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ICARUS/016: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 3/2010


ICARUS Heft 3/2010 - 16. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter
Fern wie ein Stück Mondgestein

Fakten und Meinungen
Horst Schneider

Präsidium des OKV
Georg Grasnick
Werner Schneider
Klaus Eichner
Robert Steigerwald
Irene Eckert

Die 10.Volkskammerwahlen der DDR am 18. März 1990 -
"ein Sieg der Selbstbestimmung"?
Wortmeldung zum 20.Jahr der größer gewordenen Bundesrepublik
Demokratie-Apostel in Aktion
Systemfrage heute?
In der Überwachungsgesellschaft
Arbeiterbewegung und bürgerlich-humanistisches Erbe
Die Agonie der Friedensbewegung überwinden -
zur Antikriegsbewegung werden!

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Peter Michel
Hans Rainer Otto
Ronald Paris
Flurbereinigung im Albertinum
­10.Sommergalerie der GBM
Für Genni

Personalia
Klaus Georg Przyklenk
Rüdiger Bernhardt
Henri Rousseau 1844-1919
Und doch eine Anzeige in der Zeitung ...

Rezensionen
Maria Michel
Siegfried Forberger
Lorenz Knorr
Bernd Gutte
Fiktion vom guten Nazi
Die DDR und ihre Frauen
Rom-Studien und die Befreiung der Tschechen
Inseln der Morgenröte

Marginalien


Ralf-Alex Fichtner
Bildbericht
Echo
Aphorismen
Karikatur
Aufstellung der Plastik "la terra II" vor der GBM-Galerie

Raute

Kolumne

Wolfgang Richter

Fern wie ein Stück Mondgestein Reminiszenzen zur Deutschen Einheit

Noch zwanzig Jahre nach dem Anschluss und aus der Überfülle dazu vorhandener Literatur erinnere ich mich an einen Artikel des Nestors der deutschen Sozialwissenschaften Klaus von Beyme aus dem Jahre 1996: "Der Sonderweg Ostdeutschlands zur Vermeidung eines erneuten Sonderweges: Die Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen Systeme."(1) Er hatte eine klare Botschaft: Nach all den Grausamkeiten des Einigungsprozesses, die der Westen verübte, beginnen jetzt die Wohltaten. Aber dennoch, "der kurze deutsche Sonderweg durch eine machiavellistische Staatsübernahmestrategie war unvermeidlich ...".

Das Motto des Beitrags war gar von Macchiavelli selbst: "Demnach ist festzuhalten, dass bei der Aneignung eines Staates der Eroberer alle Gewalttaten in Betracht ziehen muss, die zu begehen nötig ist, und dass er alle auf einen Schlag auszuführen hat, damit er nicht jeden Tag von neuem auf sie zurückgreifen braucht, ohne sie zu wiederholen, die Menschen beruhigen und durch Wohltaten für sich gewinnen kann." Immerhin stolperte ich zunächst über das Wort "erobern", bis mir deutlich wurde, dass Ostdeutschland mit der Einheit für die Bundesrepublik zum funktionalen Äquivalent der früheren, verlorenen Ostgebiete geworden war. Und die wollte man ja schon immer zurückerobern - wie auch immer. Aber "Sonderweg"? Natürlich hatte ich im Geschichtsunterricht etwas gelernt, was damit korrespondierte. Ich denke an das Heilige Römische Reich deutscher Nation und sein Ende durch Napoleon im Spannungsfeld von Zentral- und Partikulargewalten, an den halbherzigen deutschen Reformweg im Vergleich zu der wuchtigen Französischen Revolution. Marx und Engels schrieben selbst nicht wenig über die besonderen "Deutschen Zustände". "Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen."(2) Heute erklären auch die Verfechter einer Sonderwegstheorie oft das "Ende aller Sonderwege".

Aber wo sind die "Wohltaten" geblieben, jene durch von Beyme mit fünf Jahren Verzögerung ins Wissenschaftliche transformierten "blühenden Landschaften" Kohls? Der zögernde Abstand gab der Verheißung doch ihr Gewicht.

In einem Sonderheft des Parlaments, das der Deutschen Einheit gewidmet ist, lesen wir im Editorial: "Seit dem Beitritt von fünf neuen Bundesländern zum Geltungsbereich des Grundgesetzes sind fast zwanzig Jahre vergangen.Jahrzehntelang blieb die Aufforderung in der Präambel, 'in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden', eine Utopie, fern wie ein Stück Mondgestein. (...) Die Ostdeutschen haben entschlossen in Angriff genommen, was ihnen die Transformation abverlangte. Und doch scheint die Einheit nicht 'vollendet'. (...) Die im Grundgesetz formulierte 'Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse' bleibt ein Postulat. In der politischen Kultur und in den Mentalitätsunterschieden vieler Bürgerinnen und Bürger leben Ost-West-Unterschiede fort. Der Geschichte der deutschen Zweistaatlichkeit steht ihre Historisierung noch bevor, wie Debatten um die DDR-Vergangenheit immer wieder neu belegen."(3)

Das gibt ein unzorniges Bild der Einheit, weil ihm die treffenderen Vokabeln bewusst vorenthalten werden. Deindustrialisierung, geringerer Durchschnittsverdienst, höherer Niedriglohnsektor, doppelt so hohe Arbeitslosigkeit, mehr Hartz-IV-Aufstocker, niedrigerer Rentenwert, Strafrenten, Schmähung von Biographien und Diskriminierung, Gleichsetzung der DDR mit dem faschistischen Deutschland in Wiederbelebung der Totalitarismusdoktrin, Einschränkung der Meinungs- und Unterrichtsfreiheit für die marxistische Weltanschauung, mit der sich ein hoher Anteil der DDR-Bevölkerung identifiziert hatte, fortwirkende Folgen massenhafter Berufsverbote ohne Entschädigung und/oder Wiedereingliederung ins Berufsleben.

Es ist im genannten Sonderheft für die 90er Jahre von einer "hartnäckigen Ost-West-Differenz" (Kaj Rollmorgen), Misserfolgen im "Aufbau Ost", "Verständnis des Beitritts als 'Kolonialisierung'" "materieller und symbolischer Enteignung", einem "zweitklassigen Status der Ostdeutschen" die Rede. Es ist von einem Institutionentransfer unter Marginalisierung bzw. Missachtung ostdeutscher Subjekte, deren Erfahrungen, Interessenlagen und Partizipationschancen ("Bürger zweiter Klasse") die Rede. Für diese Einschätzungen, die die GBM teilt, steht eine Diskursgemeinschaft von ihren Weißbüchern bis zu "Kolonialisierung der DDR" von W. Dümcke und F. Vilmar. Dabei handelt es sich um objektive historische Sachverhalte. Sie sind auch nicht erledigt mit den neunziger Jahren. Erst im Heft 30 des Magazins der Süddeutschen Zeitung von 2010 heißt es über die Lage der Ostdeutschen in der Bundesrepublik: "Nur fünf Prozent der deutschen Elite kommen aus dem Osten. Kein Bundesminister, kein wichtiger Chefredakteur, kein DAX-Vorstand. Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung hat Deutschland ein Diskriminierungsproblem".

Daran ändern Zynismen nichts à la Konrad Weiß: "Zu dem, was die Ostdeutschen gewonnen haben, gehören Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Respektierung der Menschenrechte. Ich halte es für fatal, wenn dem der Verlust des Arbeitsplatzes oder soziale Unsicherheit entgegengehalten wird. Denn die 'sozialen Errungenschaften' der DDR hatten einen unverantwortlich hohen Preis."(4) Sie waren doch aber durch die Leistungen der Werktätigen in der DDR selbst finanziert worden. Die demonstrative Minderachtung sozialer Menschenrechte dient - allbekannt - der Verschleierung der imperialistischen Ausbeutung. Das Recht auf Arbeit und der gehandhabte Kündigungsschutz in der DDR waren eine humanistische Errungenschaft, die ihresgleichen sucht. Mit Demokratie meint die Bundesrepublik, wie ihre Kanzlerin Merkel erst jüngst bei der Vorstellung des "Allensbacher Jahrbuchs der Demoskopie" am 3. März 2010 offenbarte, nicht etwa Basisdemokratie, die man von Bürgerrechtlern doch so oft eingefordert fand. "Wir können im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik sagen, dass all die großen Entscheidungen keine demoskopische Mehrheit hatten, als sie gefällt wurden. Die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, die Wiederbewaffnung der NATO-Doppelbeschluss, das Festhalten an der Einheit, die Einführung des Euro und auch die zunehmende Übernahme von Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt - fast alle diese Entscheidungen sind gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt." Die Ostdeutschen haben also gewonnen, womit die Westdeutschen schon immer bestraft waren mit so einer Demokratie.

Als Gipfel der Diskriminierung der Ostdeutschen kann die Totalitarismusdoktrin herhalten.

Die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus, die man damit begründet, man wolle den Fehler der Nichtbestrafung und Reintegration der faschistischen Eliten in die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg beim Umgang mit dem Sozialismus nach 1990 nicht wiederholen, ist eine Politik - um mich an ein Wort von Marx anzulehnen - "welche ihre Niederträchtigkeit von heute durch ihre Niederträchtigkeit von gestern legitimiert, ...".(5)

Von Beyme präferierte einen kurzen deutschen Sonderweg gegenüber anderen postkommunistischen Staaten, um einen längeren zu vermeiden. "Das brutale Experiment der Teilung wurde durch ein relativ brutales Gegenexperiment überwunden." (S. 314) Aber - so Beyme unter Berufung auf Wiesenthal - das war "nicht nur die Grausamkeit gegenüber den Kolonisierten. Man war gleichsam hart gegen sich selbst und brutal gegen andere." (S. 306) Das ist doch wahrhaft "teutsch".

Und was das Stück Mondgestein betrifft? Her damit! Oder "Guter Mond Du gehst so stille ..."


Anmerkungen:

1) Siehe: Berliner Journal für Soziologie 3/1996, S. 305 f.
2) K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: MEW2 Berlin 1956, S. 379.
3) Hans Werner Golz, Editorial, ApuZ 30/31 2010, S. 2
4) Konrad Weiß, Zwanzig Jahre danach. In: ApuZ a.a.O., S. 5
5) K. Marx a.a.O., S. 380

Raute

Fakten und Meinungen

Horst Schneider

Die 10. Volkskammerwahlen der DDR am 18. März 1990 "ein Sieg der Selbstbestimmung"?

Als Günter Schabowski schusselig und irrtümlich am 9. November um 18:43 Uhr 1989 vor der internationalen Presse verkündete, dass die neue Reiseverordnung der DDR sofort, unverzüglich gelte (in Wahrheit sollte sie am 10. November 4:00 Uhr in Kraft treten), löste er eine Lawine von Ereignissen aus. Helmut Kohl fasste den weiteren Gang der Ereignisse 2009 in die Kurzformel "Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung".(1)

War mit dem 9. November 1989 mit Hilfe Gottes, des Papstes und Gorbatschows der 3. Oktober 1990 vorprogrammiert?

Waren die "friedlichen Revolutionäre" Wortführer im Kampf für eine reformierte DDR oder Stoßtrupp und fünfte Kolonne für Helmut Kohls Expansionspolitik? War die Wahl der 10. Volkskammer der DDR am 18. März 1990 die entscheidende Zäsur und das Wahlergebnis die Legitimation für die Verfechter der "Wiedervereinigung"?

Für Markus Meckel steht rückblickend fest: "Die freie Wahl am 18. März 1990 war das Ergebnis der Herbstrevolution des Jahres 1989, in welcher die SED-Herrschaft an ihr Ende kam. Gleichwohl stand sie ganz im Zeichen der deutschen Einheit."(2)

Was ist zwischen dem 9. November 1989 und dem 18. März 1990 Entscheidendes geschehen, was die Wende in der "deutschen Frage" herbeiführte? Helmut Kohl nannte viele Male sein Auftreten an der Ruine der Frauenkirche am 19. Dezember 1989 in Dresden als das entscheidende Datum. Dort habe er die DDR-Bürger und die Weltöffentlichkeit für seine Idee der raschen nationalen Einheit gewonnen. Die Stichworte waren: Die DDR-Bürger besitzen das Selbstbestimmungsrecht und die Deutschen seien ein Volk. Noch war offen, wie innen- und außenpolitisch eine Situation geschaffen wird, die praktische Schritte ermöglichte. Die Losung von "freien Wahlen" wurde zum Vehikel.

Während Hitler seinen, den Anschluss Österreichs durch den Volksentscheid "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" legitimieren ließ, sollte im März 1990 eine Wahl in der DDR ein Votum des Volkes zur entscheidenden Frage ersetzen. (Ein Volksentscheid fand in Karl-Marx-Stadt statt, um den Namen Chemnitz "demokratisch" wieder einzuführen.)

Helmut Kohl brauchte für seine Politik willige Helfer in der DDR. (Auch Hitler war ohne die Henleins nicht ausgekommen.) Es erwies sich für Kohl als unumgänglich, mit "Blockflöten" zu kooperieren, gegen die er anfangs große Vorbehalte hegte.

"Die Bundespartei CDU tat sich ... sehr schwer, sich mit den Schmuddelkindern der Blockflöten zusammenzutun." (Lothar de Maizière) Trotzdem begann die Kollaboration solcher Politiker wie Lothar de Maizière schon zeitig, aber geheim.

In Helmut Kohls "Erinnerungen" von 2009 liest man, dass er im Januar 1990 Partner in der CDU der DDR - im Bonner Jargon "Blockflöten" - suchte, um zu sichern, dass die PDS abgewählt und eine bürgerliche Mehrheit gesichert wird: "Das bürgerliche Lager musste zusammengeführt werden. Daran arbeitete ich mit unermüdlichem Einsatz, denn das war die einzige Chance, Mehrheiten zu gewinnen und so den Weg zur Wiedervereinigung zu ebnen. Von vielen Seiten ermutigt, entschied ich mich schließlich entgegen der Position des CDU-Generalsekretärs Volker Rühe, mit der Ost-CDU zu sprechen. In der zweiten Januarhälfte 1990 kam es zu einem ersten, geheimgehaltenen Treffen mit Lothar de Maizière, bei dem es mir vor allem darum ging, den Mann kennen zu lernen, der im November 1989 zum neuen Vorsitzenden der Ost-CDU gewählt und in Modrows Allparteienregierung stellvertretender Ministerpräsident geworden war."(3)

In weiteren Geheimgesprächen fand er weitere Leute wie Pfarrer Werner Ebeling und Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, mit denen er die "Allianz für Deutschland" zimmerte.

Schon im Februar 1990 ging die Einmischung des Kanzlers innere Angelegenheiten der DDR forsch weiter. "Mit logistischer Unterstützung der Unionsparteien begann unmittelbar nach ihrer Gründung der Wahlkampf der Allianz für Deutschland. Der Weg zur Wiedervereinigung sollte nach Auffassung der Allianz über den Beitritt der noch zu gründenden DDR-Länder zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes erfolgen."(4) Nicht nur die CDU-West, sondern auch der Staatsapparat der BRD wurde auf Hochtouren gebracht: "Natürlich wurden im Kanzleramt bereits entscheidende Weichenstellungen in Richtung staatlicher Einheit vorbereitet."(5)

Als die "Allianz für Deutschland" schließlich den Wahlsieg errungen hatte, war zu entscheiden, wer Ministerpräsident wird. Auch das schilderte Kohl offenherzig: "Drei Tage nach der erfolgreichen März-Wahl reiste Lothar de Maizière, begleitet von den Pfarrern Ebeling und Eppelmann, nach Bonn. Beim ersten Treffen der Allianzpartner im Kanzleramt musste zunächst einmal die Frage geklärt werden, wer Ministerpräsident der DDR werden sollte."(6)

Auch Eppelmann bot sich an, Stolpe fand vor Kohl keine Gnade. Lothar de Maizière wurde als Ministerpräsident von Kohls Gnaden bestimmt, ehe die "frei gewählten" Mitglieder der Volkskammer auch nur einen Mucks hätten sagen können.

Halten wir zunächst fest: Helmut Kohl bezeugt, dass der Regierungschef schon in Bonn bestimmt worden war, ehe die Abgeordneten etwas sagen konnten.

Es wird heute kaum mehr bestritten, dass der Wahlkampf in der DDR von Bonn aus gelenkt worden ist, also Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates war.

Gerhard Höppner urteilte 2010 rückblickend: "Diese Wahl war ... ganz stark von der Parteienlandschaft und den Persönlichkeiten des Westens beeinflusst."(7)

Nehmen wir einige Fakten:

Der Bundeskanzler hat vor der Wahl auf sechs Großkundgebungen im Osten der DDR vor mehr als einer Million Menschen gesprochen.
Am 5. März 1990 wurde in Berlin-Dahlem mit Hilfe von Lothar de Maizière, Wolfgang Schnur und Werner Ebeling die "Allianz für Deutschland" zusammengezimmert.
Die CDU setzte in der DDR 20 Millionen Flugblätter und 500.000 Plakate ein (die wahre Blüten des Antikommunismus waren).
Das Adenauer-Haus druckte 15 Millionen Exemplare einer sechszehnseitigen Wahlzeitung.
Die westdeutschen Medien hämmerten den DDR-Bürgern Kohls Versprechen ein: Keinem wird es schlecht gehen, vielen aber besser!
Egon Bahr nannte die Märzwahlen 1990 die schmutzigsten Wahlen, die er erlebt habe, Bärbel Bohley meinte: "Die Bevölkerung hat jetzt das Geld gewählt." Zwanzig Jahre nach der Wahl wurde offiziell verkündet: "Kohl war der wahre Sieger."(8)

Ehe wir uns Details aus der Arbeit der 10. Volkskammer zuwenden, muss der Frage nachgegangen werden, ob die Wahl eine Volksabstimmung über die "Wiedervereinigung" bedeutete. Lothar de Maizière behauptet noch 2010: "Letztendlich war die Wahl das Plebiszit für die deutsche Einheit."(9)

Elke Kimmel behauptete im März 2010: "Die durch die ersten freien Wahlen ins Amt gesetzte Regierung hatte von vornherein vor allem die Aufgabe, den Staat DDR möglichst gut abzuwickeln, ohne dass - mangels historischer Vorbilder - der zeitliche Horizont dafür klar war."(10)

Zunächst: Die "Allianz für Deutschland" hatte 1990 nicht die Mehrheit der Stimmen errungen, genau so wenig wie die Hitlerpartei 1932 und 1933. Verfassungsändernde Mehrheiten erhielt die "Allianz für Deutschland" erst, als die Sozialdemokraten ins Kabinett eintraten.

Die Frage, ob die Mehrheit der DDR-Bürger für oder gegen den "Anschluss" war, hätte sich durch einen Volksentscheid eindeutig klären lassen können.

Der Bundesrepublik standen die Erfahrungen beim "Anschluss" des Saarlandes zur Verfügung. Lothar de Maizière kannte, wie er später (in: Anwalt der Einheit S.101) zugab, die Prozedur beim Anschluss des Saarlandes an die BRD 1956. Er behauptet, dass es zwischen 1956 und 1990 eine "unvergleichliche Situation" gegeben habe, aber er meint, die Situation sei unvergleichbar - um zu vergleichen. 1956 seien zwei "systemgleiche Staatengebilde" vereinigt worden, 1990 konnte von gleichen Systemen keine Rede sein. 1956 habe es eine Volksabstimmung gegeben. Wer hat sie 1990 verhindert? Lothar de Maizière erinnerte sich an die "Friedensklausel" des Saarvertrages von 1956, "wo steht, dass nach der Vereinigung des Saarlandes mit der Bundesrepublik niemandem persönlich, beruflich oder sonst ein Nachteil daraus erwachsen solle, welche Haltung er im Vorfeld der Vereinigung zu dieser Sache bezogen hat." Warum wurde auf diese Methode, die viel Schaden von DDR-Bürgern abgewendet hätte, 1990 verzichtet? Reicht de Maizières Erklärung: "Eine Regierung, die in einer solch starken Weise alimentiert wird, hat natürlich relativ wenig Verhandlungsspielraum."

Für Helmut Kohl und Lothar de Maizière stand schon vor dem 18. März 1990 fest, dass der "Beitritt" nach Artikel 23 des Grundgesetzes erfolgen sollte, aber das war eine Verletzung des Grundgesetzes, das für die gegebene Situation den Artikel 146 vorsah, für Lothar de Maizière, der schon unter Hans Modrow den Eid auf die Verfassung der DDR geleistet hatte, Hochverrat. Die Souveränität der DDR war unverkäuflich.

Die 10. Volkskammer weist im Vergleich zu ihren 9 Vorgängern einige Merkwürdigkeiten auf, die hier nur in Fragen erwähnt werden:

Wo sind die Arbeiter und Bauern geblieben? Selbst in der PDS-Fraktion gab es, wie Gregor Gysi bestätigte, keinen einzigen.(11)
Wie erklärt sich der hohe Anteil von Pfarrern und Rechtsanwälten? Haben Vertreter dieser Berufe in der DDR schon bürgerliche Politologie studiert? (In der SPD-Fraktion gab es 16,5 % Theologen.)
Wie war es möglich, dass in der CDU-Fraktion von 165 Abgeordneten 92 schon vor 1990 Mitglied gewesen waren, also als "Blockflöten" galten, de Maizière (CDU-Mitglied seit 1956) trotzdem die jeweils Kohl-hörige Mehrheit erreichte?
Wie konnte es geschehen, dass in einem Staat, in dem die Atheisten statistisch überwogen, religiös gebundene Abgeordnete die Mehrheit erhielten? 70 Prozent der Wähler hatten keine religiöse Bindung, aber 64 Prozent der Abgeordneten gaben eine Konfession an.(12)

Nachdem die 10. Volkskammer am 18. März 1990 gewählt worden war, dauerte es bis zum 19. April, bis Lothar de Maizière seine Regierungserklärung abgab.(13) Auf reichlich fünf Seiten entwickelte er ein Konzept, das lückenhafter, nebulöser und realitätsfremder kaum sein konnte. Die Erklärung begann: "Die Erneuerung unserer Gesellschaft stand unter dem Ruf Wir sind das Volk! Das Volk ist sich seiner selbst bewusst geworden. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten haben sich die Menschen in der DDR als Volk konstituiert. Die Wahlen, aus denen dieses Parlament hervorgegangen ist, waren Wahlen des Volkes. Zum ersten Mal trägt die Volkskammer ihren Namen zu Recht."(14)

Was war unter "Erneuerung der Gesellschaft" zu verstehen? Waren die Bürger der DDR kein Staatsvolk gewesen? Wer hat denn in der DDR gewählt? War de Maizière nicht dabei?

Es folgten Danksagungen an jene, die die "Freiheit" gebracht hatten, Michail Gorbatschow, Vaclav Havel, bundesdeutsche Politiker, die Kirchen usw. Als Themen tauchten auf:

- die Gleichsetzung der Opfer von "Nationalsozialismus" und "Stalinismus",
- die Verurteilung der Staatssicherheit,
- die Überwindung von Bevormundung und Passivität, - die Vorzüge der "sozialen Marktwirtschaft",
- das Bekenntnis zum "Beitritt" gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes.

Kein Wort zu Volkseigentum und Treuhand, kein Wort zur drohenden NATO-Mitgliedschaft, kein Wort zur Verteidigung der Interessen der DDR-Bürger, ihres Eigentums und ihrer Arbeit. Und dann die rhetorische Frage mit den folgenden Sprechblasen: "Wir werden gefragt: Haben wir gar nichts einzubringen in die deutsche Einheit? Und wir antworten: Doch, wir haben! Wir bringen ein unser Land und unsere Menschen, wir bringen geschaffene Werte und unseren Fleiß ein, unsere Ausbildung und unsere Improvisationsgabe. Not macht erfinderisch. Wir bringen die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ein, die wir mit den Ländern Osteuropas gemeinsam haben. Wir bringen ein unsere Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, für Solidarität und Toleranz. In der DDR gab es eine Erziehung gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, auch wenn sie in der Praxis wenig geübt werden konnte. Wir dürfen und wollen Ausländerfeindlichkeit keinen Raum geben. Wir bringen unsere bitteren und stolzen Erfahrungen an der Schwelle zwischen Anpassung und Widerstand ein. Wir bringen unsere Identität ein und unsere Würde. Unsere Identität, das ist unsere Geschichte und Kultur, unser Versagen und unsere Leistung, unsere Ideale und unsere Leiden. Unsere Würde, das ist unsere Freiheit und unser Menschenrecht auf Selbstbestimmung."(15) Was ist aus den Erfahrungen, dem Volkseigentum und der Würde der DDR-Bürger geworden?

Lothar de Maizière, der vom 12. April bis zum 3. Oktober 1990 der letzte Regierungschef der DDR war, könnte zwanzig Jahre später das Fiasko seiner Politik eingestehen, vielleicht auch offenbaren, unter wessen und welchem Druck er gehandelt hat. Aber auch er will zu den "Siegern der Geschichte" gehören.

Seine Laudatio, die er zehn Jahre später auf sich selbst hielt, begann mit den Sätzen:

"Die Wahlen, die vom 18. März, waren nicht nur die ersten freien allgemeinen und geheimen Wahlen zu einer Volkskammer, die diesen Namen auch verdiente, sondern sie waren meiner Meinung nach das Plebiszit, der Auftrag zur Herstellung der Einheit Deutschlands. Alle die Parteien, die sich im Wahlkampf eindeutig zum Ziel Herstellung Deutsche Einheit bekannt hatten, gewannen an Zustimmung, während die, die einen eigenständigen, einen dritten Weg oder ähnliches gehen wollten, fast marginalisiert wurden. Die Bürgerrechtsbewegung wäre, wenn wir damals schon eine 5-Prozent-Sperrhürde gehabt hätten, nicht mehr in die Volkskammer gekommen. Insofern hat die Mehrheit der Wähler ganz klar erkannt, auch unsere sonstigen, insbesondere wirtschaftlichen Probleme, werden wir im Verbund mit dem reichen westdeutschen Bruder wesentlich besser lösen können als im Alleingang. Zu diesen Wahlen muss man auch etwas sagen, was vielen, die mit einer typisch altbundesdeutschen Geografie gelebt haben, nicht so klar ist. Es waren die ersten freien Wahlen seit 58 Jahren, d. h. seit 1932 in den ostdeutschen Ländern gewesen."(16)

An der Argumentation Lothar de Maizières ist manches bemerkenswert:

Eine Wahl in der DDR, in der es um Abgeordnete der DDR ging, fälscht de Maizière in ein Plebiszit für die "Wiedervereinigung" um. Die Wahlniederlage von Bündnis 90 erklärt er mit der Skepsis einiger Bürgerrechtler gegenüber dem Schweinsgalopp zur Einheit. Und er vergleicht die "freien" Wahlen vom März 1990 mit den Wahlen in Deutschland 1932.

Der Vergleich ist erlaubt und lehrreich, aber er hat für die Argumentation Lothar de Maizières erschreckende Konsequenzen.

Auch in der bürgerlichen Geschichtsschreibung ist unbestritten:

Die Wahlen von 1932 waren ein entscheidender Schritt zur "Machtübernahme" der Hitlerfaschisten Anfang 1933.
Das konservative Lager (Harzburger Front) unterstützte den Vormarsch der Hitlerbewegung.
Entscheidende Medien (UFA, Hugenberg-Konzern) propagierten die "nationale Revolution". (Anfang 2010 wurde eine Studie veröffentlicht, in der mit den Worten Fritz Pleitgens behauptet wird: "Die Einheit, sie hat sich zuerst auf dem Bildschirm vollzogen."(17)
Die Hochfinanz traf sich mit Hitler, um die Details seiner Regierungsübernahme festzulegen.
Mit Hitler sollte das große "Wirtschaftswunder" in Deutschland seinen Einzug halten.

Was trompetete Helmut Kohl?

- Nur die Partei der Kommunisten warnte: Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.

Noch einmal: Jene "freien Wahlen" 1932 waren ein tödlicher Schritt zu Faschismus und Krieg. Jeder mag selbst prüfen, welche Analogien es zwischen Deutschland 1932 und der DDR Anfang 1990 gab. Mindestens eins verkörpert Lothar de Maizière selbst: Er war der oberste Totengräber der DDR, derjenige, der die Krauses, die DDR-Bürger und ihr Eigentum, den Krupps bedingungslos auslieferte. Dass er deren Aufträge durchführte, ob in Befehlen, die er sich bei Kohl abholte, oder in Ratschlägen von West-Experten wie Thomas de Maizière in seinem Stab, ist hier belanglos.

Auch dass Lothar de Maizière von den wirtschaftlichen Entscheidungen nichts verstand, wie der Banker Edgar Most nachwies(18), ist keine Entschuldigung. Er ist freiwillig Premier geworden und konnte jederzeit aus Protest zurücktreten.

Lothar de Maizière schrieb zu seiner Entlastung: Es habe in der DDR kein einziges Lehrbuch für die Umwandlung der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft gegeben.

Diese Umwandlung von 1990 war in der DDR auch nicht vorgesehen. Aber es gab genügend Lehrbücher, die über das Wesen des Kapitals Auskunft geben. Jeder Student in der DDR lernte sie kennen. Lothar de Maizière hat in jahrzehntelanger mühsamer Denkarbeit auch zwei "Fehleinschätzungen" von 1990 gefunden. Er habe die "Anpassungslasten" unterschätzt. Er habe die "Mühseligkeiten sozialer Lernprozesse" unterschätzt. Die verheerenden Folgen der Treuhand-Politik, die "Abwicklung" der DDR-Elite, Arbeitslosigkeit und Bilderstürmerei hat der Ministerpräsident womöglich gar nicht gemerkt. In der zitierten Arbeit "Mandat für deutsche Einheit" gibt es auch eine Analyse der Arbeit der 10. Volkskammer von Dietrich Herzog, die den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erhebt.(19)

Der Politikwissenschaftler Dietrich Herzog bescheinigt der 10. Volkskammer in seinem einleitenden Kapitel "Ein verantwortungsbewusstes und tüchtiges Parlament zu sein."(20)

Was hat die Mehrheit der Abgeordneten und die Regierung Lothar de Maizières zu verantworten?

- Sie verletzten die Verfassung der DDR, verzichteten auf eine neue Verfassung, die von "Bürgerrechtlern" um Ullmann vorbereitet worden war und drapierten ihre Gesetzesverletzungen mit "Verfassungsgrundsätzen", die am 17. Juni 1990 mit 269 Stimmen angenommen wurden.

- Sie stimmten zu, dass das Modrowschen Treuhandgesetz, welches vom Runden Tisch bestätigt worden war, im Juni 1990 in ein Gesetz zur Enteignung der DDR-Bürger umgefälscht wurde. Unter der Modrow-Regierung ging es um die Wahrung des Volkseigentums und seine Verwendung im Interesse der Mehrheit des Volkes.

- Das "neue" Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990 hieß "Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens". Es legte im Artikel 1 fest: "Das volkseigene Vermögen ist zu privatisieren." Werner Schulz nannte das treffend eine "Enteignung der Bürger". Verfassungsbruch war die Rekapitalisierung des Volkseigentums allemal. In den Artikeln 9 bis 16 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968, die von der Mehrheit der Bürger in einer Volksabstimmung bestätigt wurde, ist die Stellung der Volkswirtschaft, der Platz des sozialistischen Eigentums, das Recht auf persönliches Eigentum, die Unzulässigkeit von Privateigentum an Naturschätzen festgelegt. Da es sich bei diesen Festlegungen um die Überwindung und Verhinderung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse handelt, war der von der Treuhand geführte Privatisierungsprozess eine Verletzung der Verfassung der DDR und objektiv ein Verrat an den Interessen der DDR-Bürger. Die Abgeordneten der 10. Volkskammer, die diesen Prozess unterstützen, verletzten die Verfassung, die für jeden Bürger der DDR bindendes Gesetz war.(21)

- Obwohl - in diesem Falle - bundesdeutsche Politiker wie Richard von Weizsäcker, Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Egon Bahr, Willy Brandt und andere davor gewarnt hatten, die "Büchse der Pandora" zu öffnen(22), machte Lothar de Maizière das Ministerium für Staatssicherheit zum Thema, das in der 10. Volkskammer zum Spitzenthema avancierte und seine düsteren Schatten bis in die Gegenwart wirft.

- Es war Angelika Barbe, die am 20. September feststellte: "Bisher hat dieses Parlament mit erpressbaren Stasi-Mitarbeitern unter den Parlamentariern und Regierungsmitarbeitern fragwürdige Entscheidungen getroffen."(23) Wolfgang Ullmann hatte festgestellt: "Die Bastille des Stalinismus ist niederzureißen."(24), aber die Frage: Wer läuft am Band westlicher Geheimdienste, wurde nicht systematisch geprüft. Die "Rosenholz"-Akten blieben Erpressungspotenzial in den Händen der USA-Politik. Schon 1990 wurde von einigen Abgeordneten ausgesprochen und getadelt - vor allem von Gregor Gysi -, dass es sich negativ auswirken wird, wenn alle Errungenschaften der DDR-Bürger im Orkus des Vergessens verschwinden. Kein Gesetz, keine Verordnung, keine Regelung der 10. Volkskammer hatten Wirkung über den 3. Oktober 1990 hinaus - außer einer, der Ächtung der Staatssicherheit. Im ND vom 13./14. März 2010 verkündete Thoralf Barth: "Die Bürgerrechtler haben uns eine weltgeschichtliche Errungenschaft vererbt: Den erfolgreichen Kampf um die Auflösung der Staatssicherheit." Keiner durfte nach 1990 mehr mit der Macht spielen und die Macht missbrauchen als der Bruder in Christo Joachim Gauck. Wie viele Opfer gehen auf sein Konto? Ist die Entstehung der Gauck-Behörde ein Ruhmesblatt des Wirkens der 10. Volkskammer?(25)

- Die 10. Volkskammer und die Regierung de Maizière schufen keine Garantien, dass vom Territorium der DDR weiterhin Frieden ausgeht. Am 24. September 1990 erfolgte der Austritt der DDR aus dem Warschauer Vertrag, während sich Helmut Kohl mit der Forderung durchsetzte, dass ganz Deutschland Mitglied der NATO wird. Mit der Ostausdehnung der NATO ist die geostrategische Situation für Russland schlechter als für die Sowjetunion vor 1990.

- Wer die Regierungserklärung de Maizières vom 19. April 1990 unter dem Aspekt prüfte, welches außenpolitische Konzept die DDR verfolgen würde, fand nichts. Eine Konzeption für die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gab es nicht. Für das Wirken des Pfarrers Markus Meckel in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gibt es unterschiedliche Zeugen und Urteile, aber nirgends Ruhm und Lob oder wenigstens Respekt. Welche außenpolitische Strategie schlug die Regierung Lothar de Maizières der 10. Volkskammer vor? Findet der Leser eine Orientierung? Gab es wenigstens Vorgaben für die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, die - ohne die DDR bereits begonnen hatten? Auch zwanzig Jahre später ergeben Analysen, dass die DDR 1990 auf außenpolitische Aktivitäten verzichtete.(26)

Markus Meckel holte sich seine Direktiven im Privathaus Genschers in Bonn. Dass er sein Vorgehen mit Schewardnadse (und umgekehrt) abstimmte, ist aus den Dokumenten nicht ersichtlich. Markus Meckel hat seine eigene Rolle als Außenminister der DDR in "Die Außenpolitik der DDR nach der freien Wahl am 18. März 1990" beschrieben. Hans-Dietrich Genscher hat sich in seinen "Erinnerungen" und zu Meckels "Selbstbewusst in die Deutsche Einheit" geäußert.(27)

Der Pfarrer, Sozialdemokrat und Außenminister Markus Meckel postulierte: "Von zentraler Bedeutung war für die USA die NATO-Zugehörigkeit des vereinten Deutschland. Sie war das wichtigste Instrument der Führungsrolle der USA in Europa. Ein Austritt Deutschlands hätte die Bedeutung der NATO stark herabgesetzt und den Einfluss der USA in Europa wesentlich eingeschränkt. So unterstützte Präsident Bush aus eigenem nationalen Interesse heraus Helmut Kohls Konzeption einer möglichst schnellen Vereinigung - natürlich zu den eigenen Bedingungen."(28) Ernst Schumacher hatte Konrad Adenauer "Kanzler der Alliierten" genannt, was darf man über Meckel sagen? Welche Folgen hat die Ausdehnung der NATO-Mitgliedschaft auf das Territorium der DDR?

Eine Erkenntnis Meckels scheint nachdenkenswert: "Die DDR als eigenständiger Akteur - oder besser: mit eigenständigen Akteuren im Vereinigungsprozess kommt normalerweise nicht vor. Vieles ist hier bis heute auch nicht erforscht. Die Darstellungen und Dokumentationen der alten Bundesregierung lassen diese Dimension zu großen Teilen weg."(29) "Abschließend lässt sich vielleicht folgendes sagen: Die Außenpolitik der demokratischen DDR war nur in ganz wenigen Hinsichten erfolgreich."(30)

Meckel bedauert rückblickend seine Rolle von 1990 nicht. Dass, was Markus Meckel Polen zubilligte, eine völkerrechtlich anerkannte Westgrenze, war durch den Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl schon 1950, also vierzig Jahre früher, erfolgt. Kohl/Genscher mussten also lediglich tun, was sie jahrzehntelang abgelehnt und verketzert hatten, den Schritt der DDR zu bestätigen. Der Vertrag von Zgorzelec war Außenpolitik der DDR gewesen.

Wer bewusster DDR-Bürger gewesen war, darf fragen:

Wie hat Pfarrer Meckel seine Interessen verteidigt? Welche Verhandlungsdirektive hatte er von der Regierung? Wie hat er die Trommel gerührt oder die Posaune geblasen, um wenigstens den NATO-Beitritt der DDR zu verhindern? Auf der USA-Seite wurde er, wie wir von Außenminister James Baker und Bush-Beraterin Condoleezza Rice wissen, kaum wahrgenommen, nicht einmal als "Störenfried".(31)

In Hans-Dietrich Genschers Erinnerungen taucht Markus Meckel zwölf mal auf. Aus der Sicht Genschers war bemerkenswert,

dass Meckel bei seinem ersten Ausflug nach Bonn sein Team überwiegend aus Bundesbürgern rekonstruiert hatte,
dass sein Amtskollege aus Berlin am 24. April 1990 dem "Einigungs"-Prozess nach Artikel 23 des Grundgesetzes zustimmte,
dass Meckel sich am 16./17. Juli in Paris für gute Beziehungen zu Polen einsetzte und ein atomwaffenfreies Gesamtdeutschland forderte.

Da Meckel am 20. August 1990 sein Amt verlor, war er bei den Schlussverhandlungen und der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages nicht mehr dabei.

Die DDR war noch Mitarbeiter des Zwei-plus-Vier-Vertrages, in dem sich das vereinte Deutschland zur Friedenspflicht bekennt. Aber mit ihrer Existenz endete auch die Friedensperiode für Deutschland.

Am 18. März 2005, am 15. Jahrestag der Wahl der 10. Volkskammer, erklärte Wolfgang Thierse vor dem Bundestag: "Die 10. Volkskammer war im besten Sinne des Wortes eine Schule der Demokratie und zugleich Arbeitsparlament."(32)

In der gleichen Rede teilte er mit, dass nach einer Studie der TU Dresden nur 4 Prozent der Deutschen den Parteien, 11 Prozent dem Bundestag trauen.

Eine Schule der Demokratie kann das also 1990 nicht gewesen sein.

Und von der Arbeit der 10. Volkskammer, den Gesetzen, Beschlüssen und Erklärungen, ist nichts übrig geblieben als die Forderung, der Bundestag solle die Gauck-Behörde per Gesetz installieren. Sie ist inzwischen die schärfste Waffe der Rekapitalisierung des Ostens.

Immerhin erhielt Gregor Gysi Beifall über die PDS-Fraktion hinaus, als er nach der Abstimmung am 22. August 1990 über den "Einigungsvertrag" erklärte:

"Frau Präsidentin! Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 ... (Jubelnder Beifall bei der CDU/DA, der DSU, teilweise bei der SPD) beschlossen. Ich bedaure, dass die Beschlussfassung im Hauruckverfahren über einen Änderungsantrag geschehen ist und keine würdige Form ohne Wahlkampftaktik gefunden hat; denn die DDR, wie sie auch immer historisch beurteilt werden wird, war für jeden von uns - mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen - das bisherige Leben.

So wie wir alle geworden sind, sind wir hier geworden, und ich bedaure, dass der Einigungsprozess zum Anschluss degradiert ist. Aber ich bin davon überzeugt, es gibt auch neue Chancen. Noch können wir die Zeichen auf Aussöhnung statt auf Feindschaft setzen, und das einige Deutschland braucht eine starke demokratische Regierung, aber auch eine starke demokratische Opposition. Zu letzterem will meine Partei einen wichtigen und würdigen Beitrag leisten. - Ich danke schön. (Beifall, vor allem bei der PDS)"(33)

Die Mehrheit der Volkskammer hatte das Selbstbestimmungsrecht der DDR-Bürger an die Krupps verkauft und verraten.


Anmerkungen:

1) Helmut Kohl: Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung. Meine Erinnerungen. München 2009
2) Markus Meckel: Selbstbewusst in die deutsche Einheit. Berlin 2001, S.135
3) Helmut Kohl: Vom Mauerfall, a.a.O., S.180
4) Ebenda, S.184
5) Ebenda, S.195
6) Ebenda, S.231
7) Das Parlament 11/2010
8) Peter Pagel: Kohl war der wahre Sieger. Das Parlament 11/2010
9) Das Parlament 11/2010
10) Elke Kimmel: Neue Gesetze im Stundentakt, Das Parlament 11/2010
11) Gregor Gysi: Das Profil unserer Fraktion - Positionen und Bilanz in Misselwitz / Schröder (Hrsg.): Mandat für die deutsche Einheit. Opladen 2000, S. 177 f.
12) Statistische Angaben in Christopher Hausmann: Biografisches Handbuch der Volkskammer der DDR (1990) Köln, Weimar, Wien, 2000, S. XV f.
13) Zitiert nach "Archiv für christlich-soziale Politik"
14) Ebenda, S. 1
15) Ebenda, S. 5
16) Lothar de Maizière. Wie alles begonnen hat, in Richard Schröder / Hans Misselwitz (Hrsg.): Mandat für die deutsche Einheit, Opladen 2000, S. 67
17) Michael Meyen: Die ARD in der DDR, aus Politik und Zeitgeschichte 20/2010, S. 28
18) Edgar Most: Fünfzig Jahre im Auftrag des Kapitals, Berlin 2009
19) S. o., S. 71, Wie es begonnen hat
20) Dietrich Herzog: Die 10. Volkskammer der DDR: Ein verantwortungsbewusstes und tüchtiges Parlament, in Mandat für deutsche Einheit, a.a.O., S. 11 f.
21) Christa Luft: Treuhandreport, Berlin/Weimar 1992
22) Eine besonders eindrucksvolle Warnung "Niemand kann ein ganzes Volk durchleuchten" von Gräfin Dönhoff in DIE ZEIT, 10.09.1993
23) Protokoll der 10. Volkskammer, 20.9.1990, S. 1754
24) Protokoll der 10. Volkskammer, 13.9.1990, S. 1567
25) Sven Dorlach: Der Fall Gauck, Berlin 1996; Jelpcke/Maurer/ Schröder (Hrsg.): Die Eroberung der Akten. Das Stasi-Unterlagengesetz, Entstehung, Folgen, Analysen, Dokumente. Mainz 1992; Siegfried Suckut, Jürgen Weber (Hrsg.): Stasi-Unterlagen zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003
26) Jennifer A. Yoder: Die demokratische DDR in der internationalen Arena, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11/2010, S. 27 f.
27) Markus Meckel: Selbstbewusst in die deutsche Einheit, Berlin 2001
28) Ebenda, S. 138/139
29) Ebenda, S. 123
30) Ebenda, S. 147
31) In "Sternstunde der Diplomatie" wird er nicht einmal erwähnt.
32) Wolfgang Thierse: Rede in Deutscher Bundestag, 18.3.2005,
33) Deutscher Bundestag, Protokoll der 10. Volkskammer, S. 1382


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- CDU-Werbebroschüre 1990
- Textausriss aus DEUTSCHE LEHRERZEITUNG 30/1990, Berlin
- Klebezettel an einem Lampenmast in Potsdam, 1990
- Fassade in der Alten Schönhauser Straße, Berlin, 1990
- Karikatur von Klaus Vonderwerth in NEUE BERLINER ILLUSTIERTE 17/1990

Raute

Fakten und Meinungen

Das Präsidium des OKV*, des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden, dem auch die GBM angehört, veröffentlicht nachstehende

Wortmeldung zum 20. Jahr der größer gewordenen Bundesrepublik

Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt,
lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland


War das nicht der Ruf der aus der Emigration und den Konzentrationslagern zurückgekehrten Antifaschisten, der illegalen Kämpfer, der Kriegshinterbliebenen, der Opfer, aber auch der zur Besinnung gekommenen Mitläufer? "Deutschland über alles" - inzwischen Albtraum der Geschichte. "Lass uns dir zum Guten dienen" dagegen ein Versprechen, Deutschland zu einen und zu bessern. Als das in der DDR zur staatlichen Hymne wurde, war der Traum schon brüchig geworden zwischen Restauration im Westen und Bruch mit Krieg und Faschismus im Osten, zwischen Fütterung der alten Eliten dort und Mangel an allem hier, zwischen zwei Währungen, zwei Systemen, zwei Blöcken, zwei Ländern, zwei Idealen, zwei Entwürfen für die Zukunft.

Wer sich für die DDR engagierte, tat dies in der Überzeugung, dem Guten in Deutschland zu dienen, hat der jungen Republik viel von seiner Lebenskraft gegeben. Bausteine dieser Politik waren Bodenreform und Neulehrer, Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher, Arbeiter- und Bauernfakultäten, Volkseigentum, gleiche Rechte für jung und alt, für Frauen und Männer.

Die DDR brach das Bildungsprivileg. Von der Vorschuleinrichtung bis zum Abschluss der allgemeinen Schulbildung für die Kinder aller sozialen Schichten gemeinsamer Unterricht, Erwerb von Wissen und sozialer Kompetenz. Der Staat schuf Bildungseinrichtungen aller Stufen, förderte die Wissenschaften und subventionierte Theater und andere Kultureinrichtungen. Er steckte Geld in Arbeitsplätze statt in Arbeitslosigkeit. Die DDR duldete keinen Neofaschismus und keinen Fremdenhass. Die Jugend ging nach der Ausbildung zur Arbeit und nicht zum Arbeitsamt.

Die DDR ließ keine Brücken in Jugoslawien oder Tanklastzüge in Afghanistan bombardieren. Sie führte nie einen Krieg. Solange sie existierte, ging von ganz Deutschland kein Krieg aus. Diese Friedensperiode wirkte über ein halbes Jahrhundert bis zum Jahr 1999. Niemand kann uns, die an diesen Umwälzungen mitgewirkt haben, den Stolz darauf nehmen. Ostalgie, als Modewort genutzt, soll heute Erinnerung und Besinnung auf die Werte der DDR denunzieren. Die DDR ist in der Zeit des kalten Krieges, im Kampf der Systeme zerbrochen. Der Traum vom sich entwickelnden Sozialismus zerschellte auch an zu geringer Arbeitsproduktivität, an unterentwickelter Demokratie und beschränkter Möglichkeiten zur Selbstbehauptung des Einzelnen in der Gesellschaft. Die Wirklichkeit entfernte sich vom Ideal mehr, als viele Bürger hinnehmen wollten. Vertrauensverlust verhinderte die Prüfung der Alternative "Für unser Land". Unsere Mitschuld an dieser Niederlage haben wir zu tragen.

Die DDR starb in den Werbesendungen von Politik und Medien aus dem Westen. Gorbatschows Politik gab ihr zusätzlich den Todesstoß. Mit der Einverleibung der DDR glitt Helmut Kohl vor zwanzig Jahren auf den Einheitsthron, die DDR allerdings nicht in die versprochenen blühenden Landschaften. Dafür sorgte in erster Linie die durch die Treuhand umgesetzten Profitinteressen des Kapitals, durch Deindustrialisierung der Wirtschaft, Vernichtung großer Teile der Landwirtschaft und der Wissenschaft.

Seit die DDR als soziales Korrektiv ausfiel, steigt die soziale Kälte in der Bundesrepublik. Unbehelligt von staatlicher Politik reißen globalisierte Ausbeutung und skrupellose Finanzspekulation, Kriegs- und Umweltschäden und die daraus resultierenden Staatsschulden die heutige vor und künftige Generationen in den Abgrund. Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer obszöner. Klientelparteien veruntreuen die Kassen des Gemeinwohls. Aber der Widerstand wächst. Soziales Interesse aus fast allen Spektren der Gesellschaft drängt die bürgerlichen Parteien zur Diskussion über die größten Auswüchse ihrer Politik. Würden diese nur so energisch geführt wie die Entwertung von DDR-Biografien samt der pauschalen Hatz gegen Mitarbeiter von Sicherheitsorganen der DDR, mit denen Dampf aus der eigenen Problemküche umgeleitet wird.

Bundeskanzlerin Merkel verkündete am 9. November 2009, man könne keinen Schlussstrich unter die DDR-Geschichte setzen. Nichts dürfe vergessen werden. Dem stimmen wir ausdrücklich zu. Aber, Denunziationen und Dämonisierung der DDR sind keine Aufarbeitung ihrer Geschichte. Sie verdecken vielmehr die zukunftsrelevanten Lehren der Nachkriegsentwicklung beider deutscher Staaten. Sie sollen vergessen machen, dass der kalte Krieg auch in der alten Bundesrepublik seine Opfer forderte. Wir haben das Verbot der KPD und anderer demokratischer Organisationen sowie die berufliche Ausgrenzung ihrer Mitglieder nicht vergessen.

Es ist an der Zeit, die Lebensleistung von DDR- und Altbundesbürgern gleichermaßen zu respektieren. Das heißt auch: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Rentenangleichung zwischen Ost und West, Abschaffung aller Strafrenten, Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen.

Im Jahre 20 einer größer gewordenen Bundesrepublik sind die Blicke nüchterner geworden. Die DDR taugt nicht als Aschenputtel deutscher Geschichte. Ihre Werte sind lebendiger als ihr Zerrbild vorgibt. Umbesinnung auf ihre tatsächliche geschichtliche Bewertung wäre ein Weg zur gelebten Einheit.

Und der Zukunft zugewandt.


Unterschriften von Persönlichkeiten, die sich mit dem Inhalt solidarisieren und ihn unterstützen. Bei Redaktionsschluss Anfang August hatten Egon Krenz, Hans Modrow und Hans Reichelt schon unterschrieben.

(*) Erratum
aus Icarus 4/2010 S. 51

Die im Icarus 3/2010, S. 11 vorgestellte "Wortmeldung zum 20. Jahr der größer gewordenen Bundesrepublik" ist ein ausschließlich von ihren Erstunterzeichnern autorisierter Text. Das OVK ist nicht, wie man aus der Autorenzeile schließen könnte, der Verfasser.

Raute

Fakten und Meinungen

Georg Grasnick

Demokratie-Apostel in Aktion

40 Jahre Existenz und Wirken der DDR machen den kalten Kriegern nach wie vor zu schaffen. Obwohl der erste Arbeiter- und Bauernstaat in der deutschen Geschichte seit zwei Jahrzehnten nicht mehr existiert, sinnen die Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches nach immer neuen Verleumdungen der DDR.

Als politisches Glaubensbekenntnis für die freiheitlich-demokratische Grundordnung und Beweis der Regierungsfähigkeit einer Partei wurde im Vorfeld der Regierungsbildung in Nordrhein-Westfalen von der LINKEN verlangt, die DDR als "Unrechtsstaat" zu verurteilen. Völkerrechtler können mit diesem Begriff zwar nichts anfangen. Aber was soll's - schließlich geht es darum, die Bürger des Landes zu Gefangenen einer Ideologie zu machen, die den Antikommunismus für die Systemabsicherung benötigt. Übrigens - die Bundesregierung hat kürzlich in Beantwortung einer Anfrage der Bundestagsfraktion der LINKEN zur Begrifflichkeit "Unrechtsstaat" wissen lassen, "es gehe zumeist darum, die politische Ordnung eines Staates, der als Unrechtsstaat gebrandmarkt wird ..., moralisch zu diskreditieren". Platte, moralisierende antikommunistische Propaganda ist also gefragt. Zugleich werden die politischen Apostel von Staat und Massenmedien nicht müde, die BRD als Hort der Demokratie zu preisen.

Schon im Mai 1949 wurde im Artikel 20 des verordneten Grundgesetzes des westdeutschen Separatstaates der Anspruch erhoben, dass dieser "ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" sei. Ein Anspruch, der bis heute aufrechterhalten wird. Herausbildung und politische Entwicklung der BRD bieten bei näherer Betrachtung ein anderes Bild.


Aggressionsbereitschaft statt Einheit

Die Nachkriegsordnung war nach den furchtbaren Verbrechen, die das faschistische Deutschland der Menschheit mit dem zweiten Weltkrieg zugefügt hatte, im Potsdamer Abkommen der Siegermächte fixiert worden. Es setzte das Vermächtnis der Völker nach opferreichem antifaschistischen Befreiungskampf gegen die faschistische Barbarei in verbindliche Grundsätze. Seine Verwirklichung im Leben unseres Volkes sollte vor allem die Gewähr schaffen, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehe.

Doch nach dem Tod von US-Präsident Roosevelt erfolgte mit dessen Nachfolger Truman eine Abkehr von den Prinzipien und Zielen der Anti-Hitler-Koalition. An deren Stelle trat die Strategie des "Roll back" des Kommunismus, trat der kalte Krieg. In einer Direktive des Nationalen Sicherheitsrates der USA vom August 1948 hieß es: "Unser Ziel ist der Sturz der Sowjetmacht. Von diesem Standpunkt aus könnte man argumentieren, dass solche Ziele ohne Krieg nicht zu erreichen sind. Folglich erkennen wir damit an: Unser Endziel in Bezug auf die Sowjetunion sind der Krieg und der gewaltsame Sturz der Sowjetmacht."

Die US-Administration benötigte dafür u. a. die im Ergebnis des Krieges in Europa gewonnenen Positionen. Westdeutschland spielte dabei eine bedeutende Rolle. Und zwar als "vorgeschobener Brückenkopf" und als "Bollwerk gegen den Osten".

Konrad Adenauer erwies sich für diese Politik und Zielsetzung als getreuer Gefolgsmann. Die "Roll back"-Strategie begriff er als günstige Möglichkeit, auch die Interessen und Ziele des deutschen Imperialismus zu vertreten und zu verfolgen.

Adenauers Kanzlerwort "lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland nur halb" war als Etappenziel zu verstehen. Erst musste die Restauration der alten Macht- und Besitzverhältnisse erfolgt und die Remilitarisierung des Landes vollzogen sein. Adenauer hat gegen den Einheitswillen breiter Teile der westdeutschen Bevölkerung vom ersten Tage der Existenz des westdeutschen Separatstaates keinen Hehl daraus gemacht, dass es ihm um die "Befreiung der Sowjetzone" ging. Die Vorschläge, ob von der Sowjetunion oder der DDR, die Einheit Deutschlands herzustellen und auf Aufrüstung und NATO-Mitgliedschaft zu verzichten, wies er beständig als "kommunistisches Blendwerk" zurück. In dem Jahr, als die Sowjetunion den Vorschlag für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland unterbreitete, erklärte der BRD-Bundeskanzler in Großmannssucht die wahnwitzigen Pläne des Imperialismus: "Erst wenn der Westen stark ist, ergibt sich ein wirklicher Ausgangspunkt mit dem Ziel, nicht nur die Sowjetzone, sondern das ganze Europa östlich des Eisernen Vorhanges zu befreien."


Staatsaufbau mit altem Nazi-Kader

Bleiben wir beim Potsdamer Abkommen. Es hatte festgeschrieben, die Nazipartei und ihre Gliederungen sowie die von ihr kontrollierten Organisationen "zu vernichten ... und zu gewährleisten, dass sie in keinerlei Form wiederauferstehen ..."

Die Entnazifizierung in den Westzonen, von den Besatzungsmächten dirigiert, verlief, wie der Volksmund urteilte, nach dem Prinzip, die "Kleinen hängt man, ...". Die Großen ließ man nicht nur laufen (einige wurden verurteilt und bald wieder auf freien Fuß gesetzt), sie wurden recht schnell als Experten im Kampf um den Erhalt des vom Kommunismus bedrohten Abendlandes benötigt.

Vier Jahre nach Potsdam, bei Gründung der BRD, setzte sich die Mehrzahl der Abgeordneten des ersten Bundestages aus ehemaligen Mitgliedern der NSDAP, auch der SA, zusammen. Dem ersten Adenauer-Kabinett gehörten mehr Nazis an als dem ersten Kabinett Hitlers. Als Adenauers Graue Eminenz und Chef des Bundeskanzleramtes fungierte Hans Globke, Verfasser von Diktaturgesetzes des faschistischen Reiches, Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze, die im Eichmann-Prozess als "Grundgesetze für die Endlösung der Judenfrage" bezeichnet wurden.

In den ersten Bundestag war 1949 auch die neofaschistische Deutsche Reichspartei eingezogen. Neofaschistische Organisationen und Publikationen nutzten eifrig die demokratischen Gegebenheiten des Staatswesens.

In den ersten beiden Jahrzehnten der BRD konnten es ehemalige Mitglieder und Funktionäre der Nazi-Partei wie Carstens und Lübke zum Bundespräsidenten, oder Kiesinger zum Bundeskanzler oder Lemke, Goppel und Filbinger zum Ministerpräsidenten bringen. Zahlreiche Altnazis avancierten zu Bundesministern. Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, hatte 1933 im Reichstag für die Ermächtigungsgesetze der Faschisten votiert.

Zu den engsten Beratern Adenauers gehörten der Direktor der durch Kriegsverbrechen schwer belasteten Deutschen Bank Abs sowie einer der Totengräber der Weimarer Republik und Berater Görings, der Kriegsverbrecher Flick.

1951 sicherte das 131er Gesetz Nazis, ehemaligen Angehörigen faschistischer Sicherheitsdienste (SD) und der Gestapo, Beamten von gestern und Berufssoldaten die Wiedereingliederung in den Staatsdienst.


"Generale des Teufels" wieder gefragt

Im Potsdamer Abkommen war die volle Entmilitarisierung Deutschlands festgelegt: "Der Generalstab, das Offizierskorps, das Reservistenkorps, die Kriegsschulen, die Kriegerverbände und alle sonstigen militärischen und halbmilitärischen Organisationen ... (sind) vollständig und endgültig aufzulösen ..."

Doch schon Anfang 1946 waren die in Raub- und Ausrottungskriegen versierten Hitler-Generale wieder gefragt. Der US-Generalstab führte 150 Generale der Hitler-Wehrmacht zusammen, unter ihnen der ehemalige Chef der Nazi-Wehrmacht Halder. Ihr Auftrag: Die Erfahrungen der Ostfeldzüge zu Papier zu bringen.

In seinen "Erinnerungen" erwähnt Adenauer eine Besprechung mit den Hohen Kommissaren, die am 5. April 1951 stattfand: "Zum Schluss der Besprechung bat ich die Hohen Kommissare, Folgendes zu prüfen: Jede Armee habe ihre eigenen Methoden; das gelte insbesondere von den Russen. Nun habe weder ein amerikanischer, noch ein französischer noch ein englischer General mit den Russen gekämpft. Die deutschen Generale hätten darin Erfahrung. Ich bat zu erwägen, ob es nicht gut wäre, wenn diese Experten mit ihrem sachverständigen Urteil von den maßgeblichen westalliierten Stellen herangezogen würden."

Da diese deutschen Kriegsverbrechergenerale schon seit Jahren in den Diensten der US-Army standen, konnte Adenauers Erwägung nur auf den Ernstfall, auf den von den deutschen Militaristen anvisierten "Tag X", gemünzt sein.

Bald nach Adenauers Erwägungen wurde von seiner Regierung das "Amt Blank", ein Vorläufer des späteren Verteidigungsministeriums, geschaffen. 180 Stabsoffiziere der Wehrmacht mit ihrem Sachverständigenurteil hatten den Auftrag, intensiv die Remilitarisierung Westdeutschlands zu planen und den Aufbau der Bundeswehr vorzubereiten. Jeder zweite dieser Offiziere war im Hitlerschen Generalstab tätig gewesen. Die "Generale des Teufels" Heusinger, Speidel, Foertsch, Kammhuber, Trettner, Manteuffel und andere bauten die Bundeswehr auf. In Nürnberg war der faschistische Generalstab der Vorbereitung und Durchführung des zweiten Weltkrieges sowie zahlreicher Aggressionen und Überfälle auf andere Völker angeklagt und für schuldig befunden worden.


Altes Feindbild aufgefrischt

Zügig wurde, um militärische Stärke zu erreichen, die Bundeswehr aufgebaut und in die NATO integriert. Das Feindbild Kommunismus wurde unaufhörlich über die Medien und mit einer von Verlagen großzügig angebotenen Kriegsliteratur in die Massen getragen.

Zum einen musste der Widerstand, den die Bewegung gegen die Remilitarisierung leistete, gebrochen werden. Zum anderen konnte die herrschende Politik an die in vielen Köpfen noch vorhandene faschistische Ideologie und antikommunistische Grundstimmungen anknüpfen.

Mit der Lüge von der "Gefahr aus dem Osten" und der daraus abgeleiteten "erforderlichen Verteidigung der westlichen Zivilisation vor der bolschewistischen Gefahr" wurde das Feindbild geschärft und die Aufrüstung als Erfordernis für eine wehrhafte Demokratie angekurbelt. Der BRD-Viersterne-General und Stellvertretende Oberkommandierende der NATO-Streitkräfte in Europa, Schmückle, nannte die Faustregel: "In Bündnissen beeinflussen Militärs die Rüstung durch die Darstellung der Bedrohung. Dadurch kann, wenn die Stärke der Gegenseite übertrieben und zugleich eine unmäßige militärische Antwort empfohlen wird, weiterer Auftrieb für die Rüstung entstehen."

Das mit der Bedrohungslüge betriebene geistige Bombardement auf die Bevölkerung nahm in den 1960er Jahren schizophrene Züge an. Die "Wehrkunde" stellte in ihrem Septemberheft 1964 fest: "Im psychologischen Krieg, in dem wir stehen, entwirft die Politik die strategische Planung und führt den Einsatz der größeren Einheiten durch ... Der heiße Krieg ist dann nur noch ein Teil davon.

Der psychologische Angriff ist der Krieg der Gegenwart ..., die psychologische Kampfführung derjenige Teil der militärischen Aufgaben, dessen Rüstungselemente heute schon für den sofortigen Einsatz benötigt werden." Die psychologische Kriegführung erreichte nach einer Phase der relativen Entspannung in den 1970er Jahren eine neue Hochkonjunktur. Die Stuttgarter Zeitung charakterisierte am 1. Februar 1980 die Stimmung in der Öffentlichkeit mit den Worten: "Der Strom des Nationalismus, Patriotismus und Antikommunismus ist so reißend geworden, dass er so gut wie alle Stimmen, die zur Mäßigung, Vorsicht und Vernunft raten, mit sich schwemmt ... Die Krisenstimmung ist so angeheizt, dass statt vom kalten Krieg vielfach vom tatsächlichen, also vom heißen Krieg als drohende Gefahr die Rede war." So schien es für so manchen Bundesbürger einleuchtend, dass die Bundeswehr und andere NATO-Verbände über viele Jahre auf dem Boden der BRD die Befreiung der Zone und des ganzen Europa östlich des Eisernen Vorhangs probten. War das Manöver "Fallex 66" noch als "Polizeiaktion" gegen die DDR gedacht, so ging es bei den späteren Manöverserien "Autumn Forge", "Reforge", "Crusader" schon um NATO-Befreiungsschläge im Rahmen der Vorwärtsstrategie und bei den Planspielen "Wintex" und "Carte Blanche" um Atomschläge gegen die DDR und andere sozialistische Staaten.


Die Wurzeln der Aggressivität blieben erhalten

In den politischen und wirtschaftlichen Grundsätzen des Potsdamer Abkommens, diesen Rechtsnormen für die Entwicklung in Nachkriegsdeutschland, war u. a. festgelegt, "die deutsche Wirtschaft zu dezentralisieren, damit der bestehenden übermäßigen Konzentration von Wirtschaftsmacht, besonders in der Form von Kartellen, Syndikaten, Trusts und anderen Monopolvereinigungen eine Ende gesetzt wird."

Es schien zunächst, dass CDU und SPD diesen Erfordernissen Folge leisten würden.

So hatte im Februar 1946 der CDU-Politiker Jacob Kaiser die "Brechung der Macht der Syndikate und Kartelle" gefordert. Die CDU sprach vom "Sozialismus aus christlicher Verantwortung". Und noch im Ahlener CDU-Programm vom Februar 1947 war zu lesen: "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden."

Die SPD in den westliche Besatzungszonen verlangte im Mai 1946 auf ihrem Parteitag in Hannover die Überführung der Betriebe der Grundstoffindustrie in Gemeineigentum. Vom "Sozialismus als Tagesaufgabe" war die Rede.

In Verfassungen westdeutscher Länder spiegelte sich demokratischer Volkswille wieder: Es waren darin entsprechende Maßnahmen zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel verankert.

Mit der Ausrufung der BRD als westdeutscher Separatstaat waren solche Proklamationen über Bord geworfen. Im Grundgesetz war nur noch eine Kann-Formulierung hinsichtlich der Vergesellschaftung übriggeblieben. Und in nur wenigen Jahren Existenz der BRD war eine ökonomische Machtzusammenballung erreicht, die jene im faschistischen Deutschland in den Schatten stellte. 1966 vereinigten die 92 größten der über 2500 Aktiengesellschaften in der BRD 60,3 Prozent des Grundkapitals. Das war ein ungleich höherer Konzentrationsgrad als 1938 im faschistischen Reich, ein Jahr vor dem von deutschem Boden entfesselten Weltkrieg. In diesem Jahr entfielen auf 30 Aktiengesellschaften dieser Größengruppe 28,5 Prozent des gesamten Aktienkapitals. Die alten Macht- und Besitzverhältnisse, die Faschismus und Krieg hervorgebracht hatten, waren in der BRD wieder gegeben. Die Wehrwirtschaftsführer Hitlers saßen bald wieder an den Schalthebeln der Macht. Auch jene, die als Kriegsverbrecher verurteilt worden waren. Ihr Eigentum war in keiner Weise angetastet worden.


Absicherung nach Innen

Die aggressiven Ziele des Imperialismus und die militärischen Vorbereitungen, die zu ihrer Verwirklichung getroffen wurden, erforderten eine entsprechende Absicherung im Innern.

Die Innere Sicherheit des Systems war gefragt. Die Restauration der alten Macht- und Besitzverhältnisse, die Remilitarisierung des Landes, die Integration der BRD in die NATO und die als Vorwärtsverteidigung umschriebene "Roll back"-Strategie sollten mit Hilfe einer Inneren Staatsreform gegen die demokratischen Widerstandsbewegungen abgesichert werden. Ihr Kernstück war die Schaffung eines Systems von Notstandsgesetzen und Notverordnungen.

Mit dem 1. Strafrechtsänderungsgesetz vom August 1951 - auch "Blitzgesetz" genannt - wurde das berüchtigte Gesinnungsstrafrechts wieder eingeführt.

Unter dem Vorwand, Recht und Freiheit zu schützen, wurden von 1951 bis 1968 über 150.000 Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der KPD, der SPD, des DGB, des Kulturbundes, von Friedenskomitees sowie gegen bürgerliche Demokraten und Antifaschisten eingleitet. Wegen "Staatsgefährdung", "Geheimbündelei" und "Rädelsführerschaft", wie es verleumderisch hieß. Bundesinnenminister Maihofer (FDP) sprach sogar von 250.000 politisch motivierten Straf- und Ermittlungsverfahren. Die VVN war schon vor der Reform verboten worden. Es erfolgten mehr als 7000 Verurteilungen zu zum Teil mehrjährigen Gefängnis- und Zuchthausstrafen sowie hohen Geldstrafen. Unter den Betroffenen auch Opfer des Faschismus, die schon bei den Nazis verfolgt und ihrer Freiheit beraubt worden waren. Die "Straftaten"?

"Verfassungsverräterische Verbindung" zum FDGB, Teilnahme an Sportwettkämpfen mit DDR-Mannschaften, Vorbereitung einer Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und für einen Friedensvertrag, Organisierung einer Demonstration der IG Metall gegen die Notstandsgesetze, "Geheimbündelei" von Mitgliedern der Zentralen Arbeitsgemeinschaft "Frohe Ferientage für alle Kinder"; sie hatten Jahr für Jahr zehntausenden westdeutschen Kindern einen Aufenthalt in Ferienlagern der DDR ermöglicht.

1952 wurde der FDJler Philipp Müller bei einer Protestkundgebung gegen die Wiederaufrüstung erschossen.

1956 richtete sich die Verfolgungsjagd gegen die KPD. Sie war schon unter der Nazi-Tyrannei verfolgt und verboten worden. Ihre Mitglieder hatten die meisten Blutopfer im antifaschistischen Widerstandskampf gebracht.

Nach dem Verbotsurteil gegen die KPD wurden 200 weitere demokratische Organisationen verboten.

Zu dem Umfang der Verfolgungen äußerte später FDP-Bundesinnenminister Werner Maihofer, das seien "Zahlen, die einem Polizeistaat alle Ehre machen".

1968 beschloss die Große Koalition von CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzler Kiesinger mit ihrer Zweidrittel-Mehrheit die Notstandsgesetze, diese de facto-Kriegserklärung gegen das eigene Volk.

Zynisch meinte der damalige Bundesinneminister Paul Lücke: "Es geht jetzt darum, unserem Grundgesetz, das sich noch im Taufkleid befindet, einen Maßanzug zu schneidern." Die BRD fühlte sich zu dieser Zeit bereits als wirtschaftlicher Riese und weltpolitisch zu Höherem berufen. Da sollte die innere Sicherheit für außenpolitische Abenteuer im Falle eines Notstands auf jeden Fall perfekt sein. (Diese Gesetze wie auch das Verbot der KPD sind bis heute nicht aufgehoben.)

Die "Nürnberger Nachrichten" konstatierten am 13. Dezember 1966: "Faktisch hat ... ein Obrigkeitsstaat schon unter Adenauer bestanden." Die Notstandsgesetzgebung prägte diesen Charakter weiter aus.

Der Ausbau des Obrigkeitsstaates ging weiter. Im Januar 1972 wurde von der Ministerpräsidentenkonferenz unter Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt der so genannte Radikalenerlass beschlossen. Er verlangte "aktive Verfassungstreue" als Voraussetzung für die Einstellung und Tätigkeit im öffentlichen Dienst der BRD. In ein Beamtenverhältnis war nur zu berufen, wer die Gewähr dafür bot, dass er sich für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einsetze. Der Erlass richte sich gegen die Mitgliedschaft in einer "verfassungsfeindlichen Organisation", wurde verlautbart.

1972 wurden im Ergebnis einer Regelanfrage 3,5 Millionen Bewerber und Angehörige des öffentlichen Dienstes beim Bundesamt für Verfassungsschutz auf politische Zuverlässigkeit überprüft. Es gab über 10.000 offizielle Berufsverbotsverfahren. 1250 Bürgern wurde im Ergebnis von Berufsverbotsverfahren der Eintritt in den öffentlichen Dienst oder der Verbleib in ihm verwehrt und 2200 Disziplinarverfahren durchgeführt. Betroffen waren vor allem Mitglieder der DKP, der VVN, der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK), der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) sowie SPD-naher Studentenorganisationen.

Opfern des Faschismus wurden Entschädigungsleistungen aberkannt. Sie wurden bis heute nicht rehabilitiert.


"Heimtückegesetz" und Mordgesellen in Aktion

Für die Verfolgungsjagd auf politisch Andersdenkende, auf Gegner des die Spaltung Deutschlands vertiefenden und den Frieden bedrohenden Kurses der Bundesregierung war Vorsorge getroffen, waren die erfahrenen Experten berufen worden. Generalleutnant Reinhard Gehlen, Chef der faschistischen "Aufklärung Ost", war rechtzeitig zum Chef der "Organisation Gehlen", der Vorläuferin des BND, berufen worden.

Durchsetzt mit alten Gestapo-Leuten, SS-Verbrechern und hochrangigen Nazis, sorgte die Organisation für die Verdächtigung und Verfolgung von politischen Gegnern. Der frühere Leiter der gegen die Sowjetunion gerichteten CIA-Geheimoperationen H. Ritzel urteilte über die Verfassungsschützer: "Es war unbedingt notwendig, dass wir jeden Schweinehund verwendeten, Hauptsache er war Antikommunist."

In der Justiz des demokratischen Bundesstaates waren Mitte der 1960er Jahre über 800 Juristen der nazistischen Ausnahmegerichte wieder in Amt und Würden. Keiner der über 100 faschistischen Blutrichter war einer gerechten Strafe zugeführt worden.

So konnte beispielsweise der Ministerialdirigent Schafheutle, der in Freislers Reichsjustizministerium das "Heimtückegesetz", das Gesetz zur Bildung faschistischer Sondergerichte, für die Schaffung des faschistischen "Volksgerichtshofes" entworfen hatte, nun das "Blitzgesetz" verfassen. Der Schriftsteller Bernd Engelmann äußerte zu dieser typischen kontinuierlichen Karriere Schafheutles: "1951 nun hat dieser die Genugtuung, dass mit der Annahme des 'Blitzgesetzes' seine Novelle von 1934 (zum Heimtückegesetz, d. V.) weitgehend wörtlich übernommen wurde".


An der Seite terroristischer Regime

Ein besonderes Kapitel in der Geschichte der BRD stellt das Verhältnis zu den völkerrechtswidrigen Aggressionen des US-Imperialismus und zu terroristischen Regimen dar. Bei den zahllosen Aggressionsakten des US-Imperialismus gegen andere Länder und Völker standen Bundesregierungen an der Seite Washingtons.

So wurden während des schmutzigen Krieges der USA gegen das vietnamesische Volk von der Kiesinger-Regierung an das Saigoner Marionetten-Regime großzügig Kredite vergeben und vielfältige Hilfsmaßnahmen verabreicht. Die bundesdeutsche Rüstungsindustrie machte aus dem Krieg ein profitables Geschäft. Sie lieferte Ausrüstungen für Rüstungsbetriebe, Ersatzteile für Kriegsmaterial und Reparaturwerkstätten. BRD-Konzerne waren mit Zulieferungen am C-Waffenkrieg der USA gegen Vietnam beteiligt.

Als 1973 die demokratisch gewählte Allende-Regierung Chiles durch einen blutigen Militärputsch gestürzt und das faschistische Pinochet-Regime errichtet wurde, äußerte der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, nun erhalte "das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang". Während die Generalsclique ihr terroristisches Regime errichtete und zehntausende Chilenen ermordete, sprachen großbürgerliche Presseorgane der BRD davon, das Militär habe "mit aller Schärfe reinen Tisch gemacht". Es habe sich um eine "längst fällige Maßnahme" gehandelt.

Der damalige SPD-Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Eppler erklärte die weitere Entwicklungshilfe für Chile auch unter den veränderten politischen Machtverhältnisse für selbstverständlich.

Auch das unmenschliche Apartheid-Regime in Südafrika, das unzählige Verbrechen gegen die Menschheit verübte, das die elementaren Menschenrechte mit Füßen trat, erfuhr seitens der Bundesregierung eine vielfältige Unterstützung.

Das 1977 von der UNO beschlossene Waffenembargo wurde von der BRD unterlaufen. Die vom UNO-Sicherheitsrat beschlossenen Wirtschaftssanktionen gegen Südafrika wurden von der Deutschen Bank, der Commerzbank und der Dresdner Bank negiert. Sie gewährten dem Regime in Pretoria umfangreiche Kredite.

BRD-Konzerne nutzten die großzügigen Steuererleichterungen Pretorias und die Hungerlöhne, die an einheimische Arbeitskräfte gezahlt wurden, um Maximalprofite zu scheffeln. In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" warb im Mai 1981 die südafrikanische Handelsvertretung der BRD: "Unter den dreihundert deutschen Unternehmen, die eigene Niederlassungen gegründet haben, findet sich alles, was in der Bundesrepublik Klang und Namen hat: Volkswagen und Daimler Benz, BASF, Bayer und Hoechst, Siemens. Hinzu kommen rund 6000 Firmen, die mit joint ventures ihren Anteil an diesem vielversprechenden Markt sichern wollen."


Was für ein Staat!

Nach dem Anschluss der DDR sind die Bundesregierungen von allen Hemmnissen, die ihnen allein schon die bloße Existenz des Realsozialismus auferlegte, befreit.

Bundeskanzler Kohl äußerte aufatmend, nun könne Deutschland "sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und solle diese ausweiten." Er und sein Justizminister Kinkel verkündeten die "Rückkehr zur Normalität".

Die Schröder-Regierung griff diese Losung auf und machte die BRD mit der Teilnahme am Feldzug zur Zerstückelung Jugoslawiens wieder zur kriegführenden Macht. Schröders Wort von der "Enttabuisierung des Militärischen" macht Schule: Die BRD wird inzwischen am Hindukusch und auf etlichen Weltmeeren verteidigt. Alte großdeutsche Traditionen sind wieder Normalität. Das Feindbild erhielt mit dem "internationalen Terrorismus" neue Konturen.

Im Innern des Staates wird der Ausbau des Überwachungsstaates fortgesetzt. Schon in den 1980er Jahren wurden Angaben von etwa 20 Millionen Bundesbürgern gespeichert. Der Gläserne Mensch ist längst Realität.

Mit dem Anschluss der DDR erhielten Justiz und der mit Nazis durchsetzte Verfassungsschutz mit der Jagd auf DDR-Bürger und der "juristischen Aufarbeitung der DDR-Geschichte" erneut Konjunktur. Im September 1993 resümierte der "Freitag": "Die Alternative,für die sich die BRD offenbar entschieden hat, ist Fortsetzung des Bürgerkrieges mit den Mitteln des Strafrechts, der öffentlichen Diffamierung und der beruflichen und gesellschaftlichen Diskriminierung."

17 Jahre sind seit dieser Feststellung vergangen. Diffamierung und Diskriminierung der DDR, ihre Gleichsetzung mit der faschistischen Barbarei werden fortgesetzt. Was noch einmal verdeutlicht, dass auch nach dem Ende des europäischen Sozialismus die Totalitarismusdoktrin als staatstragende Ideologie und der Antikommunismus als Staatsdoktrin politische Geschäftsgrundlage der BRD erhalten geblieben sind.

Was veranlasst die herrschenden Kräfte der BRD und ihre politischen Geschäftsführer zur Fortsetzung des kalten Krieges gegen die DDR?

Die Krisenerscheinungen des kapitalistischen Systems nehmen zu.

Das Grundgesetz wurde bisher in mehr als 60 Fällen zumeist zum Nachteil der Rechte der Bürger geändert. Durch den seit der Agenda 2010 forcierten Demokratie- und Sozialabbau wird es weiter ausgehöhlt. Der Ausbau des staatlichen Repressionsinstrumentariums wird intensiv weiter betrieben. Das Überwachungssystem wurde durch Lauschangriffe, Zugangskontrollen, Biometrie, gentic fingerprinting, Scannen von Autokennzeichen, Videoüberwachung ergänzt.

Die Polarisierung zwischen Arm und Reich schreitet voran.

Staats- und Politikerverdrossenheit haben einen hohen Grad erreicht.

Politik und Massenmedien sind folglich gefordert, die DDR weiter zu verketzern, die "Aufarbeitung der Geschichte der BRD" zu verhindern und der Öffentlichkeit das Trugbild eines demokratischen Bundesstaates BRD vorzugaukeln.

Die BRD ein Rechtsstaat?

Unverdächtige Zeugen haben sie als Polizeistaat, als Überwachungsstaat und als Obrigkeitsstaat charakterisiert. Sie haben damit der Aufklärung über Vergangenheit und Gegenwart dieses Staates einen Dienst erwiesen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Elizabeth Shaw "Die Wiedergeburt". Zeichnung, Kreide, Aquarell

Raute

Fakten und Meinungen

Werner Schneider

Systemfrage heute?

Es gibt sie wieder, wenn auch der Systemzusammenhang ein anderer ist. Die Gesellschaftsverhältnisse und die ihnen innewohnenden Widersprüche haben aber den gleichen Ursprung. Die fundamentale Wirklichkeit, dass die kapitalistische Produktions- und Wirtschaftsweise zur Degradation der Natur und des Menschen führt, ist die Ausgangslage. Alle Produktion ist eben Aneignung der Natur durch den Menschen vermittels einer bestimmten Gesellschaftsform. Von daher ist es entscheidend, wie sich diese Aneignung vollzieht.

Im Kapitalismus fehlen die Triebkräfte für ein nachhaltiges Wirtschaften ebenso wie die Voraussetzungen für eine gesamtstaatliche Allokationspolitik. Der Wettbewerb, der zwischen den so genannten Marktteilnehmern stattfindet, hat den Ruch des erbarmungslosen Konkurrenzkampfes mit ruinösen Folgen. Was in Politik und Wirtschaft zählt, ist der kurzfristige Erfolg, die maximale Rendite. Unter diesen Bedingungen kann eine solidarische Gesellschaft keinen Verfassungsrang als Staatsziel erlangen. Der Klassenkampf von oben, wie er heute mit harten Bandagen geführt wird, ist immanenter Bestandteil der gesellschaftlichen Praxis.

Es muss also die Kardinalfrage beantwortet werden, ob die Menschheit unter dem Diktat des Kapitals überleben kann.(1) Und damit kommen wir zwangsläufig zu den existenziellen Problemen unserer Zeit, ob die kapitalistische Exploitation der Natur und ihrer Ressourcen nicht das Fortbestehen der menschlichen Zivilisation in einem längerfristigen Zeithorizont gefährdet. Die Endlichkeit der Bodenschätze und die Klimaveränderungen durch Treibhausgase, die schadlose Beseitigung und sichere Aufbewahrung radioaktiver Abfälle und anderer gefährlicher Rückstände der Produktion, die Sicherung der Wasserbereitstellung für Bevölkerung und Wirtschaft namentlich in ariden Gebieten stellen gewaltige Anforderungen an Wissenschaft und Technik sowie die Wirtschaftskraft der Länder. Die Beseitigung von Hunger in der Welt sowie die Vorbeugung von Naturkatastrophen, Atomunfällen und anderen schwerwiegenden Havarien sind hierbei existenzielle Aufgaben zur Bewahrung der Biosphäre.

Damit ist jedoch noch keine Antwort auf die Systemfrage gegeben.

Erwähnenswert erscheinen in diesem Kontext noch nach mehr als 200 Jahren die Kassandra-Rufe des französisch-schweizerischen Geschichtsphilosophen Jean-Jacques Rousseau, dass der Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft und der Gesetze dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte gegeben hat, durch die die Freiheit unwiederbringlich zerstört und das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit für immer fixiert wurden.

Klarheit über die Systemfrage erwächst allerdings nicht aus einer genialen Formel, einem exorbitanten Modell oder aus einem unabhängig vom Willen des Menschen wirkenden Gesetz, vielmehr wird sie aus historische Zeitabschnitte umfassenden Erfahrungen, aus vergleichenden analytischen Untersuchungen und darauf fußenden prognostischen Einschätzungen gewonnen.

Diese Erfahrungen, verbunden mit Prognosen der künftigen Entwicklung besagen, dass beim Fortsetzen der gegenwärtigen Gesellschaftspolitik und Wirtschaftstätigkeit das Dasein berührende Gefahren drohen. Allein schon diese globale Gefährdungssituation führt zu einer Beantwortung der Systemfrage in der Weise, dass die herrschende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung nicht in der Lage ist, die existenziellen Probleme der Menschheit zu lösen. Ihr fehlen die nötigen Potenzen, weil die den privatkapitalistischen Eigentumsverhältnissen innewohnenden Triebkräfte, nämlich die Gewinnmaximierung der Unternehmen und die persönliche Nutzensmaximierung, einer in Übereinstimmung zwischen Mensch und Natur befindlichen Wirtschaftsweise antagonistisch entgegenstehen.

Keinem der modernen Gesellschaftssysteme, die sich seit 1917 in einer Systemauseinandersetzung befinden und von denen einige bereits wieder aus der Geschichte ausgetreten sind, ist es gelungen, das ökologische und das ökonomische Gleichgewicht auf Dauer zu bewahren. Die Länder wurden und werden auf dem Gebiet der Ökonomie von Wirtschafts- und Finanzkrisen immer wieder geschüttelt, von massenhafter Erwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung heimgesucht sowie von Inflation und Staatsverschuldung hart getroffen.

Andererseits gab es in sozialistischen Wirtschaftssystemen gravierende Mängeln der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und der Wirtschaft mit Produktionsmitteln. Hinzu kamen erhebliche Rückstände in der Arbeitsproduktivität,bedingt vor allem durch die nicht aufholbare "technologische Lücke".

Gleichzeitig lagen und liegen weltweit ernsthafte Störungen auf ökologischem Gebiet vor. Diese sind die Klimaerwärmung mit den Veränderungen an den Polkappen und im Hochgebirge, die Verschmutzung der Biosphäre und die Bebauung und Zersiedlung der Landschaft mit den Folgen der Instabilität und der Zerstörung von Biotopen wie auch des Aussterbens von Arten. Naturkatastrophen sowie schwerwiegende Havarien haben zunehmend ihre Ursachen im gestörten Gleichgewicht in der Natur oder führen zu ernsthaften Schädigungen, die bis zu gravierenden Gesundheitsschäden der Bevölkerung reichen.

Gesellschaftssysteme wie das kapitalistische, deren Triebkräfte sich als immanente Systemfehler erweisen, können objektiv auch nicht das ökonomische und ökologische Gleichgewicht auf Dauer gewährleisten.

Wenn auch kein Land mit sich vom Kapitalismus unterscheidender Gesellschaftsordnung für sich behaupten kann, das ökonomische und das ökologische Gleichgewicht dauerhaft realisiert zu haben, so kann man doch gewiss sein, dass im Wettstreit der Gesellschaftssysteme der Kapitalismus letztendlich den Kurzeren zieht, weil seine Triebkräfte antagonistisch angelegt sind und daher dem Ziel des Gleichgewichts in Natur und Gesellschaft nicht entsprechen.

Folgt man diesen grundsätzlichen Erwägungen, so ergibt sich die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die nach menschlichem Ermessen den Fortbestand der Menschengemeinschaft ermöglichen und sichern. Auf jeden Fall scheinen die Antipoden des kapitalistischen Gesellschaftsmodells der Ansatz der Lösung zu sein.

Diese sind:

Die Erde und die mit ihr vorhandenen "freien Güter", die atmosphärische Luft und das Wasser im natürlichen Wasserkreislauf, einschließlich der Weltmeere, sowie die noch im Naturzusammenhang befindlichen Bodenschätze, können nicht Privateigentum sein und niemals Eigentumsrechten unterliegen.
Der Mensch hat die Pflicht, die Naturreichtümer mit ihrer Nutzung zu pflegen, vor Missbrauch zu schützen und sie sparsam zu verwenden. Er muss sie den nachfolgenden Generationen geordnet zur Nutzung überlassen. Kein Mensch und keine Nation sind Eigentümer der Erde.
Die Problematik des Eigentums an Naturressourcen kann man auch auf die von den Menschen geschaffenen Produktionsmittel in modifizierter Form übertragen, was weiter unten noch ausgeführt wird.
Alles Wirtschaften muss sich nach dem Grundsatz "Gemeinnutzen geht vor Eigennutzen" vollziehen. Damit werden die Gewinnmaximierung als Unternehmensziel und die persönliche Nutzensmaximierung gegenstandslos.
Alle Menschen haben die gleichen Rechte und Pflichten. Ungleichheit und Ungleichbehandlung bedeuten Diskriminierung. Diese steht dem menschlichen Zusammenleben diametral entgegen.

Aus der Verwirklichung der genannten Leitsätze als Antipoden des Kapitalismus ergeben sich folgende Konsequenzen:

1. Das maßgebliche Eigentum an den Produktionsmitteln in der Volkswirtschaft wie auch das ganze Finanzsystem müssen öffentliches Eigentum sein. Dieses Eigentum dient der Daseinsvorsorge für die Menschen in den Städten, Gemeinden und Regionen sowie für ihre Fortentwicklung. Das öffentliche Eigentum befindet sich entsprechend seiner wirtschaftlichen Bedeutung und seinem Einzugsbereich in der Hand des Gesamtstaates, der Länder und der Kommunen.

2. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung wird geplant. Diese Planung stützt sich auf die Aufstellung von Wirtschaftsplänen in Betrieben und Einrichtungen. Die Aufstellung von Wirtschaftsplänen ist Pflicht in Betrieben und Einrichtungen, die sich im öffentlichen Eigentum befinden.

Die Wirtschaftspläne werden durch die zuständigen Staats- und Wirtschaftsorgane bilanziert und durch die Volksvertretungen der zuständigen Gebietskörperschaften beschlossen. Die Zuständigkeiten für die konsolidierten Wirtschaftspläne und für ihre Beschlussfassung sollen in Übereinstimmung mit der Aufstellung und Beschlussfassung der Haushaltspläne der Gebietskörperschaften geregelt werden.

Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) wird zu einem Instrument der gesamtwirtschaftlichen Planung mit Orientierungscharakter weiterentwickelt. Auf der Ebene des Gesamtstaates ist ein Generalplan der Standortverteilung der Produktivkräfte zur mittelfristigen Planung der Entwicklung erforderlich, der für die Implementierung einer grundsätzlichen Allokationspolitik des Staates die Arbeitsgrundlage bildet.

Die Aufstellung von Wirtschaftsplänen in den Unternehmen und von den Gebietskörperschaften unterscheidet sich prinzipiell von einer totalen Volkswirtschaftsplanung in einer staatlichen Planwirtschaft. Betriebe und Einrichtungen in öffentlicher Hand haben größere wirtschaftliche Selbständigkeit, größere Eigenverantwortung, besitzen mehr Flexibilität und haben mehr systemimmanente Anreize für hohe wirtschaftliche Ergebnisse.

Die Nutzung der Planung über die betriebliche Ebene hinaus ist geboten, um bessere volkswirtschaftliche Ergebnisse zu erreichen, Fehlallokationen in der Wirtschaft zu vermeiden und die Nutzung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens besser in den Griff zu bekommen.

3. Die bürgerliche Demokratie wird durch die soziale Demokratie abgelöst.

Letztere gewährleistet die Durchsetzung des Volkswillens über demokratische Parteien und Wahlen. Basisdemokratische Prozesse und Formen der direkten Demokratie durch Volksabstimmungen sind wesentlicher Bestandteil dieser sozialen Demokratie.

Die repräsentative Demokratie erhält einen neuen Inhalt dadurch, dass die Volksvertretungen in ihrer Zusammensetzung den Klassen und Schichten des Volkes entsprechen sollen.

4. Mit den vorgenannten Wandlungen in der Gesellschaft verändern sich auch Zielorientierungen und Werte der gesellschaftlichen Entwicklung.

Die eindimensionale Gewinnmaximierung und der eindimensionale shareholder value werden abgelöst durch Bewertung des Gemeinnutzens für Staat und Gesellschaft sowie der "Effizienz des Unternehmens".

Effizienz als mehrdimensionales Unternehmensziel bedeutet rentables Wirtschaften unter sozialpartnerschaftlichem Verhalten und unter Wahrung des Gemeinnutzens. Das bedeutet auch: Unternehmerische Gewinne, die auf Kosten der Umwelt und infolgedessen zu Lasten des Gemeinwohls als externe Effekte der Wirtschaftstätigkeit zustande kommen, werden als Extragewinne durch den Staat abgeschöpft und für die allgemeine Daseinsvorsorge nutzbar gemacht.

Die Verwirklichung dieser Sozialen Demokratie setzt eine starke linke Kraft in der Gesellschaft und eine linke Mehrheit, auch in Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Kräften, im Parlament voraus. Dieses gesellschaftliche Potenzial zu schaffen, bedingt einen intensiven Prozess der politischen Bildung, Aufklärung und Reifung der Menschen. Die von den bürgerlichen Parteien und Medien betriebene Informationspolitik - das Ausgießen von Dummheiten und Halbwahrheiten sowie die gezielte Desinformation - machen eine Aufklärung der Bevölkerung umso dringender. Diese Kraftanstrengung muss die gesellschaftliche Linke leisten können.

Neben einer wirksamen parlamentarischen Arbeit bilden außerparlamentarische Aktionen in Zusammenwirken mit anderen gesellschaftlichen Gruppen das Fundament für eine erfolgreiche linke Politik.

Zusammenfassend wird geschlussfolgert, dass grundlegende humanitäre Aufgaben, das Überleben der Menschheit, die Erhaltung der Erde und ihrer Biosphäre, den Schutz und die Pflege der Natur und Landschaft und die sorgsame Nutzung der Naturreichtümer, der Kapitalismus in seiner jetzigen Ausprägung als Monopol- und Finanzkapitalismus nicht leisten will und nicht leisten kann.

Als ein Prozess verstanden, läuft daher die Systemfrage auf die Entwicklung von mehr Demokratie durch mehr Teilhabe sowohl am politischen als auch am wirtschaftlichen Leben hinaus, eben auf eine soziale Demokratie. Diese stützt sich auf ein gewichtiges öffentliches Eigentum und auf eine volkswirtschaftliche Planung der Daseinsfürsorge für die Menschen.


Anmerkung:

1) Eine der prägnantesten Definitionen des Kapitals fand der Schweizer Ökonom und Historiker J.C.S. de Sismondi, der in seinen "Neuen Grundsätzen der Politischen Ökonomie", Paris 1819, das Kapital als permanenten, sich vervielfältigenden Wert beschrieb.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Albert Einstein: "Ich bin überzeugt, dass es nur einen Weg gibt. In solch einer Wirtschaft gehören die Produktionsmittel der Gesellschaft selbst und ihr Gebrauch wird geplant."

Raute

Fakten und Meinungen

Klaus Eichner

In der Überwachungsgesellschaft

Die demokratischen Bürger- und Freiheitsrechte befinden sich aktuell - soweit sie überhaupt noch praktische Gültigkeit besitzen - in mehrfacher Bedrängnis durch eine weitere Ausbreitung und Vertiefung staatlicher Überwachungsmaßnahmen, die sowohl im nationalen Rahmen als auch auf der Ebene der EU-Strukturen immer nachhaltiger und wirkungsvoller durchgesetzt werden.

Viele dieser Entwicklungen - vor allem im Rahmen der EU - verlaufen für den Bürger fast unbemerkt, wenn nicht hier und da mit Demonstrationen, wie z. B. am 12. September 2009 in Berlin unter dem Motto "Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn", Menschenrechtsgruppen zum Widerstand gegen diese Entwicklungen aufrufen.


Sicherheitspolitik der EU nach dem Diktat der USA

In der EU gibt es massive Bemühungen, mit der "Strategie Innere Sicherheit" als einem umfassenden Ansatz zur engeren Zusammenarbeit von Militär, Polizei, Geheimdiensten, Forschungseinrichtungen und der Sicherheitsindustrie, das Konzept der US-amerikanischen Strategie der "Homeland Security" für alle EU-Mitgliedsstaaten durchzusetzen.

Diese Entwicklung korrespondiert mit dem systematischen Ausbau von exekutiven und nachrichtendienstlichen Befugnissen aller Organe der "öffentlichen Sicherheit", zunehmend auch von entsprechenden Einrichtungen der großen Konzerne (auf die Skandale bei der Deutschen Bahn AG und Telekom, bei den Handelsketten Lidl und Schlecker kann hier nur verwiesen werden).

Im EU-Rahmen geht diese Entwicklung einher mit dem ständigen Ausbau der europäischen Sicherheitsstrukturen, wie der Grenzschutzagentur FRONTEX und der europäischen Polizeibehörde EUROPOL, mit der unkontrollierbaren Vernetzung von Datenbanksystemen der nationalen Sicherheitsbehörden in europäischen Sicherheitssystemen mit dem Ergebnis, dass wir immer mehr zum "gläsernen Unionsbürger" werden.

So fordert eine Vorlage der EU-Kommission vom 24. Juni 2009 die Errichtung einer "Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Bereich Freiheit, Sicherheit und Justiz". Für 100 Millionen Euro sollen zunächst drei große Datenbanksysteme der EU zusammengeführt werden. Das betrifft das "Schengen-Informationssystem" mit Fahndungsangaben über Personen, das "Visa-Informationssystem" mit biometrischen Daten über Einreisanträge in die EU sowie "EUODAC" mit digitalisierten Fingerabdrücken von Asylbewerbern. Die Zusammenführung weiterer Datenbanken ist vorgesehen. Damit werden den europäischen Sicherheitsbehörden Personendaten zugänglich gemacht, deren zentrale Nutzung bisher gesetzlich untersagt war.(1) Der nächste Schritt dürfte die zentrale Erfassung und Verarbeitung von Daten aus der Speicherung von Verbindungsdaten aller Telekommunikationskunden sein.

Besondere Beunruhigung muss es auslösen, dass diese Entwicklung unter dem Diktat der US-amerikanischen Sicherheitsbehörden und Geheimdienste erfolgt, sei es durch die Übermittlung detaillierter Daten aller Flugpassagiere oder von Bankdaten durch den europäischen Finanzdienstleister SWIFT (das betrifft immerhin Daten von 15 Millionen Kontenbewegungen pro Tag!). Damit wird die EU zum Dienstleister für eine europaweite Durchsetzung des US-amerikanischen "Patriot Act"(2) mit weitreichenden Befugnissen zur Einschränkung der Bürger- und Freiheitsrechte. Die Verantwortlichen der EU wollen dieses Eingehen auf die umfassenden Informationsinteressen der US-Geheimdienste ihren Bürgern, nachdem erste Konzepte nach massiven Protesten zurückgezogen werden mussten, mit angeblichen Verbesserungen des Datenschutzes schmackhaft machen. Wer jedoch ein wenig Vorstellungen von den Mechanismen in Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden hat, wird schnell begreifen, dass weder Versprechungen über die Verhinderung des Missbrauchs übermittelter Daten noch von rechtzeitiger Löschung dieser Daten Glauben geschenkt werden sollte.

Zur Perfektionierung einer europaweiten Überwachung von Linken dient ein aktuelles Projekt der Standardisierung des Datenaustausches über so genannte "radikalen Aktivisten". Mit einem Fragebogen mit über 70 Angaben zu jeder erfassten Person sollen ungeachtet aller institutioneller oder rechtlicher Grenzen die Erkenntnisse von "Polizeikräften, Sicherheitsdiensten und Geheimdiensten und durch Institutionen, die an der Bekämpfung von Radikalisierung, Anwerbung und Terrorismus beteiligt sind" ausgetauscht und gespeichert werden. Darin einbezogen sind die Polizeibehörde EUROPOL und das von allen Geheimdiensten der EU-Länder gemeinsam unterstützte Zentrum für Terrorbekämpfung SITCEN.(3)


Vorreiter Bundesrepublik

In Deutschland wurden und werden durch eine wahre Flut von so genannten Antiterrorgesetzen im Namen der Sicherheit die Bürger- und Freiheitsrechte drastisch eingeschränkt. In den letzten Jahren wurden über 50 "Sicherheits-Gesetze" in Kraft gesetzt. Das betrifft in letzter Zeit besonders die Vorratsdatenspeicherung und den Umbau des Bundeskriminalamtes zu einer Superbehörde mit geheimpolizeilichen Befugnissen. Die damit von der Regierung angestrebte Transformation des bürgerlichen Rechtsstaates zu einem Überwachungsstaat war von solchen Exzessen in der Gesetzgebung gekennzeichnet, dass selbst das Bundesverfassungsgericht mehrfach korrigierend eingreifen musste. Es besteht auch ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Abbau des Sozialstaates und der Aufrüstung des Sicherheitsstaates, in dem jeder Bürger unter Generalverdacht gestellt wird.

Auch die Maßnahmen zur so genannten Vorratsdatenspeicherung folgen einer EU-Richtlinie. Die Speicherung sieht vor, dass sämtliche Verbindungsdaten aus Telefon- und Handy- und E-Mail-Verbindungen von den Anbietern ein halbes Jahr gespeichert werden müssen. Aufgrund der Gefahren des Missbrauchs durch Geheimdienste und andere interessierte Institutionen haben über 100 Organisationen und Berufsverbände aus 23 EU-Staaten in einem Offenen Brief die EU-Kommission aufgefordert, die Vorratsdatenspeicherung zu beenden.

Bürgerrechtler stellen berechtigt Zusammenhänge her mit der nach EU-Vorgaben für das Jahr 2011 vorgesehenen Volkszählung (Zensus 2011). Dabei werden ohne Kenntnis der Betroffenen personenbezogene Daten aus unterschiedlichsten Quellen zusammengeführt. Ein Drittel der Bevölkerung wird unter Strafandrohung verpflichtet, Fragen aus dem persönlichen Lebensbereich zu beantworten. Die Daten werden zentral gespeichert und können über eine Personenkennzahl zusammengeführt werden. Damit steht den Behörden eine riesige zentrale Datensammlung zur Verfügung, mit deren Hilfe jederzeit Persönlichkeitsprofile zu interessierenden Personenkreisen erstellt werden können.

Eine Komplettierung erfahrt dieser Datenverbund u. a. durch das neue Projekt ELENA. Mit diesem "Elektronischen Entgeltnachweis" werden die kompletten Einkommensdaten von rund 40 Millionen Beschäftigten digital verarbeitet und diversen Nutzern zugänglich gemacht. Zusammen mit der geplanten elektronischen Gesundheitskarte, den Meldedaten aus dem Personalausweis und der elektronischen Steuererklärung (ELSTER) bleibt im Prinzip kein Bereich der Persönlichkeitssphäre der Bürger vor dem Zugriff der Behörden ausgespart. George Orwells Visionen von einer überwachten Gesellschaft erscheinen im Vergleich mit dieser Entwicklung nur noch wie Kindermärchen.

Die Diskussionen über die Vorratsdatenspeicherung stehen im Kontext mit den Plänen der Bundesregierung zur weiteren Ausgestaltung der Befugnisse des Bundeskriminalamtes (BKA). Diese Pläne werden als Kern einer der größten Polizeireformen in der Geschichte der Bundesrepublik bezeichnet.

Entgegen allen verfassungs- und staatsrechtlichen Bedenken sollen dem BKA grundsätzliche Aufgaben der präventiven Gefahrenabwehr per Gesetz übertragen werden. Das schließt dann unter dem Vorwand einer effektiven Abwehr von Terroranschlägen Befugnisse zur Online-Durchsuchung eines jeden privaten Computers und zur akustischen und optischen Überwachung von Wohnungen ein.

Das Gesetz schränkt für weitere Berufsgruppen so für Journalisten, Ärzte, Anwälte (außer Strafverteidigern) - das Zeugnisverweigerungsrecht ein und setzt sie und die Quellen ihrer Informationen der Überwachung durch das BKA aus.

Kritiker verweisen darauf, dass mit diesen und weiteren Maßnahmen das BKA zunehmend zu einer Art deutsches FBI umgewandelt werden soll. Das bedeutet, dass aus dem BKA eine präventiv ermittelnde Staatspolizei mit geheimdienstlichen Befugnissen entstehen soll.

Zur Durchsetzung des verschärften Trends zu einer umfassenden Überwachungsgesellschaft gehört eine Serie neuer "Anti-Terror-Gesetze", mit der zunehmend die Gesinnung bzw. Überzeugung von Verdächtigen statt einer konkreten strafbaren Handlung Anlass für die Verfolgung bieten sollen. Es werden neue "Straftatbestände" geschaffen, mit deren Hilfe die Strafverfolgungsbehörden mit Sondervollmachten für die "Gefahrenabwehr" ausgerüstet werden.

Den politischen Hintergrund dazu bieten die Verfassungsschutzberichte und entsprechende Medienkommentare, in denen die besondere Gefährlichkeit "linksextremer Gewalttaten" beschworen werden, die vor allem Leib und Leben von Polizisten bedrohen (aktuell der angebliche "Sprengstoffanschlag" gegen Polizisten bei der Demonstration "Wir zahlen nicht für eure Krise" am 12. Juni 2010 in Berlin).

Die GBM steht an der Seite all jener Organisationen und Persönlichkeiten, die eine solche Entwicklung kritisieren und die für eine Sicherheitspolitik eintreten, die an den Ursachen und Bedingungen von Terror, Gewalt und Kriminalität ansetzt.


Anmerkungen:

1) Vgl. Der Spiegel, Nr. 29/2009: "Big Brother" in Brüssel

2) Aus Wikipedia: Der USA PATRIOT Act ist ein amerikanisches Bundesgesetz, das am 25. Oktober 2001 vom US-Kongress im Zuge des Krieges gegen den Terrorismus als Reaktion auf die Terroranschläge am 11. September 2001 verabschiedet wurde.

3) Zitiert bei Ulla Jelpke: Biggest Brother, junge Welt vom 7. Juli 2010; Beilage "Antirepression", S. 2


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Keine Karikatur - ernstgemeint: der Punkt, an dem homeland security in Erscheinung tritt, ohne zu erscheinen

Raute

Fakten und Meinungen

Robert Steigerwald

Arbeiterbewegung und bürgerlich-humanistisches Erbe

Die Arbeiterbewegung verstand sich von Anfang an als eine Kulturbewegung. Sie war hinsichtlich des Erbes mit dem Problem der Kontinuität und des Bruchs, der Aufhebung, kurzum: Der Dialektik der materiell-gesellschaftlichen Entwicklung, ihrer entsprechenden Widerspiegelung in der Politik, im Überbau überhaupt, also auch in der Kultur konfrontiert. Man wollte bewusst eine Gegenkultur zur bürgerlichen schaffen, war sich in den besten Repräsentanten der Arbeiterbewegung dessen bewusst, dass zur Entwicklung von Klassenbewusstsein eben nicht nur Wissenschaft, sondern auch Kultur gehört.

Die Bourgeoisie hat in ihrer Aufstiegs-, ihrer Revolutionsperiode, als Kraft gesellschaftlichen Fortschritts und der Emanzipation gewirkt, und als solche hat sie auch objektiv Interessen des proletarischen Antipoden mit verfochten. Sie hat einen über das Entwicklungsniveau des Kapitalismus hinausweisenden Überschuss produziert. Schillers "Alle Menschen werden Brüder!", die Aufhebung der Mode, der Gesellschaft, welche die Menschen teilt, weist weit über die Klassengesellschaft hinaus, und das Goethesche "Mit freiem Volk auf freiem Grund stehen" die Auseinandersetzung mit der Natur im "Gemeindrang" zu vollziehen, das geht weit hinaus in die Zukunft, die nicht mehr eine solche des Kapitalismus sein kann. Mit der Bourgeoisie zusammen entstand auch ihr unvermeidlicher Antipode, die Arbeiterklasse. Und damit hatte und hat es die Arbeiterbewegung mit bürgerlichem Erbe zu tun! Da anzuknüpfen war möglich und nötig. Denn gerade, weil im Schoße der Arbeiterklasse die Arbeiterbewegung entstand, weil diese sich anschickte, den von der Bourgeoisie nicht erfüllten Auftrag der Emanzipation zu übernehmen, gerade darum erstanden in der bürgerlichen Ideologie, Kunst und Politik Absetzbewegungen vom utopischen Überschuss. So wurden Verteidigung des Progressiven und Zurückweisung des Reaktionären, dialektische Aufhebung von der Arbeiter- als einer Kulturbewegung gefordert. Und derjenige, der sich diesem Programm als erster und lebenslang stellte, erste Fundamente für eine marxistische Kunst- und Kulturtheorie legte, war Franz Mehring. Mehring geht dem Vorurteil zu Leibe, dass Kunst eine autonome Rolle spiele, es "reine Kunst" gebe. Orientierte er sich zunächst noch an den ästhetischen Auffassungen von Kant und Schiller, sein Übergang auf die materialistische Geschichtsauffassung hat diesen Zusammenhang insoweit aufrecht erhalten, als er nun diesen Materialismus mit der Hochachtung vor der klassischen bürgerlichen Kultur verbinden, sich um die Rettung dieses Erbes bemühen konnte. Die klassische bürgerliche Literatur war Bestandteil der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, deren Pflege ihm als Weg sah, an eine entstehende proletarische Literatur heranzuführen. Hier wirkt jene Anthropologie, die sich in dem berühmten Ausspruch Marxens ausdrückt, es seien alle Bedingungen umzuwerfen, in denen der Mensch ein versklavtes, niedergedrücktes Wesen sei. Mehring wusste und schrieb es, dass die geschichtliche Wirkung der Kunst und des Kunstgeschmacks im innigsten Zusammenhang und der Wechselwirkung mit der historischen Entwicklung der anderen menschlichen Vermögen bestehen.

Aber er stritt auch trotz seiner Hochschätzung für Schiller, gegen dessen Hoffnung, die Befreiung der Menschen durch die Kunst erreichen zu können. "Unsere Wege und unsere Ziele sind andere geworden, und wir wissen wohl, dass wir nicht auf ästhetischen Wegen die politische und soziale Freiheit erreichen werden."(1)


Die linksradikale Wende

Mehring fand Mitstreiter etwa in Karl Kautsky (damals), Clara Zetkin, August Thalheimer, und seine Arbeit sollte bis in die ersten Jahre der Weimarer Republik hinein durch die Kulturarbeit der KPD fortgesetzt werden.

Aber ebenso, wie es in der KPD unter damaligen Bedingungen zur Herausbildung einer linksradikalen Tendenz kam, so auch in der nun betriebenen Auseinandersetzung mit der Kunst. Denn wenn man davon ausging, dass es nicht bei der niedergeschlagenen Revolution bleiben, sondern der nächste historische Akt die proletarische Revolution,die Schaffung eines Räte-Deutschlands sein werde, so bestimmte das auch den Umgang mit der Weimarer Republik - die mit dem Hakenkreuz am Stahlheim entstanden war - mit der nun staatstragenden Sozialdemokratie. Das alles stand der kommenden Revolution im Weg und damit war auch alles, was auch nur bürgerlich roch, dem Orkus anzuvertrauen. Zumal Ebert zur Eröffnung der Weimarer Nationalversammlung den Geist Goethes missbräuchlich beschwor, so, als würde auf dem Grund der zerschossenen November-Revolution nun die Utopie des sterbenden Faust in Gestalt der Weimarer Republik realisiert werden.

Das hat damals heftige Reaktionen der KPD in ihrem Zentralorgan, der "Roten Fahne" ausgelöst. Nicht nur das, Max Hermann-Neiße veröffentlichte eine Arbeit zum Thema "Die bürgerliche Literaturgeschichte und das Proletariat". Bürgerliche Literatur ziele auf Verewigung des Bestehenden. Hat das, was als verehrungswürdig angesehen wird, Wert für die Arbeiterklasse? Ist dies nicht in Wahrheit Mittel zur Bindung der Arbeiterklasse an die Bourgeoisie? Es war die auf das Gebiet der Literatur übertragene Konzeption des Linkskommunismus von der strikten Gegenüberstellung von Klasse gegen Klasse, hier gehe es nicht um Vermittlung, sondern um klare Trennung. Was nicht für uns ist, ist wider uns, was nicht für das Proletariat Partei ergreift, ist abzulehnen. Und davon ausgehend stellte Max Hermann Neiße einen Kanon abzulehnender Literatur auf, in dem sich solche Autoren befanden wie Villon, Swift, Rabelais, Büchner, Zola, Upton Sinclair.(2) Und es gab damals eine Reihe bedeutender Künstler wie Georg Grosz, John Heartfield, die ihm zustimmten. Proletarische Inhalte bedürften auch proletarischer Formen, deshalb sei die Übernahme tradierter bürgerlicher Formen opportunistisch.

Es war dies der von Lenin in seiner bekannten Schrift kritisierte Linksradikalismus auf dem Gebiet der Literaturpolitik. Man hätte von Lenin auch auf diesem Feld lernen können. Auch er war zu dieser Zeit noch davon überzeugt, dass es einen neuen Aufschwung der Revolution geben werde und gerade darum forderte er nicht die Verwerfung tradierter Kampf- und Organisationsformen, sie seien Brücken zu den Massen und darum unbedingt aufrecht zu erhalten. Analoge Lehren hätte man auch für die Kunst ziehen können.

Solche linksradikale Konzeptionen prägten das Literaturverständnis der kommunistisch orientierten Kräfte.

Es waren oft Autoren bürgerliche Herkunft, und in ihrem Urteil waren sie womöglich noch entschiedener feindlich gegen die überkommene bürgerliche Kultur als die Kritiker aus den Reihen der KPD. Die Bilderstürmer, sie kamen und kommen in der Regel nicht aus dem einfachen Volk, das war schon zu Luthers Zeiten so.

Ich will nur einige der Themen und Positionen benennen, um die der Streit ging. Und nicht alle von jenen, die sich an der Debatte beteiligten, darunter recht Berühmte, Kisch und Kurella, Wittvogel, Brecht und Gorki usw. usf. haben sich mit Ruhm bekleckert. Aber sich doch dann auch von beschämenden Positionen abgewandt. Und das geschah aus politischen (!) Gründen. Man konnte doch keine politische antifaschistische Volksfront bilden, nicht mit Bürgern gegen die Nazis zusammengehen, wenn man die Kunst und Kultur des Bürgertums nur einfach pauschal negierte. Man konnte doch nicht gemäß ultralinkem Gehabe Goethe einen kleinbürgerlichen Spießer nennen. Solche Worte kamen beispielsweise von Egon Erwin Kisch. Berta Lask meinte, bezogen auf Stendhal, Dostojewski, Tolstoi, Rilke, Werfel, Trakl, die bürgerliche Kunst diene doch nur der Ablenkung.(3)

Friedrich Wolf schrieb: "Gebt den Jungen Arbeit und Brot, Atemraum und ein eigenes Bett. Aber lasst sie mit der Iphigenie und den Wilhelm Tell in Ruhe, die heute für den Jungarbeiter nichts anderes sind als Dunst, Opium und Phrase."(4)

Oder nehmen wir Brecht: Gefragt, wie man es mit dem klassischen Repertoire halten solle, antwortete er: Man kann nicht mehr wagen, es "in seiner alten Form erwachsenen Zeitungslesern anzubieten. Wirklich brauchen kann man nur den Stoff." Manche Stücke seien geradezu ungenießbar. Er sprach sich dagegen aus, mit solchem "schrecklichen Gerümpel" wie Kunstformen abzuarbeiten. Und zum Gerümpel zählte er Hebbels "Herodes und Marianne"; Schillers "Wallenstein" und Goethes "Faust". Er verglich sein Traditionsverständnis mit dem der Vandalen, für die altrömische Kunstwerke nur als Brennholz getaugt hätten.(5) Oder man nehme diese Bewertung Thomas Manns zur Kenntnis: Da ist bei Alfred Kurella die Rede von der Dekadenz des Thomas Mann. "Das ist Geist vom Geiste der Henker Deutschlands. Das verkennen heißt, nichts vom Wesen des Faschismus und von der Notwendigkeit des kompromisslosen Kampfes gegen ihn verstanden zu haben."(6) Der große Maxim Gorki fand in solchem Erbe nicht nur Honig, sondern auch Gift. Und Becher schrieb: "Nieder mit der Kunst! Denn mit Büchern und Bildern ist diese Welt vergiftet. Wie verspotte ich dieses wertlose Gerümpel."(7) Ich könnte noch erheblich mehr solcher Zeugnisse anführen.

Ich möchte mit ihnen nur zeigen, dass, wer über die Kunstdiskussion heute reden will, der muss über die Kunstdiskussion überhaupt in der sozialistisch-kommunistischen Arbeiterbewegung diskutieren! Man sah im Konstruktivismus, Dadaismus, Expressionismus, Futurismus, Kubismus Ausgeburten des Chaos. Keineswegs die Zerstörer der Zerstörung am Werk, sondern den Versuch, durch solche Art Kunst die Massen an der Erkenntnis der Realität zu hindern.

In den Auseinandersetzungen kommunistischer Schriftsteller und Kulturpolitiker mit der überkommenen bürgerlichen Kunst ging es um den Versuch, ihr eine konsequente Alternative entgegen zu stellen, die überkommenen ästhetischen Normen zu überwinden, dies durch die Betonung der Priorität des Inhalts vor der Form zu erreichen, zugleich aber in der Ablehnung der Formexperimente sich gegen die bürgerlich Avantgarde zu stellen. Worin aber besteht dann die neue, die proletarische Methode? Im proletarischen Massendrama? In den Gestalten der Stendhal, Tolstoi, Dostojewski, Rilke, Werfel, Trakl und des jungen Becher habe die bürgerlich Literatur die Kunst der Seelenentwicklung der Individuen hoch entwickelt, diene aber damit in gefährlicher Weise der Ablenkung vom Klassenbewusstsein, vom Klassenkampf, vom kollektiven Denken und Handeln, bewirke die Vergiftung mit bürgerlicher, individualistischer Ideologie. Dem müsse nicht durch eine gleiche Individualisierung der Proletarier, sondern durch Massenaufführungen und Massendrama entgegen gewirkt werden. Erst nach der Revolution könne man sich auch daran machen, individuelle und psychologische charakterisierende Literatur zu schaffen. Ein zweiter Strang wurde in der dokumentierenden Literatur gesehen, die im Werk Kischs dieser bürgerlich-individualistischen Kultur entgegen wirke.


Die Volksfront-Periode

Wie kam es zur Überwindung dieses Linksradikalismus in der Kunstdiskussion der Kommunisten? Es bedurfte einer historischen Katastrophe. Es kam nicht zur neuen Proletarischen Revolution, sondern zum Sieg des Faschismus. Und der machte den Kommunisten klar, dass die bürgerliche Republik in ihrer Todesphase gegen den anstürmenden Faschismus zu verteidigen sogar um der Aufrechterhaltung der eigenen legalen Arbeitsmöglichkeiten bitter notwendig gewesen wäre. Mühsam und opferreich war der Weg zum VII. Weltkongress der Komintern, zur Erarbeitung einer Politik der antifaschistischen Volksfront, also des Zusammengehens auch mit den bürgerlichen Antifaschisten. Es lässt sich diese Wendung wohl am kürzesten darstellen mit den Worten Dimitroffs in der PRAWDA: Die Kommunisten müssten Vorhut sein in der Vollendung der unvollendet gebliebenen bürgerlichen Revolution, vorangehen im Kampf um den Fortschritt.(8) Es stellte sich bald heraus, dass es da doch wichtige und wertvolle Bündnispartner gebe, dass man Thomas Mann eben doch wohl anders bewerten müsse, als dies Kurella getan hatte. Die Politik prügelte die Kommunisten dazu, sich wirklich vom Linksradikalismus zu befreien. Und bis in Jahr 1937 hinein, bis zu den Moskauer Prozessen, hatte sich um diese Volksfront, in deren Zentrum die Kommunisten wirkten, solche Meister der Kultur versammelt wie Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, André Gide, Romain Rolland und H.G. Wells. Der würdige Konservative Thomas Mann ging in seinem "Dr. Faustus" so weit, Serenus Zeitblohm sagen zu lassen, die Rettung der Kultur könne nur noch vom Sozialismus kommen. Und der Preußen-Prinz Luis Ferdinand vertraute im KZ Dachau dem holländischen Kommunisten Nico Rost an, er hoffe, dass die Rote Armee bald in Berlin sei, denn die Bolschewiken hätten die Zarenschlösser nicht zerstört, aber die Nazis würden's wohl tun. Und tatsächlich schickte die Rote Armee ein Vorkommando nach Sanssouci, es vor der Zerstörung zu bewahren. Die Erwartung, in den Beschlüssen des VII. Weltkongresses der Komintern ausgesprochen, die Volksfront könne bis ins bürgerliche Lager hinein ausstrahlen und Kräften auch in diesem Lager die Bereitschaft wecken, zusammen mit den Kommunisten den Weg in den Sozialismus zu beschreiten, war keine Illusion. Dass hier fürchterliche Einbrüche erfolgten, war eines der Ergebnisse der Moskauer Prozesse - an deren Folgen wir noch heute zu leiden haben - und dann einer erneuten Hinwendung zum Linksradikalismus um die Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts wegen der sogenannte Tito-Affäre. Damals verloren wir viele jener Bundesgenossen, die sich in der Volksfront-Periode angeschlossen hatten.


Zurück zum VII. Weltkongress!

Mit ihm traten völlig neue Fragen in den Vordergrund der Debatten. Gefragt wurde, wie schon bei Mehring und Plechanow: Wie ist das Verhältnis der Arbeiterbewegung zum klassischen Erbe? Wie verhalten sich Kontinuität und Bruch? Gibt es über die Zeit hinausweisende Momente und wenn ja, welche sind das?

Hat die Bourgeoisie in ihrer revolutionären Periode nicht doch auch die objektiven Interessen des Proletariats vertreten und kann man daraus Folgerungen ableiten? Darf man die Kunst umstandslos der Politik unterordnen? Wäre das nicht unhistorisch, also unmarxistisch? Ja, und wenn man sagt, wir sollten uns die Waffen der Literatur, der Kunst aus dem bürgerlichen Zeughaus holen und die bürgerliche Kunst überholen, müsste es da nicht einen für beide Kunstarten verbindenden Maßstab geben? An diesen Debatten (sie fanden zunächst naturgemäß in der Emigration statt) waren sie alle beteiligt. Gerade einige, die sich zuvor bedenklich geäußert hatten, bemühten sich nun um die notwendigen neuen Orientierungen. Brecht, der diese Debatten, insbesondere mit Georg Lukacs geführt hatte, als teilweise gebranntes Kind sehr gut geeignet für die Eingriffe in bereits zu jener Zeit durch Shdanow inspirierte Formalismus-Diskussion.

Vielleicht ist es - dies eine methodische Nebenbemerkung - hilfreich, sich anzuschauen, wie Marx und Engels das Mittel der Kritik, des Umgangs mit dem Tradierten behandelten. Als sie im "Kommunistischen Manifest" auf Varianten der Kapitalismus-Kritik zu sprechen kamen, verwiesen sie darauf, dass es einen qualitativen Unterschied ausmacht, ob man den Kapitalismus, wie sie die konservative Kapitalismus-Kritik, von der Vergangenheit her betreibt, oder wie sozialistische Kritik es unternimmt, indem sie den Kapitalismus aus der Perspektive der Zukunft der Gesellschaft beurteilt. Das gilt übrigens - so nebenbei sei es angemerkt - auch für die Art und Weise, wie man Sozialismus-Kritik üben kann (und soll!): Vom Boden der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Bedingungen, ihrer Demokratie aus ist sie reaktionär, jedoch unter dem Gesichtspunkt dessen, was der Sozialismus versprach und hätte einhalten können, ist sie progressiv. Und auch in Bezug auf die bürgerliche Kultur sollten wir es so halten. Vom Boden jener Kräfte aus, die hinter die Aufklärung zurück wollen, diese etwa mittels einer angeblichen Wertegemeinschaft aushebeln wollen, ist sie reaktionär, aber unter dem Gesichtspunkt der Rettung der Menschheit vor der Katastrophe ist das Bündnis mit humanistisch geprägter bürgerlicher Gegenwartskultur eine notwendige humanistische Alternative.

Ich denke, aus der Geschichte der Kunst- und Literatur-Debatten unter und von Marxisten sind auch für das Heute Lehren zu ziehen. Hat es sich nicht gezeigt, dass solche Debatten immer mit Politik zusammenhingen? Ich denke, es geht um die Art und Weise, wie Politik hier zu wirken imstande sein könnte. Es hat sich gezeigt, dass es der Kunst nicht gut bekommt, wenn sie den politischen Orientierungen des Strategisch-Taktisches und seinen häufig nötigen die häufigen Zick-zack-Wendungen unterworfen wird. Und es sollte dabei das humanistische Gipfelgespräch der großen Künstler beachtet werden, das sich durch die Jahrhunderte hindurch zieht und auch uns im Urteil helfen sollte. Theoretisch formuliert: Auch hier ging und geht es um Orientierung an materialistischer Dialektik.


Anmerkungen:

1) Mehring, E: Gesammelte Schriften, Band 11, S. 224 f.

2) Hermann-Neiße, M.: Lukacs' Liste großer Vertreter enthielt dagegen Fielding, Goethe, Balzac, Tolstoi. Ihnen stellte er abzulehnende Autoren der antigestalterischen Art entgegen: Zola, Sue, Flaubert, Hugo, die über den Expressionismus, die Neue Sachlichkeit bis zu Sinclair, zu Brecht weiterführen.

3) Lask, B.: Über die Aufgaben der revolutionären Dichtung, zuletzt in: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten, S. 133

4) Wolf, E: Kunst ist Waffe, Zuletzt in: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland, S. 48

5) Brecht, B.: Wie soll man heute Klassiker spielen? In: Brecht, Gesammelte werke, Bd 7, S. 111; Brecht: Stirbt das Drama? Ebenda, S. 104, Materialwert, ebenda S. 106

6) Kurella, A.: Die Dekadenz Thomas Manns, in Internationale Literatur 2/1934, S. 158

7) Becher, Joh. R.: Um Gott, Leipzig 1921, S. 263

8) Dimitroff, G. in PRAWDA, 07.11.1936


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- "Der Dramatiker Friedrich Wolf", Conrad Felixmüller 1947, Holzschnitt
- "Lion Feuchtwanger", Herbert Sandberg 1958, Feder- und Pinselzeichnung
- "Franz Kafka", Vladimir Fuka 1958, Collage aus "das imaginäre Porträt"

Raute

Fakten und Meinungen

Irene Eckert

Die Agonie der Friedensbewegung überwinden - zur Antikriegsbewegung werden!

Sommer 2010 - ein untragbarer Zustand

Die Verschärfung der Blockade gegen die Islamische Republik Iran spitzt sich dieser Tage zu. Iranische Flugzeuge werden auf internationalen Flughäfen nicht mehr aufgetankt oder werden blockadebedingter Wartungsmängel wegen gleich ganz aus dem Verkehr gezogen. Israelische und US amerikanische Sicherheitsbedürfnisse ermöglichen es auch, dass die Atommacht Israel weiterhin mit Hilfe der USA von den Verpflichtungen des Atomwaffensperrvertrages ausgenommen werden kann.

In dieser Logik kann die Regierung Obama ihren Partner im Nahen Osten neuerlich mit einem ganzen Spektrum von Nukleartechnologie und Geräten versorgen.(1) Es handelt sich bei diesem Partner um einen kleinen Staat, der aber militärisch so hochgerüstet wurde, dass er es wagen kann, Nachbarn in der Region mit einem Angriff, ja sogar mit einem Nuklearangriff, zu drohen. Israel, von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen, überzieht seit 1948 seine Nachbarn immer wieder mit Krieg und sperrt im besetzten Palästina die Einwohner mit einem 700 km langen "Sicherheitszaun" ein, der Terrorgefahr wegen, die von diesen Menschen grundsätzlich ausgehe. Dieser Staat, der sich seit seiner Gründung über jegliches internationale Recht scheinbar folgenlos hinwegsetzen kann, erfreut sich einer unsäglichen, und für die Weltgemeinschaft hochgefährlichen Narrenfreiheit.

Das bleibt natürlich nicht folgenlos. Rechtsvergessenheit und moralischer Verfall in den Völkerbeziehungen werden offenkundig. Die Gefahr neuer Kriege wächst.

Ebenso bedrückend wie die von israelischem Boden aus geführten Kriege, wie Ungerechtigkeit und Leid der arabischen Einwohner der Region, ist aber die Tatsache, dass hierzulande danach kein Hahn kräht, zumindest nicht in den Kreisen, die unter dem Etikett "Friedensbewegung" agieren. Die "offene Wunde" Nahost-Konflikt, wie Noam Chomsky sie einmal bezeichnete, ist nicht verheilt. Radikal-islamischer Terrorismus ist dafür Beleg.(*) Es handelt sich um einen Konfliktherd, den es so nicht geben könnte ohne das Erbe des Kolonialismus und ohne den vom faschistischen Deutschland rassistisch motivierten Völkermord am europäischen Judentum.

Perfiderweise werden die Überlebenden dieser historisch beispiellosen Mordpolitik und ihre Nachkommen in die Rolle versetzt, ein an diesem Unrecht völlig unschuldiges Volk, die Palästinenser, zu entrechten und an den Rand seiner Existenzfähigkeit zu drängen.

Die sich bedroht fühlenden Israelis durchschauen vermutlich in ihrer Mehrheit das Spiel genauso wenig wie die deutschen Bundesbürger, denen unter dem Namen "Wiedergutmachung" schon seit Gründung des Staates Israel Waffenhilfe für ein neokoloniales Projekt eingeredet worden ist. Den betroffenen Überlebenden von Auschwitz und anderen Höllenfeuern wurde hingegen lange Zeit Unterstützung vorenthalten. Für viele gilt das noch heute.

Das schlimme Wüten Israels gegen Ägypten, Syrien, Jordanien, Libanon und gegen die palästinensischen Flüchtlinge ist auch den Menschen bei uns nicht verborgen geblieben. Im schlimmsten Fall hat es den tradierten Antisemitismus in der BRD verstärkt. Der Friedensbewegung käme hier die vornehme Aufgabe zu, über das Wesen des Konflikts aufzuklären, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen und ein Ende deutschen Rüstungshilfe zu fordern. Das Anliegen der BDS-Kampagne nach Suspendierung des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel müsste unterstützt werden, um damit der Forderung nach Aufhebung der Blockade des Gaza-Streifens und nach Einhaltung menschenrechtlicher Mindeststandards und des Völkerrechts Nachdruck und zu verleihen. Solche humanitären Anliegen mit allen Kräften zu fördern, gebietet die Anforderung, die unserer Generation und auch unseren Kindern und Enkeln aus dem bedrückenden Erbe des Faschismus erwachsen ist. Ganz ohne Verordnung, selbstverständlich. Aber nichts dergleichen aus der Friedensbewegung.

Zwar gibt es hier und da ein im Unverbindlichen endendes Seminar, zu dem sachkundige Referenten eingeladen werden(2), aber man bleibt im engsten Insiderkreis, tritt nicht an die große Öffentlichkeit. Konsequenzen aus wichtigen Vorträgen(3) werden nicht gezogen, Forderungen nicht erhoben, Positionen nicht entwickelt und schon gar nicht öffentlich artikuliert. Zum fünfjährigen Jubiläum der international beachteten BDS - Kampagne(4) gab es in der Hauptstadt Berlin sogar einen Büchertisch und eine kleine Aktion vor der Niederlassung des Rüstungskonzerns Rheinmetall und zusätzlich eine Presseerklärung(5). Das war es aber auch schon an Aufklärung und Stellungnahme. Der so wichtige Bericht des jüdisch-südafrikanischen Richters Goldstone, unter seiner Leitung im Auftrag des UNO-Menschenrechtsrats erstellt und von Abraham Melzer auf deutsch zugänglich gemacht, wird allenthalben ausgeblendet. Drei Abgeordnete der LINKEN stellten eine ihn betreffende Anfrage an die Bundesregierung, deren unverbindliche Antwort wurde in der jüdischen Zweimonatsschrift "Der Semit" dokumentiert, wo sonst?

Sozusagen im vorweggenommenen Sommerloch stimmten 24 Abgeordnete der LINKEN bei der geforderten Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Sudan mit Enthaltung. Sie folgten damit einer Empfehlung Paul Schäfers und Stefan Liebichs, beide wohl der Meinung, man könne schließlich nicht immer nein sagen. Ein solches Abstimmungsverhalten steht natürlich im Gegensatz zur Programmatik der LINKEN, die vor allem wegen ihrer Antikriegsposition und wegen ihres Neins zu allen Auslandseinsätzen gewählt worden ist.

Solch inkonsequente Haltung der einzigen im Parlament vertretenen Oppositionspartei im Lande wirkt sich auch auf die außerparlamentarische Bewegung demotivierend aus. Kleinere Oppositionsparteien, wie etwa die DKP, trauen sich ebenfalls nicht mit einer konsequenteren Antikriegs-Position hervor.

Vordergründig verbirgt sich hinter solch opportunistischer Anpassung an den Zeitgeist das Kalkül, einmal mitzumischen, gegebenenfalls will man wer werden. Psychologisch lässt sich das Versagen der Akteure mit der Angst vor Ausgrenzung, vor Verlust auslegen. Allerdings knicken auch Tapfere, Gutwillige, Selbstlose ein, versagen gegenüber den angebotenen Erklärungsschemata und sitzen etwa menschenrechtlichen Scheinbegründungen für die jeweiligen neokolonialen Kriege auf. Daher muss man, will man nicht folgenlos moralisieren, weitergehen. Bohrt man tiefer, offenbart sich ein Mangel an theoretischer Analysefähigkeit, mangelnde Einsicht in den Gang der Geschichte als Ursache für die falsche, gut gemeinte Positionierung. Ebenso schwer wiegt der Mangel an fundierten Kenntnissen über den als Feindbild verordneten Gegner. Feindbildprojektionen können nur gelingen, wo aus Scham vor der Mitverantwortung an Menschenrechtsverletzungen der eigenen Seite diese auf den Gegner projiziert werden. Scham und das damit verbundene schlechte Gewissen setzen dort ein, wo die wirklichen Verursacher des Unrechts und die eigene Instrumentalisierung für die ungerechte Sache nicht durchschaut werden.

Nehmen wir etwa das in der Debatte um den Krieg im Mittelpunkt stehende Islambild. Das seit den Kreuzzügen und den Türken vor Wien nicht wirklich korrigiert wurde. Goethe beschäftigte sich mit dem Islam, etwa mit dem großartigen persischen Dichter Hafiz, der zum Vorbild seines "West-östlichen Diwan" wurde. Lessing setzte dem historischen Saladin ein Denkmal, aber darüber hinaus?

Völlig, aber auch völlig zu Unrecht wird der Islam weitgehendst mit Frauenverachtung bzw. mit der Unterdrückung der Frau gleichgesetzt. Wer kennt schon die Quellen, um nicht falschen Übersetzungen aufzusitzen? Wer weiß schon so genau Bescheid über Frauenförderung im Islam oder gar über eine führende Rolle der Frauen? Wer weiß schon, dass etwa 60 Prozent der Studierenden im Iran Frauen sind? Wer kommt auf die Idee, mit großartigen filmischen Leistungen iranischer Frauen eigenes Umdenken zu begründen. Der neueste iranische Film "Women without men" mag politisch zwiespältig sein, gleichwohl ist er ein Kunstwerk erster Güte.

Im Propagandakampf gegen den Iran wird unser menschenrechtliches, humanitäres Anliegen, nämlich den Rechten der Frau Geltung zu verschaffen, instrumentalisiert, Kriegsbereitschaft zu erwecken. Professor Helga Baumgarten zeichnet mit ihrer Studie "Hamas - der politische Islam in Palästina"(6) ein differenziertes Bild dieser zwiespältigen, als radikal-islamisch verschrieenen Organisation und ihrer Entwicklung zu einer gesellschaftlich einflussreichen Organisation, in der auch Frauen ihren Platz haben und gefördert werden. Das Feindbild Islam zu hinterfragen, solches Unterfangen gehörte in friedensbewegte Kreise unter Maßgabe der biblischen Vorschrift "Du sollst dir kein Bildnis machen", auch kein Feindbildnis.


Utopie - kein Ort nirgends

In Kriegszeiten ist die Krise der Friedensbewegung schon fast eine Selbstverständlichkeit. In Kriegen, in die uns der Imperialismus treibt, verlangt er von uns "Gewehr bei Fuß". Von uns aber ist gefordert: Mehr Mut und vor allem mehr Studierbereitschaft in Bezug auf die wahren Ursachen der Kriege. Ein bisschen Aktionismus hier und da erscheint demgegenüber eher kontraproduktiv, weil damit der Anschein erweckt wird, es gäbe noch eine echte, geduldete Opposition. Mit diese Annahme machen wir etwas vor. Geduldet wird nur, was nicht wirklich und konsequent NEIN sagt.

Wir dürfen nein sagen zum Regime im Iran und zu dessen Menschenrechtsverletzungen. Wir dürfen nein sagen zu Verbrechen der Hamas. Aber wir dürfen nicht fordern: keinen Krieg gegen den Iran, Freiheit für Palästina, Schluss mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr mit und ohne UN-Mandat.

Die Antikriegsfrage ist aber Kernfrage unserer Zeit, nicht umsonst die rote Linie, an der sich Koalitions- und Regierungsfähigkeit der LINKEN entscheiden soll.

Imperialismus, sprich kostengünstige Ausplünderung der für die moderne Industrieproduktion notwendigen Ressourcen des globalen Südens, lässt sich ohne Krieg nicht machen, ebenso wenig die Durchsetzung des neoliberalen Modells der Ausbeutung. Wer glaubt, sich wegducken zu können, wird bald feststellen, dass ihm immer mehr geraubt wird, abzulesen am Schicksal Palästinas draußen und Hartz IV drinnen.

Mit der Vorstellung, der Marxismus sei obsolet, muss Schluss gemacht werden. Pseudotheoretikern wie Sloterdijk muss Einhalt geboten werden. Auch ein Habermas, der den Krieg gegen Jugoslawien rechtfertigte, bietet kein philosophisches Denken, das Rüstzeug sein kann in der Auseinandersetzung um Krieg und Frieden. Und in der Literatur? Nobelpreisträgerin Hertha Müller, Büchnerpreisträger Moosebach? Reaktionäre auf der anderen Seite, keine Verbündeten im Friedenskampf.

Um uns zu wehren, müssen wir es wieder lernen, uns kollektiv zu wehren.

Bundeswehr raus aus Afghanistan!
Schließt alle ausländischen Militärstützpunkte!
Beendet alle Besatzungsregimes!
Beendet die Blockadepolitik gegen Iran, gegen
Gaza, gegen Kuba!


Anmerkungen:

1) Rainer Rupp in "junge Welt" vom 12.7.2010

2) So das Seminar des "Berliner Friedenskoordinationskreises" unter der Leitung von Laura von Wimmersperg am 26. Juni 2010 im Naturfreundehaus zum Thema Nahost oder eine Woche später der von Christa Nowak und der NGO Baobab organisierte Workshop mit Professor Helga Baumgarten von der BirZeit Universität bei Ramallah zum Thema "hamas" im Haus der Demokratie.

3) Wie etwa dem von Stefan Ziefle, Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten der LINKEN Christine Buchholz.

4) "BDS Boykott-Divest-Sanctions" Kampagne der palästinensischen Zivilgesellschaft mittels derer Israel (analog dem Vorgehen gegen das damalige rassistische Südafrika) zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards gezwungen werden soll.

5) Siehe "Abgeschrieben" in "junge Welt" vom 12.7.2010. Laut Veranstalter sollte gegen die Rüstungskooperation (Herstellung unbemannter Drohnen) zwischen Rheinmetall und Israel Aerospace demonstriert werden.

6) Baumgarten, H.: Hamas - der politische Islam in Palästina, München 2006

(*) Erratum
aus Icarus 4/2010 S. 51

Im Beitrag Irene Eckerts "Die Agonie der Friedensbewegung überwinden..." hat sich bei der redaktionellen Bearbeitung auf S. 31 ein Satz ergeben, den die Autorin nicht anerkennt. Sie schreibt dazu:

"Die 'offene Wunde' Nah-Ost-Konflikt, wie Chomsky ihn einmal bezeichnete, ist ein schwärender Eiterherd, der auch für den radikal-islamischen Terrorismus und den weltweiten Kampf gegen ihn herhalten muss. Sie missbrauchen mein Vertrauen und und fälschen den Gedanken, so dass er sich so anhört: Die 'offene' Wunde Nah-Ost-Konflikt, wie Noam Chomsky sie einmal bezeichnete, ist nicht nicht verheilt. Radikal-islamistischer Terror ist dafür Beleg. Nie und nimmer hätte ich so etwas geschrieben. Ich halte es so formuliert für gefährlichen Unsinn."


*


Kultur für Massen. Dieser Begriff trifft besser jene weitverbreitete, demütigende Kunst, womit das Bewusstsein manipuliert, die Wirklichkeit verfälscht und die Kreativität im Keim erstickt wird. Da es nur einigen, wenigen vorbehalten bleibt, die Freuden irdischer Güter zu genießen, muss sich die Mehrzahl der Bevölkerung damit zufrieden geben, sich von Illusionen zu nähren. Trugbilder von Reichtum verkauft man den Armen, Trugbilder der Freiheit den Unterdrückten, Siegesträume bietet man den Besiegten und Bilder der Macht gaukelt man den Schwachen vor.

Eduardo Galeano

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter Michel

Flurbereinigung im Albertinum

Im Katalog der Galerie Neue Meister Dresden schreibt der jetzige Direktor Ulrich Bischoff, diese Galerie habe als wichtigste Bühne für die Kunst der (und in der) DDR über eine sehr umfangreiche und qualitätvolle Sammlung der Kunst der Zeit von 1945 bis 1989 verfügt.(1) "Die Galerie Neue Meister bewahrt eine der bedeutendsten musealen Sammlungen von Kunst der DDR", teilt er weiter mit. "Um diesen Bestand von über 600 Gemälden herum hat sich ein Forschungsprojekt unter dem Titel 'Bildatlas: Kunst in der DDR' angesiedelt, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wird. Einbezogen in diese Untersuchungen sind ferner Bestände aus anderen Museen aus dem Bereich der ehemaligen DDR, aus dem Kunstarchiv Beeskow und dem Kunstfonds des Freistaates Sachsen und verwandten Sammlungen. Ziel dieses Verbundprojektes (TU Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden u. a.) ist nicht nur die möglichst genaue Rekonstruktion der Erwerbungsgeschichte. Es soll darüber hinaus mit neuen Fragen nach zeithistorischer Bedeutung und künstlerischer Qualität versucht werden, die Geschichte der Kunst in der DDR neu und unvoreingenommen darzustellen und auch einzuordnen. Aus diesem Forschungsvorhaben wird sich mittelfristig auch eine neue Präsentation im Albertinum ergeben."(2)

Also: Wir heißen euch hoffen. Fragen gibt es dennoch für jeden, der kurz nach der Eröffnung am 19. Juni 2010 das neue Albertinum besuchte und mit einem Achselzucken die Galerie Neue Meister verließ. Wie wird heute die "zeithistorische Bedeutung" von in der DDR entstandener Kunst beurteilt? Wer gibt dabei den Ton an? Welche Maßstäbe gibt es jetzt für künstlerische Qualität? Gilt weiter der schlichte Grundsatz: Je entfernter von der "Macht", umso qualitätvoller? Wird man nach den Erfahrungen der vergangenen zwanzig Jahre tatsächlich mit einer "neuen und unvoreingenommenen" Darstellung und Einordnung dieser Kunst rechnen können oder setzen sich die plumpen "Forschungen" z. B. des Nürnberger Sitte-Symposiums fort, an denen auch die TU Dresden mit zwei Wissenschaftlern beteiligt war? Und was heißt "mittelfristig"? Werden jene, die ihre Werke bis 1989 im Albertinum in guten Händen wussten und heute noch leben, und jene, die mit diesen Werken aufwuchsen, die "neue Präsentation" noch erleben? Man tröstet schlecht, man schafft sich Zeit. Hofft man aufs Vergessen?

Schon 1990 hatte der damalige gewendete Direktor Horst Zimmermann Willi Sittes Historienbild "Die Überlebenden" aus der Dauerausstellung des Albertinums mit der forschen Begründung entfernt, es sei nicht so gut wie es groß sei, was in der Presse nicht nur eilige Zustimmung, sondern vor allem Entrüstung hervorrief. Hier war vorauseilender Gehorsam im Spiel - und vielleicht die Angst, man könnte sich an die Lobgesänge erinnern, die Horst Zimmermann 1971 als seinerzeitiger Direktor der Kunsthalle Rostock im Katalog einer von ihm initiierten Sitte-Ausstellung anstimmte. Dort hatte er "die bedeutende künstlerische Leistung Willi Sittes für die Herausbildung einer das Aufbauwerk unserer Republik widerspiegelnden und die sozialistische Menschengemeinschaft beeinflussenden bildenden Kunst" hervorgehoben und u. a. geschrieben: "Man spürt in den Werken, wie sehr der Künstler mit den vielgestaltigen und äußerst komplizierten Problemen unserer Welt verwachsen ist, und begreift, dass die gleiche progressive Haltung eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Verstehen seiner Bilder ist."(3) Auch in jüngster Vergangenheit gab es immer wieder Vorgänge, die ein gebrochenes Verhältnis zu in der DDR entstandener Kunst illustrieren. Als die GBM-Galerie für Februar 2004 ihre Willi-Neubert-Ausstellung vorbereitete und aus dem Fundus der Galerie Neue Meister seinen "Schachspieler" als Leihgabe erbat, kam die unglaubwürdige Antwort, das Bild sei in einem schlechten restauratorischen Zustand und könne deshalb nicht verliehen werden. Walter Womackas "Paar am Strand" war schon kurz nach der "Wende" aus der Präsentation verschwunden; es kam im Juni 2004 anlässlich der großen Womacka-Retrospektive nach Eisenhüttenstadt und blieb seitdem als Dauerleihgabe im dortigen Städtischen Museum; so hat das Albertinum einen "Problemfall" weniger. Auf das Angebot, den künftigen künstlerischen Nachlass der in Meißen und Dresden aufgewachsenen Malerin und Graphikerin Heidrun Hegewald, deren Werke von nationaler Bedeutung sind, für das Albertinum zu übernehmen, reagierte der Direktor Ulrich Bischoff nicht; er beauftragte einen Mitarbeiter mit der Antwort, die eine Ablehnung ohne Begründung war, und behielt die als Geschenk beigefügte wertvolle Hegewald-Monographie, ohne sich dafür zu bedanken. Solcherlei Reminiszenzen gehen einem durch den Kopf, wenn man das architektonisch hervorragend gestaltete neue Albertinum betritt. Hinzu kommen Erinnerungen an 1987/88, als dort die freien Künste in der X. Kunstausstellung gezeigt wurden. (Die angewandten Künste waren damals in der inzwischen abgerissenen Ausstellungshalle am Fucikplatz zu sehen.) Und auf den Wänden, an Treppenaufgängen und auf Saalflächen tauchen im imaginären Gedächtnis viele Werke auf, die damals dort präsent waren. Jede dieser zentralen Kunstausstellungen der DDR war für die Galerie Neue Meister eine logistische und restauratorische Belastung. Zum Bau einer Kunsthalle für diesen Zweck fehlte der DDR die Kraft. In einem Interview anlässlich seines 85. Geburtstages hatte Bernhard Heisig die Erwartung geäußert, es sei doch an der Zeit, eine wirklich gleichberechtigte gesamtdeutsche Kunstausstellung größeren Ausmaßes vorzubereiten. Unsere Zweifel an der Realisierbarkeit eines solchen Vorhabens wurden beim Besuch der "Neuen Meister" gestärkt.

Nach der Hochwasserkatastrophe vom August 2002 ist das Albertinum nun in einem Zustand, der den Werken beste Präsentationsmöglichkeiten und vor allem Schutz vor möglichen künftigen Schäden bietet. Der Berliner Architekt Volker Staab, der bereits die Ausstellungsräume für die Sammlung Gunzenhausen in Chemnitz neu gestaltete, der das Neue Museum für zeitgenössische Kunst und Design in Nürnberg plante und u. a. die Entwürfe für die Erweiterung des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Münster, die Neue Galerie Kassel und das künftige Künstlerkoloniemuseum in Ahrenshoop entwickelte, sanierte, reparierte und organisierte die Räume des Albertinums neu, perfektionierte sie und schuf einen lichtdurchfluteten Innenhof, über dem - für die Besucher unsichtbar - in einer Art Arche das Depot und Restaurierungswerkstätten gleichsam schweben.

Die Erwartungen sind groß, die mit einer solchen architektonischen Leistung an die zur Schau gestellten Werke gerichtet werden. Sie werden zunächst nicht enttäuscht.

Der Klingersaal bietet als eindrucksvolles Ensemble von Gemälden, Plastiken, gründerzeitlicher Architektur und Farbgestaltung ein geschlossenes Bild der deutschen Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit Werken Klingers, Böcklins, Stucks und der sächsischen Symbolisten Oskar Zwintscher, Hans Unger und Sascha Schneider. Diese Geschlossenheit von Konzeption und Gestaltung konnte man auch in den schwarzen Räumen des Schaudepots erleben, wo nicht - wie zum Beispiel in der Ausstellung "Rahmenwechsel" in der Beeskower Burg - den dort gelagerten klein- und mittelformatigen Skulpturen in einer Dicht-an-dicht-Präsentation ihre Würde genommen, sondern durch einfühlsame Platzierung und Beleuchtung der Eigenwert jedes Stücks hervorgehoben und das Erleben von kunsthistorischen Beziehungen erleichtert wird.

Zwischen den beiden Teilen des Schaudepots - in den Räumen, die über einige Jahrzehnte das Grüne Gewölbe beherbergten - sind z. Z. Werke jener Künstler zu sehen, die nach dem Jahrhunderthochwasser von 2002 ihre Arbeiten für eine Benefizauktion zur Verfügung stellten. Der Erlös von 3,4 Millionen Euro hatte den Grundstock für die Sanierung des Gebäudes gebildet. Diese Dankbarkeitsgeste hat aber den Nachteil einer kaum überbietbaren, nahezu chaotischen Zufälligkeit der Auswahl. Ein Museum mit Weltruf sollte sich überlegen, wie lange es sich das leisten kann. Der dem Klingersaal gegenüberliegende Mosaiksaal strahlt mit seinen Skulpturen eine unterkühlte Ruhe aus. Man hätte ihm seine Farbaskese lassen sollen. Dass auf dem antiken Fußbodenmosaik im oberen Teil dieses Saales eine überdimensionale, stark farbige, transparente plastische Form brutal platziert wurde, ist nicht nur geschmacklos, sondern zeugt von wenig Respekt vor den großen Leistungen der Kunstgeschichte.

Der Rundgang durch die Galerie Neue Meister führt zuerst durch einen Raum, der verschiedene Annäherungen an das Thema Landschaft zeigt und darstellen will, dass sich auch heute Künstler auf das Zeitalter der Romantik beziehen. Außerdem soll an Beispielen der Erwerbungszeitraum der Galerie erfasst werden. Die Zusammenstellung erscheint mir deshalb fraglich, weil z. B. von Hubertus Giebe mit seiner Ostseelandschaft "Dangast" ein untypisches Werk gezeigt und weil Blechens "Galgenberg bei Gewitterstimmung" von 1835 nur nach formalen, nicht nach geistigen Kriterien mit einem Bild von Peter Krauskopf von 2006 in Beziehung gesetzt wird.

Die folgenden Räume entschädigen zunächst für manche bis dahin erlebte Ernüchterung. Da gibt es die jahrelang vermissten Wiederbegegnungen mit Caspar David Friedrich, Carl Gustav Carus, Johann Christian Dahl und Ludwig Richter, mit den französischen Impressionisten, den Werken Max Liebermanns und Lovis Corinths. Warum inmitten der Ägyptenbilder Max Slevogts - in dieser kunsthistorisch konzipierten Abteilung - zwei Türen des chinesischen Konzeptkünstlers Ai Weiwei aus weißem, geäderten Marmor aufgestellt wurden, bleibt ein Rätsel. Klassische Moderne und Postmoderne klingen hier nicht zusammen. Ebenso ist nicht nachzuvollziehen, weshalb im Expressionistensaal ein abstraktes Gemälde von Sean Scully aus dem Jahr 2002 hängt. Verwandtschaftliche Beziehungen zum Expressionismus vermittelt dieses auf Harmonie und Ruhe zielende Werk nicht. Solcherlei Rätselhaftigkeiten tauchen in einigen Passagen der Neuen Meister auf. Man wird den Verdacht nicht los, dass es sich hier um Verlegenheitsplatzierungen handelt. Die "Brücke"-Künstler, Oskar Kokoschka, Otto Dix (u. a. mit seinem sehr gut gehängten Triptychon "Der Krieg"), Paula Modersohn-Becker sie alle schufen in Dresden wichtige Arbeiten der Klassischen Moderne. Und sie gehörten zu den großen Anregern für viele Künstler, die in der DDR lebten und arbeiteten. Es bleibt wohl auch ein Geheimnis des Galeriedirektors, weshalb er bei der Hängung die Neue Sachlichkeit übersprang.

In den letzten vier Sälen begannen die größten Ungereimtheiten und Enttäuschungen. Es ist sicher gut und richtig, Penck, Baselitz und Richter, die sich im Kunst-Establishment des Westens durchsetzten und in Sachsen ihre Wurzeln haben, oder auch Göschel, Strawalde, Graf und andere, die in der DDR oft auf Widerstand stießen, in besonderer Weise zu ehren. Das geschieht aber in einer solchen Disproportion, dass das politische Kalkül überdeutlich wird. Bei aller Achtung: Wozu brauchen Penck und Baselitz jeweils eigene Säle und warum geht bei Gerhard Richter die Ehre mit zwei Sälen noch weiter? Penck, der auf Riesenbildflächen seine entindividualisierten Strichmännchen präsentiert, hatte immerhin in Dresden in einem Kurs an der Volkshochschule bei Jürgen Böttcher (Strawalde) und in Abendkursen der Hochschule für Bildende Künste Dresden bei Bernhard Kretzschmar, Wilhelm Rudolph und Gerhard Kettner das Zeichnen und Malen gelernt; einige wenige Arbeiten, die das belegen, sind zu sehen, aber sie verschwinden im Bombast der großen Formate. Die Qualität der Arbeiten von Georg Baselitz (eigentlich Georg Kern aus Deutschbaselitz in der Oberlausitz) wird m. E. überschätzt. Wer seine Bilder auf den Kopf stellt, hat vielleicht zu wenig andere Mittel, um aufzufallen. Von Baselitz stammt der besonders freiheitliche Satz, die Künstler in der DDR seien allesamt "Arschlöcher". Der in Dresden geborene Gerhard Richter, der schon 1951 die DDR verließ, ist der seriöseste aus dieser Gruppe. Er gehört inzwischen zu den berühmtesten Gegenwartskünstlern Deutschlands. Nach der Elbe-Flut von 2002 hatte er im Albertinum zunächst vier eigene Räume. Dass es jetzt nur noch zwei sind, beruhigt ihn. "Mehr wäre nicht gut", meint er, "das gibt nur böses Blut".(4) Vielleicht beschränkt er sich im Interesse seiner ostdeutschen Künstlerkollegen später auf einen Saal. Man stelle sich vor, die Münchener Neue Pinakothek stellte nur einen Raum für jene zur Verfügung, die als westdeutsche Realisten unter dem Diktat der Abstrakten zu leiden hatten: Carlo Schellemann, Albert Heinzinger, Harro Erhart, Jochen Sendler oder Helmut Goettl; das wäre dann ausgleichende Gerechtigkeit.

Die wenigen Arbeiten von Künstlern aus der DDR - u. a. von Wolfgang Mattheuer, Wilhelm Rudolph, Harald Metzkes oder Theodor Rosenhauer - wirken wie Feigenblätter, um die Ausgrenzung unverzichtbarer Arbeiten zu verdecken. Wer z. B. auf den "Preußischen Soldatentanz" von Bernhard Heisig, den "Sizilianischen Großgrundbesitzer mit Marionetten" oder das "Requiem" von Werner Tübke, auf Hans Grundigs "Den Opfern des Faschismus" oder sein Triptychon "Das Tausendjährige Reich", auf Wilhelm Lachnits "Tod von Dresden" verzichtet, begeht einen Frevel am eigenen Erbe. Diese Arbeiten werden zwar im Katalog gezeigt, sind aber in der Ausstellung nicht zu sehen. Es fehlen auch wichtige Arbeiten von Curt Querner, Bernhard Kretzschmar, Ronald Paris, Siegfried Klotz, Erich Gerlach, Hartwig Ebersbach und vielen anderen. Erst kürzlich ehrte der Ministerpräsident des Landes Brandenburg die herausragende künstlerische Lebensleistung Bernhard Heisigs mit dem Brandenburgischen Kunstpreis. Heisig hatte schon in den Siebzigerjahren gemeinsam mit Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke und Willi Sitte an der "documenta" in Kassel teilgenommen; von diesen vier Malern ist im Albertinum nur Mattheuer übrig geblieben. Wenn voraussichtlich im September 2010 der zweite Band des Kataloges der Galerie Neue Meister erscheint, der ein Bestandsverzeichnis sämtlicher Werke enthalten soll, wird der ganze Umfang dessen deutlich werden, was gegenwärtig von der ostdeutschen bildenden Kunst von 1945 bis 1990 fehlt. Natürlich kann man bei dem riesigen Bestand von mehr als 2500 Werken von der Romantik bis zur Gegenwart immer nur einen kleinen Teil zeigen. Das aber muss mit Augenmaß, nicht mit Borniertheit oder Intoleranz geschehen. Auch mit Blick auf die Skulpturensammlung im Erdgeschoss, die den aufgeblasenen Hervorbringungen zeitgenössischer Objektkunst mehr Luft zum Atmen lässt als den großartigen Zeugnissen der Bildhauerkunst von Rodin, Maillol, Degas, Lehmbruck, Cremer, Förster usw. verdichtet sich der Gesamteindruck, dass es im Albertinum weniger um eine ernsthafte, museumswissenschaftlich fundierte Neugestaltung geht, sondern um ein krampfhaftes Mühen um Modernität, um die Angst, irgendwie den Anschluss zu verpassen. Dadurch werden viele Teile des neuen Albertinums austauschbar und die traditionsgeladene, einzigartige Sammlung läuft Gefahr, ihr Gesicht zu verlieren. Das Wuchern mit dem eigenen, kostbaren Pfund ist aber wichtiger als das Schielen nach außen. Im Feuilleton der "ZEIT" schrieb Florian Illies u. a.: "Es ist ein spektakulärer Bestand, der da in Dresden versammelt ist - doch was in der Neuhängung mit diesem Material gemacht wurde, ist zwar in manchen Fällen mitreißend, in anderen jedoch auf irritierende Weise missglückt".(5)

Man kann die "andere Moderne", die im Osten Deutschlands unter widersprüchlichen Bedingungen wuchs, im Depot belassen. Verschweigen kann man sie nicht. Und wenn hoffentlich bald - eher als "mittelfristig" - Vernunft einzöge, könnte man eine bisher vertane Chance im Interesse kunstgeschichtlicher Seriosität wieder nutzen.


Anmerkungen:

1) Galerie Neue Meister Dresden. Illustrierter Katalog in zwei Bänden, hrsg. von Ulrich Bischoff, Bd. 1, Verlag der Buchhandlung Walter König, Köln 2010, S. 20

2) Ebenda, S. 21

3) Horst Zimmermann im Vorwort des Katalogs "Willi Sitte. Gemälde. Zeichnungen. Grafik. 1971", Kunsthalle Rostock, S. 7

4) Birgit Grimm: Alles ergibt sich aus der Lust, in: Sächsische Zeitung vom 19./20. Juni 2010, Magazin, S. 5

5) Florian Illies: Wo sind Dresdens schönste Frauen? Zehn Gründe, warum das wiedereröffnete Albertinum in Dresden missglückt ist. Und drei, warum es gelungen ist, in: DIE ZEIT vom 24. Juni 2010, S. 57


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Willi Sitte "Die Überlebenden", 1963, Mischtechnik auf Hartfaser, 200 x 350 cm
- Willi Neubert "Der Schachspieler", 1964, Öl auf Hartfaser, 142 x 120 cm
- Hans Grundig "Den Opfern des Faschismus", 1947, Öl auf Hartfaser, 110 x 200 cm
- Werner Tübke " Bildnis eines sizilianischen Großgrundbesitzers mit Marionetten", 1972, Öl auf Holz, 80 x 190 cm
- Die Hängung der Arbeiten in der Galerie in der Berliner Weitlingstraße

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Hans-Rainer Otto

10. Sommergalerie der GBM

Eine Laudatio

Liebe Gäste, liebe Mitglieder der GBM und des Freundeskreises Kunst aus der DDR, ein herzliches Willkommen. Zum kleinen Jubiläum begrüßen wir ebenso herzlich unseren wiedergewählten Bundesvorsitzenden Professor Wolfgang Richter.

Einen besonderen Gruß den anwesenden Ausstellern dieser 10. Sommergalerie Dr. Christa Anders, Diplomingenieurin Renate Aulfes, Bauingenieur Ernst Jager und Professor Erich John.

Ernst Jager war es, der Mitte der 90er Jahre beharrlich an den Vorstand der GBM herantrat, endlich den Bitten weiter Teile unserer Mitgliedschaft zu entsprechen und jährlich eine Präsentation künstlerischer Arbeiten von zielstrebigen Autodidakten und talentierten Freizeitkünstlern auf dem Gebiet von Malerei, Grafik, Fotografie, Keramik u. a. zu ermöglichen. 2000 wurde die erste Ausstellung für Hobbymaler von Mitgliedern und Freunden der GBM durchgeführt, ab 2001 als "Sommergalerie" unter der Obhut des Arbeitskreises Kultur.

In den vergangenen Jahren haben sich die Teilnahmebedingungen oftmals geändert, nur die Verantwortlichkeit der AG Kultur nicht. Und in der AG liegt sie bei Ernst Jager. Er ist seit 1994 GBM-Mitlied, Vorsitzender des Ortsverbandes Barnim und 2010 wiedergewähltes Vorstandsmitglied.

Dank gilt allen aktiven Mitglieder der Arbeitsgruppe Kultur unter der Leitung von Dr. Peter Michel für ihre ehrenamtliche Arbeit. Allein vier Mitglieder der AG Kultur wurden 2010 mit dem Ehrenabzeichen unserer Organisation ausgezeichnet.

Auf der diesjährigen GBM-Delegiertenkonferenz wurde die geänderte Satzung bestätigt, in der es unter anderem heißt: Förderung von Kunst und Kultur, verwirklicht in vielfältigen kulturellen Veranstaltungen und Initiativen, z.B. auch Ausstellung von bildender Kunst, besonders von Künstlern mit DDR-Sozialisation, Publikationen, Buchlesungen und -vorstellungen. Die heutige Ausstellung trägt dazu bei.

Die vier genannten Künstler, die in diesem Jahr die Sommergalerie bestreiten, haben eigene Auswahlen getroffen und die zugewiesenen Ausstellungsflächen mit Arbeiten bestückt, von denen keine älter als zehn Jahre ist. In Gesprächen mit den Ausstellern fanden wir uns in der Übereinstimmung, dass es keinen anderen Zugang zur Kunst gibt als den Umgang mit ihr. Es gibt keine abstrakte Möglichkeit, nur eine sinnliche. Nur, wenn man wenn sinnlich erfahren hat, kann einem auch die Abstraktion etwas geben.

Die sinnliche Beziehung besteht darin, dass die Betrachter zunächst einmal ein ganz unvoreingenommenes Verhältnis zur Kunst eingehen. Das gilt für alle Begegnungen mit den hier ausgestellten Arbeiten.

Ich werde mich kurz fassen. Was in der jeweiligen Vita steht, braucht nicht wiederholt zu werden. Doch es gibt hervorhebenswerte Übereinstimmung in den Biografien. Alle vier Aussteller haben den faschistischen Krieg und die schweren Aufbaujahre durchgestanden. Alle haben einen Bildungsweg bis zur Hochschule genommen, haben später große berufliche Leistungen an Plätzen erbracht, an denen sie gebraucht wurden und alle wurden von diesem Platz entlassen, mitten aus lebenssinngebender Arbeit heraus.

Alle haben in der Kunst den Kampf um ihre Menschenwürde aufgenommen und gewonnen.

Dr. Christa Anders, die Ärztin, gehörte zu den ersten Vorstandsmitgliedern der GBM und war deren langjährige Geschäftsführerin. Sie hat das "Knowhow" der GBM entwickelt. Die Anfangsjahre waren nicht einfach. Darüber könnte sie nun ihr drittes Buch schreiben. Zwei liegen heute zum Kauf vor: "Mit Rostocker Hochseefischern auf Fischfang" und "Traumreisen".

In der Mitte ihres Berufslebens wechselte sie als Ärztin im angesehenen Berliner Krankenhaus im Friedrichshain für zwei Jahre als Bordärztin auf Fangschiffe des Hochseefischereikombinats. Die hohe Anerkennung, die sie gewann, beförderten sie zur Schiffsärztin auf das FDGB-Urlauberschiff "Völkerfreundschaft". Beneidenswert auch noch heute.

Danach war sie Leiterin eines Rehabilitationszentrums für psychisch und körperlich behinderte Menschen. Dort entlassen und in der GBM vor Anker gegangen, fand sie in deren Zielen, dem Schutz von Bürgerrechten und Menschenwürde, Übereinstimmung mit ihrer eigenen Haltung.

Im Vorfeld der 10. Sommergalerie haben wir ihre Fotografien entdeckt. In den neun Jahren zuvor hatte sie kein Foto angeboten.

Zur Eröffnung ihrer diesjährigen Fotoschau in der "Bodo-Uhse-Bibliothek" wurde ich eingeladen und war überrascht. Heute stellt sie hier ihre gefundenen Naturschönheiten aus. Das sind keine hektischen Fotos, wie sie heute üblich sind. Man spürt Freude an Entdeckungen und an Assoziationen, die sich einstellen. Zwiesprache kann man halten mit dem Lebendigen.

Von der Fotografie zur Ölmalerei und zur Töpferei von Renate Aulfes. Zum zweiten Mal stellt sie in der GBM-Sommergalerie aus. Vor fünf Jahren war sie mit drei Bildern unter 13 Ausstellern beteiligt, zur 10. nun gestaltet sie eine Fläche mit 20 Bildern und ebenso vielen Keramiken.

Aus ihrer Vita kann man herauslesen, dass sie seit 1996 in vielen Ausstellungen von Jämtland in Schweden bis zum Berliner Alex präsent war. Sie leitet im KOMM, einer Berliner Begegnungsstätte der Behindertenvereinigung, einen Malzirkel von Behinderten wie auch von Nichtbehinderten. Mit dieser Arbeit spendet sie jüngeren und älteren TeilnehmerInnen Kraft für die Gestaltung eines sinnerfüllten Lebens.

Prof. Dr. Siegfried Mechler hat 2007 in einer Laudatio gesagt: "Renate Aulfes malt, weil wir unsere Naturzyklen durch die Wirtschaftszyklen ersetzt haben und dadurch unsere Sehnsüchte nach Zeitsouveränität und Zeitwohlstand unerfüllt bleiben. Motive aus der Natur üben eine große Faszination auf sie aus." Das zeigen Bilder wie "Frühling", "Sommer". Wenn ihr Widerspruchsgeist zu stark herausgefordert wird, drückt sie bildhaft ihre Meinung zu aktuell-politischen Ereignissen aus.

Sie hat die Winterlandschaft "Eiszeit" in den Mittelpunkt ihrer Wandfläche gesetzt, umgeben von Porträts der Kanzlern Merke!, in Beziehung also zum frostig-starren Buchenwald. In diesen Kreis sind auch die ölgemalten Karikaturen von Rösler und Westerwelle einzubeziehen.

Professor Erich John, der Formgestalter, sagt zur Ergänzung seiner Vita: "Eigentlich wollte ich Maler werden Aufgrund der Entwicklungsumstände kam es aber nicht dazu. Nach dem Krieg wurden eher Leute gebraucht, die beruflich direkt am Aufbau mitwirkten. So kam es bei mir von Anfang an zu engen Kontakten mit Schlosserei, Eisen und Metall, ohne dass ich es je vorher beabsichtigt hätte. Meine innere Zuwendung galt eher der Natur und der Absicht, ihre Wirkung auf Emotion und Mentalität des Menschen deutlich zu machen. Ich habe neben meinem Beruf immer gezeichnet und gemalt. Nach meiner Emeritierung fand ich die Muße und Gelegenheit, meiner Neigung nachzugehen." Nun ist er Maler und besitzt eine eigene Galerie von über 200 Bildern, Bilder mit Spuren von Mecklenburg über Nordamerika bis Thailand.

Formgestaltung verlangt Phantasie und Träume, ebenso Exaktheit und Realität. Seine "Urania-Weltzeituhr" auf dem Alexanderplatz bestätigt dies für jeden der hier Anwesenden. Millionenfach schon wurde sie Treff für Einwohner und Gäste der Stadt.

Im Mittelpunkt seiner neun hier gezeigten Acrylbilder stehen seine Zuwendung zur Natur und seine Reflektionen zu Werken anderer: "Wissower Klinken - In Memoriam Caspar David Friedrich". Ein zweiter Motivkreis liegt in Mallorca, wo ihn regelmäßige Aufenthalte zu à la prima in Acryl gemalten Straßen und Häusern verführen, Ansichten, die weit weg von den Tourismusprospekten sind. Hervorheben möchte ich noch "Times Square um Mitternacht". Farbsetzung und Lichtpunkte in unterschiedlichen Achsen lassen das Bild strahlen, trotz der Nacht.

Schließlich möchte ich nochmals auf Ernst Jager zurückkommen. Er hat die Assemblage "Palastabriss" zusammen mit den Computerarbeiten "Im Foyer" und "Vera Lengsfeld - Begründung" in das Zentrum seines Ausstellungsteils gerückt. So wird Kunst zur Waffe, weckt sie doch Scham und Zorn zugleich.

Er stellt die Frage nach den Möglichkeiten der Kunst im Alltag. Wie sehr brauchen wir Kunst als Mittler zwischen dem Leben und uns? Er selbst sagt, dass er durch seine Begegnung mit Künstlern, die in unserer Galerie ausgestellt haben, Mut gefasst habe zur eigenen künstlerischen Arbeit, auch dazu, das Anliegen der Gesellschaft, malerisch und grafisch darzustellen.

So entstanden das Relief mit dem Motiv der Friedenstaube nach Walter Womacka und die Zeichnung "Eine Kassandra im Dienst am Menschen", Hommage an Heidrun Hegewald und Mahnung gegen den Neofaschismus.

Darüber hinaus möchten wir auch seine handwerklichen Fähigkeiten nicht missen. Das gilt besonders für die Aufstellung und Verankerung unserer neuen Plastik von Jenni Wiegmann-Mucchi "la terra II" vor unserer Galerie.

Auch wird der neue Schriftzug "Galerie" in unserer Frontscheibe aufgefallen sein: Entwurf und Betreuung der handwerklichen Arbeit - Ernst Jager. Und seine Postkarten, die Sie als Spenden für die GBM nutzen können. Sie können sicher sein, solange es einen Ernst Jager gibt, gibt es die Sommergalerie. Dank und Anerkennung allen ihren Akteuren.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Fotos aus der Reihe Baumporträts von Dr. Christa Anders: v.l.nr. Plänterwald, Berlin 2008 • Park des Jagdschlosses
Moritzburg, Meißen 2007 • Garten zum Grab Humayuns, Delhi 2004
- Ernst Jager "GBM-Relief", wie es sich für einen Baufachmann gehört: Beton
- Erich John "Küstenlandschaft"
- "Die Westerwelle" von Renate Aulfes und ein wenig nur "die Welle" von Hokusai


*


Aus dem Gästebuch der Vera-Singer-Ausstellung in der GBM-Galerie

Liebe Vera, Du hast uns eine wichtige Ausstellung geschenkt, die sehr zum Nachdenken anregt. Deine Porträts zeigen eine große Einfühlungsgabe. Du schaust in die Seele der Menschen und gibst das sehr gut wieder... Ich glaube, dass Deine Botschaft, dass die Menschen sich achten und verstehen sollen, ankommt und dass sie die Welt reicher und besser macht.
Maria

Herzlichen Dank, liebe Vera Singer, für die tollen Menschenbilder. Man möchte diesen Menschen gern begegnen, mit ihnen sprechen, über ihr Leben erfahren und ihre Träume.
Kathrin und Matthias

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Ronald Paris

Für Genni

Rede am 18. Mai 2010 anlässlich der Aufstellung der Bronzeplastik "la terra" von Jenni Wiegmann-Mucchi in der Weitlingstraße vor der GBM-Galerie in Berlin-Lichtenberg

Liebe Freunde, meine Damen und Herren,
es lag wohl an der wunderbaren Eigenschaft von Jenny und Gabriele, dass beide uns eine schnelle Nähe durch schöpferische Neugier schaffen konnten. Schon 1955, als Bert Heller Mucchi an der Weißenseer Hochschule einführte, waren wir Studenten höchst gespannt auf den toleranten und weltoffenen Geist, der im hartnäckig geführten dummen Streit über Formalismus und Realismus eine sicher intelligentere, von Erfahrung geprägte Wende erhoffen ließ.

Wenn ich auch rächt direkt ein Schüler von Mucchis Klasse war, so ist es doch dieser einladenden Art zu danken, dass ich mit beiden schnell zu Gesprächen fand, die nie abbrechen sollten. Ich kann sagen, dass ich beiden dafür zu danken habe, die Aufmerksamkeit auf Wesentlicheres im Bemühen um Kunst gelenkt zu haben, als um einseitige theoretische Doktrinen, die einer leidenschaftlichen Selbstfindung nur im Wege standen.

Dass die fast väterliche Freundschaft bis zu Gabrieles Tod anhielt, sei nur am Rand erwähnt, denn heute gilt es Jenni zu huldigen, die 1895 geboren und 1969 mit 74 Jahren aus einem reichen künstlerischen Schaffen schied. Mancher der hier heute Anwesenden hat noch die hochsensible, leise Güte in Erinnerung, die zu einer so kraftvollen Herangehensweise an Skulptur gegensätzlicher nicht sein konnte. Ich schätze mich glücklich, einen Katalog zu besitzen, in dem großartige Texte dem Werk von Jenni huldigen, die uns allen zum Nachlesen zur Verfügung stehen.

Noch lebt Rafaele de Grade mit fast einhundert Jahren. Er war und ist der ständige Wissenschaftler, Freund und Begleiter von beiden. Seiner profunden Kenntnis habe ich nichts entgegen zu setzen und kann nur seine Hochachtung uneingeschränkt teilen. Neben grundsätzlichen Texten zu den großen Malern wie Filipino de Pisis, Renato Guttuso, den Bildhauern Gerhard Marcks und Waldemar Grzimek ergänzen die Texte von Lothar Lang, Dieter Schmidt, Mario de Micheli, Sergio Salmi, Lamberto Vitali, Ulrich Gertz, Herbert Sandberg und anderen, und nicht zuletzt von Gabriele selbst, das Werk von Jenni huldigend.

Schon 1943 bis 1945 gehörte Jenni dem italienischen Widerstand gegen den Faschismus an. Ab 1950 ist sie eine aktive Mitbegründerin des Neo Realismo in Italien, jener Bewegung, in deren wahrhaftigen Werken im Film, in der Malerei und in der Plastik wir jungen Studenten so sehr eine echte Hinwendung zum Dasein und zur gesellschaftlichen Realität mit allen Widersprüchen erkannten. Überzeugender jedenfalls, als das zu Bildern gebrachte Wunschdenken und das Schönfarben sowjetischer Kunst. Gerade diese Tragik, wie sehr die großartige revolutionäre, frühe Sowjetkunst zeitweilig verachtet und verdrängt werden konnte, beinhaltete unsere jahrelangen Gespräche.

Jenni und Gabriele standen zur Moderne ihres Landes, neben den Traditionen deutscher Kunst, mit uneingeschränkter Achtung. Diese Kontinuität zur Wahrheitsfindung, sie selbst nie zu verlassen, darin bestand ihr Appell, ohne die schwierige DDR-Wirklichkeit und die weltweiten Kämpfe je aus dem Auge zu lassen. Dass Jenni mit dieser Skulptur mich zu den schönsten Erinnerungen veranlasst und dass sie in diesem Werk selbst lebendig bleibt, dafür sei der Familie, besonders Susanne und Gabrio auf das herzlichste gedankt.

Raute

Personalia

Klaus Georg Przyklenk

Henri Rousseau 1844-1910

Zwei Jahre vor seinem Tod am 2. September 1910, vor einhundert Jahren, hatten sich seine Freunde so etwas wie einen derben Spaß einfallen lassen. Sie luden ihn zu einem Festessen und gaben wohl auch vor, sie gäben es ihm, dem Künstler Henri Rousseau, zu Ehren. Der schlichte Mann, der nach Dienstjahren beim Pariser Stadtzoll von einer kleinen Pension mehr schlecht als recht lebte, nahm die Einladung als Ehrung an, die ihm zustand. Dass ihm die jungen Maler um Picasso und den Dichter Apollinaire eigentlich einen Streich spielten, ahnte er nicht. Ihre Ironie blieb ihm verborgen. Er betrachtete sich als ihresgleichen, sah sich mit Picasso zusammen als großen Maler der Epoche, er "im modernen Genre", Picasso im "ägyptischen". Zwei Jahre später war er gestorben. Aber da war aus dem Spott seiner Weggefährten schon echte Anerkennung und Kameradschaft geworden. Seitdem hängen seine Bilder in den großen Galerien der Welt - in Paris, in Prag, in New York, in St. Petersburg.

Und die Kunsthistoriker, die die Entwicklung der Kunst so genau definiert und in Stile und Richtungen zu erklären gewusst hatten, waren vor die Frage gestellt: "Ist das Kunst?"

Offensichtlich hatte der "Douanier" keine Vorstellung davon, dass das Bild einer menschlichen Figur von unsagbar vielen Bewegungsabläufen geprägt wird, dass sich Heerscharen von Kunstadepten Studienjahr um Studienjahr mühen, dieses Geheimnis zu ergründen. Von anderen Fragen wie der Raumdarstellung, der Bildkomposition oder den farbigen Ausdruckswerten der Farbe wusste er ebenfalls kaum etwas. Er handelte intuitiv. Unbekümmert malte er seine Menschen so, als seien sie für alle Ewigkeit fest und starr.

Mit den bis dahin geltenden Kriterien war seine Malerei als Kunst nicht zu begründen.

Aber das galt ja nicht nur für Rousseau. Das galt ja auch für Rousseaus bekanntere Freunde, galt für Picasso und Braque, ja galt wohl auch schon für van Gogh und die späteren Fauvisten. Picassos wie geschnitzt wirkendem "Fräuleins von Avignon" verbargen nicht, das hölzerne Masken des Yorubastammes in Afrika ihm Vorbild gewesen waren. Die fast starre Geometrie kubistischer Bilder war auch nicht gerade mit der Elle des bewegten Naturvorbildes zu messen. Kein Wunder, dass die spottende Überheblichkeit der anderen sich zu ehrlicher Achtung wandelte. Sie sahen nun in ihm einen Geistesverwandten.

Die Kunstkritiker behalfen sich mit der Benennung seiner Malerei mit einer Art Notnamen:

Naive Malerei, Malerei des einfältigen Herzens, Sonntagsmalerei, Primitive. Das ist bis heute so geblieben. Unausgesprochen wird da mitgeteilt, da seien Maler, die nicht Malerei studiert haben. Aber nach diesem Kriterium ist Vincent van Gogh ein gescheiterter protestantischer Hilfsprediger, allenfalls Bilderhandlungsgehilfe. Gauguin bleibt ewiger Bankangestellter.

Utrillo wird dann für immer nur der Sohn der Suzanne Valadon bleiben, die sich beim Modellstehen für echte Maler etwas abgeguckt hat.

Dabei ist es gar nicht so, dass es nicht schon Jahrhunderte früher Menschen gab, die sich das Recht nahmen zu malen. Aber wenn heute einer Jan Steen sagt, meint er den Maler, nicht den Gastwirt, als der er seinen Lebensunterhalt bestritt.

Und die vielen Votivbilder in den katholischen Kirchen? Geschaffen von Primitiven ohne Namen.

Marx hat mal auf die Frage, ob es im Kommunismus auch Maler geben werde, geantwortet, es werde Menschen geben, die auch malen. Nicht etwa, auch Menschen, die malen.

Wahrheit ist wohl, dass es keinen Künstler geben wird, der alles kann, was Kunst als Ganzes vermag. Das Fehlen auch nur eines Malers, der so leichtfertig als "holländischer Kleinmeister" in den Katalogen erwähnt wird, nähme der Kunst etwas von ihrer Fülle.

Utrillo ist ein Maler unvergesslicher Pariser Stadtlandschaften, sensibel gemalter Straßenzüge, die von Strichmännchen belebt werden. Letztere durch einkopierte Musterknaben aus einem Handbuch für Architekturzeichnen zu ersetzen, vernichtete mit Sicherheit das Kunstwerk Utrillos.

Was aber könnte das sein, der Wert "der Malerei des einfältigen Herzens"? Sicher nicht die messbare Höhe des Preises, den ein Rousseau auf dem Kunstmarkt erzielt. Ganz sicher auch nicht der negative Wert Unkenntnis realer Zusammenhänge als Ausweis echter Naivität.

Und auch nicht die oft erwartete Gemütlichkeit. Wert kann nur das sein, was auch für alle andere Kunst gilt: Wahrhaftigkeit des Anliegens, vielleicht auch Suche nach Schönheit an Orten, wo sie nur schwer zu finden sein wird und Vertrauen auf die Kraft der Farbe.

Und wenn sie dann die Grenze zum Kitsch, die immer nahe bleibt, nicht überschreitet, keine Unwahrheit sagt, nichts Edles vorgaukelt, nichts Modisches nachäfft, dann ist sie einfach Kunst.

Auch Kulturpolitik sozialistischer Länder stand a priori vor der Frage, wie dieses Schöpfertum des Volkes als Ausdruck der Selbstverwirklichung des Einzelnen zu fördern war. Die Vielzahl von Zirkeln in DDR-Betrieben und -Einrichtungen verdanken diesem Anliegen ihr Entstehen. Ob die Anregung, die einzelne Zirkelleiter den malenden Arbeitern, Ärzten oder LPG-Bauern gaben, richtig gewesen sein mag, hängt von der menschlichen Reife der Anleitenden ab. Dass es eine umfassende, materiell auch abgesicherte Bewegung gab, dokumentierten die regelmäßigen Volkskunstausstellungen. So gab es z. B. im Berliner Haus der DSF regelmäßig die von Ärzten und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens bestückte Schau "Mit Stethoskop und Palette". Problem aller dieser Ausstellungen waren natürlich immer die Auswahlkriterien. Für die stand der Begriff "künstlerische Qualität".

Und der ist alles andere als eine messbare Größe. In allen sozialistischen Ländern offenbarten sich in den fast 45 Jahren ihres Bestehens großartige Talente. Weltruhm erwarb sich der polnische Bergmann Teofil Ociepka mit seinen märchenhaft farbigen Träumen aus dem Steinkohlenwald. Jugoslawische Bauernmaler wie Ivan Generalic errangen weltweite Achtung. Und selbst die kleine DDR wartete mit den innigen und poetischen Bildfindungen des Hallensers Albert Ebert auf, der als Bauarbeiter mit dem Malen begonnen hatte. Er war übrigens der, der früh Anerkennung bei Künstlerkollegen fand, die ihn behutsam förderten. Carl Crodel versuchte ihm, an der Burg Giebichenstein Hilfe zu geben. Ebert hat dort eine Zeit lang als Heizer gearbeitet. Daraus wurde das in der Berliner Nationalgalerie bewahrte Gemälde "Heizers Geburtstagsständchen" von 1956.

Zwanzig Jahre nach dem Untergang der DDR gibt es auf dem Territorium immer noch Zirkel dieser Herkunft. Die Betriebe, von denen sie einst getragen worden waren, sind schon lange nicht mehr. Eine kulturelle Spur ist von diesen vergangenen Verhältnissen geblieben, auch wenn sich die Namen geändert haben und da statt Zirkel jetzt Verein steht.

Die Sommergalerie der GBM, deren Laudator Hans-Rainer Otto in diesem Heft zu Wort gekommen ist, steht in dieser Tradition. Sie erinnert an den Zöllner Henri Rousseau, der mit seinem Schaffen in die Kunstgeschichte eintrat. Von da an war auch Volkskunst mit dem Namen von Künstlern verbunden. Seither sind ihre werke nicht mehr Sammelgut ethnografischer Museen. Sie sind als Kunstleistungen ins Bewusstsein der Zeitgenossen getreten. Auch die Aussteller der Sommergalerie stehen auf Rousseaus "Schultern". So hat Paul Klee mal den Grund benannt, von dem sich ein Künstler erhebt.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Henri Rousseau, Selbstbildnis (Ausschnitt), 1902/03, Öl/Lw
- Tschechoslowakische Briefmarke mit dem "Selbstbildnis Rousseaus als Zöllner" aus der Nationalgalerie Prag, 1967

Raute

Personalia

Rüdiger Bernhardt

Und doch eine Anzeige in der Zeitung ...

Zum Tode des Schriftstellers Günter Görlich am 14. Juli 2010

Zweimal hat Günter Görlich den Titel "Anzeige in der Zeitung" gewählt. "Eine Anzeige in der Zeitung" (1978) war Görlichs erfolgreichstes Buch und erlebte zwölf Auflagen; Buch und Film lösten widersprüchliche Meinungen darüber aus, wie man ein einheitliches Bildungssystem nutzen kann, um soziale und individuelle Probleme zu lösen. Leser und Zuschauer waren keineswegs einer Meinung. Das Buch wäre heute, wo Bildungspolitik die Spielwiese der Provinzpolitik ist, brennend aktuell. "Keine Anzeige in der Zeitung" (1999) war eine Autobiografie, die Fragen stellte und einige beantwortete. Görlich machte auch nach 1989 nie ein Hehl daraus, die sozialistische Entwicklung befördert zu haben. Die, die Schuldbekenntnisse von ihm einforderten, warteten vergeblich. Enttäuscht titelte Fred Reinke 1993 nach einer Lesung Görlichs in Halle seinen Bericht: "Kein Eingeständnis eigener Mitschuld". Görlich war ein konsequenter Sozialist, Schriftsteller und Funktionär, worin hätte seine Schuld bestehen sollen? Andere warfen dem siebzigjährigen Görlich vor, zu früh eine Autobiografie geschrieben zu haben, denn er stünde noch immer "zu Freunden von früher" (Reinhold Lindner).

Dass "Eine Anzeige in der Zeitung" zum großen Buch- und Filmerfolg wurde, hatte er dem aufklärerischen Anspruch zu danken, mit dem Erziehungsmethoden befragt wurden. Die "Erziehung der Erzieher" war ein zentrales Thema des Buches. Der erste Satz des Romans machte die Konflikte deutlich: "Anfang August, an einem Donnerstag, vermutlich in den Vormittagsstunden, nahm sich der Lehrer Manfred Just das Leben." Der Tod war nicht ungewöhnlich in der Literatur der DDR, es gab berühmte Todesfälle wie den des Ole Bienkopp von Strittmatter oder den des Lehrers Magnus bei Görlich, auch andere. Mit dem Selbstmord verhielt sich das anders, und der Selbstmord eines Lehrers war ungewöhnlich. Ihn mit solcher Präzision beschrieben und ihn an die Seite anderer Selbstmorde von Jessenin bis Majakowski gestellt zu haben, war neu. Mit diesem Buch erhob sich Görlich über sein früheres Werk und über das vieler Zeitgenossen.

Görlich wurde am 6. Januar 1928 in Breslau geboren. Er erlebte das typische Schicksal dieser Generation, die als Flak-Helfer in den Krieg getrieben wurde, in sowjetische Gefangenschaft geriet und dort Schwerstarbeit leistete, die, wenn sie überlebte, durch zielstrebige und hartnäckig betriebene Bildung und nachdrücklichen Einsatz für eine andere Welt ihre verlorene Jugend wiederfinden wollte. Sie sollte frei von Krieg, durch gemeinsames Eigentum und durch Chancengleichheit für die bisher Vernachlässigten geprägt sein. Eine Begrifflichkeit dafür fand sich später ein und hieß Sozialismus. Görlich war die Personifikation solchen Denkens; das Wort "Ordnung" wurde zu einem Leitbegriff seines Werkes und durchzog besonders "Eine Anzeige in der Zeitung", wurde zum Problem, wenn es als Disziplin und "Sauberkeit" begriffen wurde. Dass seine erste Erzählung "Der schwarze Peter" 1958 ein Jugendbuch war, er 1951 ein Pädagogikstudium und von 1958 bis 1961 ein Studium am Institut für Literatur "Johannes R. Becher" in Leipzig absolviert hatte, führte literarisches Werk und aufklärerische Absicht in einem geistigen Ordnungssystem zusammen, das der Jugend galt. Es wurde zum beherrschenden Lebensprinzip Görlichs.

Die Jugend gehörte zu seiner Leserschaft; seine Bücher erreichten Millionenauflagen. Schulklassen wanderten auf Hiddensee die Tour nach, die Görlich in "Den Wolken ein Stück näher" (1971; mit einem Nationalpreis geehrt) beschrieben hatte. Dass er nach 1989 wieder Jugendbücher schrieb, da man seinen konfliktreichen Büchern, zu nennen wären mindestens noch "Die Chance des Mannes" (1982) und "Drei Wohnungen" (1988), ihre Wirklichkeit entzogen hatte, zeigt, wie er sich geistig treu blieb.

Dass diese Geschichten für Kinder und Jugendliche kleine Verrücktheiten beschrieben ("Der verrückte Onkel Willi", 2007), hängt mit der Beliebigkeit unserer Zeit zusammen. Es blieben Görlich dafür nur kleine Verlage, bei denen die politischen Haltungen der Andersdenkenden noch einen Platz bekamen. Die literarische Qualität der Romane der siebziger und achtziger Jahre, die auch unbeeinflusst von Görlichs vielfältiger politischer Arbeit und ihren stereotypen Versatzstücken blieb, erreichte er nach 1989 nicht mehr. Seine ersten Sätze und seine klar strukturierten Hauptsätze standen in der Tradition Fontanes, dem er in "Eine Anzeige in der Zeitung" mit einem oft zitierten Birnbaum ein Denkmal setzte, und Falladas und wurden zu seinem literarischen Markenzeichen. Seine Romane dienen immer wieder dazu, an Günter Görlich, einen geradlinigen Menschen, und an ein auch in seinen Unebenheiten ästhetisch reizvolles literarisches Werk in "Anzeigen in der Zeitung" zu erinnern.

Nachdruck aus "Unsere Zeit"


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Von rechts: Günter Görlich, seine Frau und Klaus Höpcke in einer Veranstaltung in der GBM-Galerie in der Weitlingstraße


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Am 9. November 1989 hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, dass man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.

Ronald M. Schernikau

Raute

Rezensionen

Maria Michel

Fiktion vom guten Nazi

Jitka Gruntova: "Die Wahrheit über Oskar Schindler. Weshalb es Legenden über gute Nazis gibt", übersetzt und herausgegeben von Klaus Kukuk, edition Ost im Verlag Das Neue Berlin 2010, 288 S., brosch. Mit zahlreichen Abb., ISBN 978-3-36001815-1, 14,95 €

Werden Schwarz und Weiß gemischt, ergibt das Grau. Je nach dem Anteil an Schwarz oder Weiß wird das Grau heller oder dunkler. Oskar Schindler, ein "Gutmensch", der "gute Nazi", der Mann mit der weißen Weste? In diesem Buch wird das Gegenteil bewiesen. Die Historikerin Jitka Gruntova, Jahrgang 1945, wie Oskar Schindler in Svitavy (Zwittau) geboren, hat keine Mühe gescheut, aus Archiven und Museen Schindlers Wirken zu erforschen. Sie befragte Zeitgenossen und nennt Fakten. Ihre unermüdlichen Recherchen, die Vielzahl von Quellenangaben lassen erahnen, welche Arbeit hier geleistet wurde. Das ringt Bewunderung ab und erinnert an Lichtenbergs Erkenntnis: "Die Wahrheit hat tausend Hindernisse zu überwinden, um unbeschädigt zu Papier zu kommen und von Papier wieder zu Kopf."

Das Buch ist in sechs Kapitel aufgeteilt, denen jeweils ein treffendes Zitat vorangestellt ist. Es erfordert einen konzentrierten Leser, der in eine furchtbare Zeit geführt wird. Zwölf Jahre arbeitete die Autorin an dem Buch im Museum von Svitavy; sie erforschte die regionale Zeitgeschichte während des Zweiten Weltkrieges. Zwei ihrer Arbeiten über Schindler erhielten in der Tschechischen Republik höchstes Lob. Der Übersetzer und Herausgeber Klaus Kukuk stellt ein ausführliches Vorwort dem Band voraus.

Bekannt ist Schindler durch den Hollywood-Film "Schindlers Liste", der nach Thomas Keneallys Roman "Schindler's Liste" (1982) gedreht wurde und Platz neun der hundert besten Filme aller Zeiten belegte, ausgezeichnet mit sieben Oscars. Steven Spielberg nahm aus den Händen von Roman Herzog dafür das Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland in Empfang.

Die Autorin beweist, wie weit Kunst und Realität hier auseinander klaffen. Maßlose Übertreibung und Überhöhung machen hellhörig. So soll Schindler 1200 Menschen gerettet haben. Es handelt sich aber nur um 50 bis 60 ausgewählte Juden, die sich diesen Vorteil teuer erkaufen mussten. "Geld oder Leben" lautete die Devise. Es war offensichtlich, dass dem Judenmörder Adolf Eichmann der Judenretter Schindler gegenüber gestellt werden musste mit dem Ziel, den Menschen zu suggerieren, es sei doch alles gar nicht so schlimm gewesen.

Eine enge Freundschaft verband Schindler mit Amon Göth, dem "Schlächter von Plaschow", der mindestens 500 Menschen bestialisch umbrachte. Beide profitierten voneinander. Schindlers Unternehmen brachten Göth hohe Einnahmen, Göths Verbindungen zur SS nutzten Schindler. Den Weg Schindlers verfolgt die Autorin akribisch. Er ist eng mit der Geschichte seiner Region verbunden. Und auch diese Geschichte wird von der Autorin präzise geschildert und durch zahlreiche Quellen belegt. Meines Erachtens oft zu viele. Das ist für den Historiker zwar von großem Wert. Man könnte unter einer Internet-Adresse auf Quellen hinweisen. Der Herausgeber Klaus Kukuk hat hier schon helfend eingegriffen.

Um zu Geld zu kommen, arbeitete Oskar Schindler als Agent unter Admiral Wilhelm Canaris, Leiter des Amtes Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht. Schindler war seit den 30er Jahren für mehrere Geheimdienste tätig (für die Nazisi, die Briten und die Juden). Seine politischen Pläne deckten sich mit denen der Hitler-Clique. Der Anschluss der Tschechoslowakei ans Reich war auch sein Ziel. Schindler war ein Hasardeur, dem Alkohol und den Frauen zugetan. Er liebte den Reichtum. Mehrfach verurteilt wegen Betrugs, Diebstahls, Spekulation und Landesverrats entging er nach einem Gesetz vom 21.11.1938 dem Todesurteil. Die Tschechoslowakei war bereits ans Reich angeschlossen. Er übernahm "arisierte" Fabriken in Krakau und Brünnlitz. Schwarzverkäufe machten ihn reich. Seine Unternehmertätigkeit diente der Tarnung. Der "gute" Mensch holte Juden, die er als kriegswichtige Arbeitskräfte aus Konzentrationslagern anforderte, in seine Fabrik. Darunter war auch der käufliche Jude Moshe Bejski, der 1985 als Richter am Obersten Gericht in Israel arbeitete. Seine Aussagen deckten Schindler und entsprachen nicht der Wahrheit. Es war widerwärtig, wie die Nazis sich fremdes Eigentum, auch Reichseigentum, aneigneten. Geschickt versuchten sie, ihre eigene Haut zu retten und sich ein Alibi zu verschaffen, denn das Ende des Dritten Reiches war vorauszusehen. Schindler hatte schon 1938 vor tschechoslowakischen Ermittlern und später vor der Gestapo ausgesagt, aber nie vor einem Gericht. Berichte gegen den "guten Schindler" wurden mit einer Handbewegung beiseite geschoben. Es war verabscheuenswürdig und außerordentlich grausam, auf welche Art und Weise man sich der Juden entledigte. Akten wurden vernichtet oder gefälscht, "vieles lag im Nebel". So ist die im Internet veröffentlichte Schindler-Liste eine Fälschung; es handelt sich um eine gewöhnliche Häftlingsliste. Die Schindler-Liste hat es nie gegeben. Trotzdem schützten und dankten gerettete Juden Schindler, dem eine moralische Tat nicht abzusprechen ist, wenn man die egoistischen Motive ebenso außer Acht lässt wie sein Ziel, am Kriegsende nachsichtig behandelt zu werden. Nach 1974 prüfte die tschechoslowakische Staatssicherheit Schindlers Akten. Es war sein Glück, dass er nicht gleich nach dem Krieg in der Tschechoslowakei verhaftet wurde. Der Galgen wäre ihm sicher gewesen. (S. 231) Im Oktober 1974 starb Schindler.

Kontakt hielt er auch zu Schörner, dem Oberbefehlshaber des Heeres. Überall hatte Schindler seine Finger im Spiel, auch in Ungarn. (S. 125) Nach Kriegsende ging der Rückzug in chaotische Flucht über. Schindlers Fabriken MEWA und Sudetia wurden liquidiert. Er floh über die Schweiz nach Bayern und landete - wie viele Nazis - 1949 in Argentinien, um sich der gerechten Strafe zu entziehen. Sein Name stand auf der Liste der Kriegsverbrecher. Wenn seine Weste so weiß war, warum floh er dann?

Die Autorin weist nach, dass sowohl im Roman Keneallys als auch im Film Spielbergs falsche Aussagen über Schindler auftauchen. Wegen seiner Tätigkeit für die Abwehr wurde von Russen, Tschechen und Polen nach ihm gefahndet. In Brünnlitz war bei Schindler die höchste Zahl der Toten zu verzeichnen. Es gibt dort ein Massengrab der jüdischen Häftlinge, das jetzt auch von der jüngeren Generation besucht wird. Das lässt hoffen, dass die schwere Zeit nicht vergessen wird. Im April 1945 gab es in der Tschechoslowakei eine Partisanenbewegung. 18 antifaschistische Widerstandskämpfer wurden in Ostrau erschossen. Schindler war zur fraglichen Zeit am Ort des Verbrechens. War er daran beteiligt?

Was bleibt von der weißen Weste des Oskar Schindler? Im Epilog ist zu lesen, dass er 1963 in Israel zum "Gerechten unter den Völkern" ernannt wurde. Der Talmud-Spruch "Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt" ist die Begründung. Aber der Leiter der polnischen Aktion "Hilfe für Juden" hatte nach dem Krieg wiederholt bekräftigt, dass er von einem vermeintlich engelsgleichen Schindler nie gehört hat. "Gerade deshalb", so die Autorin, "bleibt es für mich ein Rätsel, warum später Schindler in Israel zu so hohen Ehren gelangte". (S. 276) Und warum verschwand Schindler, der angeblich Hunderte von Zeugen für seine Wohltaten benennen kann? So verhält sich ein Schuldiger. Wie viele Schindler gab es, die unter Einsatz ihres Lebens, ohne persönliche Vorteile zu erwarten, mit großer Bescheidenheit und Selbstverständlichkeit Leben retteten und denen nie eine öffentliche Ehrung zuteil wurde? Es "schindlert" jetzt auffällig. So wird Heinz Drossel, Oberleutnant der Wehrmacht, gesucht, ebenso ein arabischer Schindler. Der chinesische Schindler John Rabe ist seit längerem bekannt. "Schindler" seht als Synonym für den "guten Nazi".

Man muss sich schon in das Buch einlesen, aber dann lässt es einen nicht mehr los. Es ist zu hoffen, dass es viel jüngere Leser erreicht, denn die Erinnerung muss wach gehalten werden. Warum ist das Buch gerade jetzt so wichtig? Die Antwort gibt uns Erich Weinert: "Genauso hat es damals angefangen!/ Und wo es aufgehört, ist euch bekannt./ Verschlaft ihr noch einmal, die zu belangen,/ dann reicht bestimmt kein Volk uns mehr die Hand."


Raute

Rezensionen

Siegfried Forberger

Die DDR und ihre Frauen

Helga Hörz, Der lange Weg zur Gleichberechtigung - Die DDR und ihre Frauen, trafo Wissenschaftsverlag, Berlin 2010, 262 S., ISBN 978-389626-948-5

Ein Jahr nach Erscheinen ihrer hochinteressanten Autobiografie "Zwischen Uni und UNO" legt die Autorin ein weiteres lehrreiches Buch vor. Um es gleich vorwegzunehmen - es enthält keinerlei nostalgische Verklärung der DDR. Vielmehr gibt die verdienstvolle Ethikprofessorin wichtige Denkanstöße für die weiteren Kämpfe um die Überwindung patriarchalischer Strukturen, ebenso des tradierten KKK-Rollenverständnisses der Frauen sowie für die Durchsetzung der vollen Gleichberechtigung der Geschlechter.

Für diese Thematik ist sie, eine emanzipierte Frau, aus einer antifaschistischen Arbeiterfamilie stammend, Mutter dreier Kinder, langjährige Gesellschaftswissenschaftlerin und 15 Jahre in der UNO-Frauenkommission tätig gewesen, geradezu prädestiniert. An geschichtliche Vorgänge in der Frauenbewegung erinnernd, behandelt sie sowohl die nationale als auch die internationale Dimension der politischen, sozialen und kulturellen Auseinandersetzungen auf dem noch sehr langen Weg zur Eliminierung der weltweit herrschenden, zum Teil höchst bedrückenden Diskriminierung der Frauen und der Verwirklichung des allgemein anerkannten Völkerrechtsprinzips der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung aller Menschen und Völker. Diese historische Aufgabe ist einzuordnen in das Menschheitsanliegen der Emanzipation von dreifacher Fessel: der ökonomischen Ausbeutung, der politischen Unterdrückung und der geistigen Manipulierung. Solange im gegenwärtigen Rechtsstaat der nach Maximalprofit strebenden Kapitaleigner die juristische Gleichheit die Gleichheit ökonomisch Ungleicher ist, kann es jedenfalls keine tatsächliche Gleichberechtigung der Geschlechter geben.

Breiten Raum widmet Helga Hörz dem Auftrag der beiden DDR-Verfassungen von 1949 und 1968, gleiche Rechte für die Frauen in allen Gesellschaftsbereichen zu verwirklichen und wirksame Fördermaßnahmen in Gang zu setzen. So hob das bereits 1950 verabschiedete Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz das in zahlreichen Paragrafen des BGB fixierte Alleinbestimmungsrecht des Mannes in allen Angelegenheiten des ehelichen Lebens auf (In der BRD galt es bis Ende der 1950er Jahre!) und ersetzte es durch das gemeinsame Entscheidungsrecht beider Eltern zum Wohle der Kinder. Zugleich wurde der Bau von Kindergärten und anderer sozialer Einrichtungen gesetzlich angeordnet, um die Vereinbarkeit von Mutterschutz und Berufstätigkeit zu erleichtern.

Weitere bedeutsame Meilensteine der Verwirklichung der Frauenrechte als Menschenrechte waren das Gesetzbuch der Arbeit, das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem, das Familiengesetzbuch sowie das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft. Diese fortschrittlichen Kodifikationen, die Frauen und Männern eine gleiche Ausübung der Menschenrechte ermöglichten, hoben die neuen Machthaber 1990 wieder auf. Mehr noch, in Ihrer Arroganz ignorierten sie völkervertragsrechtliche Verpflichtungen vor allem zur Gewährleistung des Rechts auf Arbeit sowie auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, die sie mit der Ratifizierung der UNO-Konventionen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie über die Beseitigung aller Formen der Diskriminierung der Frau übernommen haben. Die DDR begnügte sich nicht mit der rechtlich normierten Gleichstellung von Frauen und Männern und der Einklagbarkeit der Rechte, worauf sich die BRD im Wesentlichen beschränkt, sondern schuf mit umfangreichen sozialpolitischen Programmen vielfältige materielle und finanzielle Voraussetzungen, damit die Frauen ihre neugewonnenen Rechte auch tatsächlich ausüben konnten. Die Autorin betont, dass die erreichte Gleichberechtigung der Frauen in der DDR nicht nur eine Erfolgsgeschichte war. Es gab auch Schwierigkeiten, Probleme und Fehler bei der Umsetzung der beschlossenen Gesetze und Fördermaßnahmen. So bestanden wesentliche Defizite bei der Wahrnehmung politischer Rechte. Auch der viel zu geringe Anteil der Frauen in zentralen Leitungsfunktionen gab immer wieder Anlass zur Kritik.

Im wiedervereinigten Deutschland begann in den 90er Jahren die bewusste Ausgrenzung kompetenter ostdeutscher Frauen. Helga Hörz zieht das Fazit: Die Mehrheit der Frauen aus der DDR gehört zu den Verlierern der deutschen Einheit.

Dem Buch ist eine breite Leserschaft zu wünschen, denn es vermittelt Optimismus für neue Anstrengungen im Interesse der weiteren Emanzipation der Frauen. Es liefert zugleich viele Fakten und Argumente gegen den Geschichtsrevisionismus der heutigen politischen und ideologischen Meinungsführer und ihrer Nachbeter.

Raute

Rezensionen

Lorenz Knorr

Rom-Studien und die Befreiung der Tschechen

Josef Svatopluk Machar: Rom, Neuauflage der Übersetzung von Emil Saudek, mit Vorwort, Einleitung, Kommentar und Register von Heidi und Wolfgang Beutin, Badenweiler 2010, ISBN 978-3-940523-05-1, 515 S., 39,50 €

Soll man das Werk eines in Deutschland unbekannten Autors besprechen? Ja, denn dieses Buch zählte bereits nach seinem Erscheinen zur Weltliteratur. Der Autor wirkte schließlich auch maßgebend mit an der "Tschechischen Moderne" ab 1895, der böhmisch-mährisch-literarischen Erneuerungsbewegung, die zur Konstituierung des ersten Staates der Tschechen 1918 Wesentliches beitrug. Der Autor war eng befreundet mit dem ersten Präsidenten der CSR, dem frei links orientierten Politiker und Philosophen T.G. Masaryk. Es kann für Deutsche nützlich sein, etwas mehr über das Nachbarvolk und die Tschechische Republik zu wissen.

Das Buch "Rom" von Josef Svatopluk Machar (1864-1942) liegt nun neu aufgelegt in deutscher Fassung vor. Der Autor, ein meisterhafter Erzähler und scharfer Beobachter, der auf kein Detail verzichtet, schildert höchst spannend die Reise zweier Rom-Besucher. Dabei mischt sich fundiertes Geschichtswissen mit belletristischer Form: eine Seltenheit.

Ein Tscheche, in Wien wohnhaft, reist mit einer jungen Russin (in der er eine Attentäterin vermutet), beide antiklerikal und emanzipatorisch motiviert, in die italienische Metropole.

Es ist die Zeit, in der sich das moderne Italien (um 1900) im "Risorgimento" 1815 bis 1870 von der Vorherrschaft des katholischen Habsburger Reiches, der KuK-Monarchie, befreit hatte. Ob das ein Modell sein könnte für Böhmen, das der Habsburger Doppelmonarchie unterworfen war? Seit 1618. Die protestantisch-tschechischen Truppen waren da in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag den Truppen des Kaisers unterlegen. Fremdbestimmt von Wien und vom Vatikan lebten die Tschechen "in der Finsternis" ihrer Geschichte. Könnte man diese Schmach tilgen?

Die beiden Hauptpersonen des Buches verweilen zunächst in Venedig: für den Autor eine dahinsiechende Stadt (1900!) mit einer ereignisreichen, nicht immer vorbildlichen Geschichte. Kunsthistorische Betrachtungen mischen sich gekonnt mit kritisch-wohlwollender Beobachtung des Lebens in der Insel-Stadt.

Durch die Apenninen im Zug reisend und interessant parlierend, erreichen die ungleichen Partner Rom. In ihrem aufschlussreichen Dialog scheinen Geistesblitze auf, neben Bemerkungen zu Bauwerken, z. T. kritisch, z. T. aber auch staunend. Der Held des Buches erweist sich als Genie, wenn er beobachtend blitzartig die Ereignisse erfasst und sofort historische Kenntnisse beisteuert. Bei der Besichtigung der bekanntesten Bauwerke Roms wird die betont antiklerikale Position der beiden ungleichen Reisenden deutlich: die massive, aber treffende Kritik an den Raubzügen der Päpste, die wichtige Bauelemente aus vorherigen antiken bzw. klassischen Baudenkmälern raubten, um sie zur Ausschmückung christlicher Kirchen oder Paläste zu verwenden.

Das alte, antike Rom entsteht vor den Blicken der beiden Betrachter, wenn sie ich der Mühe unterziehen, unter dem Gegenwärtigen, Sichtbaren, die verbliebenen Reste einstiger klassischer Hochkultur zu entdecken. Deutlich wird zwischen dem klassischen Rom und dem Rom der Päpste unterschieden. Die ständige Verknüpfung von Literatur, Politik und Kulturkritik präsentiert der Autor bis zur letzten Zeile seines phänomenalen Werkes.

Auffallend ist der häufige, lobende Bezug auf die Antike, auf den Hellenismus, den der Autor der christlichen Erniedrigung der Menschen gegenüberstellt. Lebensgenuss und Sinnenfreude betont Machar wiederholt im grundlegenden Unterschied zur vom Christentum diktierten Entsagungspraxis. Auch hier: das klassische Altertum contra päpstlich diktiertem Verzicht.

Alles wird in spannender, oft aktualisierter Dialogform vorgestellt, mit ständigen politisch aktuellen Bezügen. Und immer wieder fließen historische Vergleiche ein, die das Streben des Autors nach einem unabhängigen freien Böhmen und Mähren erkennen lassen.

Nach 281 Seiten Macharscher kulturkritischer und literarischer Präsentation folgt auf 320 Seiten des Buches - mit dem Abstand eines Jahrhunderts - der erklärende Kommentar der beiden Herausgeber. Vieles, was der Leser vielleicht nur flüchtig zur Kenntnis nahm, weil er gespannt auf die folgenden Einzelheiten las, wird durch die gründliche Analyse von Machars grandiosem Werk verdeutlicht. Erneut zeigt sich im Kommentar, dass Machar unisono mit vielen tschechischen Persönlichkeiten den "Hussitismus als die eigene Reformation des tschechischen Volkes" betrachtet, auf die schließlich das Unheil der Österreichisierung seiner Siedlungsgebiete erfolgt war.

Bekanntlich war die Gründung der CSR 1918 die große historische Antwort auf die Schmach von 1618: Ein vom Diktat des Vatikans und der Österreichisch-ungarischen KuK-Monarchie befreiter Staat der Tschechen (und Slowaken mit deutschen, ungarischen, ukrainischen und polnischen Minderheiten).

Es ist ein Verdienst der Herausgeber, die vielfältigen Beziehungen von Machars Werk "Rom" mit vielen anderen bekannten Italien- und Romreisenden aufzuzeigen, z.B. J.W. Goethe.

Nachzutragen bleibt zur Person Machars, dass er 1916 als Widerständler gegen die Vorherrschaft der Habsburger in Böhmen und Mähren eingekerkert war. Im Auftrag des Präsidenten der CSR T.G. Masaryk wirkte Machar von 1919 bis 1924 als Generalinspekteur der neugegründeten Tschechoslowakischen Armee. Sein literarisches Werk ist umfangreich. Neben Romanen verfasste er auch viele Gedichte.

Raute

Rezensionen

Bernd Gutte

Inseln der Morgenröte

Über Aurora, die neue Verlagsgruppe beim Eulenspiegelverlag

Wer heutigen Tags auf der Suche nach guter Literatur ist, der sollte nicht unbedingt Buchhandlungen durchkämmen. Auch dann nicht, wenn die zwei oder mehr Etagen haben. Ganz und gar nicht, wenn die Suche linker Literatur gilt; die kann der Interessierte dort in der Regel vorbestellen, aber kaum finden.

Es bleibt nur der Hinweis, der Tipp, die Empfehlung des guten Freundes, des Sachkundigen. Meist zu finden in Publikationen denen man herzensverwandt ist, und denen man vertrauen kann, zum Beispiel ICARUS. Hier sei kein Buch besprochen, der Blick sei auf ein Programm gelenkt.

Aurora, die neue Verlagsgruppe bei Eulenspiegel, ist relativ still in die Bücherwelt getreten. Sie wird sich, ich zitiere das Verlagsprogramm, "vornehmlich mit Werken von und über Peter Hacks befassen bzw. Autoren und Schriften veröffentlichen, die in einem Bezug zu Leben, Werk und Denken von Hacks stehen und der Entwicklung materialistisch-dialektischen Denkens und klassischen Kunstauffassungen verpflichtet sind."

Wenn sich beim gebildeten Leser angesichts des Namens der Verlagsgruppe eine Assoziation einstellt zu Aurora, dem Exilverlage des großen Wieland Herzfelde, so ist diese gewollt und unbedingt berechtigt. Mit dem gleichem Mut, der gleichen Kühnheit und dem gleichen Vertrauen in die Intelligenz der Leser stellt sich schon das Frühjahrsprogramm vor.

"Er schreibt uns aus der Zukunft", lese ich über Hacks - wie wahr! Der Klassiker Peter Hacks spricht, wie Goethe, weit über rein literarisches hinaus. Über die Welt, und was sie antreibt, oder über den Weltgeist, wie er das zuweilen bezeichnet, der bei seinem Scharfsinn nur ein kommunistischer sein kann. Das sollte ihm auch Leser sichern, die über "Plundersweilern" bisher nicht hinausgekommen sind.

Man ist geneigt zu sagen: Hacks und kein Ende!

An "Vorsicht, Hacks!" Wird der Hacks-Freund und -Kenner nicht vorbei kommen, dem Einsteiger wird Appetit auf Mehr gemacht, er wird in den Bann des Genies gezogen. Es wird präsentiert der Dichter in der "jungen Welt" 1999-2009. Eine Sammlung neuer Hacks-Texte, literaturwissenschaftliche Analysen zu seinem Werk, Aufführungsberichte und Rezensionen sind hier versammelt neben einer Vielzahl von Glossen und Berichten.

Absolutes Schwergewicht, nicht nur vom Umfang her, ist mir die "Berlinische Dramaturgie". Gesprächsprotokolle der von Peter Hacks geleiteten Arbeitsgruppen an der Akademie der Künste der DDR in fünf Bänden.

Zwischen 1972 und 1990 moderierte Hacks Gesprächsgruppen hochintelligenter Künstler und Wissenschaftler zu Dramatik, Ästhetik und der Technik des Dramas. Und er tat das auf so kluge und eloquente Weise, dass mir die Aussage des Schauspielers Eberhardt Esche vor Augen steht, er sei nie am Hause von Peter Hacks vorbei gekommen. Der Mann konnte fesseln! Vielleicht wird sich diese Sammlung der Niederschriften künftig in den Bücherschränken neben den Maßgaben der Kunst einen festen Platz erobern.

Unbedingtes Augenmerk sei auch zu legen auf Hans Heinz Holz "Algebra der Revolution". In diesem, auf drei Bände angelegten Werk, scheint eine Rettung der Philosophie versucht, die man von den Füßen neuerdings wieder zu Kopfständen verleiten will, woraus nur alberne Purzelbäume erwachsen. Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie kündet der Autor.

Im Telegrammstil seien noch erwähnt die Veröffentlichung preiswerter, kommentierter Werke in Einzelausgaben und die Materialien der wissenschaftlichen Peter-Hacks-Gesellschaft.

Der Hacks-Verleger Mathias Oehme hat in "Vorsicht, Hacks!" eine aktualisierte Bestandsaufnahme zum Nachlass des Dichters verfasst, dessen Bewahrung dieser dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach anvertraut hat.

Hier ist nicht Raum, dem Lichtstrahl Oehmes zu folgen, mit dem er noch verborgene Schätze aufblitzen lässt, seine Recherche weckt Hoffnung, dass die Schätze nicht im Dunklen bleiben.

All diese Veröffentlichungen bedürften eigentlich einer individuellen, tiefgründigen Besprechung. Hier sei nur aufmerksam gemacht auf ein Programm von Bedeutung, das in seiner klassisch, scharfsichtigen Größe vielleicht beim Buchhändler nachgefragt werden muss. Tun Sie das, oder suchen Sie es auf unter:

www.aurora-verlag-berlin. de

Raute

Margenalien

Echo

Mit großer innerer Anteilnahme habe ich den Beitrag des Genossen Dr. Thomas (Herren gibt es bei mir nicht, wenn jene auf unserer Seite stehen.) "Treibjagd auf Honecker" durchgearbeitet. So, oder so ähnlich verfuhr die Konterrevolution, verfuhren die gewendeten "Kommunisten" mit uns. Auch ich kann ein Lied davon singen, von Morddrohungen, Verleumdungen, persönlichen Angriffen und Psychoterror. Wenn ich lese, dass DDR-Juristen die Jagd auf Honecker und andere DDR-Bürger eröffneten, möge der Geist der Toten sie heimsuchen. Und die evangelischen Kuttenträger! Die fanden ihr Tun im alten Testament begründet: "Schlagt die Amalektiter, schlagt die Söhne Moab, schlagt die Philister und schont nicht Weib und nicht Kind."

Clemenceau sprach das mal so aus: "In guten Tagen folgen die Deutschen ihren Fahnen bis zur Selbstaufopferung, in schlechten treten sie sie in den Staub, nur um uns zu gefallen."

A.-Eduard Krista, Worbis


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Aus dem Gästebuch der Vera-Singer-Ausstellung in der GBM-Galerie

Liebe Vera Singer, ich bin begeistert und gratuliere Dir zu Deiner Schaffenskraft und gutem Gelingen. Wir kennen uns lange. Ich bin Dir sehr dankbar für Deine selbstlose Hilfe - immer noch. Wir sind gleichaltrig, darum vielleicht wünsche ich Dir Gesundheit und Schaffenskraft ... Du wirst bis an dein Lebensende schaffen und deine Überzeugung in die Kunstwerke legen.
Deine Erika Lahmann

Eine sehr, sehr schöne, beeindruckende und anregende Ausstellung. Weiterhin alles Gute und viel Schaffenskraft.
Maja-Helen Feustel
Harry Nick

Liebe Vera, anlässlich der Einweihung von Gennis Plastik heute freue ich mich Deine Ausstellung noch zu sehen und danke Dir herzlich.
Ronald Paris


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Aphorismen

Ängstlich zu sinnen und zu denken, was man hätte tun können, ist das Übelste, was man tun kann.
Georg Christoph Lichtenberg

Die Profitgier ist die älteste Religion, hat die besten Pfaffen und die schönsten Kirchen.
Traven

Die Frage ist, wie können wir helfen, ohne etwas zu tun.
Georg Christoph Lichtenberg

Tod? Ein Ärgernis, seinetwegen werde ich nicht wissen, wie die Welt in hundert, zweihundert oder zweitausend Jahren aussieht.
Claude Levy-Strauss

Ihren Ursprung hat die falsche Gegenkultur im Nonkonformismus sich selbst entfremdeter Randgruppen der Industriegesellschaften, und sie hat nichts mit den tatsächlichen Notwendigkeiten unserer Selbstfindung und Bestimmung zu tun. Sie bietet Abenteuer für Gelähmte, produziert Resignation, Egoismus und Abkapselung. Sie will die Realität nicht verändern, wohl aber ihr Bild.
Eduardo Galeano

Der Sieg des Feindes versetzt mich nicht in Traurigkeit, eine Niederlage ist eine Niederlage, das sind Angelegenheiten bloß eines Jahrhunderts.
Ronald M. Schernikau

Ich bin schön. Ich bin stark. Ich bin weise. Ich bin gut. Und ich habe alles selbst entdeckt.
Jerzy Lec

Von jedem Wort muss man sich wenigstens einmal eine Erklärung gemacht haben und keines gebrauchen, das man nicht versteht.
Georg Christoph Lichtenberg

Hätte man bei der Erschaffung der Welt eine Kommission eingesetzt, wäre sie heute noch nicht fertig.
Georg Bernhard Shaw

Es ist unmöglich die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne hier einen Bart und dort ein Kopfzeug zu versengen.
Georg Christoph Lichtenberg

Die Welt wird nie gut, aber sie könnte besser werden.
Carl Zuckmayer

Das Aufgerufene, Verlorene, Verdrängte, das Uneingelöste wird zum Treibsatz der konkreten Utopie.
Volker Braun


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Ralf-Alex Fichtner, Finelinerzeichnung, laviert, 14,8 x 21 cm


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"la terra II"

Die Bronze von Genni fand einen neuen Platz vor der Geschäftsstelle der GBM - eine Reportage

Kunst ist nicht nur deshalb sozial, weil sie in der Gemeinschaft wirkt, sie ist es auch deshalb, weil sie aus einer Gemeinschaft heraus entsteht. Die Bilder von der Aufstellung der Plastik in der Weitlingstraße lassen das deutlich werden. "la terra II" ist uns von den Erben der Mucchis überlassen worden. Sie bewerkstelligten auch ihren Transport von Italien bis in die Berliner Weitlingstraße. Die Diplom-Restauratorin Annegret Michel übernahm es, den Bronzeguss zu säubern und ihm eine neue Schutzwachsschicht aufzuschmelzen, die ihn vor Witterungseinflüssen und vor Sprayern schützen wird. Allein ihre Arbeit hätte, wenn sie nicht als Leistung gespendet worden wäre, die GBM vierhundert Euro gekostet. Auch die vielen Handgriffe, bis die Plastik fest auf dem neuen Sockel stand, sind Arbeit gewesen, Arbeit die nötig war, damit dieses Kunstwerk sich vielen Menschen mitteilen kann.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Die Skulptur vor der Konservierung
- Die Restauratorin fönt "Die Erde"
- Der gelernte Bauingenieur aus dem GBM-Vorstand Ernst Jager gibt der Plastik das neue Fundament
- "la terra II", enthüllungsbereit
- Dr. Peter Michel als Gehilfe der Restauratorin


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Ikarus

In den alten Sagen lässt die Menschheit ihre ältesten Träume wahr werden. Im Gilgamesch-Epos überlebt der Held den Untergang des Lebendigen in der Flut. Im Nibelungenlied vermag es Siegfried, dem Grund alle unterirdischen Kostbarkeiten zu entreißen. Und Ikarus erhebt sich in die Lüfte. Aber die erfüllten Träume gehen nicht gut aus. Auch dieser Ikarus stürzt. Wie ein Geschoss wird er in die Erde fahren. Seine Schuld ist nicht die des Sagenhelden, Unbedachtheit und Übermut. Dieser Todesturz ist Strafe für Guernica, für die Bombardierung Warschaus und Rotterdams, für den Frevel, sich im Fliegen die Luftherrschaft anzumaßen.

Und der älteste Traum, der von einer Welt, in der der Mensch kein erniedrigtes und geknechtetes Wesen mehr ist, ist immer noch Traum, Traum vom "Goldenen Zeitalter".

Klaus Georg


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Aleksander Deineka "Abgeschossener Pilot" 1943, Öl auf Leinwand 283 x 188 cm

Raute

Unsere Autoren:

Rüdiger Bernhardt, Prof. Dr. - Literaturwissenschaftler, Bergen/Vogtl.
Irene Eckert - Studienrätin i.R., Berlin
Klaus Eichner - Diplomjurist, Lentzke
Siegfried Forberger - Diplomjurist, Berlin
Georg Grasnick, Prof. Dr. - Politologe, Berlin
Bernd Gutte - Diplomjurist, Görlitz
Lorenz Knorr - Publizist, Frankfurt/M.
Maria Michel - Kunsterzieherin, Berlin
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Hans-Rainer Otto - Kulturwissenschaftler, Berlin
Ronald Paris, Prof. - Maler und Grafiker, Rangsdorf
Klaus Georg Przyklenk, Dr. - ICARUS-Redakteur, Woltersdorf
Wolfgang Richter, Prof. Dr. - Philosoph, GBM-Vorsitzender, Wandlitz
Horst Schneider, Prof. Dr. - Historiker, Dresden
Werner Schneider, Dr. - Wirtschaftswissenschaftler, Berlin
Robert Steigerwald, Prof. Dr. - Philosoph, Marburg


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Titelbild: Jenny Mucchi-Wiegmann (Genni) "la terra II", 1952, Bronze Höhe 95 cm; Standort des Gusses: Berlin, Weitlingstraße 89, vor der Geschäftsstelle der GBM
2. Umschlagseite: Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung
Rückseite des Umschlages: Aleksander Deineka (1899-1969) "Abgeschossener Pilot", 1943. Öl/Lw. 283 x 188 cm, Russisches Museum, St. Petersburg

Abbildungsnachweis:
Anders, Christa, S. 37 (3)
Archiv Przyklenk, Titel- und Rücktitel, S. 4, 5, 6, 23, 25, 27, 28, 38 (2), 39, 40 (1), 42, 43, 44, 50
Archiv Werner Schneider, S. 21 edition Ost, S. 46
Galerie Neue Meister, Dresden, S. 32, 33, 34 (2)
Barbara John, S. 36
Lorenz Knorr, S. 49
Peter Michel, 3. US. (5)
Gabriele Senft, S. 40 (1), 41 (2)
Elizabeth Shaw, S. 17
Trafo-Verlag, S. 48
Klaus Vonderwerth, S. 8

Raute

Impressum

Herausgeber: Gesellschaft zum Schutz von
Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
Weitlingstraße 89, 10317 Berlin
Telefon: 030/5578397
Fax: 030/5556355
Homepage: http://gbmev.de
E-Mail: gbmev@t-online.de
V.i.S.d.P.: Wolfgang Richter
Begründet von:
Dr. theol. Kuno Füssel,
Prof. Dr. sc. jur. Uwe-Jens Heuer,
Prof. Dr. sc. phil. Siegfried Prokop,
Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter

Redaktion:
Dr. Klaus Georg Przyklenk
Puschkinallee 15A, 15569 Woltersdorf
Tel.: 03362/503727
E-Mail: annyundklausp@t-online.de
Layout: Prof. Rudolf Grüttner
Satz: Waltraud Willms
Redaktionsschluss: 11.8.2010

Verlag:
GNN Verlag Sachsen/Berlin mbH Schkeuditz
ISBN 978-3-89819-339-9

Die Zeitschrift ICARUS ist das wissenschaftliche und publizistische Periodikum der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.; sie erscheint viermal jährlich und kann in der Geschäftsstelle der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin abonniert bzw. gekauft werden. Ihr Bezug ist auch unter Angabe der ISBN (siehe weiter oben) über den Buchhandel möglich. Der Preis beträgt inkl. Versandkosten pro Heft 4,90 EUR für das Jahresabonnement 19,60 EUR.

Herausgeber und Redaktion arbeiten ehrenamtlich. Die Redaktion bittet um Artikel und Dokumente, die dem Charakter der Zeitschrift entsprechen. Manuskripte bitte auf elektronischem Datenträger bzw. per E-Mail und in reformierter Rechtschreibung. Honorare können nicht gezahlt werden. Spenden für die Zeitschrift überweisen Sie bitte auf das Konto 13 192 736, BLZ 10050000 bei der Berliner Sparkasse. Helfen Sie bitte durch Werbung, die Zeitschrift zu verbreiten.


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Quelle:
ICARUS Nr. 3/2010, 16. Jahrgang
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2010

letzte Aktualisierung vom 26. Januar 2011