kopf zerbrechen, wie man am besten ein zufälliges Ergebnis erzielt.
Ambrose Bierce

Wo Finsternis mit Tiefe verwechselt wird, pflegt man für Aufklärung das schmückende Beiwort platt parat zu haben.
Hans Magnus Enzensberger

Lebensklugheit bedeutet: alle Dinge möglichst wichtig aber keines völlig ernst zu nehmen.
Arthur Schnitzler

Das Schlechte an den Minderwertigkeitskomplexen ist, dass die falschen Leute sie haben.
Jacques Tati

Eine Überzeugung, zu der man nicht durch Argumente gefunden hat, lässt sich durch Argumente auch nicht so schnell erschüttern.
Karen Duwe


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Ralf-Alex Fichtner, 2009. Lavierte Finelinerzeichnung, 14,8 x 21 cm
Ralf-Alex Fichtner, "Ikarus", Farbstiftzeichnung/Tusche auf farbigem Papier

Raute

Klaus Georg Przyklenk

Hermann Bruse

- zum Titelbild

"In der DDR gab es keine Maler. Das waren alles Arschlöcher," so hat Malerfürst Baselitz seine Evaluation der Künstler in der DDR mediengefällig vorgebracht. Auch "ein Sack voller Spitzbuben" ist seine Wertung. Das klingt nicht nur borniert. Es ist die beliebte Floskel vom Unrechtsstaat DDR, nur eben für bildungsfernere Schichten formuliert. Wie die kürzlich ausgerichtete Kunstschau "60 Jahre Grundgesetz", in der es DDR-Kunst nicht gegeben hat, belegt, war Baselitz kein Rüpel vom Rand, sondern eher "Volkes Stimme", ein wenig unerzogen vulgär, aber doch nicht falsch.

Wir haben Grund, uns all derer zu vergewissern, die DDR-Kunst und DDR-Künstler waren. Einer von ihnen war Hermann Bruse.

Dass er in seinem kurzen Leben nur die allerersten Jahre der DDR noch mitgestaltete, bescheidet sein Werk auf eine kleine, überschaubare Zahl von Menschenbildern.

Der am 5. April 1904 in Hamm geborene Maler starb schon am 15. Mai 1953 in Berlin. Als Kommunist hatte er am illegalen Widerstandskampf teilgenommen. Nach einer ersten Haft im Zuchthaus Luckau während der frühen dreißiger Jahre verbrachte er als ein zum Tode Verurteilter die letzten Kriegsmonate in der Todeszelle. Seine Befreiung war mehr. Sie war Rettung.

Als Kommunist, wie auch als Autodidakt, hatte er während der faschistischen Barbarei keinen Zugang zum Kunstgeschehen.

Die acht verbleibenden Jahre nach 1945 waren dann aber die Lebensjahre eines Malers. Seine Porträts bewahrten uns das Bild seiner Weggefährten und Genossen aus den Jahren des Kampfes und des Neubeginns. Weit weg vom naturalistischen Abbild geben sie ihr Sujet oft in scharfkantigen Formen und emotional übersteigerten Farben wieder. Vergleichbar eher dem Formverständnis Renato Guttusos oder Karl Hofers als der damals wieder zum Vorbild erhobenen bürgerlichen Realisten des 19. Jahrhunderts und der nachrepinschen sowjetischen Traditionsmalerei. Im ND vom 26.5.1973 schrieb Volker Franz anlässlich des 20. Todestages des Malers: "Die sozialistischen Traditionslinien unserer Kunst sind vielfältiger und reicher, als sie manchem Bildenden Künstler bewusst sind."

Im neuen Lexikon "Künstler in der DDR", das im kommenden Frühjahr zur Leipziger Buchmesse vorgestellt werden wird, steht dann unter B. als einer von vielen Hermann Bruse.

Unter B. steht auch Baselitz.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Der leere Topf, Öl/Lw.
- Porträt Frau Dr. A.S., 1951, Öl/Lw.
- Die Vernehmung, 1942, Holzschnitt
- Der Müde, 1949, Holzschnitt

Raute

Unsere Autoren:

Peter Arlt, Prof. Dr. - Kunsthistoriker, Gotha
Daniela Dahn - Autorin, Berlin
Hans Fricke - Dipl. Militärwiss., Rostock
Pierre Gallois - General, Frankreich
Georg Grasnick, Prof. Dr. - Politologe, Berlin
Angelika Haas, Dr. - Autorin, Berlin
Maria Heiner, Dr. med. - Medizinerin, Dresden
Brunow Mahlow - Politologe, Berlin
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Kurt Neuenburg - Historiker, Dresden
Klaus Georg Przyldenk, Dr. - Ikarusredakteur, Woltersdorf
Hans Rentmeister - Jurist, Königs Wusterhausen
Wolfgang Richter, Prof. Dr. - Philosoph und Friedensforscher, Wandlitz
Hans Schilar, Dr.oec. - Ökonom, Berlin
Horst Schneider, Prof. Dr. - Historiker, Dresden
Werner Schneider, Dr.oec. - Ökonom, Berlin
Erhard Thomas, Dr.sc. - Mediziner, Berlin
Gottfried Ulbricht - Diplomökonom, Berlin


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Titelbild:
Hermann Bruse, "Max, der Buchdrucker", 1948, Öl auf Lw. 36 x 30 cm

2. Umschlagseite:
Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung

Rückseite des Umschlages:
Ralf Alex Fichtner, "Icarus", 2009 Zeichnung, Farbstifte, Gouache auf farb. Papier, 29,5 x 18,5 cm

Abbildungsnachweis:
Archiv Arlt S. 37, 38
Archiv Heiner S. 30
Archiv Przyklenk S. 29, 41, 3. US
Archiv Ulbricht S. 39-40
Ralf Alex Fichtner S. 10, 52
Wiljo Heinen Verlag S. 47
Pattloch Verlag S. 49
Hans Rentmeister S. 22-27
Rowohlt Verlag S. 9, 45
Gabriele Senft S. 33-35
Erhard Thomas S. 19

Raute

Impressum

Herausgeber: Gesellschaft zum Schutz von
Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
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Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter

Redaktion:
Dr. Klaus Georg Przyklenk
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E-Mail: annyundklausp@online.de

Layout: Prof. Rudolf Grüttner
Satz: Waltraud Willms
Redaktionsschluss: 20.8.2009

Verlag:
GNN Verlag Sachsen/Berlin mbH
Schkeuditz
ISBN 978-3-89819-330-6

Die Zeitschrift ICARUS ist das wissenschaftliche und publizistische Periodikum der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.; sie erscheint viermal jährlich und kann in der Geschäftsstelle der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin abonniert bzw. gekauft werden. Ihr Bezug ist auch unter Angabe der ISBN (siehe linke Spalte) über den Buchhandel möglich. Der Preis beträgt inkl. Versandkosten pro Heft 4,90 EUR für das Jahresabonnement 19,60 EUR.

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Quelle:
ICARUS Nr. 3/2009, 15. Jahrgang
Herausgeber:
Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2009