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ICARUS/021: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 4/2011


ICARUS Heft 4/2011 - 17. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter
Kriege, Konterrevolutionen und Krise

Fakten und Meinungen
Peter Strutynski/Lühr Henken
Hans Jürgen Falkenhagen/
Brigitte Queck
Harald Nestler
Werner Schneider
Klaus-Jürgen Künkel/
Erich Rübensam
Horst Schneider
Adolf Eduard Krista
Klaus Georg
Zum Standortkonzept im Rahmen der Bundeswehrreform

Gaddafis Tod
Signale aus Genf
Wessen Wirtschaftspolitik?

Gegen Hunger, Klimaverschlechterung und Energieverknappung
Freiheit der Forschung
Einspruch - Euer Hochwürden
Rikscha! Rikscha!

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Peter Michel
Günter Meier
Die Welt, wie sie sein sollte
Grand Dame der deutschen Keramikkunst

Personalia
Heinz Langer
Wolfgang Konschel
Peter Michel
­85. Geburtstag Fidel Castros
Ursula Schönfelder
Er ist hier bei uns

Rezensionen
Jens Schulze
Maria Michel
Peter Veleff
Erinnerungen an ein verschwundenes Land
Das bleibt unverloren
Ein wichtiges Buch zur Zeitgeschichte des Kalten Krieges

Marginalien


Ralf-Alex Fichtner
Echo
Aphorismen
Karikatur

Raute

Kolumne

Wolfgang Richter

Kriege, Konterrevolutionen und Krise

Spontane Volksaufstände oder US-Agenda?

Mit Tunesien hatte es vor ein paar Monaten begonnen. Arabellion, anscheinend spontane Volksaufstände. Bald war Ägypten an der Reihe. In Saudi-Arabien waren dem Westen die Panzer gegen die Opposition allerdings sehr genehm. Ganz anders in Libyen. Und was wird in Syrien? Angeblich ist es eine "Demokratiebewegung", die in diesen Ländern unvorhergesehen und plötzlich begann. Doch zu welcher Demokratie? Der Nahost- und Arabienkenner Peter Scholl-Latour winkt ab, den Nordafrikanern zu raten, "unsere Demokratie zu kopieren". "Sie können das selbst nicht wollen, wenn sie sehen, welche wirtschaftlichen und sozialen Probleme uns zu schaffen machen und wie ohnmächtig unsere Parlamente sind." (ND, 28.10.2011)

Man wird klüger, wenn man ein wenig zurückblickt. Wir haben als GBM durchaus auch eigene Einblicke, die wir in Belgrad, der Ukraine, in Russland, Belarus, Georgien, Venezuela und anderen Ländern gesammelt haben. Das alles sind auch Zielgebiete ideologischer Invasionen einer in Belgrad ansässigen Gruppe namens Canvas, die durch Workshops, Trainings- und Lehrmaterialien "Revolutionsanleitungen" für "Widerständler" verbreitet. Sie ging aus der Sozialismus- und Milosevic-feindlichen jugoslawischen bzw. serbischen Gruppe Otpor (Widerstand) hervor und agiert - nach eigenen Angaben - heute bereits in 38 Staaten. Aktuell seien sie schwerpunktmäßig in acht bis neun Staaten des Nahen Ostens tätig, wie ihr "Cheftrainer", Srdja Popovic, offenherzig preisgibt, doch nichts Genaueres bitte, um die "Bewegungen nicht zu gefährden". Sie wollen es nicht ruchbar werden lassen, doch ist es ein offenes Geheimnis: Sie sind eine vornehmlich von den USA gelenkte Kraft, nach einem Masterplan, die eine Pentagonliste für Destabilisierung und Systemwechsel abarbeitet und durch die amerikanischen Geheimdienste finanziert wird. Das ist auch die Erkenntnis des weltbekannten Politikwissenschaftlers F. William Engdahl. Er ist übrigens auch wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Globalisierungsforschungen, das von dem Menschenrechtspreisträger der GBM Michel Chossudovsky geleitet wird und mit dem die Aktivisten des Europäischen Friedensforums epf schon den Kampf gegen den NATO-Krieg gegen Jugoslawien führten. Engdahl sagt in einem hochaktuellen You-tube-Interview über Washingtons geheime Geopolitik auch, dass die Hauptakteure von Otpor nicht einfach nur - wie sie selber gern sagen - eine idealistische Truppe junger Leute sind, die ihr Wissen (wie sie Milosevic stürzten) gern selbstlos weitergeben. Denn auch dieser Sturz wurde ihnen von amerikanischen Steuergeldern bezahlt.

Die neuen Revolutionäre folgen in Wirklichkeit einer Agenda der USA. In der stehen offenbar auch noch weitere Staaten, in denen politische Oppositionelle das Otpor-Symbol verwenden: Syrien, Venezuela, Iran oder Russland. Das "Lehrbuch für den gewaltlosen Sturz von Diktaturen" steht auch ihnen dafür auch zur Verfügung - ebenfalls aus den USA. Es ist seit 1993 in 34 Sprachen übersetzt worden. Der Autor G. Sharp schuf sich bereits 1983 dafür selbst eine ebenso edle wie anmaßende Adresse, die Albert Einstein Institution in Boston, die nicht nur seinen Visitenkarten Glanz verleiht, sondern mit der - so muss man wohl annehmen auch Geldwäsche betrieben wird, ob der anrüchigen Herkunft seiner Gelder.

Das Lehrbuch Sharps soll bei der Befreiung von Diktaturen in Osteuropa eine große Rolle gespielt haben und spielen. "Von der Diktatur zur Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung". Die zweite Auflage in Deutsch ist zur angelegentlichen Verwendung gerade erschienen. Ob Sharp meint, dass es auch hier sehr bald gebraucht werden könnte? Es enthält Methoden der Gewaltfreien Aktion und der so genannten Sozialen Verteidigung, wie sie in Anknüpfung an Mahatma Ghandi und Martin Luther King in den sechziger/siebziger Jahren und folgenden auch in der BRD ausgearbeitet wurden. "Soziale Verteidigung" wäre sogar dringend nötig. Denn aktuell geht es darum, was damals mit der Heraufkunft des Neoliberalismus und der Ablösung Erhardscher "Sozialer Marktwirtschaft" an Sozialabbau drohte,auch heute - nach Agenda 2010 und inmitten einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise - zu verhindern. Der UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fragen hat das erst im Mai dieses Jahres mit seinen kritischen Abschließenden Bemerkungen zur Berichterstattung der Bundesrepublik über die Verwirklichung des Sozialpaktes erneut deutlich gemacht. (Siehe ICARUS 3/11). Der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge hat erst kürzlich den jüngsten Umbau bzw. Abbau des Sozialstaats als seine umfassendste Restrukturierung seit 1945 bezeichnet. Der Schröderkurs: "Wir werden Leistungen kürzen ...!" wird auch von Merkel fortgeführt. Da kann man sich durchaus zurücksehnen zu den ausdrücklich für die entwickelten imperialistischen Staaten entwickelten Zielen des Zivilen Widerstands, "die gesellschaftlichen Bedingungen für eine systemüberwindende Gegenmacht zu schaffen" (Theodor Ebert).


Eine Friedensarmee im Schatten?

Schon 2005/46 zog der SPIEGEL in seiner Titelgeschichte eine erste Bilanz der Aktionen, die angeblich von Belgrad ausgingen, jedoch nur ein vor Belgrader Kulisse und mit einer Schar williger Helfer inszeniertes outsourcing der ideologischen Diversionsabteilungen des Pentagon (mit einem Jahresetat von über 700 Mrd. Dollar), von 17 US-Geheimdiensten (mit einem Jahresbudget von 55 Milliarden Dollar (2009)), und des Foreign Office war und ist, unter Missbrauch des Ansehens zivilgesellschaftlicher Netzwerke, um unter der Flagge westlicher Werte und der Errichtung von so genannten Demokratien zielstrebig die Pläne der Neuen Weltordnung von Bush sen. weiter zu verfolgen.

"Wie macht man eine Revolution? Was in Jugoslawien 2000 passierte, in Georgien 2003, in der Ukraine 2004 wirkte wie ein spontaner Volksaufstand gegen Autokraten. In Wahrheit war vieles so sorgfältig geplant - von Studentenführern und ihren vernetzten Organisationen. Sie scheuten auch amerikanische Hilfe nicht. Welches Regime wird ihr nächstes Opfer?". So fragt der SPIEGEL in dem erwähnten Beitrag "Die Revolutions-GmbH". Und es erstaunt nicht, dass der Beginn dieses Beitrags von Fotos illustriert wird: für 1999 eine jugoslawische Studentin mit "Otpor"-Emblem auf der Stirn, eine Beratung von Oppositionellen in Belgrad mit Otpor-T-Shirts im Mai 2000 und eine Kiever Ansammlung von zumeist jungen Menschen aus dem Jahr 2004. Unterschrift "Wir sind das Streichholz für das große Feuer". "Otpor" heißt "Widerstand". Das Symbol ist eine erhobene Faust. Ähnlich "Rot Front". Was sonst ist Demagogie? Und irgendwie klingt es auch frohlockend, wenn dann kommentiert wird: "Eine Friedensarmee im Schatten ist da entstanden, deren Divisionen und Pläne keiner kennen soll. Geheimnisvoll, schlagkräftig, kaum zu fassen - ein wichtiges, bis heute kaum wahrgenommenes Phänomen der internationalen Politik." Das ist aber auch das geistige Instrumentarium der Pax Americana. Besonders einfallsreich ist es nicht. Sein Credo ist "Gewaltfreier Widerstand", an sich schon eine contradictio in adjecto. Es suggeriert eine Selbstbefreiung der Völker, die in Wahrheit einer Neokolonialisierung gleichkommt und das ist auch seine Funktion. Es reiht sich ein in die Methode einer Vermenschenrechtlichung der Propaganda militärischer Aggressionspolitik, ökonomischer Ausbeutung und "freien Zugangs zu den Ressourcen der Welt" mit allen Mitteln. Zugleich will es mit ausufernder Werteapologetik einer Entökonomisierung der Kapitalismuskritik als Entlarvung seiner Ausbeutungsstrukturen das Wort reden. Der Verschleierungsmechanismus mit dem der Antagonismus von Sozialismus und Imperialismus verhüllt werden soll, setzt auf Naivität. Während zur Zeit in vielen Ländern der Dritten Welt der Unterschied zwischen arm und reich sich verringert, wird er in den führenden westlichen Ländern immer größer. Das ist der Systeminhalt eines großen Teils der globalen Menschenrechtsdefizite. Das ist der Klassenkampf von oben, der den Klassenkampf von unten provoziert. Und auch zu dessen Abwiegelung und Unterdrückung sind neben der ideologischen Diversion Kriege und Sozialstaatsdemagogie unerlässlich. Denn wenn etwas von USA und NATO ideologisch gut vorbereitet war, dann ein Krieg - oder auch mehrere.


Roadmap für neue Kriege

Im Frühjahr 2011 gab der Viersternegeneral der USA und ehem. Verteidigungsminister Wesley Clarke ein Interview, das man in You Tube sehen und hören konnte. Er erklärt die schon 2001 bekannt gewordene "Roadmap" des Pentagon für die künftigen Weltordnungskriege. Nach Afghanistan und Irak, die beide bereits vor dem Anschlag vom 11.9.2001 beschlossene Sache waren, sollten Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und Iran folgen. Dabei sind wir noch. Nicht ganz genau so, aber immerhin. Afghanistan und Irak erhielten damit noch einen nachgeschobenen Kriegsgrund.

Doch so neu war das auch wieder nicht. In dem schon unter Bush. sen. und seinem Verteidigungsminister Richard Cheney von Paul Wolfowitz 1992 vorgelegten Papier "Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert" war daran gedacht, nach dem Irak als erstem Schritt den Iran, Syrien, Pakistan und Nordkorea, aber auch China dem Weltherrschaftsstreben der USA gefügig zu machen, sei es als Unterwerfung oder einer Art gefügiger Partnerschaft. Ein wenig modifiziert wurde das zur Grundlage der Außenpolitik unter Bush jun. Die Ziele weckten Begehrlichkeiten. Hinzu kam allerdings noch, wie Norman Mailer es ausdrückte," dass der unverhältnismäßige Reichtum, der während der Neunziger angehäuft wurde, an der Spitze einen unwiderstehlichen Druck, weg von der Demokratie, hin zum Imperium erzeugt hat. Damit ließen sich die großen, schnell erworbenen Gewinne sichern." (Heiliger Krieg: Amerikas Kreuzzug. Hamburg 2003, S. 65) Diesen Zielen folgte die NATO, scheint's, willig. Das ist die "Teil vom Kuchen haben wollen" - Mentalität. Für die Bundesrepublik gilt das jedenfalls. Wie "german foreign policy" mitteilt, stimmte Ende Mai 2011 der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière die Öffentlichkeit erneut auf neue Kriegseinsätze der Bundeswehr ein. "Es gebe große Erwartungen an die deutschen Streitkräfte, die den Umfang überträfen, der bisher in Deutschland bekannt und akzeptiert sei. ..." Der Minister gibt bekannt, Interventionen in Pakistan, im Jemen, in Somalia oder im Sudan könnten konkret auf uns zukommen. Krieg, heißt es indes, sei eben ein Teil der Außenpolitik. Das entspricht auch den Verteidigungspolitischen Richtlinien, die de Maizière kürzlich erlassen hat. "Damit werden die künftigen deutschen Militärinterventionen nicht nur geografisch, sondern auch inhaltlich völlig entgrenzt, sämtliche staatlichen Institutionen werden Prämissen der so genannten Sicherheitspolitik unterstellt. Als letztinstanzlicher Maßstab für Kriege werden explizit die nationalen Interessen der Bundesrepublik genannt."
(http://www.german-foreign-policy/com/de/fulltext/58075)

Der Bundesrepublik wird diese Zielsetzung noch dadurch leicht gemacht, dass Obama die Militärpolitik Bush juniors fortsetzt, "als hätte der Amtswechsel im Weißen Haus gar nicht stattgefunden." (Reinhard Mutz)

Betrachten wir den Libyenkrieg. Er machte sehr deutlich, wie man sich Kriege der USA und der NATO in Zukunft vorstellen muss. Am Anfang steht der Versuch des Missbrauchs des Sicherheitsrates der UNO, der dieses Mal voll gelang. Die UN-Resolution 1973 vom 17. März 2011, so heißt es, sei ein Dokument für die Geschichtsbücher, ein Präzedenzfall für "responsibility to protect". Was daraus wurde, zeigte sich bald. "Dem Präzedenzfall haftet ein Makel an", heißt es in der ZEIT vom 27. Oktober 2011. "Aus dem UN-Mandat zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung machten die drei wichtigsten Interventionsmächte freihändig ein Mandat zum Regimwechsel ... Aus einer Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung wurde eine Intervention zum Schutz der Rebellion." (Bittner/Böhm) Obama, Cameron und Sarcozy forderten: "Gadhafi muss gehen, für immer." Das erinnert an Saddam Hussein und Osama bin Laden sowie daran, dass in dieser Art Ausdehnung des amerikanischen Einflusses in der Welt nicht unwichtig zu erwähnen ist, dass es eine Sondereinheit beim Pentagon für gezielte Tötungen gibt, die General McChrystal leitet, die ebenso wie dieser von der Obama-Administration übernommen wurde. Sie repräsentiert in solchen Kriegen offenbar eine eigene Waffengattung ähnlicher Bedeutung wie die US-Luftwaffe.

Natürlich ist das Zentrum der unilateralen Politik des US-Imperialismus weder ideologische noch militärische Weltherrschaft, wenngleich beide als dringend notwendig betrachtet und inszeniert werden, sondern ihre stützende Funktion für die Gesellschaftsordnung selbst. Im Kern ist die Warnung Eisenhowers aus seiner Abschiedsbotschaft 1961 über den notwendigen Schutz vor dem unberechtigten Einfluss des Militärisch-industriellen Komplexes doch in den Wind geschlagen worden, weil das Wesen des Imperialismus sich zunehmend am adäquatesten in den Interessen und dieses MIK ausdrückt.


Sozialstaat als Sündenbock der Krise

Der ökonomischen, militärischen und ideologischen Aggression nach außen entspricht die zunehmende Repression nach innen in den imperialistischen Hauptländern. Bei der Bewältigung der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt sich wieder deutlich, dass die Staaten einen Zusammenbruch des Systems nicht zulassen und Lösungen auf Kosten der Steuerzahler suchen, während die Banken weiterhin darauf hoffen können, ihre Gewinne zu privatisieren und ihre Verluste zu vergesellschaften. Der Staat agiert als "Ausfallbürge". (Colin Crouch) Ein prophezeites Ende des Neoliberalismus trat nicht ein. Und man verfährt getreu seines Therapiemodells, den Sozialstaat abzubauen und die öffentliche Hand zu beschneiden. So die Bundesrepublik wie auch die Eurozone. Zugleich scheint hinter all den Maßnahmen zur Krisenbewältigung auch ein drängender internationaler Kontext. Das Arrangement mit Sozialstaatselementen erscheint dringend zur Stabilisierung der Staaten notwendig, wie die am höchsten verschuldeten Länder der EU und der sich regende Widerstand in Griechenland zeigen. Ein solches Arrangement ist offenbar noch akzeptabler als mit einer globalen Sicherheits- geschweige Friedensordnung.

Doch die Interessen sind zwiespältig. Zum einen ist angesichts der immer knapperen globalen Ressourcen der Kampf um den freien Zugang zu diesen schon lange ein fester Bestandteil der Militärdoktrin der USA und der NATO und die Verletzung der Völkerrechts- und Menschenrechtskonventionen in Kriegen erscheint ebenso wie diese Kriege selbst eine durch nichts zu ersetzende ökonomische Ressource. Barbarisierung für Profitsicherung. Es ist paradox, aber angesichts der Prognosen, dass die Menschheit, um ihre gewohnten Bedürfnisse westlicher Industrienationen befriedigen zu können, schon 2050 drei Erden an Ressourcen benötigte, wächst die Gefahr, dass Kriege auch wieder als Bevölkerungsregulans und Ressourcenbewirtschaftung betrachtet werden. Die Vorratswirtschaft der Reichen für schlechte Zeiten hat schon begonnen. "In den USA läuft seit Ronald Reagan ein großes Umverteilungsprogramm, das Geld von den Armen und der Mittelklasse wegnimmt und den Superreichen gibt." (Paul R. Ehrlich) Und auch in der Bundesrepublik wächst die Kluft zwischen arm und reich in schnellem Tempo. Auch das zeigt uns, "dass der Neoliberalismus von Anfang an ein Projekt zur Wiederherstellung der Klassenherrschaft der reichsten Schichten in der Bevölkerung war." (Harvey, Räume des Neoliberalismus, Stuttgart 05, 11)

Nichts und niemand hat die Ideen des Neoliberalismus in der Bundesrepublik Deutschland so konsequent und offen als Feind eines jedweden Sozialstaats in Szene gesetzt wie die Agenda 2010 unter dem sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder. Zugleich erhob er den mahnenden Zeigefinger: "Wer zumutbare Arbeit ablehnt, wird mit Sanktionen rechnen müssen". Das blieb keine leere Drohung. Das ist seither so geschehen. Und der Schrödersche "Siebenjahrjahrplan" wurde damals schon von der Opposition und späteren Regierung dank oder trotz ihrer "christlichen" Werte oder "freiheitlich-liberalen" Gesinnung miterfüllt und übererfüllt.

Und jetzt kommt ein UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte daher und rügt der deutschen Politik des letzten Jahrzehnts liebstes Kind, eben diese Agenda 2010. Er arbeitet sozusagen fast Punkt für Punkt ihre wesentlichen Inhalte ab. Und man hat wohl nicht unberechtigt den Eindruck, damit ist etwas gemeint, was weit über die Bundesrepublik hinausreicht. Denn der Sozialstaat wird gegenwärtig in den Hauptländern des Kapitals weltweit drastisch reduziert.

Die Kritik des Ausschusses ist im ICARUS 3/2011 dokumentiert, der wütende Aufschrei der Medien und ihrer Regierung - oder umgekehrt - in Nummer 2. Schon die neoliberale Wende der siebziger Jahre stützte die Grundforderungen der "freien Marktwirtschaft" Privatisierung, Deregulierung und tiefe Einschnitte bei den Sozialausgaben. Auch die neokonservative Folgepolitik der "einzigen Weltmacht" (Z. Brzezinski) hatte diese Devise. So kann man sich leicht vorstellen, welche übergreifenden globalen und in der eigenen Tradition der Bundesrepublik verwurzelten Gründe es sind, die die Regierung bislang zu den UN-Vorwürfen schweigen ließ. Wir möchten hier drei hervorheben.

Erstens. Die UNO ist bei ihren Bewertungen der Umsetzung des Sozialpakts in vielen Staaten zunehmend mit offensiven und komplexen Konzepten des Sozialrückbaus konfrontiert, wie sie zum Zeitpunkt der Entstehung der Menschenrechtskonventionen nicht in dieser Deutlichkeit zutage traten. Die "Fabrikgesellschaft" konzentrierte sich auf die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Heute tritt diese kapitalistische Gesellschaft in eine weitere Etappe ein, die weit darüber hinausreicht. Sie ist aktiv dabei, den ganzen Menschen, sein gesamtes Leben unter den Verwertungsprozess zu subsumieren. "Es geht um Biopolitik, darum, wie das gesamte soziale Leben so gesteuert, regiert und organisiert werden kann, dass jeder Einzelne sich mit allen seinen Potentialen möglichst reibungslos in den Prozess der Ausbeutung, Mehrwert- und Reichtumsproduktion selbst einbringt. Die dressierte Ratte soll ihr lebenslanges Rennen auch noch selbst organisieren." (Siehe: Hartmann/Geppert, Cluster, Berlin 2008, S. 10)

Das ist der UNO nicht unbekannt, und die globale und gesellschaftskritische Bedeutung ihrer Bemerkungen zur Bundesrepublik liegt weit tiefer. Denn rund um diesen Hartz-Kern der "Arbeitsmarktreformen", den sie kritisch benennt, organisieren die Arbeitsagenturen einen tiefreichenden sozialen Angriff auf die Bedingungen jedweder Persönlichkeitsentwicklung und ihrer Sinnziele, der in der Zwangsvermittlung von fast beliebig zumutbarer Arbeit kulminiert. Das hängt damit zusammen, dass in nahezu gespenstischer Weise ein Postneoliberalismus sichtbar und wirksam wird. Er muss als der Versuch eines totalitären Zugriffs auf menschliche Subjektivität beschrieben werden, als eine sich des Sozialen bemächtigende Machtstrategie gezielter und gesteuerter Vereinzelung, der Zurichtung sozialer Lebendigkeit auf die Erfordernisse politischer Machterhaltung und kapitalistisch marktwirtschaftlicher Rationalität, die Herz und Verstand, aber auch den Körper jedes Einzelnen erfassen.

Zweitens. Die Bundesrepublik gehört zu den Staaten, bei denen die Remilitarisierung besondere Aufmerksamkeit verdient und Befürchtungen auslöst. Krieg wird an ihrer Bundeswehrhochschule nicht nur als ökonomische Ressource angesehen im Kampf um Macht, Ressourcen und Vorherrschaft der eigenen kulturellen Individualität. Das ist wohl bei allen Staaten das Kosten-Nutzen-Kalkül des Krieges. Krieg wird auch ganz im Sinne der faschistischen Ideologie als Wert der Persönlichkeitsentfaltung betrachtet. "Der Krieg allein erlaubt und verlangt den Einsatz aller Fähigkeiten des Menschen von den höchsten bis zu den niedrigsten, Brutalität und Rücksichtslosigkeit, Mut und Entschlossenheit, die von der Strategie als kriegsnotwendig begriffene schiere Macht; sie alle sind zugleich seine Ursache." (van Creveld, Die Zukunft des Krieges, München 1998)

Drittens. Und während sich die rechtskonservativen und neofaschistischen Kräfte heute weltweit immer stärker etablieren, werden die Grenzen des Rechtsstaats immer mehr und immer systematischer verletzt. Die USA haben sie mit ihren Aggressionskriegen, ihrer unverhüllten Folterpraxis und ihrem Überwachungswahn auf jeden Fall schon lange weit überschritten, Wer das toleriert, wird schwerster Menschenrechtsverletzungen mitschuldig.

Darüber gibt es weitgehende Übereinstimmung unter Menschenrechtsorganisationen in aller Welt. Doch auf welcher Ebene wird diese Kritik geäußert, oder, bleibt sie oft stehen? Ich zitiere den weltbekannten Friedensforscher Johan Galtung, dem wir auch den treffenden Terminus "strukturelle Gewalt" verdanken: "Eine relevante Menschenrechtstradition hat Folter sicherlich zu verurteilen und das Opfer zu schützen. Sie hat aber auch die Strukturen, die zur Folter führen, zu verurteilen und diejenigen zu schützen, die diese Strukturen aufzudecken und zu zerstören versuchen. Das Recht, nicht gefoltert zu werden, ist grundlegend, bleibt aber an der Oberfläche. Das tiefere Recht wäre das Menschenrecht, in einer sozialen Struktur bzw. in einer Weltstruktur zu leben, die keine Folter produziert" (Johan Galtung, Menschenrechte anders gesehen. Frankfurt am Main 1994, S. 198) Ob arm oder reich, Recht oder Unrecht, wir stoßen immer wieder auf die Systemabhängigkeit der umfassenden Gewährung der Menschenrechte. Das war der UNO bei der Verabschiedung ihrer Allgemeinen Erklärung 1948 durchaus bewusst. So in Artikel 28: "Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können." Diese Forderung enthält zugleich einen das imperialistische System überschreitenden Anspruch an Menschenrechtsgewährung und einen Impuls, den Kampf um eine andere Gesellschaft - und welche sonst als eine sozialistische sollte das sein - nicht aufzugeben.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

"Ein unscharfes Bild: Aufrührer und Aufgerührte" Montage Klaus Georg, 2011

Raute

Fakten und Meinungen

Peter Strutynski / Lühr Henken für den Bundesausschuss Friedensratschlag

Zum Standortkonzept im Rahmen der Bundeswehrreform

durch Verteidigungsminister Dr. Thomas de Maizière

Verteidigungsminister Thomas de Maizière hatte im Vorfeld seiner Standortentscheidung vier Kriterien genannt, die er anzulegen gedenke:

1. die Funktionalität der Standorte,
2. eine Abwägung der Kosten,
3. die Attraktivität eines Standortes und
4. das Bestreben, in der Fläche präsent zubleiben.

Sieht man das heute vorgelegte Konzept an, so spielt nur noch das erste Kriterium eine Rolle: Es geht ausschließlich um die Funktionalität der Standorte, d. h. inwieweit tragen sie zur Steigerung der Schlagkraft der Bundeswehr bei.

So gesehen ist de Maizières Stationierungskonzept nur eine Fortführung des seit langem betriebenen Umbauplans der Bundeswehr von einer Verteidigungs- in eine Einsatzarmee. Nicht das einzige, wohl aber das bekannteste Merkmal dieser Transformation ist die noch unter Guttenberg verfügte Aussetzung der Wehrpflicht. Sie stand der Steigerung der Schlagkraft der Bundeswehr im Wege. Wehrpflichtige konnten im Ausland nicht eingesetzt werden. Folglich band die Wehrpflicht unnütz Ausbildungskapazität und Kasernenunterhalt.

Der eigentliche Sinn der Bundeswehrreform ist es, die Zahl der Soldaten, die für einen längeren Auslandseinsatz zur Verfügung stehen, von bisher etwa 7.000 auf mehr als 10.000 zu erhöhen. Immerhin eine Erhöhung um mehr als 40 Prozent. Allerdings ist diese Zahl noch steigerungsfähig, wenn sich die Regierung an der Einsatzhäufigkeit des einzelnen Soldaten Frankreichs und Großbritanniens orientiert. Dort sind 23.000 bzw. 30.000 dauerhaft einsetzbare Soldaten bei einer ähnlich großen Armee wie der deutschen möglich.

Ziel der Bundeswehrreform sind also nicht der Erhalt oder die Verbesserung der Landes- und Bündnisverteidigung. Künftig wird "vom Einsatz her gedacht". De Maizière will die Bundeswehr für mehr Auslandseinsätze rüsten. Räumlich konzentriert und gestärkt werden infanteristische Kräfte für den Kampfeinsatz im Ausland. Es wird eine "Division Schnelle Kräfte" gebildet. Ausbildungsziel ist deren "Befähigung zum Kampf".

Eingesetzt wird die Bundeswehr, wenn "nationale Interessen" das gebieten. Dabei spielt der "Katastrophenschutz", den etwa die Ministerpräsidenten Brandenburgs und Sachsen-Anhalts ins Feld führen, um bestimmte Standort zu erhalten, ebenso wenig eine Rolle wie die Überlegung, strukturschwache Regionen zu "schonen", wie es vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann gefordert wurde. Bestimmt werden die "nationalen Interessen" vor allem von der Wirtschaft. Laut den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai d. J. gehört zu den deutschen Sicherheitsinteressen, "einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen zu ermöglichen." Entsprechend ausgebaut und verbessert werden die Transportkapazitäten und die "Verlegefähigkeit" der Truppen sowie die Bewaffnung und das Training zur effektiveren Niederschlagung von Aufständen oder zu deren Unterstützung. Dazu sagen wir: Hier werden Wirtschaftskriege und völkerrechtswidrige Interventionen in fremden Ländern vorbereitet! Die sind ebenso grundgesetzwidrig wie die Ausrichtung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze insgesamt. Denn der einschlägige Grundgesetzartikel lautet immer noch: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf" (Art. 87a). Wir bekräftigen unsere Ablehnung von Auslandseinsätzen und fordern als ersten Schritt den sofortigen und bedingungslosen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan.

Auch das Kostenargument dient dem Verteidigungsministerium nicht als Kriterium für sein Standortkonzept. Die neue Bundeswehrreform wurde der Öffentlichkeit zwar als Ressortbeitrag zur Schuldenbremse verkauft, doch von Einsparung kann keine Rede sein. Die gesamtem Militärausgaben werden 2012 unter Hinzuziehung der im Einzelplan 60 eingefügten Ausgabenposten für ausscheidendes Personal (1 Mrd. Euro) und für Freiwillige (bis zu 450 Mio. Euro) sogar um fünf Prozent bis auf 33,1 Mrd. Euro anwachsen. Bis 2015 sind lediglich leichte Absenkungen geplant, die auf Einsparungen bei Betriebsausgaben zurückzuführen sind. Auch die von de Maiziere angestrebte Stornierung zuviel bestellter Waffen wird nicht zu Minderausgaben führen, weil diese durch Ausgleichszahlungen kompensiert bzw. durch die Bestellung anderer Waffen - die für die Interventionsfähigkeit dringender gebraucht werden - ausgeglichen werden sollen. Deutschlands größter Rüstungskonzern Rheinmetall stellt deshalb zur eigenen Zufriedenheit fest: "Insofern findet die Entwicklung sinkender Budgets in einigen westlichen Industriestaaten in Deutschland keine Entsprechung." Profiteure der Reform sind die Rüstungskonzerne. Die Commerzbank prophezeit der Rheinmetall-Aktie mittelfristig einen Kursanstieg um 50 Prozent.

Wir finden es einen Skandal, dass der Rüstungshaushalt als einziges Ressort vom Sparen ausgenommen wird und bekräftigen unsere Forderung: Spart endlich an der Rüstung!

Das mit großem Trara angekündigte große Stationierungskonzept de Maizières erweist sich bei genauem Hinsehen als ein großes Ablenkungsmanöver: Statt Kostensenkung Mehrausgaben, statt Abrüstung Umrüstung der Bundeswehr zur Interventionsarmee. Als Friedensbewegung sagen wir dazu: Wenn die Bundeswehr zur "Verteidigung", wie es das Grundgesetz vorschreibt, nicht mehr gebraucht wird, ist sie abzuschaffen und nicht in eine Angriffsarmee umzuwandeln.

Raute

Fakten und Meinungen

Hans Jürgen Falkenhagen / Brigitte Queck

Gaddafis Tod

Er fand er am Donnerstag, dem 20. Oktober 2011, den Tod. Muammar Gaddafi wird ungeachtet aller Verleumdungen der westlichen Medien als eine Persönlichkeit in die Geschichte Libyens, der arabischen Völker und der Völker Afrikas eingehen. Historiker beurteilen Politiker nach ihren realen Leistungen, und da überwiegt bei Gaddafi eindeutig die positive Bilanz als Freiheitskämpfer gegen Kolonialismus und Imperialismus und als Verfechter der Rechte seines Volkes. Bei allen Fehlern und Rückschlägen wurde nach dem Sturz einer stockreaktionären Königsdynastie unter seiner 42jährigen Führung Libyen in einen Staat mit dem höchsten Lebensstandard und der besten ökonomischen Entwicklungsdynamik Afrikas verwandelt. Das kann niemand leugnen, der sich sachlich informiert.

Wie kam es zum Tode von Muammar al-Gaddafi?

Darüber kursieren mehrere Versionen. Als richtig erweist sich aber offenbar folgende: Gaddafi war bis zuletzt, auch im Angesicht des fortgesetzten brutalen NATO-Bombardements libyscher Städte und Dörfer, fest entschlossen, sich und sein Volk vor den neuen Unterdrückern zu schützen und zu verteidigen, die als Neo-Kolonialisatoren unter der Maske von Demokratie und Menschenrechten agieren, aber in Wirklichkeit allein von dem Bestreben geleitet sind, das dem libyschen Volk gehörende Erdöl, Erdgas und andere Bodenschätze hochrentabel für sich selbst ausbeuten zu können.

Ernst war es dem libyschen Revolutionsführer Gaddafi mit einer echten Demokratie als einer Herrschaft zum Wohle des gesamten libyschen Volkes, aber auch anderer vom Imperialismus bedrohter Völker der Welt. Er war ein leidenschaftlicher Verfechter der arabischen Einheit und der Einheit Afrikas.

Entdeckt wurde sein letzter Aufenthaltsort nach westlichen Medienberichten in der Stadt Syrte von einem NATO-Geheimdienst über ein von Gaddafi benutztes Satellitentelefon. Als die NATO-Kampfbomber seinen letzten Aufenthaltsort von der Luft aus angriffen, gab Gaddafi den Befehl, in bereitstehenden Fahrzeugen zusammen mit seinem Sohn Muatassin und dem libyschen Verteidigungsminister sowie einem Begleitkommando von Soldaten, einen anderen Ort zu erreichen, zumal er informiert wurde, dass eine britische Spezialeinheit in seiner Nähe gelandet war, die sich mit libyschen Söldnertruppen des sogenannten Übergangsrates vereinigt hatte. Die Fahrzeugkolonne wurde von der NATO geortet und zweimal hintereinander bombardiert und beschossen, wobei fast alle Fahrzeuge zerstört oder beschädigt wurden, darunter auch das Fahrzeug, in dem sich Muammar al-Gaddafi befand. Gaddafi konnte noch verwundet von seinen Leibwächtern aus dem Fahrzeug gezogen worden. In dem nun einsetzenden erbittertem Gefecht mit am Boden anrückenden Gegnern ist es anscheinend zu einem heftigen Schusswechsel gekommen. In westlichen Medien war von einem Kreuzfeuer die Rede. 175 der ihn begleitenden Soldaten haben durch die Luftangriffe oder im Bodenkampf den Tod gefunden. Offensichtlich wurde auch Gaddafi verwundet und fiel in die Hände des britischen Spezialkommandos bzw. der Söldnertruppen. In einem Krankenwagen wurde er nach Misrata gebracht. Nach authentischer Aussage des Fahrers war er bereits tot. Die genauen Umstände des Todes des Sohnes von Muammar al-Gaddafi und des Verteidigungsministers sind allgemein noch nicht bekannt.

Ein Gerichtsmediziner hat Muammar al-Gaddafi untersucht. Er durfte aber keine Auskunft über die Todesursache an die Öffentlichkeit geben.

In Misrata wurde der tote Revolutionsführer Gaddafi zusammen mit seinem getöteten Sohn und dem toten libyschen Verteidigungsminister zur Schau gestellt. Dieser letzte Akt von westlichen Barbaren und Leichenfledderern ist schändlich genug. Sie treten ganz offensichtlich den Menschenrechtsgrundsatz mit Füßen, der Ehrerbietung und Würde gegenüber jedem Verstorbenen gebietet.

In der Geschichte der Menschheit pflegten auch schlimmste Barbaren ihren besiegten und getöteten Feinden noch würdevollen Respekt zu bekunden. Doch für die westlichen NATO-Kreise, die von der libyschen Bevölkerung auch verächtlich Nazi-NATO genannt wird, weil sie monatelang bewusst und gezielt die libysche Zivilbevölkerung ins Visier nahm und bombardierte, um sich an den über 5 Millionen Demonstranten auf der Straße, die Gaddafi-Bilder trugen, rächen wollten, ist ein solcher Maßstab nicht anzulegen.

Für Faschisten ist Menschlichkeit ein Fremdwort. In Libyen hat die NATO unverblümt ihre hässliche Fratze gezeigt, indem sie offen einen Lynchmord an dem libyschen Revolutionsführer verüben ließ. Während die NATO 1999 während ihres 70-tägigen Bombardements von Jugoslawien noch von einem bedauerlichen Zwischenfall sprach, als diese einen Flüchtlingskonvoi angriff, erklärte die NATO diesmal offen, "sie habe am Morgen zwei Fahrzeuge eines Autokonvois nach Sirte bombardiert". Nach Angaben eines NATO-Diplomaten "befand sich möglicherweise Gaddafi in dem Konvoi". (in: Wetterauer Zeitung vom 21.10.2011 "Libyens Ex-Machthaber Gaddafi getötet".)

Demnach ermöglichte es das NATO-Bombardement, den libyschen Revolutionsführer Gaddafi gefangen zu nehmen.

Der russische Ministerpräsident Putin brachte es auf den Punkt, als er kürzlich, während eines offiziellen Besuches in Dänemark, fragte: "Wer gab der NATO das Recht, Gaddafi zu ermorden?"

Der Präsident Venezuelas, Chávez, würdigte Muammar Gaddafi als Märtyrer einer gerechten Sache und großen Revolutionär. Und auf Gaddafi treffen sicherlich auch die Worte des deutschen Sozialdemokraten Otto Wels zu, der Adolf Hitler angesichts des mit Betrug, Macht und Gewalt erzwungenen Ermächtigungsgesetzes der Nazis im Deutschen Reichstag 1933 die Worte entgegensetzte: "Das Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht!"

Nun, das letzte Wort auch zu Muammar al-Gaddafi werden die Geschichte und das Weltgericht, wird sein Gott Allah, an den auch Gaddafi fest geglaubt hat, sprechen, und nicht die heute triumphierenden NATO-Hiwis.

Der Befreiungskampf des Libyschen Volkes ist mit dem Märtyrertod von Muammar al-Gaddafi nicht zu Ende. Informationen zufolge haben alle libyschen Stämme dem sich selbst ernannten und von der NATO favorisierten und militärisch unterstützten Übergangsrat ihr Vertrauen entzogen und stattdessen Saif al-Islam al-Gaddafi ihr Vertrauen ausgesprochen, die Führung einer künftigen libyschen Regierung der nationalen und antikolonialen Befreiung zu übernehmen. Noch soll, wie die Zeitung junge welt vom 21.10.2011 berichtet, die grüne Fahne der Dschamaharija über vielen Orten und auch Städten Libyens wehen, in denen die Hälfte der libyschen Bevölkerung lebt. Die alte Fahne des früheren libyschen Königs Idris I wird von der Mehrheit des libyschen Volkes abgelehnt. Die Welt wird jetzt genau hingucken, was weiter in Libyen geschieht. Sie wird sicherlich bald sehen, wie die Losungen von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten, unter denen die USA und der Westen ihre Kriege führen, sich als hohle Phrasen zur Täuschung der Menschen erweisen.

Die NATO-Aggression gegen den souveränen Staat Libyen, vorbereitet und begründet durch die Verbreitung der Lüge, Gaddafi bombardiere sein eigenes Volk, das es zu schützen gelte, war diesmal sogar stillschweigend von einer Mehrheit im UNO-Sicherheitsrat gebilligt worden, wenn auch nicht unter dem Namen Aggression, so doch als Schaffung einer Flugverbotszone für die libyschen Luftstreitkräfte. Dieser Umstand und der Tod von Muammar al-Gaddafi mahnen jetzt, den weltweiten Friedenskampf wesentlich zu verstärken.

Worauf es für die Völker der Welt vor allem ankommt ist, die Völker mordenden Kolonialkriege endlich zu stoppen. Neue Kriege müssen unbedingt verhindert werden.

Es gibt Informationen, dass USA und NATO weitere Kriege in Afrika, in Lateinamerika, in Asien (hier u. a. gegen den Iran und Syrien) und sogar gegen Russland, Weißrussland und die Ukraine planen. Die würden neben allen Verstößen gegen die Menschenrechte natürlich auch die Staatsverschuldung, auch die der EURO-Länder, in neue schwindelnde Höhe treiben.

Das hoch verschuldete Griechenland hat mit 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts noch vor Frankreich bereits jetzt die höchste Rate an Militärausgaben in Europa, weil es maßgeblich an USA-Kriegen und auch am Libyenkrieg beteiligt ist.

So dient der aufgespannte Rettungsschirm für verschuldete EURO-Länder, ohne dass darüber ein Wort verloren würde, auch der Deckung von deren Militär- und Sicherheitsausgaben.

Dass Länder wie z. B. Griechenland, Italien, Spanien und Portugal sozialpolitisch über ihre Verhältnisse leben würden, dient hier nur als Ausrede der westlichen Politiker. In der Tat, der Hauptfaktor der überbordenden Staatsverschuldung, auch der USA, ist deren weltweite Militärpräsenz und sind deren weltweiten Kriege und Unterdrückungsaktionen. Das Verbrecherische und Heuchlerische aber besteht darin, dass die Reichen die Kriegskosten auf die betroffenen Opferländer, sowie die eigene Bevölkerung in den westlichen Staaten abwälzen und das Verheizen eigener Soldaten in so genannten "Menschenrechtskriegen" und die Ermordung der Zivilbevölkerung in den von ihnen überfallenen Ländern billigend in Kauf nehmen.

Raute

Fakten und Meinungen

Harald Nestler

Signale aus Genf

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Kämpfen verschiedener Interessengruppen, die sich in Friedens- und in Kriegszeiten um ihren Anteil am gesellschaftlichen Vermögen erbittert streiten. Diese Kämpfe können religiös oder national verbrämt sein, aber es geht immer um wirtschaftliche und politische Macht. Rücksicht auf die Interessen der Individuen, auch wenn ihnen eingeredet wird, dass die Kämpfe auch in ihrem Interesse stattfinden, gibt es im Prinzip nicht. Die beständige und massenhafte Verletzung der Rechte der Individuen in diesen Kämpfen, also der Rechte des einzelnen Menschen, der Menschenrechte, ist Bestandteil und notwendige Bedingung dieser fortwährenden Auseinandersetzung der Interessengruppen.

Sicher gab es im Laufe der Geschichte Versuche, die im Ganzen unvermeidliche Verletzung der Menschenrechte im Einzelfall durch Schutzmaßnahmen zu vermindern. Mitleid, religiöse Überlegungen, wirtschaftliche Erwägungen waren wichtige Triebkräfte, den Rechten der schutzlos den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen preisgegebenen Menschen ein wenig Raum zu schaffen. Aber erst mit der in der europäischen Aufklärung gewonnenen Erkenntnis, dass Religionen keinen Schutz vor Terror und Gewalt bieten, mit der Erkenntnis, dass von weltlichen und geistlichen Herrschern keine Besserung zu erwarten ist, wurden endlich Forderungen zum Schutze des einzelnen Menschen formuliert, die sich nicht auf die Notwendigkeit des Abwendens eklatanter Grausamkeiten berufen, sondern die das Recht des einzelnen Menschen auf seine Unversehrtheit (später: auf seine Würde) aus seiner bloßen Existenz herleiten. Die Erfüllung dieser Forderungen bedarf keiner Einzelnachweise der Ungerechtigkeit oder des Elends, sie sind allgemeingültig.

Einer der Ersten, die mit solchen Überlegungen an die Öffentlichkeit traten, war der Genfer Uhrmacherssohn, Forscher, Philosoph und Musiker Jean Jacques Rousseau. 2012 jährt sich sein Geburtstag zum 300. Male. "Der Mensch ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten." Aus dieser Feststellung ergab sich für ihn die Frage: "Woran liegt das?" Das war der Ausgangspunkt all seiner Überlegungen. 1762 (vor 250 Jahren - Anlass für ein weiteres zu begehendes Jubiläum in der Geschichte der Menschenrechte) erscheint sein bahnbrechendes Werk "Der Gesellschaftsvertrag". Dort formuliert er, dass der allgemeine Wille, also nicht Gottesgnadentum oder mächtige Einzelinteressen, bestimmend sein muss für das, was in der Gesellschaft passiert. "Was die Gemeinschaft der Bürger tun und entscheiden würde, wenn sie allgemein gültige Gesetze beschließen, wählen oder abstimmen könnte, und zwar bei vollständiger Informiertheit, höchster Vernunft und uneingeschränkter, also undogmatischer und nicht emotional getrübter Urteilskraft - dieser allgemeine Wille kann nicht anders als zum allgemeinen Wohl entscheiden, in dem jedes Mitglied der Gesellschaft seinen Platz findet."

Es ist verständlich, dass diese Schrift sofort nach ihrem Erscheinen in Frankreich, in der Schweiz und in anderen Ländern verboten wurde. Aber die Gedanken des Genfer Bürgers Rousseau und anderer fortschrittlicher Persönlichkeiten wirkten weiter.

Erste Höhepunkte der Menschenrechtsbewegung waren die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776 und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung 1789.

Das 19. und das 20. Jahrhundert waren von erbitterten weltweiten Kämpfen um politische und wirtschaftliche Macht geprägt. Trotz der Verkündung klarer Prinzipien durch aufgeklärte Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft und, vereinzelt, Politik, galten die Rechte des Einzelnen wenig. Der Tiefpunkt der Nichtachtung der Menschenrechte wurde im Zweiten Weltkrieg erreicht, auch und gerade im faschistischen Deutschland. Diese Erschütterung brachte die Chance für einen Neubeginn.

1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Pariser Palais de Chaillot angenommen. Dort wurden Würde und Wert der menschlichen Person mit ihrer Geburt festgeschrieben. Die folgenden Jahrzehnte zeigten, dass die Verwirklichung dieser edlen Grundsätze in der Praxis nicht durchgesetzt werden konnte, auch wenn es auf einigen Feldern in einigen Ländern Fortschritte gab. So war es folgerichtig, dass die Vereinten Nationen 1966 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch den Zivilpakt und durch den Sozialpakt ergänzten und Kontrollorgane schufen. Über die Einhaltung des Sozialpaktes wacht seitdem der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (wsk-Rechte) beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen. Um den Prinzipien und Festlegungen dieses Paktes, dem die überwiegende Mehrheit der UNO-Mitgliedsländer zugestimmt hat, Nachdruck zu verleihen, müssen die Mitgliedsstaaten regelmäßig über die Einhaltung des Sozialpaktes berichten.

In diesem Jahr war Deutschland zum fünften Mal an der Reihe.

Die deutsche Regierung hatte 2008 einen schriftlichen Bericht über die Einhaltung der einzelnen Artikel des Sozialpaktes abgegeben (Anwendung des Sozialpaktes im deutschen Rechtswesen, Zugang zu den wsk-Rechten ohne jegliche Diskriminierung, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Recht auf Arbeit, Recht auf faire Arbeitsbedingungen, Recht auf soziale Sicherheit, Rechte der Familien, Mütter, Kinder und Jugendlichen, Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, Recht auf Gesundheit, Recht auf Bildung, Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben), der die Mitglieder des Ausschusses veranlasste, zu 31 zusätzlichen Punkten weitere Informationen oder Klarstellungen zu verlangen. Es wurde konkret danach gefragt, in welchen deutschen Gerichtsurteilen es einen Bezug auf den Sozialpakt gibt. Es wurde gefragt, welche Schritte unternommen wurden, den Anteil von Frauen in leitenden Positionen zu erhöhen, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, das Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" durchzusetzen. Es wurde eine Erklärung darüber verlangt, wie der deutsche Staat das Existenzminimum berechnet, wie die Frauen entschädigt werden, deren Rentenalter auf 67 Jahre erhöht wurde, obwohl 98 Prozent von ihnen die Mitgliedschaft von 45 Jahren in der Rentenversicherung nicht erreichen, und wie die Situation in Ausreisezentren verbessert werden soll. Weitere konkrete Fragen betrafen den ungehinderten Zugang zu gesundheitlicher Betreuung, zur Bildung, insbesondere die hohen Studiengebühren in einigen Bundesländern und die Respektierung der kulturellen Vielfalt.

Diese 31 Fragen zeigten, dass die Mitglieder des Ausschusses durchaus verstanden hatten, wo die Schwachpunkte der Einhaltung der sozialen Menschenrechte in Deutschland liegen. Diese Schwachpunkte wurden noch deutlicher herausgearbeitet in einem Parallelbericht von 20 NGOs (Nichtregierungsorganisationen), darunter die GBM, die sich in Vorbereitung der Berichterstattung der Bundesrepublik vor dem Ausschuss zu einer ad-hoc-Allianz für wsk zusammengeschlossen hatten.

Die GBM war an der Ausarbeitung der Teile des Berichtes, bei denen sie über die größte Kompetenz verfügt, wesentlich beteiligt und überreichte darüber hinaus dem Ausschuss eine eigene Ergänzung zum Parallelbericht. In einer Anhörung vor dem Ausschuss am 2. Mai konnte der Vertreter der GBM, wie die Vertreter von neun anderen NGOs auch, noch ein Statement zu den Schwerpunkten abgeben. Das waren im Falle der GBM: Notwendigkeit der Schaffung gleicher Lebensbedingungen in ganz Deutschland, Beendigung der Rentenungerechtigkeit zwischen Ost und West (besonders der diskriminierenden Behandlung von Funktionsträgern der DDR), Beseitigung der menschenrechtlichen Defizite in der Hartz-IV-Gesetzgebung, in den neuen Rentenregelungen und bei der Gesundheitsreform in ganz Deutschland, zögernde Umsetzung des Sozialpaktes in der deutschen Justiz, Forderung nach Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum Sozialpakt, das die Einklagbarkeit der Rechte des Einzelnen ermöglichen soll.

Die GBM war auch schon an der Kritik früherer Staatenberichte der Bundesrepublik vor dem wsk-Ausschuss beteiligt. Neu war in diesem Jahre, dass sich unter den von den Mitgliedern des Ausschusses aufgegriffenen Themen alle von der GBM vorgetragenen Themen befanden. Die Erklärung der deutschen Regierungsdelegation konnten den Ausschuss in vielen Punkten nicht befriedigen, so dass nach Abschluss des Berichtsverfahrens 39 abschließende Bemerkungen (concluding observations, dokumentiert in ICARUS 3/2011, S. 3-10) zur Beachtung durch die Bundesregierung formuliert wurden, darunter:

- Sensibilisierung der deutschen Gerichte für die Anwendung des Sozialpaktes fördern;
- Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland regional und gezielt bekämpfen;
- Ost-West-Gefälle bei Sozialleistungen und Renten ausgleichen;
- Recht auf frei gewählte Arbeit beachten (Zumutbarkeitsregelungen ändern);
- Hartz-IV-Regelungen überarbeiten, Kinderarmut bekämpfen;
- nationalen Gesetzesrahmen schaffen für Studiengebühren.

War nun das Verfahren um den 5. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland vor dem Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ein neues positives Signal für die Einhaltung der Menschenrechte aus Genf, 300 Jahre nach der Geburt des Pioniers Jean Jacques Rousseau, 250 Jahre nach der Veröffentlichung des Gesellschafts-Vertrags?

Es gibt Anzeichen dafür, dass die Bundesregierung die Umsetzung der sozialen Menschenrechte weiterhin nicht ernst nimmt. Die abschließende Bemerkung Nr.38 verlangt, dass diese Empfehlungen übersetzt, veröffentlicht und in Behörden und Gesellschaft weit verbreitet werden. Auf diesem Gebiet ist bisher sehr wenig geschehen. In mündlichen Stellungnahmen von Regierungsvertretern sind Tendenzen zur Schönfärberei zu erkennen. Der Kern der Kritik wird durch Hinweise, dass einzelne Aussagen im Parallelbericht angeblich nicht auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhen, abgeschwächt. Die Presse zieht die Seriosität der NGO-Vertreter in Zweifel. (s. Seite 50, aus SPIEGEL 28/ 2011) Ein (natürlich) ungenannter Teilnehmer an der Tagung des Ausschusses wird mit der Bemerkung zitiert: "Wenn Deutschland berichtet, urteilen wir immer besonders streng." Mitglieder des Ausschusses werden wegen ihrer Nationalität in Frage gestellt, obwohl an ihren Aussagen nichts zu deuteln ist.

Es gibt aber auch viele Anzeichen dafür, dass die Tagung den NGOs, darunter dem Forum Menschenrechte, Misereor, dem Diakonischen Hilfswerk, der FIAN (Netzwerk für das Recht auf Nahrung), Amnesty International, dem Forum "Pflege Aktuell", eine starke Unterstützung in ihrem Kampf um die Einhaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte gibt, auch der GBM und ihrer verdienstvollen Arbeitsgruppe Menschenrechte.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Jean Jaques Rousseau (1712-1778)
- "Ein Bündnis aus ehemaligen Psychiatriepatienten, Intersexuellen und DDR-Veteranen" schreibt der Spiegel die Wahrheit über sich selbst

Raute

Fakten und Meinungen

Werner Schneider

Wessen Wirtschaftspolitik?

Wem dient die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik in der marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaft?

Die gegenwärtig vorherrschende Politik auf dem Gebiet der Wirtschaft geht von den Unternehmen als Anbieter von Waren und Dienstleistungen aus. Das Wirtschaftswachstum erscheint als entscheidendes Kriterium für weiteren Wohlstand, für Beschäftigung und Begrenzung der Arbeitslosigkeit. Deshalb muss der Staat und sollen die Parteien, die Gewerkschaften, die Organisationen und Verbände die Wirtschaft insgesamt wie auch die einzelnen Unternehmen möglichst zielgenau fördern, die Rahmenbedingungen für prosperierendes Wirtschaften schaffen und garantieren, damit diese die benötigten Güter im steigenden Umfang und in bester Qualität herstellen und anbieten können. Damit werden viele andere wirtschaftliche Probleme lösbar. So glaubt man, es würden mehr Erwerbspersonen gebraucht und beschäftigt, bessere Tarifabschlüsse zeichneten sich ab und es würden höhere Löhne gezahlt. Vor allem innovative, leistungsstarke Unternehmen könnten mit staatlicher Unterstützung den Export ausdehnen wie auch den Inlandsabsatz steigern. Da die Erhöhung und Verbesserung des Güterangebots vielfach Investitionen voraussetzt, würden zugleich Produktionszuwächse vor allem in der Bauwirtschaft und im Maschinenbau sowie in den Vorstufen dieser Produktionen generiert.

Der Wirtschaftskreislauf kann aber nur funktionieren, wenn das Güterangebot auf eine entsprechende Nachfrage trifft. Fehlt diese oder verstärkt sie sich nicht wegen mangelnder Kaufkraft der Kunden, stößt die angebotsorientierte Ökonomie an ihre Grenzen. Nur der Export ist dann der Ausweg, wenn die Binnennahfrage wegbricht. Das erklärt auch, dass Deutschland zu den großen Exportnationen zählt. Dauerhaft lässt sich dennoch auf diese Weise Wirtschaftswachstum nicht sichern, weil die Einfuhrländer ihrerseits zur Bezahlung ihrer Importe exportieren müssen. Diese Einfuhren vergrößern das Inlandsgüterangebot, das wiederum solvente Käufer abverlangt. Da diese wegen schwacher Kaufkraft fehlen, kann der Wirtschaftskreislauf nicht reibungslos verlaufen. Die erwarteten Effekte sind nicht sicher.

Indem die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik von der notwendigen Wertschöpfung und vom Wachstum des Sozialprodukts ausgeht, stellt sie die Unternehmen und folglich die Unternehmer in den Mittelpunkt staatlichen Handelns. Mit der Förderung und Unterstützung durch den Staat erlangen sie Marktmacht und bestimmen und beeinflussen die wirtschaftliche Entwicklung.

Der Verbraucher, der die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen auslöst und sie als Endverbraucher auch repräsentiert, ist gegenüber den Mono- und Oligopolen so gut wie machtlos. Die staatlichen Kartellbehörden stehen der spekulativen Preisbildung auf den verschiedenen Märkten hilflos gegenüber. Abgesehen davon sieht auch der Staat in einer angebotsorientierten Marktwirtschaft keinen Anlass zur Preisregulierung und Preisüberwachung. Das "Laissez-faire", das freie Spiel der Kräfte, gilt als passables Prinzip im Wirtschaftsverkehr, in den man besser staatlich nicht eingreift. Allerdings werden gewisse Einschränkungen und Vorgaben im Interesse des Funktionierens der Märkte und zur Verhinderung von Marktversagen akzeptiert.

Grundsätzlich lehrt der Marktmechanismus: Der stärkere Marktteilnehmer gewinnt, der schwächere verliert. Der schwächere Marktteilnehmer ist in dieser angebotsorientierten Marktkonstellation in aller Regel der Kleinabnehmer und in letzter Konsequenz immer der Konsument.

Der im arbeitsfähigen Alter stehende Konsument, der gleichzeitig Produzent ist, muss seine Arbeitskraft wie eine Ware auf dem Arbeitsmarkt verkaufen, um die Stellung des Kunden einzunehmen und die für ihn lebenswichtigen Subsistenzmittel erwerben zu können.

Der "Kunde als König" ist in der gängigen Wirtschaftspraxis ein schönes Märchen. Das steht durchaus nicht im Widerspruch zu den Käuferrechten, Garantieleistungen und Kulanzentscheidungen der Unternehmen. Was aber in der angebotsorientierten Ökonomie zählt, der erzielte Preis und der erwirtschaftete Gewinn, auf diese Faktoren hat der Verbraucher keinen oder nur einen marginalen Einfluss.

Die freie Marktwirtschaft steht aus wohlverstandenem Grund einer staatlichen Preisregulierung und Preisüberwachung ablehnend gegenüber. Durch die unsichtbare Hand des Marktes, über Angebot und Nachfrage, würde sich schon der richtige Preis herausbilden. Auch das ist ein Märchen, denn wir sehen, wie Konzerne ihre marktbeherrschende Stellung für Preiswucher und Preismanipulationen ausnutzen.

Auch ist das sogenannte Marktgleichgewicht, bei dem sich der richtige Preis einstellen soll, weil Angebot und Nachfrage gleich groß sind, ein reines Theorem. Die Übereinstimmung zwischen Angebot und Nachfrage bleibt die Ausnahme, und die Abweichung zwischen Produktion und Bedarf die Normalität. Sehr große Disproportionen bei eingeschränkter Massenkaufkraft führen zu Überproduktionskrisen, wie sie sattsam bekannt sind.

Notwendig wäre eine vom Staat organisierte Preiskontrolle für die wichtigsten Rohstoffe, für Energieträger, Grundnahrungsmittel, Mieten und Pachten, wenn sich dieser einer nachfrageorientierten Politik gegenüber verpflichtet fühlen würde. Diese ökonomische Politik ginge von dem prinzipiellen Standpunkt aus, dass Wirtschaft und Produktion für den Menschen da seien und nicht umgekehrt. Wirtschaft und Produktion haben den menschlichen Bedürfnissen zu entsprechen. Die Staatsführung handelt richtig, die für die Befriedigung des Inlandbedarfs eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik betreibt. Damit eine solche ökonomische Politik Erfolg hat, muss sie die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung und der Rentnerinnen und Rentner stärken. Das verlangt eine aktive Lohn- und Rentenpolitik im Maße des Produktivitätsfortschritts sowie eine Begrenzung der Steuern und Abgaben der breiten Schichten der Bevölkerung. Zur Stabilisierung der Staatsfinanzen - um eine nachfrageorientierte Politik verbunden mit dem Schuldenabbau betreiben zu können - ist es ferner nötig, angemessene Unternehmenssteuern zu erheben und eine adäquate Besteuerung hoher und höchster Einkommen und Privatvermögen sowie Sparmaßnahmen zu organisieren. Die wachsende kaufkräftige Nachfrage wird zum Impetus der Produktion und damit zugleich der Beschäftigung. Die Ausführung dieser Politik wäre konsequenterweise mit Änderungen in der Verteilung und Umverteilung des Sozialprodukts verbunden. Doch betrachtet man die Lohn- und Kaufkraftentwicklung der Massen in den letzten zehn Jahren, wird deutlich, dass Verschiebungen und Verwerfungen stattgefunden haben. Die Lohnquote 2010 ist mit 66,2 Prozent, gemessen am Nettosozialprodukt, auf eine absoluten Tiefstand gegenüber den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung (71,8 Prozent) abgesunken, während die Quote der Vermögens- und Gewinneinkommen analog gestiegen ist. Das Realeinkommen der Erwerbstätigen und der Rentner - im Unterschied zu anderen EU-Ländern - stagnierte oder war rückläufig. Die Kaufkraft der Bevölkerung muss wieder an Fahrt gewinnen. Das kann nur eine im Prinzip nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik herbeiführen.

Eine solche ökonomische Politik soll langfristig und nachhaltig in den Eigentums- und Vermögensverhältnissen eine mehr ausgewogene und homogene Entwicklung ermöglichen, bei der alle Gesellschaftsmitglieder mitgenommen werden und ihren Platz finden.


Neue Wege braucht das Land

Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse sind jedoch nicht so. Womit die Frage nach dem Warum erlaubt sein muss.

Die Legislative wird dominiert von den Eigentümern des ständig sich vermehrenden Kapitals, dem Berufsbeamtentum, von Vertretern der freien Berufe und der Unternehmerschaft bzw. ihrer Wirtschaftsverbände. Diese so zusammengesetzten politischen Körperschaften können gar nicht anders entscheiden als im Interesse der Besitztitel der Mitglieder, ihrer privilegierten Stellung und ihrer Klientel. Sie sind somit kein Ausdruck einer repräsentativen Demokratie (d. i. übertragen Volksherrschaft). Die Parlamentarier repräsentieren im Grunde nur sich selbst und ihre Klassenschicht. Was sie aber ebenso sind. Sie spiegeln die Hegemonie der etablierten Parteien wider, denen sie angehören.

Das genügt aber den Anforderungen einer repräsentativen Demokratie nicht. Die Parteien verfügen über eine Mitgliedschaft von gerade einmal etwas mehr als zwei Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung in der Bundesrepublik. Und diejenigen Parteien, die sich als Volksparteien verstehen, sind - gemessen an ihren Mitgliederzahlen - im Volk kaum verwurzelt. Die demokratischen Wahlen werden zudem konterkariert durch den fragwürdigen Umstand, dass die Fraktion der Nichtwähler tendenziell zunimmt und einen höheren Anteil an den Wahlbürgern hat als die stärkste deutsche Partei. So hindert es bei Kommunalwahlen keineswegs, mit Minoritäten der abgegebenen Stimmen Oberbürgermeister und Bürgermeister in das Amt einzusetzen und die Abgeordnetensitze zu 100 Prozent zu besetzen, obwohl sich eine Mehrheit von Nichtwählern herausstellt.

Insoweit ist es an der Zeit, nach neuen Wegen zur Festigung der Demokratie zu suchen. Die praktizierte Demokratie und ihre politischen Körperschaften können sich nicht mehr allein auf den Parteienproporz stützen, sondern die Volksvertreter müssen auch die soziale Stellung der Wähler in der Gesellschaft prinzipiell, das heißt in ihrer grundsätzlichen Schichtung reflektieren.

Es ist eine Tatsache, dass ein großer Teil der Bevölkerung in den Parlamenten auf Bundes- und Länderebene nicht vertreten ist. Unterrepräsentiert sind dort vor allem qualifizierte Arbeiter und Techniker im Produktions- und Dienstleistungsprozess, die den Kern der heutigen Arbeiterklasse bilden, ferner qualifizierte Angestellte aus dem kaufmännischen und dem Verwaltungsbereich. Unterrepräsentiert sind auch aus dem ländlichen Raum die Bauern und die Bewirtschafter von Weinbau-, Gartenbau- und fischereiwirtschaftlichen Flächen. In ihrem Kern repräsentieren sie die bäuerliche Klasse.

Das Problem ist, dass die Parlamente auf Bundes- und Länderebene die soziale Schichtung des Volkes in dieser Weise gar nicht und in Grundfragen den politischen Willen in der Bevölkerung unvollkommen abbilden. Ungenügend repräsentiert in den Parlamenten sind auch Frauen, obwohl der Frauenanteil bei mehr als der Hälfte der wahlberechtigten liegt. Diesem Übel abzuhelfen, kann durch eine Quotenregelung versucht werden, die für alle Parteien und ihre Kandidaten Gültigkeit hat. Mindestquoten werden für bisher unterrepräsentierte Wählerschichten bestimmt, Maximalquoten unter der Berücksichtigung der derzeitigen Situation für die bisher überproportional vertretenen Wählerschichten. Letztere Quoten erfüllen etwa den gleichen Wirkungszweck in der Gesellschaft wie der numerus clausus für die Bewerbung um einen Studienplatz.

Das ist ein völlig neuer Weg, der beschritten werden sollte, auch wenn er bei Volksvertretern, die elitären Vorstellungen anhängen, Skepsis und Ablehnung hervorrufen wird. Ein altes Sprichwort besagt, bei der Kultivierung eines Sumpfes kann man nicht die Frösche um Rat befragen. Die Verwirklichung einer solchen realen repräsentativen Demokratie bedeutet eine Art Kulturrevolution im politischen Leben, die nur dann erfolgreich sein kann, wenn das Wahlvolk darin den Sinn erkennt und demgemäß handelt.


Eigenheiten des Rechtssystems und ihre wirtschaftlichen Wirkungen

Betrachtet man das heutige Rechtssystem, so gibt es einige Eigentümlichkeiten, die zu dem Schluss führen, dass Recht in erster Linie den Besitzenden, den Herstellern und Leistungserbringern dient. Dieser Grundinhalt des Rechts im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) kommt vor allem im Inhalt der Schuldverhältnisse wie im Arbeitsrecht und Mietrecht sowie im Sachenrecht zum Ausdruck.

Nach dem Grundgesetz (GG) unterliegt das Eigentum im besonderen dem Schutz des Staates (Art. 14). Das Eigentum ist wohl auch dem Gemeinwohl verpflichtet, aber wie, das ist rechtlich nicht definiert und daher wirtschaftlich nicht relevant.

Prägende Beispiele, für wen die Rechtskonstrukte vor allem nützlich sind, gibt es genügend. Der Verfasser beschränkt sich auf einige, wesentliche Sachverhalte, die stets ökonomisch determiniert sind, deren Kern in der Besserstellung des ohnehin wirtschaftlich Stärkeren, im weiteren Sinn des Fachkundigen (behandelnder Arzt, Gutachter usw.) besteht.

- Gewerbefreiheit als eines der wichtigsten Freiheitsrechte und gleichzeitig als Vehikel der Konzentration wirtschaftlicher Macht mit dem Ergebnis der Verdrängung von Marktteilnehmern und Diktat der Preise.

- Laufende Preiserhöhungen für Güter und Dienstleistungen (Energieträger, Nahrungsmittel, Mieten etc.) ohne ökonomischen Grund kraft Marktmacht, nach Preisindizes (Verbraucherpreisindex), konstruierten Preisabhängigkeiten (Öl, Gas, Fernwärme etc.) und weiteren, teils imponderablen, aber marktrelevanten Faktoren (starke Nachfrage, Mietspiegel als Selbstläufer der Mieterhöhung) statt Preisentwicklung auf Basis der eingetretenen, nachgewiesenen Mehrkosten für Erzeugung, Verteilung sowie für Dienstleistungen und damit verbundener Verknappung.

- Wirtschaftsverträge namentlich im Dienstleistungsgeschäft mit Pauschalpreisen bzw. Pauschalvergütungen, denen nicht eine spezifizierte Leistungsbeschreibung zugrunde liegt und die erteilten Rechnungen lediglich einen Zahlbetrag ohne Leistungsnachweis ausweisen; die Rechnungen gleichen eher einem behördlichen Abgabenbescheid.

- Falschabrechnungen haben juristischen Bestand und werden bei allen, mit denen ein Vertragsverhältnis besteht (Vermietung), exekutiert, sofern sie nicht von jedem Betroffenen individuell beanstandet wurden, statt deren juristischer Unwirksamkeit für alle in der gleichen Weise Betroffenen, wenn der Verursacher nach einer Beanstandung von einem Betroffenen die Falschabrechnung anerkennt und sie berichtigen muss.

- Beweislast i.d.R. beim Schwächeren bei der Durchsetzung von Ansprüchen und der Regulierung von Schäden aller Art (Arzthaftung, Umweltschäden) statt regelrechter Umkehrung der Beweislast und ihre Zuordnung an den potenziellen Verursacher (Konsequenz aus dem Verursacherprinzip).

- Betrug nur bei Nachweis des Vorsatzes statt strafrechtlicher Sanktionierung unabhängig davon bei nachgewiesenem versuchten oder vollendeten Betrug zur deutlichen Erhöhung der Hemmschwelle gegen Bereicherung und zur Schließung der Schlupflöcher für eine Exkulpation.

- Betriebs- und Geschäftsgeheimnis als Vehikel der Vertuschung von falschen Abrechnungen, falschen Kalkulationen, Gütemängeln, nicht eingehaltenen Qualitätsstandards und anderen Manipulationen statt Transparenz, Offenlegung und Information. Diese Probleme der heutigen Gesellschaft lassen sich in einem demokratisch verfassten Staat, in dem die Erwartungen und Bedürfnisse (Nachfrage) der breiten Bevölkerungsschichten etwas zählen, langfristig durchaus lösen. Die Kassandrarufe Jean Jacques Rousseaus vor mehr als zwei Jahrhunderten haben in diesem Kontext ihre Aktualität, ihre Mahnung und ihre Zerreißkraft für die Gesellschaft nicht eingebüßt. Er schrieb in seinem Diskurs zur Ungleichheit: "Der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze haben dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte gegeben, durch die die Freiheit unwiederbringbar zerstört und das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit für immer fixiert wurden."

Wenn wir den heutigen Politikern des Bürgertums Glauben schenken, so gehören diese Aussagen eines herausragenden Geschichtsphilosophen einer anderen Zeitepoche an und gelten als überholt. Dem ist zu widersprechen.

Die reale Freiheit, das wahre Reich der Freiheit im umfassenden philosophisch-ökonomischen Sinne, die Befreiung des Menschen von wirtschaftlicher Ausbeutung, von Arbeitslosigkeit und Armut, von Wirtschafts- und Finanzkrisen wie auch von Kriegen um natürliche Ressourcen und Märkte sowie von Krankheiten, die der physischen und psychischen Überforderung der Menschen im modernen Kapitalismus geschuldet sind, ist noch weit entfernt. Zu der freien Gesellschaft der Gleichen, einem Gemeinwesen mit realen Entwicklungschancen für alle und gerechter Teilhabe an der Wertschöpfung im Land, ist ein langer Weg.

Raute

Fakten und Meinungen

Klaus-Jürgen Künkel / Erich Rübensam

Gegen Hunger, Klimaverschlechterung und Energieverknappung

DDR, das war auch die nach neuen Eigentumsverhältnissen strukturierte Landwirtschaft. Das Denken im gesamtgesellschaftlichem Maßstab bestimmte die Agrarwissenschaften. In ihrem Kern forderten sie Menschenrecht ein: das Recht auf Leben. Zwei Agrarwissenschaftler melden sich zu Wort:

Der leider gescheiterte Weltklimagipfel in Kopenhagen hat in der Abschlusserklärung die Ausgangslage charakterisiert. Den Schlussfolgerungen stimmen wir aus agrarwirtschaftlicher Sicht vorbehaltlos zu. Das gilt sowohl dem Grundsatz "die nachhaltige Produktion von Nahrungsmitteln zur Sicherung der Welternährung bleibt die zentrale Aufgabe der Landwirtschaft" als auch der Aufgabe "durch nachwachsende Rohstoffe und Speicherung organisch gebundenen Kohlenstoffs in Böden kann die Landwirtschaft wirksam zum Klimaschutz und zur nachhaltigen Energieversorgung beitragen" und dementsprechend "innovative Projekte zur Anreicherung und Speicherung von Kohlenstoff in Böden gezielt fördern".

Obwohl alle wissen, welche unersetzlichen Funktionen unsere chiorophyllhaltigen Kulturpflanzen haben, die mittels Fotosynthese der Sonnenenergie aus CO2 der Atmosphäre sowie Wasser und Pflanzennährstoffen des Bodens hochmolekulare Stoffe wie Zucker, Eiweiß, Zellulose u. a. assimilieren und damit lebensnotwendige Nahrung und Futtermittel für Menschen und Tiere liefern, nutzbare Energien speichern und klimaschädigendes CO2 der Atmosphäre entziehen, erfahren sie weltweit doch nicht die gebührende Aufmerksamkeit.

Da für die Existenz künftiger Generationen der Menschheit die Entwicklung aller drei Komplexe zunehmend Besorgnis erregt, bisherige Aktivitäten jedoch größtenteils nur auf Einzelmaßnahmen gerichtet sind, soll hier die gegenteilige Beeinflussung aufgezeigt werden, mit allen Konsequenzen, die eine Gesamtlösung erfordert.

Gegenwärtig haben wir folgende Situation:

- Die Vorhaben der FAO zur Einschränkung des Hungers sind bisher gescheitert.

Statt der geplanten Halbierung der Zahl hungernder Menschen stieg deren Anzahl auf mehr als eine Milliarde. In der Natur sind die Möglichkeiten vorhanden bzw. zu schaffen, um auch bei absehbarem Wachsen der Weltbevölkerung alle Menschen ausreichend zu ernähren. Von der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche von weltweit 42 Millionen Quadratkilometern werden gegenwärtig erst 15 Millionen Quadratkilometer genutzt. Die Reserven finden sich größtenteils in den ärmeren Ländern.

- Die begrenzt vorhandenen fossilen Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas) werden immer knapper und teurer. Vielfaltig eingesetzt werden zunehmend erneuerbare Energieträger. Außer hauptsächlich direkt mit Solartechnik gespeicherter Sonnenenergie und mit Windrädern gewonnener Windenergie sowie der Energie aus den Wasserkraftanlagen sind alle nutzbaren Formen erneuerbarer Energie Kohlenstoffverbindungen aus der Fotosynthese von Kulturpflanzen oder der Rückstände aus ihrer Verwertung als Nahrung und Futter.

Die Sonnenenergie ist zwar für absehbare Zeit unerschöpflich und überall auf der Erde zugänglich, jedoch ist die Nutzung erneuerbarer Energien für alle Einsatzbereiche der bisherigen fossilen Energieträger noch nicht wirtschaftlich. Richtig sind auch Bedenken, dass die Nutzung von Nahrungsmitteln als Energiequelle nicht zur Konkurrenz der menschlichen Ernährung werden darf, so lange der Hunger noch nicht überwunden werden konnte. Es darf auch nicht geduldet werden, dass durch Rodung der Urwälder und anderer Schutzgebiete zur Ausweitung des Anbaus von Energiepflanzen dauerhafte Schäden an Natur und Umwelt angerichtet werden, was die Profitausrichtung der beteiligten Konzerne nicht nur befürchten lässt, sondern was mit Sicherheit folgen wird.

Die Erwärmung der Erde, die die Klimaverschlechterung mit ihren zunehmenden Witterungsextremen verursacht, schreitet schneller voran, als bisher angenommen. Sie ist nach Meinung der Experten auch nicht mehr zu verhindern, sondern nur zu verlangsamen. Da die Erhöhung des CO2-Gehalts der Luft eine Hauptursache ist, müssen die Emissionen durch die Energiewirtschaft und den Verkehr, die deren Hauptverursacher sind, unbedingt verringert werden. Auch in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelindustrie müssen die Möglichkeiten, die Emission klimaschädigender Gase zu reduzieren, umfassender genutzt werden. Das gilt neben CO2 besonders für Methan und Stickoxid. Zum Methanausstoß (CH4) der Rinder wurden wegen des erheblichen experimentellen Aufwandes weltweit in nur wenigen Forschungseinrichtungen verwertbare Messungen durchgeführt. Eine davon ist das Oskar-Kellner-Institut für Tierernährung in Rostock, in dem in etwa 300 Experimenten seit mehr als drei Jahrzehnten der quantitative CH4-Ausfluss von Rindern ermittelt wurde. Die ergaben erstmals fundierte Basiswerte für weitere Berechnungen. (s. B. Piatkowski, Neue Landwirtschaft 2/2008).

Durch den Nachweis, dass je kg verzehrter Futtertrockenmasse 27 g Methan freigesetzt werden (die bei 7 kg Trockenmasse täglicher Futteraufnahme, was etwa 40 kg Weidegras entspricht), die aber nur rund 3 Prozent des der Atmosphäre entzogenen CO2 betragen, ist der Vorwurf der negativen Beeinflussung des Klimas durch die Rinderhaltung unbegründet. Hinzu kommt, dass mit der Milchproduktion der CH4-Ausstoß je Erzeugniseinheit wesentlich verringert wird. Darüber hinaus kann mit verstärkter Gewinnung von Biogas aus dem Kot der Rinder die besonders im NH4 enthaltene Energie in nutzbare Form umgewandelt werden. So kann gleichzeitig zur Reduzierung des Schadgases beigetragen werden. Dem Stickoxid (N2O), als Lachgas bekannt, gehört wegen seiner Freisetzung aus Stickstoffdünger erhöhte Aufmerksamkeit. Es ist zu hoffen, dass von der Forschung, die in den Düngungssystemen bereits vorhandenen Methoden zur bedarfsgerechten Stickstoffversorgung der Kulturpflanzen durch weitere Lösungen mit möglich geringer Emission von Stickoxiden ergänzt werden, um die unersetzlichen Eiweißmengen in der Nahrung von Menschen und Nutztieren bereitstellen zu können.

Der Entzug von CO2 aus der Atmosphäre durch die Fotosynthese der Kulturpflanzen sollte nicht weiter unterschätzt werden. Unbestritten ist, dass in der deutschen Landwirtschaft jährlich über 200 Millionen Tonnen CO2 der Luft entzogen werden.

Das ergibt sich aus 6 Tonnen geernteter Trockensubstanz pro ha von 17 Millionen ha (bei 12 Tonnen CO2 pro ha) landwirtschaftlicher Grundfläche insgesamt. In Brasilien werden beim Zuckerrohranbau pro ha sogar 40 Tonnen CO2 der Atmosphäre entzogen. Im Jahr 2007 entsprach das bei einer Anbaufläche von 6,7 Millionen ha einem CO2-Entzug von über 20 Millionen Tonnen. Das größte Potenzial zur Ablösung fossiler Energieträger bieten die erneuerbaren Energien.

In vielen Ländern werden in wachsendem Maße Pflanzen (Mais, Raps, Gräser, Getreide u. a.), die nicht als Nahrungs- und Futtermittel rentabel einsetzbar sind, sowie Barkasse von Zuckerrohr, Gülle von Nutztieren u. a. zur Energiegewinnung verwendet.

Über den Umfang der CO2-Emissionen der nach Verwertung der Nahrungs- und Futtermittel verbleibenden organischen Rückstände gibt es unterschiedliche Angaben. In den meisten Quellen wird ohne exakte Beweisführung angegeben, die Landwirtschaft sei CO2-neutral.

Im Ergebnis von CO2-Bilanzrechnungen für das gesamte Naturgeschehen ergibt sich eindeutig, dass Land- und Forstwirtschaft die einzigen Wirtschaftszweige mit positiver CO2-Bilanz sind. Sie entziehen der Atmosphäre mehr CO2, als den Rückständen der Assimilate zugeführt wird.

Unberücksichtigt blieb bisher, dass eine Entlastung der Atmosphäre von CO2 mit Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit bewirkt wird. Mit der in der Abschlusserklärung des Berliner Agrarminister-Gipfels 2010 nachdrücklich geforderten Kohlenstoffspeicherung in den Böden wird nun diesem Anliegen entsprochen.

Die Agrarwissenschaft hat bereits vor Jahrzehnten in langjährigen Versuchen und Untersuchungen nachgewiesen, dass mit der Vertiefung der Ackerkrume um etwa 50 Prozent durch Humusanreicherung unterhalb der bisherigen Krume in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts große CO2-Mengen mit dem Humus langzeitig festgelegt wurden. Damit hat die deutsche Landwirtschaft mehr als eine Milliarde Tonnen CO2 der Atmosphäre entzogen. Völlig berechtigt wies der Deutsche Bauernverband den diskriminierenden Vergleich von Rindern mit Autos als Bilanzfälschung zurück, weil Rinder mit Futter versorgt werden, dessen Energie und Nährstoffe der Sonnenenergie und den CO2-Assimilaten der Luft entstammen, während die Autos mit dem Verbrauch von Benzin oder Diesel die begrenzten Vorräte fossiler Energieträger verringern. Hinzu kommt, dass mit den Autoabgasen eine weitaus größere Belastung mit dem Klimakiller CO2 bewirkt wird als durch die für Produktion und Transport des Futters notwendigen Aufwendungen (Düngung, Ernte u. a.) sowie die Ausscheidungen der Rinder (einschließlich des Äquivalents für Methanmengen).

Durch Vergrößerung der Assimilationsleistung der Kulturpflanzen, die sowohl durch die Erweiterung der Anbauflächen, als auch durch die Steigerung der Erträge erreichbar ist, können am wirksamsten den Geschehnissen, die am stärksten die Existenz künftiger Menschheitsgenerationen bedrohen, begegnet werden. Das Fehlen erforderlicher Mittel, die unzureichende Bereitschaft der Konzerne und der reichen Staaten verhindern eine bessere Nutzung durchaus vorhandener Möglichkeiten.

Die Bewältigung der bisher größten Herausforderung der Menschheit gelingt nicht, wenn mächtige Entscheidungsträger nicht umdenken. Das beginnt mit der Einsicht, dass die Landwirtschaft nicht nur mit der Nahrungsmittelproduktion menschliches Leben ermöglicht, mit assmilierten Kohlehydraten in den erneuerbaren Energieträgern Sonnenenergie speichert, sondern auch der wirksamste Klimaschützer ist. Umso notwendiger ist es, dass alle friedliebenden Menschen verstärkt aktiv werden, die Ressourcevergeudung für Kriege und Militär zu beenden, damit die Mittel frei werden, um unserer Verantwortung entsprechend Maßnahmen in den ärmeren Ländern zu finanzieren, um den Hunger zu überwinden, Energieprobleme zu lösen und die Klimaverschlechterung abzuwenden.

Nur ein derart komplexes Herangehen, das bei allen beeinflussbaren Vorgängen, die sich jetzt noch in eine Richtung entwickeln, die die Existenz künftiger Generationen bedrohen, wird mit Nachhaltigkeit das Naturgeschehen gefördert. Das wird den Herausforderungen gerecht.

Um unseren Sachverstand, gewonnen aus der Auswertung jahrzehntelanger Forschungsergebnisse und bewährter Praxiserfahrungen in die Lösung zumindest eines Teils der gewaltigen Aufgaben einzubringen, tragen wir folgende Empfehlungen vor:

- In dem vom internationalen Agrarministergipfel in Berlin 2010 als Klimaschutzinitiative vereinbarten Projekten sollte eine Kombination von Vertiefung der Ackerkrume mit Tiefeneinbringung organischer Dünger vorrangig berücksichtigt werden, weil sie gleichermaßen bodenverbessernd und klimaschützend wirkt (siehe Neue Landwirtschaft 6/2007 "Landwirte können wirksame Klimaschützer sein").

- Zur Auswahl der Flächen sollten in Deutschland die Ergebnisse der Bodenschätzung genutzt werden, die kartiert in den Katasterämtern verfügbar sind. Meist ungeeignet sind flachgründige Verwitterungsböden und im Untergrund sehr steinhaltige diluviale Böden.

- Auf den diluvialen, alluvialen und Lößböden (außer Sandböden) bewährte sich eine allmähliche Vertiefung der Ackerkrume um jeweils 3 bis 4 cm tieferes Pflügen mit kombinierter Einbringung vergrößerter Mengen organischer Dünger, auch zu Nachfrüchten unter Einbeziehung auch als Zwischenfrüchte angebauter Gründünger.

- Auf Sandböden ist das meliorative Pflügen am wirksamsten, d. h. mit einem Spezialpflug auf 45 bis 50 cm tiefe Bearbeitung, wobei das Hauptschar nur eine Teilwendung bewirkt und ein Nachschäler die möglichst erhöhte Menge organischen Dünger zusammen mit einigen Zentimetern des oberen Teils der Ackerkrume sowie bei Bedarf der Kalkdüngung auf die Furchensohle verbringt.

- Durch die Humusanreicherung in der tieferen Bodenschicht, die seltener austrocknet, wird das Speicherungs- und Transformationsvermögen der Böden erhöht und damit die Ertragssicherheit verbessert. So werden auch die Auswirkungen der zunehmenden Witterungsextreme abgemildert, da in Dürreperioden die gespeicherte Feuchtigkeit länger vorhält und damit Trockenschäden verhindert oder zumindest vermindert werden, andererseits in Nässeperioden durch die Speicherung größerer Wassermengen der Abfluss in die Gewässer und damit der darin gelösten Pflanzennährstoffe die Eutrophierung von Gewässern verringert wird.

- Da in vielen Ackerböden unmittelbar unter der Ackerkrume eine Verdichtungsschicht, die Pflugsohle, vorhanden ist, ist die Durchwurzelung des Unterbodens behindert und die Bildung von Staunässe in der Ackerkrume begünstigt, ist die mit der empfohlenen Kombination von Tiefenbearbeitung und -düngung bewirkte langfristige Beseitigung von Pflugsohlen ein wirkungsvoller Begleiteffekt.

- Bei den in humaniden Klima weit verbreiteten sauren Unterböden, in denen der niedrige pH-Wert die Wurzelentwicklung zusätzlich behindert, kann mit dem Einbringen von Kalk in die tiefere Bodenschicht der Effekt noch erhöht werden.

Bei dem Bemühen um die Anreicherung von Kohlenstoffverbindungen in den Ackerböden sollten aus unserer Ackerbau- und Humusforschung (Rauhe, Kunze, Freytag u. a.) in Müncheberg folgende Erkenntnisse berücksichtigt werden:

- In den Ackerböden stellt sich unter den jeweiligen Boden- und Klimaverhältnissen bei standortgerechter Bewirtschaftung ein weitgehend stabiler Humusspiegel (prozentualer Humusgehalt in der Ackerkrume) ein, der auch mit üblicher organischer Düngung wenig zu verändern ist. Übereinstimmend mit anderen Dauerversuchen im In- und Ausland führt auch bei größerer Menge in die Ackerkrume eingemischter organischer Dünger nicht zu Humusanreicherung, weil bei der ständig guten Durchlüftung durch Aktivierung der Bodenlebewesen die Mineralisierung gefördert wird.

- Die mit den Projekten angestrebte Speicherung organisch gebundenen Kohlenstoffs in den Böden, mit der als klimaschützender Effekt ein langfristiger Entzug des klimaschädigenden CO2 aus der Atmosphäre bewirkt wird, kann nur erreicht werden, wenn stabile Humusstoffe mit typischem, relativ engen C:N-Verhältnis eingebracht bzw. im Boden gebildet werden können. Geeignet sind Stallmist, Kompost oder Gemische von beiden, Klärschlamm und eiweißreiche Gründüngungspflanzen. Stroh ist wegen des geringen N-Gehalts nur gemeinsam mit Gründüngung oder nach Kompostierung mit Gülle geeignet.

- Die bewusst als Melioration einzuordnende Kombination von tiefem Pflügen und organischer Düngung erfordert den Einsatz größerer Mengen organischen Düngers, d. h. möglichst doppelter Menge üblicher Stallmistgaben von 40 bis 50 Tonnen pro ha.

Dieser Mehraufwand im gesamtgesellschaftlichen Interesse ist dementsprechend mit Fördermitteln zu honorieren.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- "Die Wohlstandsordnung hat ein Loch", Fotomontage Klaus Georg in EULENSPIEGEL 23/1973
- "Erntelandschaft", Werner Haselhuhn, 1971. Öl/Lw., 122 x 190 cm

Raute

Fakten und Meinungen

Horst Schneider

Freiheit der Forschung
oder staatlich verordneter Erinnerungskrieg?

Anmerkungen zu neuen Turbulenzen am Hannah-Arendt-Institut

Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, das am 17. Juni 1993 (!) unter dem Einfluss der sächsischen CDU gegründet worden ist, gilt als eines der wichtigsten Zentren des "Diktaturenvergleichs", der auf eine Verleumdung der DDR-Politik hinausläuft.(1) Nicht nur das Institut ist ein Unikat unter den etwa einhundert Einrichtungen, die sich mit der Politik und Geschichte der DDR beschäftigen, sondern auch die sächsische Verfassung, die in ihrer Präambel mit dem Hinweis auf die "leidvollen Erfahrungen national-sozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft" die Totalitarismusdoktrin als Denk- und Verhaltensnorm für die Bürger festlegt.

Inzwischen ist selbst dem SPIEGEL (1. Aug. 2011, S. 25 f.) "Die Härte des Systems" in Sachsen aufgefallen. Das Herrschaftsprinzip laute: "Wer sich gut mit der Regierung stellt, kann in Frieden leben. Den anderen droht Ungemach."

Wenn der Ex-Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf den Rechtsbegriff über Gebühr dehnte oder Justizminister Heitmann als Symbol des "Revolutionsadels" sich mit "Strafvereitelung" beschäftigte, handelten sie nicht allein. Publizisten, Juristen und Totalitarismusforscher standen ihnen als "willige Helfer" zur Verfügung.

Es wird hier ein aktueller Blick auf das Hannah-Arendt-Institut geworfen, weil es einerseits einen Blick auf die Funktion des Erfüllungsgehilfen der Regierungspolitik erlaubt, andererseits die Auseinandersetzungen um den politischen Kurs in Sachsen widerspiegelt. Gerade diese reaktionäre politische Funktion macht das Institut anfällig für Skandale und Machtkämpfe.

Nach den spektakulären Ablösungen früherer Direktoren des Hannah-Arendt-Institutes für Totalitarismusforschung Prof. Dr. Klaus-Dieter Henke (2003) und Prof. Dr. Gerhard Besier (2007) geriet das Institut Ende 2010 abermals in politische Turbulenzen.

Zunächst ging es "nur" um eine Personalie, allerdings um die eines besonders verdienstvollen Mitarbeiters: Dr. Michael Richter.

Dr. Richter hatte unmittelbar nach der "Wende" einen maßgeschneiderten Text für die Darstellung der CDU-Geschichte nach 1945 im Schreibtisch, den Lothar de Maizière am 5. Dezember 1990 als Buch lobpreisend vorstellte.(2)

Mit der Rückendeckung nicht nur wissenschaftlicher Kapazitäten bekam er 1994 einen Platz im 1993 neu gegründeten Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden, einer Schöpfung und einem ideologischen Instrument der sächsischen CDU.

Sein Buch (mit Mike Schmeitzner) über den Giftmord, den Innenminister Dr. Kurt Fischer an Ministerpräsident 1947 begangen haben soll,(3) war eine Auftragsarbeit von Ministerpräsident Kurt Biedenkopf gewesen, wurde von ihm honoriert und in seiner Anwesenheit vorgestellt.

Dr. Michael Richter spezialisierte sich auf die "Revolution" in Sachsen 1989/90 und fand dabei das Wohlwollen sächsischer CDU-Größen wie Vaatz, Iltgen, Rößler und anderer.

Dr. Michael Richter hatte die CDU-Spitze in Sachsen als deren Hofhistoriker hinter sich.

Der Weg zu Ehre und Ruhm schien ihm offen zu stehen. Im November 2010 brach das Unwetter über Dr. Richter herein, und ich kann nicht bestreiten, dass ich - unfreiwillig und gegen meine Absicht - an Richters Abgang beteiligt war. Ich fasse aus meiner Sicht zusammen: Am 18. November 2010 berichtete der MDR in der Sendung "Sachsenspiegel", dass der Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts Dresden, Dr. Michael Richter, als Student an der Humboldt-Universität "Stasi-Spitzel" gewesen sei. Am gleichen Tag informierten auch Medien über das Thema, und die "Dresdner Neuesten Nachrichten" druckten Faksimile-Ausschnitte aus Michael Richters Verpflichtungserklärung ab. Der interessierte Leser erfuhr: Der hochgerühmte Mitarbeiter des Hannah-Arendt Instituts, der seit Jahrzehnten aktiv an der "Stasi-Hatz" beteiligt gewesen war, entpuppte sich nun als IM. Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein? Oder biblisch: Wer Balken im eigenen Auge hat, sollte die Splitter im Auge des anderen nicht tadeln.

Richter unterschrieb freiwillig und handschriftlich am 14. März 1979 die Erklärung, als IM zu wirken. Die Birthler-Behörde stellte 2010 die Dokumente zusammen, die 250 Seiten umfassen. Aus den Medienberichten geht hervor, dass er Kommilitonen seiner Sektion Philosophie bespitzelte. Pikant ist, dass Michael Richter zeitweilig Hilfsassistent Prof. Dr. Heinrich Finks war, der 1990 Rektor der Humboldt-Universität wurde und jetzt Sprecher der VVN/BdA ist.

1982 ließ sich Michael Richter mit Hilfe der Staatssicherheit, die Höheres mit ihm im Sinne hatte, ausschleusen. Aber der Plan ging schief. Richter meldete sich beim Verfassungsschutz in Gießen und arbeitete nun für andere Gönner, u. a. in der Adenauer-Stiftung. Ist aus dem Saulus ein reuiger Paulus geworden?

1989/90 kam der Kämpfer für Freiheit nicht ohne Schrammen davon, als ein Mitarbeiter der Staatssicherheit, Major Hesse, (der auch Lothar de Maizière "geführt" hatte) Richters Vergangenheit in BILD am 10. Dezember 1989 offenbart hatte. Es ist also unwahr, dass Richters IM-Tätigkeit erst jetzt bekannt wurde. Wahr ist, dass alle am Deal beteiligten Politiker von den Verstrickungen Richters, die in Sachsen jedem Lehrer zum Strick geworden wären, gewusst haben.

Am 11. Januar 1991 schrieb Michael Richter einen Brief an einen führenden CDU-Funktionär, in dem er sich über die "Stasi-Hysterie" beklagte, deren Opfer er sei. Er befürchtete, im vereinten Deutschland Berufsverbot zu erleiden.(4)

Michael Richter fand Helfer in seiner Not und erhielt 1994 eine Planstelle am Hannah-Arendt-Institut. Sein Hauptgebiet wurde die Abrechnung mit der DDR, auf deren Kosten er sein Studium begonnen hatte, und mit der Staatssicherheit, die ihm einen gefahrlosen Übertritt in die BRD ermöglicht hatte. Es bestätigt sich: Undank ist der Welt Lohn. Die Enthüllung der IM-Tätigkeit Richters hat in politischen Kreisen Sachsens ein mittleres Erdbeben ausgelöst. Michael Beleites, der Chef der Birthler-Behörde in Dresden, nannte den Vorgang eine "maximal mögliche Katastrophe". Der Leipziger "Bürgerbewegte" Uwe Schwabe sprach von einem "absoluten Skandal".

Worin aber besteht dieser "Skandal"?

Für mich ist das die Art, wie Richter die Geschichtsschreibung für politische Zwecke missbrauchte und in Misskredit gebracht hat. "Skandal" ist auch, wie die CDU-Führung das Hannah-Arendt-Institut im Allgemeinen, Michael Richter im Besonderen als ihre "willigen Helfer" instrumentalisiert hat.

Meine persönliche Bekanntschaft mit Dr. Michael Richter begann im Juni 1997. Wolfgang Leonhard hatte im Dresdner Rathaus öffentlich die Vermutung ausgesprochen, dass der sächsische Ministerpräsident Dr. Rudolf Friedrichs im Juni 1947 ermordet worden sei. Innenminister Fischer habe ihn vergiftet, und Landtagspräsident Otto Buchwitz habe von dem Mord gewusst und ihn gedeckt. Da Otto Buchwitz mein verehrter politischer Lehrer gewesen war, entschloss ich mich zu einer Recherche, die in Übereinstimmung mit Staatsanwalt, Kriminalisten, Pathologen und Zeitzeugen das Ergebnis brachte: Es gab keinen Giftmord.

Da mir bekannt war, dass Richter im Auftrag von Ministerpräsident Kurt Biedenkopf mit "Indizien" den nicht stattgefundenen Mord "beweisen" wollte, übermittelte ich ihm meine Recherche. Den Erhalt hat Richter in dem Buch bestätigt, das er mit Mike Schmeitzner 1999 (S. 13, Fußnote 19) geschrieben hatte: "Einer von beiden muss so schnell wie möglich entfernt werden." Richter/Schmeitzner behaupteten auf 318 Seiten, Indizien sprächen dafür, dass Dr. Friedrichs ermordet worden sei und Innenminister Fischer als Giftmischer in Frage kommt, Otto Buchwitz davon gewusst habe. Ihr Kronzeuge war Robert Bialek, ein Mensch ohne Moral, der 1946 erster FDJ-Vorsitzender in Sachsen gewesen war (Ich kannte ihn leider.). Richter ließ sich für diese Lügenstory rühmen und honorieren. Kurt Biedenkopf prämierte diese Story mit 19.800 DM. Sie entsprach dem Zeitgeist. Sie wurde von der Zentrale für politische Bildung auf Steuerkosten verbreitet. Nach langen Auseinandersetzungen veröffentlichten schließlich auch das "Deutschland Archiv" und die "Sächsische Zeitung" die Wahrheit: Es hat keinen Giftmord an Dr. Rudolf Friedrichs gegeben.(5)

Ein zweites Gefecht mit Dr. Michael Richter erwies sich als notwendig, als Bundespräsident Horst Köhler am 9. Oktober 2009 in Leipzig ein Horrorszenarium über die berühmte Montagsdemonstration am 9. Oktober 2009 in Leipzig vortrug. Wer hat ihm den gruseligen Text geschrieben? Der Autor war Michael Richter, der zwei Bände über "Die Friedliche Revolution - Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90" geschrieben hatte, in denen auch jene Passage zu finden ist, die Horst Köhler im Oktober 2009 zitierte.(6)

Der Bundespräsident profilierte sich mit Richters Text als Lügner, was ich ihm in einem Brief mit Quellen auch mitteilte. Horst Köhler geriet an arge Bedrängnis, Prof. Dr. Heydemann deckte den für einen Historiker unverantwortlichen Text. Natürlich war Richter nicht dafür verantwortlich, dass Köhler seinen Text in seine Präsidentenrede übernahm, wohl aber dafür, dass er die Horrorstory erfunden hatte. Selbst jene Richter, die den Auftrag hatten, Egon Krenz zu verurteilen, hatten in ihrem Urteil festgestellt, dass es in Leipzig keine Vorbereitungen zum bewaffneten Eingriff der Staatsmacht gegeben hatte.(7)

Die Darstellung Richters war eine böswillige Erfindung, die allerdings Köhlers blinden Hass auf die DDR bediente.

Ich stelle fest: Zwei mal verbreitete Michael Richter Thesen, die selbst von der Justiz als Unwahrheiten entlarvt worden sind. Die im Grundgesetz verbürgte Freiheit der Forschung hatte sich mit Zustimmung Biedenkopfs, Köhlers und Tillichs in eine staatlich honorierte Lügenfreiheit verwandelt. Erstaunlich und bemerkenswert zugleich war, dass Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich, vor 1990 CDU-"Blockflöte"(8), Richters Buch 2009 vorgestellt hatte (wie Kurt Biedenkopf zehn Jahre früher die Giftmordstory) und wünschte, dass es in jeder Schule verwendet werden sollte. Richters Lügen in den Geschichtsunterricht? Kann deutlicher demonstriert werden, dass die Geschichtsschreibung a la Richter eine Hure der reaktionären CDU-Politik geworden ist?

Eine dritte Auseinandersetzung mit Dr. Michael Richter hielt ich für notwendig, als das "Deutschland Archiv" daran ging, seine Definition über die "friedliche Revolution" zu kanonisieren. Das Wesen der Ereignisse, die Expansion des Kapitals und die Restauration des Kapitalismus, wird durch diese verordnete Definition vernebelt. Dieser Streit ist noch nicht beendet und ist auch nicht mehr an die Person Richters gebunden. Ziehen wir ein Fazit: Dass Dr. Michael Richter mit den Geheimdiensten in der DDR und in der BRD zu tun hatte, wird heute auf die IM-Tätigkeit vor vierzig Jahren reduziert. Die ist indessen nicht strafbar. Schlimmer wiegt, dass er den Ruf von Historikern geschädigt hat, indem er schrieb, was die CDU-Oberen in Sachsen wünschten und in den Zeitgeist passt.

DIE WELT (17.11.2001) befürchtete, dass die "Dresdner Denkfabrik zur Aufarbeitung der Diktaturgeschichte" Schaden nimmt.

Im Zusammenhang mit der Affäre Dr. Michael Richter meldeten sich Publizisten, die die Schließung des Hannah-Arendt-Instituts forderten. Alan Posener titelte "Nicht in ihrem Namen! Zeit für den Schlussstrich: Das Hannah-Arendt-Institut hat seine Glaubwürdigkeit verspielt." Solche Urteile haben offensichtlich die Diskussion über den "Neustart" des Hannah-Arendt-Instituts provoziert. DIE WELT wählte als Begründung den Titel "Über Nationalsozialismus UND Kommunismus reden."

Am 27. Juni 2011 veröffentlichte die "Sächsische Zeitung" den Artikel des Direktors des Hannah-Arendt-Instituts, Prof. Dr. Günter Heydemann, unter dem Titel "Warum DDR-Forschung wichtig bleibt." Heydemann begründete, dass beim Totalitarismus-Vergleich die DDR-Forschung einen großen Platz einnehmen müsse. Die Sicht Prof. Dr. Heydemanns stieß auf den schroffen Widerspruch des einflussreichen Bundestagsabgeordneten Arnold Vaatz und Prof. Dr. Werner Patzelts, der Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Hannah-Arendt-Instituts ist.(9) Indessen ist die Aufregung auf beiden Seiten unberechtigt: In Deutschland gibt es etwa einhundert Institute und Stiftungen, die sich mit der "DDR-Forschung" beschäftigen.

Das Hannah-Arendt-Institut ist ein Unikat, das nur unter den spezifischen Bedingungen in Sachsen nach 1990 entstehen konnte. Seine Schließung würde kaum auffallen.

Um ihrer Existenz willen müssten seine Mitarbeiter nachweisen, dass sie unentbehrlich sind.

Aber wobei? Mit dieser Frage kommen wir der Sache näher.

Heydemann hatte angekündigt, seine Mitarbeiter würden sich künftig mehr mit der Geschichte des "Nationalsozialismus" beschäftigen. Patzelt hält das für gefährlich, weil dann die DDR vernachlässigt würde. Der kritische Leser stutzt: Gehören zum "Diktaturenvergleich" nicht das Dritte Reich und die DDR? Kann Heydemann nicht mit Recht und Stolz darauf verweisen, dass bisher mehr als 70 Prozent der erschienenen Publikationen des Instituts die Abrechnung mit der DDR zum Inhalt haben? (Auf die Frage nach der Funktion, der Qualität und den Ergebnissen der "DDR-Forschung" kann hier nicht eingegangen werden.)

Entsprechen die Veröffentlichungen, die Heydemann für 2011 angekündigt hat, nicht den Forderungen Patzelts? Warum der Streit, wenn in der Praxis alles so läuft, wie Patzelt und vorher Arnold Vaatz es wünschten?

Wenn allerdings ein Leser Heydemanns Antwort auf die Frage sucht, warum die DDR-Forschung wichtig bleibt, wird er mager abserviert. Der Direktor sagt, "dass es schon aus Satzungsgründen" nicht möglich sei, vom Thema DDR zu lassen. Da sind wir bei einem wichtigen Punkt: Wer hat die Satzung geschrieben? Wer hat das Institut gewollt? Wessen politisches Instrument ist es inzwischen geworden? Wer bestimmt, wohin der Marsch zu gehen hat? Wer den Fragen nachgeht findet, dass gar nicht entscheidend ist, ob am Hannah-Arendt-Institut der "Diktaturenvergleich" versucht wird, sondern wie und durch wen.

Mancher SZ-Leser war erstaunt, wie zwei namhafte (jetzt sächsische) Historiker und ein Politiker miteinander umgehen. Heydemann vermisste bei seinem Kollegen Patzelt "Verantwortung, Fürsorgepflicht, Fairness und Ausgewogenheit." Zeichnen sich Totalitarismusforscher durch solche Tugenden aus? Gilt nicht Biedenkopfs Erkenntnis: Dankbarkeit ist keine politische Kategorie? Gibt es nicht Erfahrungen in der Geschichte des Hannah-Arendt-Instituts? Spielte Patzelt nicht eine bestimmte Rolle, als es 2003 um den Kopf Prof. Henkes ging? Hatte Patzelt nicht behauptet, dass Henke sich verhalte wie Hitler? Drohte ihm nicht im Falle der Wiederholung der Verleumdung eine Ordnungsstrafe von 500.000 DM, ersatzweise Ordnungshaft? Sind die Intrigen am Hannah-Arendt-Institut alle nur Zufall (oder Teile von Machtspielen)?

Dürfen wir uns den Rat bei einem berühmten Historiker holen?

Als Friedrich von Schiller am 26. Mai 1789 in Jena seine Antrittsvorlesung hielt, wählte er als Thema: "Was heißt und zu welchem Zweck studiert man Universalgeschichte?" Schiller unterschied zwischen dem "Brotgelehrten" und dem "philosophischen Kopf".(10)

Lässt sich Schillers Fragestellung und Urteil aktualisieren?

Dann muss zunächst festgestellt werden, wie viel Steuergelder das Hannah-Arndt-Institut verschlingt. Im Haushalt des Freistaates Sachsen sind für das Institut eingestellt:

2010 1.336,4 Millionen €
2011 1.335,5 Millionen €

Im Jahresbericht des Hannah-Arendt-Instituts für das Jahr 2010 wird mitgeteilt, was dafür von den Mitarbeitern geleistet wurde. Es sind fünf Bücher - neben Artikeln und Konferenzreisen: "Das Präsidium der Landesverwaltung Sachsen 1945", "Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich und in der DDR", der "Kommissionsbericht über die Zerstörung Dresdens 1945", eine Arbeit über die "Verspätete Nation" und "Das Leben meiner Großmutter Anna L." Sollte es bei diesen Themen Forschungsbedarf gegeben haben, bedurfte es mit Sicherheit nicht eines Instituts.

Wer sind dann die "Brotgelehrten", die in Schillers Rede gegeißelt werden, die auf staatliche Order und von Steuergeldern ausgehalten die DDR verketzern und dabei alle Regeln des Historikerhandwerks vergessen? Zu "welchem Ende" studieren Totalitarismusforscher die DDR? Der zitierte Streit offenbart das. Der "philosophische Geist" könne fragen:

- Warum gelang es der DDR - im Unterschied zum Dritten Reich und der Bundesrepublik - ihren Bürgern (und denen in Europa) vierzig Jahre Frieden zu sichern?

Die Existenz der DDR ist identisch mit der längsten Friedensperiode in Deutschland.

- Was leistete die DDR zur Versöhnung mit den Staaten wie der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen, jenen Staaten, deren Völker am meisten unter deutscher Okkupation zu leiden gehabt hatten? In der BRD lebten der antipolnische Revanchismus und der Antisowjetismus im Schutze des Staates weiter.

- Wie erreichte die DDR, dass unter schwierigsten Ausgangs- und Existenzbedingungen ein Höchstmaß sozialer Gerechtigkeit durchgesetzt wurde?

Die Zahl der Fragen könnte lange fortgesetzt werden, und die Antworten könnten helfen, Fehlentwicklungen der aktuellen Politik mit Hilfe von Erfahrungen der DDR zu korrigieren.

"Prüfet alles, das Gute behaltet" wussten schon die Autoren der Bibel.

Die weitere Verteufelung der DDR und der Leistungen ihrer Bürger führt mit Sicherheit zu keinem "guten Ende".

Das hat der frühere Direktor, Professor Dr. Henke, vor acht Jahren schon nach seinem Sturz entdeckt. In scharfer Polemik mit seinen Kollegen aus dem Lager der Totalitarismusforscher Uwe Backes, Eckhart Jesse und anderen erklärte er: "Bei kanonischer Auslegung der Totalitarismus-Vorstellung von Hannah Arendt ... müsste ein Hannah-Arendt-Institut von der Erforschung des Honecker-Mielke-Sozialismus gänzlich Abstand nehmen." Hannah Arendt habe die DDR nie der totalitären Diktatur bezichtigt. Henke folgerte: "Der Vergleich von SED-Staatssozialismus und Nationalsozialismus ist ­... in erster Linie Ressourcenvergeudung, denn niemand ist bisher - wenig überraschend - in der Lage darzulegen, welche Erkenntnisse uns über die NS-Zeit bzw. die DDR ohne deren Vergleich denn bisher verschlossen geblieben sind."

Inzwischen hat Alan Posener, wie bereits zitiert, in der WELT vom 29. November 2010 getitelt: "Nicht in ihrem Namen! Zeit für einen Schlussstrich: Das Hannah-Arendt-Institut hat seine Glaubwürdigkeit verspielt."

Ich würde lediglich fragen: Welcher Totalitarismusforscher hat je wann bei wem Vertrauen besessen? Kann sich jemand mit der Hexenjagd auf die DDR-Vergangenheit Vertrauen erwerben?


Anmerkungen:

(1) Schneider, H: "Das Hannah-Arendt-Institut im Widerstreit politischer Interessen". Berlin 2004

(2) Richter, M./Rissmann, M.: "Die Ost-CDU - Beitrage zu ihrer Entstehung und Entwicklung", Weimar, Köln, Wien 1995

(3) Richter, M./Schmeitzner, M.: "Einer von uns beiden muss so bald wie möglich entfernt werden", Leipzig 1998; Schneider, R.: Sie ereilte ein Auftrag: Richter/Schmeitzners staatlich verordnete Story vom Giftmord an Ministerpräsident Dr. Friedrichs. Geschichtsbewältigung made in Sachsen, Dresden 1999

(4) Der Brief befindet sich im Besitz des Autors.

(5) Schneider, H.: "Lügenbarone in Sachsen? Gegen den Zeitgeist", Schkeuditz 1999

(6) Richter, M.: "Die Friedliche Revolution", Bd. 1, S. 376 f.

(7) Krenz, E.: "Gefängnisnotizen", Berlin 2009 und "Herbst 89", Berlin 1999, S. 376 (das Urteil)

(8) Nolle, K.: "Sonate für Blockflöte und Schalmeien", Dresden 2009; im SPIEGEL 31/2011 wird berichtet, wie CDU-Politiker Karl Nolle für diese Kritik büßen ließen.

(9) Patzelt, W: "Sollen sich die Historiker auf Sachsens Nazi-Zeit konzentrieren?" in "Sächsische Zeitung", 17.06.2011

(10) "Schiller, F.: Ein Lesebuch für unsere Zeit", Weimar, 1954, S. 251 f.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Sächsisches Glaubensbekenntnis Collage: Klaus Georg
- Nedeljko Dragic "Der Opportunist" 1988, Federzeichnung

Raute

Fakten und Meinungen

Adolf Eduard Krista

Einspruch - Euer Hochwürden

Vorbemerkung:
Der Autor meldet Widerspruch an. Gegen den Glauben, möchte man meinen. Dem ist aber gar nicht so. Er widerspricht einer amtlichen Religion und ihren Institutionen. Warum eigentlich? Ist er doch als Atheist gar nicht betroffen. Doch, ist er Glauben ist ihm nichts Fremdes, war er doch selbst und lange genug christlich erzogenes Kind. Sein Atheismus gründet nicht auf Unkenntnis der Heilslehre, ist nicht Flucht vor der Kirchensteuer oder trotziger Protest gegen Missbrauchsfälle in Kinder- und Jugendeinrichtungen in der Obhut der Priester. Sein Atheismus ist erworbenes Wissen, ist logische Konsequenz im Denken.

Eine andere Art von Betroffensein erfährt er durch sein Lebensumfeld. Er ist im katholischen Eichsfeld zu Haus. Eine Drohung mit der Hölle, wie sie im abschließenden Zitat ausgesprochen ist, ist sehr direkt gegen ihn gerichtet.

"Jesus ist gekommen, um uns zu sagen, dass er uns alle im Paradies haben will und dass die Hölle, von der man in unserer Zeit so wenig spricht, existiert und ewig ist für jene, die ihre Augen vor seiner Liebe verschließen."

Benedikt XVI


Die da schwären, so wahr mir Gott helfe

An den Anfang steile ich die Worte aus Galater 22:23: "Die Frucht des Geistes im Leben eines Gläubigen ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Kraft, Enthaltsamkeit - gegen all dieses ist das Gesetz nicht." Jeder denkende Mensch ist im Leben angehalten, sein Tun und Lassen einer ständigen selbstkritischen Prüfung zu unterziehen. Nur dann lebt er ein anständiges, ein sinnvolles Leben.

Wenn der aufmerksame Zeitgenosse die gegenwärtige deutsche Politik, das Handeln ihrer Repräsentanten in Regierung, im Bundestag, in den führenden Parteien genau betrachtet, so wird er viele, meist gravierende Widersprüche zur Eidesformel, "Schaden vom deutschen Volke abzuhalten, so wahr mir Gott helfe", erkennen.

Möge auch unser Bundespräsident bezüglich seiner bisherigen Amtzeit sein Tun für das deutsche Volk einmal mit einem seiner Vorgänger, mit Richard von Weizsäcker, vergleichen. Der hatte schon am 20.2.1992 in Bautzen zum Verständnis neuerer Geschichte erklärt: "Die Menschen wollen Aufklärung, nicht Hass ... Die Wahrheit soll ans Licht kommen, damit Aussöhnung und Frieden möglich werden ... das geht nur durch Differenzierung. Pauschalurteile führen nicht zur Einsicht, sondern Verstockung ... Aus der leidvollen Geschichte der DDR ein Objekt fürs Mediengeschäft mit gekauften Akten und reißerischer Verbreitung von Angst und Feindschaft zu machen, ist ein widerwärtiger Handel ... Die Lüge, die Täuschung, die Eitelkeit, die Überschätzung lauern immer, das Ringen um lautere Wahrheit zu trüben."

Sie aber, Herr Bundespräsident, predigen Hass.

"Praesis ut prosis, not ut imperes." Stehe an der Spitze, um zu dienen, nicht um zu herrschen. (de consid. 2:6)

Inquisition

Da findet der von Papst Sixtus IV 1483 eingesetzte Großinquisitor Tomas de Torquemada in Gauck, Knabe, Birthler, Eppelmann, Eggert, und Jahn Glaubensnacheiferer. Hexenjagd, Scheiterhaufen und peinliche Torturen erfuhren ihre Modernisierung zu Aktenhysterie, Verleumdung, Ausgrenzung, Berufsverbot und politischen Strafrenten. So Mose 5:33,27 an Behördenchef Jahn: "Er hat vor dir deinen Feind getrieben und geboten: vertilge. "

Und die Vertilgung der Erinnerungen an die untergegangene, verratene und verkaufte DDR, ihre sozialen und menschlichen Errungenschaften, an ihre Menschen steht im Vordergrund allen Handelns dieser Christen, dieser Antikommunisten, an der Macht. Wer über Presse, Rundfunk, Fernsehen, über mediale Massenwirksamkeit verfügt, kann uferlos Rufmord betreiben, kann jede Wahrheit verfälschen, kann sie mehr und mehr aus dem Bewusstsein der Menschen verdrängen, kann sie vergessen machen.

"... und geboten: vertilge."

Gebote

Heinz Florian Oertel fragt in seinem Buch "Halleluja für Heuchler": "Wie steht es um die Parteien, die das C für christlich im Namen führen? Was bedeutet das Gebot der Nächstenliebe in den Führungsetagen? Wie ist das mit dem falsch Zeugnis ablegen in der Medienwelt?"

Ja, wie ist das mit dem 5. Gebot: Du sollst nicht töten? Gilt das auch dem Bundeswehrsoldaten in Afghanistan und anderswo?

Unlängst traf ich einen alten Bekannten, einen ehrlichen, bekennenden Christen. Er zitierte für mich aus "Kirche im Sündenfall" aus Klagelieder 3: "Du siehst Herr, wie mir Unrecht geschieht, hilf mir zu meinem Recht. Du siehst, wie sie Rache üben wollen und kennst alle ihre Gedanken gegen mich. Herr, du hörst ihr Schmähen und all ihre Anschläge gegen mich, die Reden meiner Widersacher und ihr Geschwätz über mich den ganzen Tag. Vergilt ihnen, wie sie es verdient haben. Und das recht bald."

Bleibt die Frage, woher leiten die Klerikalen der beiden großen christlichen Kirchen das Recht ab, deutsche Soldaten bei Aggressionshandlungen gegen andere Völker vom 5. Gebot Du sollst nicht töten! zu entbinden?

Diese Frage trifft auch und ganz besonders für die Christen in der Regierung, im Parlament, in der Legislative und in der Exekutive zu. Sind die zehn Gebote nicht bindend? Oder nur für jene, die statt des Weins ohnehin nur das Wasser trinken dürfen? Zur Klärung und Auflösung dieser Frage nehmen wir das Judasevangelium zur Hand, jene apokryphe Schrift, die von den orthodoxen Kirchenführern um Irenäus und Tertullian bekämpft wurde und ausgelöscht werden sollte. Viele andere Schriften, wie eine Apokalypse des Petrus, ebenso eine des Paulus, Evangelien von Philippus, von Maria Magdalena und von Thomas fanden keinen Eingang in das Neue Testament. Die Auswahl der Gruppe um Irenäus war um der herrschenden Meinung Willen sehr subjektiv getroffen worden. Diese Gruppe entschied über die künftige Organisationsstruktur. Sie legte fest, welches Glaubensbekenntnis Christen fortan zu beten hatten.

Im Judasevangelium weiht Jesus seinen Vertrauten in nur ihm bekannte Geheimnisse ein: Jesus ist nicht der Sohn des Schöpfers dieser Welt.

Jedem Bibelleser ist aus Markus 11; 15-17 bekannt, dass Jesus eine Woche vor seiner Hinrichtung mit seinen Jüngern den Tempel in Jerusalem aufsuchte und dort ein ziemliches Durcheinander anrichtete, die Tische der Geldwechsler umwarf und die Verkäufer von Opferstieren davonjagte. Die Jünger waren sehr beeindruckt von dem, was sie sahen. Im Judasevangelium aber wird diese Szene anders erzählt. Hier kommentieren die Jünger die Opfer, die dargebracht werden. Sie sehen den Altar, die Priester, die große Menschenmenge und die Opferhandlungen. Jesus sagt zu ihnen: "Ihr seid es, die die Opfer auf jenem Altar darbringen, den ihr gesehen habt. Jener ist der Gott, dem ihr dient. Und die zwölf Menschen, die ihr gesehen habt, das seid ihr. Und die Tiere, die hereingeführt werden, sind die Opfergaben, die ihr gesehen habt, das heißt, die vielen Menschen, die ihr in die Irre führt."

Das geschieht seit den 2000 Jahren dieser Religion. Kein Krieg, keine Unterjochung anderer Völker, keine Inquisition ohne diese Ideologie, dieser Begleitmusik von Mord, Leid, Schrecken, Elend, Vertreibung und ethnischen Säuberungen. Die christlichen Religionen sind die Verbündeten aller kriegswilligen Regierungen.

Und der Militärseelsorge kam dabei immer eine besondere Bedeutung zu. "Wer betet, zittert nicht", ist so ein Spruch aus dem 1967 vom katholischen Militärbischofsamt herausgegebenen Büchlein "Kommt gut durch". Vom Alten Dessauer, der dem Preußenkönig Stralsund eroberte, erbten wir nicht nur den Gleichschritt und die Feldgottesdienste, sondern auch Weisheit: "Ein Soldat ohne Gottesfurcht ist ein Matz."

Altes Testament

Wie heißt es bei Mose 5;7? "Wenn dich der Herr, dein Gott, ins Land bringt, in das du kommen wirst, es einzunehmen und er ausrottet viele Völker vor dir her, die Hethiter, Girgasiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hewiter und Jebusiter, sieben Völker, die größer sind und stärker als du, und wenn der Herr, dein Gott, vor dir dahingibt, dass du sie schlägst, so sollst du an ihnen den Bann vollstrecken. Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben."

Und im Buch Joel 4;10 steht: "Macht aus euren Pflugscharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße."

Benedikt XVI

Der Papstbesuch im katholischen Eichsfeld im September 2011 wurde mit einem ungeheuren finanziellen und organisatorischen Aufwand in Szene gesetzt. Millionenausgaben spielten dabei keine Rolle. Die gleichgeschaltete Bevölkerung zahlte ja alles - und nicht nur die kleiner werdende Zahl der Kirchgänger.

Hat Benedikt bei seine Predigten alle katholischen Gläubigen aufgerufen, "die Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden, die Waffen aus den Händen zu legen" oder gar dazu, "dem Kaiser nicht zugeben, was des Kaisers ist", wenn es auch nur um ein einziges Menschenleben ginge, für das die Menschheit ganz ohne Religion das Menschenrecht auf Leben einfordert?


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Großinquisitor und Beichtvater der Königin: Tomas de Torquemada

Raute

Fakten und Meinungen

Klaus Georg

Rikscha! Rikscha!

Früher, ganz früher, führte mal die Straße durch dieses Tor. Der Doppelstockbus A 9 brummte Unter den Linden runter und an besonderen Tagen mag es vorgekommen sein, dass da ein gewisser Herr Theobald Tiger mit seinem Freund zugestiegen ist. Beim Vorbeifahren an der Universität wies der aus dem Fenster und erklärte dem Fahrtgenossen: "Da, die Landesirrenanstalt." Worauf der mit aufrichtigster Unbefangenheit antworten konnte: "Ah, schön haben sie's hier, die kleinen Idioten."

Ja, so konnte einem Berlin schon mal erklärt werden, wenn der Stadtbilderklärer Theobald Tiger hieß, oder auch anders, war er doch der Mann mit den 5 PS, den fünf Pseudonymen.

Nicht alle, die uns Berlin beschrieben haben, waren von so bissiger Genauigkeit. Da waren Karl Emil Franzos, dann der "Spaziergänger von Berlin" Julius Rodenberg und später der unvergessene Heinz Knobloch, der seine Beobachtungen der "Wochen-Post" anvertraute.

Ihr Berlin war das Berlin der Menschen, und wenn die schon tot waren, war es das Berlin ihrer Wirkungsstätten, Berlin als Ort der Geschichte.

Von ihnen kennen wir die Proletarierviertel Wedding und Prenzlauer Berg, das Scheunenviertel mit seinen jüdischen Handwerkern und Händlern, den feinen bürgerlichen Westen, aber auch die Orte der Barrikadenkämpfe vom März 1848 und den Platz, an dem die Kämpfer der Volksmarinedivision standrechtlich gemeuchelt worden sind.

Das Brandenburger Tor? Es war ihnen kaum der Rede wert. Das Tor? Freilich, da war der Baumeister Carl Gotthard Langhans, Direktor des Hofbauamtes, der es 1791 plante und bauen ließ, und der Bildhauer Gottfried Schadow, der die Menagerie drauf stellte. Aber ein historischer Ort? Mitnichten. Der preußische König ritt da in seinen Tiergarten oder ließ sich noch weiter westwärts bis nach Potsdam kutschieren.

Heute? Ja, heute ist alles anders. Da soll das Brandenburger Tor sein, was es nicht war, ein Ort bedeutsamer geschichtlicher Vorgänge. Und wenn da eine Siegesgöttin im Streitwagen dabei ist, kann man das Wort schwanger durchaus gebrauchen ein bedeutungsschwangerer Ort.

Das haben sich die Marketingexperten des politischen Geschäfts so ausgedacht. Nicht erst heute. Schon vor der Großen Protestantischen Novemberrevolution stellte sich da ein Hollywoodstar auf der Westseite vor's Tor und vor die Kameras und rief: "Mr. Gorbatschow, open this gate!" Und this gate war das Bild, das jedes Argument an Wirkung übertreffen sollte. Der angesprochene Mister, für uns damals noch Towarischtsch Michail, war dann der Pan Gorbatschow and he had, dem englisch gesprochenen Befehl gehorchend, opened this gate und viele andere dazu.

Nun ist das fünfundzwanzig Jahre her. Das ist die Geschichte, für die das Tor stehen soll.

Und es steht. Vieles andere steht allerdings auch, daneben, davor und dahinter.

Eine Pyramide hat sich aufgebaut, eine Schulklasse aus Herne in Westfalen. Vormittags waren sie schon in Hohenschönhausen in Hubertus' Knabenerziehungsanstalt. Jetzt schauen sie nicht nur, sondern werden interaktiv mit der Geschichte. Die stärkeren Jungen haben sich in Bankstellung aufs Pflaster gekauert. Als zweite und dritte Schülerlage haben sich die tragbareren Persönlichkeiten obenauf gruppiert. Der Lehrer ist zufrieden mit der Gesamtkomposition: hinten das Brandenburger Tor und der Schüler mit den gespreizten Fingern des Victoryzeichens perfekt in der Mitte, ohne die Quadriga unkenntlich zu verdecken. Da drückt er den Auslöser seiner Digitalkamera.

Aber auch ganz andere Sichten sind möglich. Ein Hochzeitspärchen. Zu ihm tritt ein dunkler Weltraumritter mit Laserschwert. Das reicht aber noch nicht hin. Auch ein gehörnter Teufel ist vorrätig. Er tritt aus einem schwarzen Zeltverschlag dazu. Und so vereint sich diese Personage zum dialektischen Bild von Gut und Böse vor dem erhabenen Sinnbild deutscher Einheit, dem Tor.

Oben glänzt in der Nachmittagssonne die grüne, edelpatinierte Siegesgöttin in ihrem Viergespann. Erinnerung ist erzen. Aber alles in der Geschichte gibt es zweimal, einmal in der edlen Fassung der Tragödie, das zweite Mal dann eben in der fernsehtauglichen Plaste-Pappen-Schminke-Version. Hier ist auch diese zweite Version verfügbar. Aus grün patinierter Bronze ist ein grün kostümierter Volkspolizist geworden, grün auch im Gesicht. Ob das alle, die sich mit ihm fotografieren lassen, wissen, dass seine grüne Schminke auf Stirn, Nase und Wangen Edelpatina bedeuten soll? Aber eklig genug sieht er aus, der gespielte Genosse Wachtmeister. Der GI neben ihm kommt ohne die Schminke zum Einsatz. Er steht ja für das Gute, vor ihm soll sich ja keiner ekeln.

Und schon wieder eine Schulklasse. Die hier auf Rädern, angeführt von zwei Scouts, die ihnen erklären, wie bei einer so kurzen Rast die Räder aneinander zu lehnen sind, damit keines Schaden nimmt. Als das dann geklappt hat, geht es weiter. Für ein paar Fotos mit dem Handy hat es für einige gereicht: "Ich mit dem Leihrad und mit Klaudia vorm Brandenburger Tor".

Und bei aller Hektik nun etwas wohltuend Langsames. Da kreisen Fahrradrikschas auf dem Pariser Platz. Rikscha! Rikscha! Nein, das ist nicht der Ruf, den ich höre. Das ist die Erinnerung aus mir heraus. Da höre ich Egon Erwin Kisch. Ich kenn doch gar keine Rikschas. Ich kenn doch nur die Reportagen des "rasenden Reporters" und die Zeichnungen Herluf Bidstrups aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die sich in diesen Tretmühlen quälen mussten, Kulis hießen die.

Hier vor mir dreht ein halbes Dutzend Fahrer Runde für Runde. Die dreirädrigen Gefährte tragen zwei Fahrgäste und den Fahrer. Die Mechanik scheint leichtgängig ausgelegt zu sein für ein PS, für eine Personenstärke. Oder soll PS Prekariatsstelle heißen?

Sehe ich überhaupt richtig? Müsste ich jetzt nicht sehen, wie ökologisches Denken siegreich Motorenlärm und Abgase bezwungen hat? Ist das wirklich so schwer, der Wahrheit Raum zu geben, dass ein strampelnder Prolet eine günstigere Schadstoffbilanz vorweisen kann als das ökologisch rationierteste Erdgastaxi, dem da gerade vor dem Hotel Adlon ein betuchteres Paar entsteigt?

Da öffnet sich meinen Augen der Blick ins freundlichere, grünere Morgen und ich sehe geradewegs ins Gestern. Aber nicht, weil das Auge in die Vergangenheit reicht, sondern weil sich die Gegenwart zu erkennen gibt als Fortdauer der alten Verhältnisse. Der Schritt durchs Brandenburger Tor war ein großer Schritt für ein kleines Land und er führte zurück.

Rikscha! Rikscha!


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Die Straße durchs Brandenburger Tor 1926
- Herluf Bidstrup aus dem Comic "Freifahrt", 1953

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter Michel

Die Welt, wie sie sein sollte

Rede zur Beisetzung von Prof Willi Neubert auf dem Friedhof in Thale am 27. August 2011

Sie haben mir die schwere Aufgabe übertragen, ein paar Worte des Abschieds zu finden. Das ist mir eine innere Pflicht geworden. Sie wächst aus einem tiefen Gefühl lang anhaltender Freundschaft, die seit der Mitte der Siebzigerjahre besteht. Mir und vielen anderen war Willi Neubert ein treuer Freund, mit dem man seine Freuden und Leiden, Ängste und Hoffnungen, seine Sorgen und Geheimnisse und alles, was sonst das Herz bedrückte, teilen konnte. Niemand in der Welt kann ohne Freundeshilfe seinen Weg machen. Alle, die wir hier versammelt sind, und alle, die in Gedanken bei uns weilen, wissen: "Der Tod entwaffnet den Hass, bringt Neid und Verleumdung zum Schweigen und erlaubt der Gerechtigkeit, ihre Stimme zugunsten derer zu erheben, die ein Recht auf Bewunderung durch die Nachwelt haben."(1)

Lieber Willi! Was aus meiner Sicht zu Deinem künstlerischen Werk zu sagen ist, habe ich in meiner Rede zur Vernissage unserer Neubert-Ausstellung in der GBM-Galerie Berlin am 6. Februar 2004(2) und vor einem guten Jahr, am 10.April 2010, anlässlich der Eröffnung Deiner Werkschau in der Galerie-Kapelle des Hüttenmuseums Thale ausgesprochen. Deshalb will ich es hier nicht wiederholen. Zu den Künstlern, aus deren Leben und Werk Du Bestätigung und Anregung schöpftest, gehörte auch Käthe Kollwitz. Sie trug selbst ein schweres Schicksal, verlor Sohn und Enkel in zwei Weltkriegen, aber sie sorgte sich - wie auch Du - um andere, schrieb in ihren Tagebüchern Nachrufe auf Auguste Rodin und Wilhelm Lehmbruck, besuchte Max Liebermann und Ernst Barlach am Totenbett und fand am offenen Grab von Max Klinger über dessen grafisches Werk die Worte: "Was uns fortriss, was wir liebten in diesen Blättern, war nicht die technische Meisterschaft. Der ungeheure Lebensdrang, die Energie des Ausdrucks waren es, was uns daran packte. Wir wussten: Max Klinger bleibt nicht an der Oberfläche der Dinge haften, er dringt in die dunkle Lebenstiefe. ... Alle Register des Lebens zog er auf, das gewaltige, herrliche und traurige Leben fasste er und deutete es uns."(3)

In dieser Einheit des Schlichten und Tiefgründigen gedenken wir heute und in Zukunft Deines Lebens und Deiner Kunst. Dein Tun, lieber Willi, war klar und frei von Eigennutz. Dein Werk entsprang einem starken und ordnenden Willen, dem Drang, die Welt zu erfassen, wie sie ist, und ihr zu sagen, wie sie sein sollte, um besser und glücklicher zu sein. In Deiner Kunst war etwas Wärmeres als bloße Artistik. Du wolltest mit ihr den Menschen etwas Gutes tun, um ihnen leben zu helfen, wie sie Dir geholfen haben, Und es ist unmöglich, zwischen Deiner Person mit ihrer Charakterstärke und Deiner künstlerischen Arbeit zu unterscheiden. Eines kam aus dem anderen. Eitelkeit war Dir fremd. Als Künstler bist Du Arbeiter geblieben, wenn auch die Eitlen das vielleicht als Makel empfanden. Gerade das war es, was Dir Freunde brachte. Wo Deine Wurzeln waren, hast Du nie vergessen. Deiner zweiten Heimat, dem Eisenhüttenwerk und der Stadt Thale, hast Du stets die Treue gehalten, und diese Treue wurde mit Freude erwidert. Im Nachwende-Deutschland ist die Verleihung der Ehrenbürgerwürde an einen Menschen, der seinen künstlerischen Weg in der DDR begann, nicht alltäglich. Und Du hast an Deinem 90. Geburtstag noch erlebt, wie ein Wandbild in die Öffentlichkeit zurück kam, das nach 1990 lange Zeit verschwunden war. So verbinden wir am heutigen Tag die Gefühle der Trauer mit denen der Dankbarkeit für all jene, die das möglich machten und so anderen zeigten, dass die im Osten Deutschlands entstandene Kunst ein unverzichtbarer Teil der deutschen Nationalkultur ist.

Viele denken heute gemeinsam mit Deiner Familie an Dich, lieber Willi, und wenn wir Deiner gedenken, so erinnern wir uns auch an jene, die Deinen Weg begleiteten: an Deine Lehrer Ulrich Knispel und Erwin Hahs, an Deine Kollegen aus dem "Künstlerkollektiv Harz", an Deine Freunde aus dem Institut für Architekturemail hier in Thale und aus der Akademie der Künste in Berlin, an Deine Schüler Horst Glitzner, Hans Joachim Härtel, Werner Liebmann, Roland Nicolaus, Beate Schotte, Renate Tauber und andere, an Deine Partner aus den Betrieben und Gewerkschaften und an Deine vielen Kollegen im Verband Bildender Künstler, allen voran Prof. Dr. Peter H. Feist, Dr. Wolfgang Hütt und Prof. Willi Sitte.

In der Autobiographie "Farben und Folgen" von Willi Sitte taucht Dein Name immer wieder auf. Erst vor wenigen Tagen sprach ich mit ihm und seiner Frau Ingrid - und sie baten mich, auch in ihrem Namen zu sprechen. Willi Sitte, der schwer krank ist und deshalb nicht hier sein kann, schrieb über Euer Verhältnis in den Fünfzigerjahren: "Nachdem die meisten der Hallenser Freunde weggegangen waren, wurden meine Kontakte zu den Harzer Künstlern Willi Neubert, Eberhard Frey und Otto Schulmeister intensiver. Mit Neubert hatte ich mich angefreundet, als er als Stahlwerker und Konstrukteur der Eisen- und Hüttenwerke Thale zum Studium an die Burg Giebichenstein kam, und diese Freundschaft hielt die ganze DDR-Zeit hindurch."(4) Als Sitte in einer tiefen persönlichen Krise war, die auch aus dummen Formalismus-Vorwürfen kam, setztest Du Dich, lieber Willi, dafür ein, dass er im Gäste-Atelier in Gernrode Abstand gewinnen und neuen Lebensmut aufbauen konnte. Du unterstütztest Willi Sitte auch in anderen kritischen Situationen. Es ist tiefe Dankbarkeit, die an diesem Beispiel deutlich wird. Auch anderen hast Du solidarisch zur Seite gestanden.

Ein Großer ist von uns gegangen. Er wird nicht vergessen werden. Im Tagebuch von Thomas Mann gibt es eine Eintragung aus dem Jahr 1952, die ganz das trifft, was unserem Umgang mit dem Erbe Willi Neuberts angeht. Er schrieb, nicht als Meinungsmacher, sondern als Künstler wünsche er fortzuleben; es interessiere ihn nicht so sehr, wenn über die Entwicklung seiner politischen Haltung geschrieben würde. "Lieber wäre es mir", wandte er sich an einen Rezensenten, "Sie schrieben als echter Philologe über die Funktion des Semikolons in meiner Prosa."(5) Übersetzt in unseren Zusammenhang heißt das: Lassen wir importierte Besserwisser ihre vorgestanzten Urteile drucken. Wir haben unsere eigenen Erfahrungen. "Wo Trauer herrscht, stört ein fremder Geist", wusste schon Euripides. Beschäftigen wir uns lieber mit den künstlerischen Qualitäten, mit Deinem Bild vom Menschen, mir der Wirkungskraft Deiner Symbole und Metaphern, mit der Funktion des Goldenen Schnitts, mit den Spannungen von Form und Farbe, und erkennen wir die geistige Größe eines Lebenswerks, das ganz das unsere ist und dessen Bedeutung aus dieser Einheit von Inhalt und Form kommt, die mancher nicht begreift oder nicht begreifen will.

Wir danken Dir, lieber Willi, für alles, was Du uns mit Deiner Mitmenschlichkeit und Deiner Kunst gegeben hast. Und wir danken aus ganzem Herzen und voller Hochachtung Deiner Familie, die bis zu Deinem Ende so viel für Dich getan hat. Wir wissen: "Die Toten haben nur so viel Leben, als die Lebenden ihnen leihen."(6) Das wollen wir tun. Thale und Willi Neubert gehören zusammen. Das wird so bleiben. Dessen bin ich sicher.


Anmerkungen:

(1) Melchior Grimm: Genie und Mitwelt, in "Paris zündet die Lichter an", Literarische Korrespondenz, Leipzig 1977, S. 349
(2) Peter Michel: gegen den furror teutonicus, in ICARUS 1/2004, S. 48
(3) Käthe Kollwitz: Bekenntnisse, Leipzig 1984, S. 49
(4) Willi Sitte: Farben und Folgen - Eine Autobiografie, Leipzig 2003, S. 67
(5) Thomas Mann:Tagebücher 1951-1952, Frankfurt/M 1993, S. 658
(6) Anatol France: Die Insel der Pinguine, Berlin 1952, S. 120


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Willi Neubert auf einem Foto von 1972
- Willi Neubert "Schachspieler mit Roboter", 1981, Öl/Lw.
- Willi Neubert "Schachspieler", Öl
- Willi Neubert "Stahlmonteure", 1976. Öl, 190 x 140 cm

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Günter Meier

Grand Dame der deutschen Keramikkunst

Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Ulli Wittich-Großkurth: Kunstwerke aus Ton" in der GBM-Galerie am 21. Oktober 2011

Bei meiner Google-Suche nach verwertbarem Stoff über Ulli Wittich-Großkurth flatterte ein Artikel aus dem "BLÄTTCHEN" auf den Bildschirm, den ich Ihnen als Einleitung zu meiner Laudatio auf die Neunundsiebzigjährige gern präsentieren möchte. In seinem Verriss über das Künstlerlexikon der DDR - er fand in der Tat kein anerkennendes Wort für diese Edition - warf der Buchkritiker dem Herausgeber übelste Schlamperei vor. Und nun bitte aufmerksam zuhören: "Nachzutragen für das Jahr 2010 wäre(n) der Tod von ... Ulli Wittich-Großkurth, Jena, die unter den Konsultanten für das Lexikon genannt ist." Soll heißen: Die lügen in diesem Lexikon schon im Vorwort. Liebe Ulli, ich bitte, Dich zu erheben, damit wir alle Deine seltsame Auferstehung bewundern können. Diese vitale Frau ist fast 80 und noch immer unerschöpflich kreativ, so lebhaft, dass Jüngere nicht aus dem Staunen herauskommen. Alles, was hier in dieser schönen Galerie ausgebreitet ist, wurde in den letzten beiden Jahren geschaffen. Ein paar - wirklich wenige - Ausnahmen sind älteren Datums. Und: Töpfern und freies Aufbauen von schweren Tonmassen zu großformatigen Gartenplastiken, Pflanzkübeln und figurativen Montagen bedeutet Schwerarbeit, Muskeltraining, einem Marathonlauf vergleichbar. Angesichts dieses Irrtums fragt man sich, auf wen der Unmut des Kritikers zielte, auf die Keramikerin, auf den Herausgeber, der mal beim Neuen Deutschland Redakteur war, oder auf sich selbst, weil er sich aus der gegenwärtigen Szene ausgegrenzt fühlt.

Die erfolgreiche Künstlerin ist seit 64 Jahren selbstständige Kunsthandwerkerin in Jena. Ihre Werkstadt im Garten des elterlichen Anwesens am Rande der großen Stadt nannte sie "Töpferklause". Und als Klausnerin, töpfernde Herstellerin von gebrauchsfähigem Alltagsgeschirr, verstand sie sich als Kleinserien-Produzentin, deren Leistung von den Staatsbehörden als Produzentin von "Waren des täglichen Bedarfs" eingestuft und wirtschaftlich geplant war.

Schon in diesen ersten Jahren ihrer Selbständigkeit erweckte sie die Aufmerksamkeit ihrer einstigen Lehrer und der Kunstkritik. Sie war von Meister Gebauer aus Bürgel zu höchster Formstrenge und eiserner Einhaltung der dinglichen Qualität bei der Bearbeitung der Tonmasse, der Glasuren und des Brennregimes gedrillt worden. Das Gefühl für die Ästhetik der Form-und-Zweck-Synthese scheint bei ihr angeboren zu sein. Diese Anfangsjahre, in denen sie auch ihre Familie gründete und zwei - wie wir heute wissen - tüchtige und geachtete Kunsthandwerker ins selbstständige Leben führte, hat sie brillant gemeistert. Sie blieb aber bis Mitte der Sechzigerjahre die Klausnerin für solides Gebrauchsgeschirr. Doch die recht strengen, dem Bauhaus-Charme verwandten geometrischen Zweckformen begann sie bald mit einfachen Ritz- und Kerbdekoren zu verfreundlichen. Bauhäusliche Keramik sei das, spotteten die damaligen Designer. Diese Kritik war damals schon absurd. Denn Kunsthandwerk und Design (was in der DDR "Industrieformgestaltung" genannt wurde) sind damals schon zwei verschiedene Schuhe gewesen. Fritz Kämpfer, seinerzeit Direktor des Museums für Kunsthandwerk in Leipzig (Grassimuseum) arbeitete den Unterschied heraus: "Das Kunsthandwerk schafft - im Vergleich zur Industrieformgestaltung - das Aus-Gezeichnete, zugleich das Singulare, den Sonderfall, und damit ... das Seltene. Es ist das zum besonderen Anlass Geschaffene. Es ist das Geschmückte und stets das Schmückende."

Da die Künstlerin für die heute zu eröffnende Ausstellung keine Frühwerke mehr verfügbar hatte (alles befindet sich in Museen und Privatbesitz) sollen zwei Leihgaben aus Privatbesitz als Beleg dafür sprechen, dass sie von Anfang an alle Sinne des Menschen zu sensibilisieren wusste: den Tastsinn für das Erleben der matten Glasuren und der gekerbten Strich- und Schnittdekore; den Augensinn für die Form und die feinen Farbtönungen des Tonscherbens und der Glasuren, den Hörsinn für den Klang der tönernen Korpusse. Diese Grundeigentümlichkeiten ihrer gestalterischen Arbeit scheinen bis ins heutige Schaffensalter durch, egal, woran sie gerade arbeitet: Sie spricht alle Sinne an, ganz besonders aber das Schmuckbedürfnis der einfachen Menschen. Was die Art des Schmückens betrifft, so bedeutet das nicht einfach dekorieren, sondern allgemeiner: Sinnbedeutung geben, persönlichen Ausdruck äußern, Beziehung herstellen, sich dem Besonderen und Einmaligem anpassen, gegebene geistige Werte sichtbar machen.

Um 1969 begann sie, des Öfteren ihre Töpferklause zu verlassen, um sich anderweitig umzusehen, was sich so in der Welt der Töpfer- und Keramik-Kunst abspielt. Neugier auf Neues, Aneignen und Adaptieren der Leistungen von Meistern jenseits von Thüringen und der staatlichen Grenzen - das waren die bevorzugten Felder ihrer beruflichen Weiterbildung. Es muss hier gesagt sein: Sie besaß das Privileg einer bewundernswerten ehelichen Partnerschaft mit Gert Wittich, der für ihre künstlerischen Ausflüge in die weite Welt die Wege freischaufelte. So begann sie zu mäandern zwischen der Teilnahme an Symposien im In- und Ausland, zwischen bau- und parkbezogenen plastischen Bildwerken und ihren stets von Lehrlingen und Gesellen besetzten Töpferscheiben in der Nähe der Glasurtöpfe, Tonboxen und Brennöfen. Was heißt: Sie verstand es auch, die kostbare Arbeitszeit rational zu verwerten.

Aus dem Thüringer Raum in die Welt der Künste trat sie erstmalig mit ihrer Teilnahme an der Ausstellung "Kunsthandwerk der DDR" in Erfurt 1969. Der damalige Rektor der Hochschule für Gestaltung in Halle, Walter Funkat, nahm ihre damals aktuellen Arbeiten in sein opulentes Buch "Kunsthandwerk der DDR", erschienen anlässlich des 20. Jahrestages der DDR, auf. Und so wurde sie überregional - auch im Ausland - bekannt und als frei arbeitende Künstlerin wahrgenommen. Seit 1968 lud sie das Grassimuseum zu den ständigen Jahresschauen in die Messestadt Leipzig ein. Internationale Beachtung ihres Könnens erwarb sie 1974 auf der ersten Quadriennale des Kunsthandwerks Sozialistischer Länder in Erfurt, auf der sie für ihre Rokoko-Adaptionen zum Schloss Molsdorf einen internationalen Zweiten Preis erhielt. Obwohl diese Internationale Ausstellung wegen der herrschenden Spaltung der Welt in Ostblock und Westblock von der offiziellen westlichen Politik nicht wahrgenommen wurde und auch nicht wahrgenommen werden durfte, hat die westliche Fachwelt der Printmedien und der Museen die künstlerischen Bewegungen bei uns wie man erst heute von seriösen Kunsthistorikern der jungen Generation erfahren kann - akribisch wahrgenommen. Mit der erstmaligen Aufnahme ihrer Keramikobjekte in die VIII. Kunstausstellung der DDR 1977 in Dresden war sie in der ersten Reihe der Keramikgestalter der DDR angekommen. (Die im Katalog abgebildete Plastik "Frucht", eine Paraphrase auf Apfel, Kürbis, Nuss fand nach Ausstellungsschluss ihr Dauerquartier im Garten meiner Familie.) Die weltberühmte Meißner Porzellanmanufaktur lud sie 1981 zu einem Symposium anlässlich des international gefeierten Böttgerjahres ein. Ein Katalog bezeugt dies.

Im Wendejahr 1989/90, als alle Künstler der DDR ihre staatlich garantierten Subventionen auf elektrische Energie, Niedrig-Besteuerung und gedeckelte Gewerbemieten verloren, hat sie den Kopf hoch gehalten und sich um die Neugründung eines Thüringischen Kunsthandwerkerverbandes bemüht. Das hat vielen ihrer Kollegen wieder neuen Optimismus verschafft.

In manchen Zeitungsbeiträgen bezeichnet man sie als "Grand Dame" der deutschen Keramik-Kunst, ein Prädikat, das außer ihr nur Hedwig Bollhagen zugestanden wurde.

Vor zwei Jahren wurde sie in dem zweibändigen Werk "Deutsche und internationale Keramik seit 1946", das zur gleichnamigen Ausstellung im Grassimuseum zu Leipzig erschien, nicht nur gelistet, sondern auch abgebildet. Der Buchautor zeigte sich überrascht von der hohen künstlerischen und innovativen Qualität der DDR-Kunsthandwerker. Wir alteingesessenen DDR-Kunstsammler und Kunstwissenschaftler können darüber nicht staunen, weil wir das schon seit Jahrzehnten gewusst haben. Aber streiten wir nicht darüber und freuen uns lieber, dass nun auch die deutschen Kunstwissenschaftler wieder autonom urteilen können.

Im Sommer des nächsten Jahres wird Ulli Wittich-Großkurth ihren 80. Geburtstag feiern. Man darf annehmen: bei bester Gesundheit!

Seit einiger Zeit verbringt sie ihre tagaktive Zeit neben den Tontöpfen auch in einer Wandergruppe mit Etappenziel "Jenaer Fuchsturm". Wer das mit 80 schafft, egal ob den langen oder kürzeren, steilen Aufstieg, der darf als vital gelten. Ich weiß, wovon ich hier rede, bin nämlich geborener Jenenser.

Für die Zeit bis zum Erreichen dieses nächstliegenden Lebensziels wünsche ich - wünschen wir - Ulli Wittich-Großkurth aus Jena jede Menge Power und Freude an den anspruchsvollen Vorhaben.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Ulli Wittich-Großkurth
- Gebaute Form mit Goldkugeln, Engobe
- Vase, nach 1960
- Harlekin, Engobe
- Deckelgefäß, Ton, gedreht, glasiert, gebrannt, Wickeldekor
- Küchenschüssel, nach 1980

Raute

Personalia

Heinz Langer

85. Geburtstag Fidel Castros

Vor einigen Wochen beging einer der ersten Träger des Menschenrechtspreises der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V., der legendäre Führer der kubanischen Revolution, der weltweit bekannte Politiker und Staatsmann Fidel Castro, seinen 85. Geburtstag.

Es war der 13. August, der 50. Jahrestag des Baues der Grenzsicherungsanlagen in Berlin und auch der 5. Jahrestag der Gründung des Verlages Wiljo Heinen, aus dessen Anlass sich eine Gruppe von Autoren und interessierter Berliner in der Galerie der "jungen welt" zu einer feierlichen Veranstaltung versammelt hatte. Natürlich wurde dort auch der 85. Geburtstag Fidel Castros gewürdigt.

Wir waren nur ein kleiner Teil der Millionen Menschen in Kuba und der ganzen Welt, die dieses großen Revolutionärs, Politikers und Staatsmannes gedachten.

Im Sommer des Jahres 2006 erreichte uns die schmerzhafte Nachricht, dass dieser aufrichtige Führer der kubanischen Revolution, der Kommunistischen Partei und des Staates Kuba wegen einer tödlichen Erkrankung seine Ämter niederlegen musste. Aber bereits nach kurzer Zeit meldete sich der weltweit bekannte Rebell in der Öffentlichkeit zurück. Rastlos schrieb er zu allen relevanten internationalen Ereignissen seine "Reflexionen", die mittlerweile die stattliche Zahl von 400 Schriften erreichten, und gab der fortschrittlichen Menschheit mit scharfem Sinn und seinen reichen Erfahrungen wertvolle Orientierungshilfen. Natürlich berät er auch weiterhin die kubanische Führung in wichtigen politischen Angelegenheiten.

Fidel Castro hat schon als Student an der Bewegung für die nationale Souveränität und gegen die Diktatur in seinem Lande aktiv teilgenommen. Er war Mitbegründer der Liberalen Orthodoxen Partei. Seine politische Aktivität führte ihn auch in andere Länder Lateinamerikas. In Venezuela, Panama und Kolumbien setzte er sich für die Organisierung eines lateinamerikanischen Kongresses der Studenten ein. Als der USA-hörige Diktator Batista am 10. März 1952 einen Putsch gegen die demokratischen Institutionen durchführte, begannen sich Tausende Studenten und andere Jugendliche zu organisieren und sich auf den bewaffneten Widerstand vorzubereiten. 160 von ihnen beteiligten sich unter Leitung von Fidel Castro am 26. Juli 1953 am Sturm auf die Moncada Kaserne. Obwohl der Aufstand scheiterte, war er doch ein Signal für eine erfolgreiche Weiterführung der begonnenen Revolution für nationale Unabhängigkeit, für wirkliche Volksherrschaft und Demokratie. Der junge Anwalt Dr. Fidel Castro legte in seiner glanzvollen Rede vor Gericht unter dem Titel, "Die Geschichte wird mich freisprechen" zur Verteidigung der angeklagten Jugendlichen die Grundlagen des Programms der revolutionären Bewegung dar. Nach der Landung der Jacht "Granma" am 2.12.1976 im Osten der Insel führte Castro die Armee der Aufständischen bis zum Sieg der bewaffneten Kämpfe am 1. Januar 1959. Er war es auch, der im April 1961 die Verteidigung Kubas organisierte und leitete, als von der US Regierung protegierte konterrevolutionäre Kräfte versuchten, in der Schweinebucht zu landen, einen Brückenkopf zu bilden und Kuba mit Terror und Chaos einschüchtern wollten.

Fidel Castro war seit dem 13. Februar Premierminister der revolutionären Regierung Kubas. Mit der der Gründung der Kommunistischen Partei wurde er deren 1. Sekretär und seit den ersten demokratischen Wahlen zu den Organen der Volksmacht war er Vorsitzender des Staats- und des Ministerrates.

Fidel Castro ist nicht nur der erfolgreiche Führer der kubanischen Revolution, sondern hat auch bleibende große Verdienste in der antiimperialistischen Ausrichtung der Bewegung der Nichtpaktgebundenheit, bei der Bekämpfung des Kolonialismus und vor allem in der Formierung der Bewegungen für Unabhängigkeit, nationalen und sozialen Fortschritt in Lateinamerika und in der Karibik. Es ist nicht verwunderlich, dass seine mächtigen Feinde über 600 Anschläge auf das Leben dieses großen Revolutionärs und Staatsmannes geplant hatten. Seine Freunde und Verehrer aber würdigten sein langes Leben im Dienste des Volkes seines Landes und im Dienste der Humanität.

In Havanna fand am 13. August in vollbesetzten größten Theater der Stadt "Karl Marx" eine festliche Gala statt, wo bekannte Künstler Kubas und aus vielen lateinamerikanischen Ländern sowie 22 Solisten aus Uruguay, Argentinien, Kuba, Paraguay, Chile und Venezuela ein "Serenade der Treue" (Serenata de Fidelidad) zu Ehren Fidel Castros dargeboten haben. Viele Schulen und Kulturgruppen des Landes veranstalteten festliche Konzerte.

Im Fernsehen fand am 13.8. Ein "Runder Tisch" unter dem Motto: "Fidel, Soldat der Ideen" mit herausragenden Persönlichkeiten aus Kultur, Sport, Gesundheitswesen und aus den Medien statt, in dem die Rolle Fidel Castros bei den Errungenschaften der Revolution besonders gewürdigt wurde. Daran nahm auch eine Delegation der Lateinamerikanischen Medizinischen Universität teil, die auf Initiative Fidel Castros bei Havanna entstanden war. Eine Vielzahl bekannter Persönlichkeiten aus der ganzen Welt, Staatschefs und Führungen von Parteien übermittelten Glückwünsche. So die Präsidenten der Mitgliedsländer der Bolivarischen Allianz für die Völker Lateinamerikas, der über einhundertjährige brasilianische Architekt Oscar Niemeier oder der legendäre nikararguanische Kommandant Tomas Borge.

Der Präsident Russlands, Dimitr Medvedjew und Ministerpräsident Putin gratulierten Fidel Castro. In dem Schreiben heißt es unter Anderem: "Dein Leben ist ein würdiges Beispiel des Dienstes am Vaterland und am Volk, ... daher bist du auch heute weiterhin der legendäre Kommandant und das nationale Symbol für die kommenden Generationen von Kubanern...". Der substantielle Beitrag Fidel Castros zur Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Kuba und Russland wird hervorgehoben. Auch die Co-Vorsitzenden der PARTEI DIE LINKE, Gesine Lötzsch und Klaus Ernst, schlossen sieh mit einem Glückwunsch den Gratulationen an Sie schrieben unter anderem: "Wir übermitteln dir im Namen der PARTEI DIE LINKE die wärmsten Glückwünsche zu deinem 85. Geburtstag. ... Du kannst voller Stolz auf ein erfülltes Leben voller Kampf und erfolgreicher Arbeit an der Spitze der kubanischen Revolution zurückblicken. Die Errungenschaften des sozialistischen Kubas mit seinem Beispiel für so viele Völker der Welt sind immer in erster Linie mit deinem Namen verbunden. Unter deiner Führung war Kuba fähig, mehr als fünf Jahrzehnte dem Druck der Blockade der USA zu widerstehen, fest seinen Idealen zu folgen und eine neue gesellschaftliche Entwicklung zu beschreiten, die beispielhafte soziale Errungenschaften für die Völker Kubas und Lateinamerikas im Bildungswesen, in den Wissenschaften und der Kultur, im Gesundheitswesen, im Sport und auf anderen Gebieten gebracht hat. Kuba war und ist weiterhin auf dieser Art Beispiel und Orientierungspunkt für viele Völker der Welt."


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Fidel Castro, Oswaldo Dorticos und Ernesto Che Guevara in der ersten Reihe eines Demonstrationszuges gegen ein von der CIA in Kuba 1962 organisiertes Bombenattentat
- Demonstration in Havanna 1984

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Personalia

Wolfgang Konschel

Ursula Schönfelder

- zum Ableben unserer Kampfgefährtin

Die Nachricht, dass der lang anhaltende Kampf gegen den Krebs, den unsere Ursula Schönfelder mit Geduld und Beharrlichkeit, aber auch mit Hoffnung geführt hatte, nun doch mit dem Ableben endete, war für uns alle ein Schock und erfüllte uns mit tiefer Trauer. Es wird uns schwer fallen, die Lücke, die ihr Tod reißt, aufzufüllen. Trotz der oft quälenden Belastungen durch die Krebstherapien beteiligte sie sich, soweit es die Krankheit zuließ, bis zuletzt an der Arbeit der Gesellschaft. Sie wird uns sehr fehlen, mit ihren klugen, von Menschenkenntnis und Lebenserfahrung geprägten Ratschlägen.

Dr. Ursula Schönfelder, 1929 geboren, durchlief eine für die DDR-Intelligenz typische Entwicklung. Mit dem Ziel, am Aufbau der neuen, antifaschistisch-demokratischen Ordnung teilzunehmen, nutzte sie die Möglichkeiten des Studiums. Nach der Ausbildung als Neulehrerin und daran fortsetzend, dem Staatsexamen, war sie zuerst als Hochschullehrer für Marxismus am Franz-Mehring-Institut der Leipziger Universität und später viele Jahre als Dozentin für das Fachgebiet Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Hier promovierte und habilitierte sie auch auf diesem Fachgebiet. 1978 bis 1990 war sie, neben der Fortsetzung der Tätigkeit als Honorardozentin an der Universität, in der Redaktion der "Einheit", dem theoretischen Organ des ZK der SED, tätig. Wie tausende andere Wissenschaftler in Berlin, wurde auch sie mit der so genannten Wende von der Universität vertrieben.

Für sie war es selbstverständlich, den Kampf für die Interessen der Werktätigen nicht aufzugeben, sondern einen neuen Platz zu finden, auf dem sie sich für Frieden, sozialen Fortschritt und Menschenrecht einsetzen konnte. Deshalb wurde sie auch 1993 Mitglied der GBM und arbeitete im Förderkreis Senioren als Konsultantin für Rentengerechtigkeit und gegen das Rentenstrafrecht. Nachdem sie als Geschäftsführerin am Aufbau der Gesellschaft mitwirkte, folgte sie der Notwendigkeit, durch Mitarbeit im Rechtsanwaltsbüro Bleiberg & Schippert mit der Ausarbeitung von Klagen und deren weiteren Verfolgung an den Gerichten zur Überwindung von Rentenstrafrecht und Rentenunrecht wirksam beizutragen. Daneben hielt sie weiter Vorträge in den Ortsverbänden und setzte sich als stellvertretende Vorsitzende sehr aktiv und ideenreich für die Bewältigung der vielseitigen Aufgaben der Gesellschaft ein. Uschi, wie ihre Mitstreiter sie nennen durften, war immer ein Beispiel für unermüdliche Aktivität, Hilfsbereitschaft, Kameradschaftlichkeit und Bescheidenheit. Sie erwarb sich außerordentlich hohes Ansehen bei den Mandanten des Rechtsanwaltes, zahlreichen Mitgliedern der Gesellschaft, den Mitgliedern des Bundesvorstandes, der Leitungen in den Ortsverbänden und Funktionären anderer befreundeter Organisationen.

Ihre Tätigkeit wurde mit zahlreichen Ehrungen und der Auszeichnung "für Verdienste um die sozialen Menschenrechte" gewürdigt.

Wir werden sie als beispielgebende Aktivistin unserer Gesellschaft, als unermüdliche Kämpferin für Frieden, soziale Gerechtigkeit und eine bessere Gesellschaftsordnung in Erinnerung behalten. Wir werden diese Arbeit in ihrem Sinne fortzuführen.


Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.

- Ursula Schönfelder

Raute

Personalia

Wir drucken nach aus "junge welt" vom 25. Oktober 2011

Peter Michel

Er ist hier bei uns

Gedanken zum 130. Geburtstag von Pablo Picasso * 25.10.1881 in Málaga - † 8.4.1973 in Mougins bei Cannes

Der französische Fotograf Gyula Halász veröffentlichte 1964 unter seinem Pseudonym Brassaï einen kleinen Band "Gespräche mit Picasso". Ohne zu retuschieren oder zurechtzurücken, voller Bewunderung, aber mit klarem Blick für Wahrheiten hatte er in den Jahren von 1943 bis 1962 seinen Freund und dessen Werk in Wort und Bild festgehalten. Die Aufzeichnungen zeigen Picasso, seine Freunde und seine Umgebung so lebendig und unmittelbar, als hätten wir selbst an den Unterhaltungen teilgenommen. Dieses Bändchen bringt uns den großen Künstler näher, als manche tiefgründige kunsttheoretische Analyse es kann.

Brassaï beschreibt ihn als "einfachen, ungekünstelten Mann, ohne Dünkel, ohne Ziererei", der in diesen Jahren die Graphiken für die Folge "Suite Vollard" schuf, der seine Leidenschaft für Entdeckungen ständig weitertrieb, der seiner Natur nach zum Formenreichtum neigte, der begierig war, alle Kunst- und Handfertigkeiten, die ihm bisher fremd waren, auszuprobieren und der sich immer wieder mit den Werken großer Meister auseinandersetzte - mit Grünewald, Cranach, Poussin, Velázquez, später mit Manet, Lautrec, Cézanne, El Greco oder Ingres -, nicht um ihre Formen zu übernehmen, sondern um hinter das Geheimnis ihres Schaffens zu kommen, bis zum innersten Kern ihrer Persönlichkeit vorzudringen und ihre bildnerische Sprache zu enträtseln. Aus allen diesen Rückgriffen auf Meisterwerke, die ihn anregten, wurden unverwechselbare Bilder von Picasso.

Über den Erinnerungen Brassaïs liegt wie eine Folie die Zeitgeschichte jener Jahre, ein Rückblick auf die Mobilmachung 1939 in Frankreich, auf die Entstehung des weltbekannten Gemäldes "Guernica" in einem alten Atelier in der Rue des Grand-Augustins, auf die durch den Krieg bedingten, einschneidenden Veränderungen in Paris: eine Stadt der Hakenkreuzfahnen, der Kommandantur und der Gestapo, der Alarme, gelben Sterne, Razzien, Verhaftungen und der Anschläge über Hinrichtungen ... . Picasso hätte beim Einmarsch der Deutschen weggehen können, doch er blieb. Seine Anwesenheit war Trost und Ermutigung für seine Freunde und für alle, die ihn nicht kannten, aber sein Werk schätzten. Im Oktober 1943 äußerte sein Freund Jacques Prévert: "Bei den Nazis ist er schlecht angesehen, er kann interniert, deportiert, als Geisel festgenommen werden. ... Sein Werk - 'entartete' Kunst, 'bolschewistische' Kunst - kann auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden. Niemand auf der Welt, weder der Papst noch der Heilige Geist, könnte ein solches Autodafé verhindern. ... Er ist hier bei uns. Picasso ist ein prima Kerl!"(1)

Eine immer wieder erzählte Anekdote berichtet, dass der faschistische Statthalter von Paris, Otto Abetz, dem Künstler einen Kontrollbesuch abstattete. Als er die Leinwand mit dem "Guernica"-Bild sah, das nach der Pariser Weltausstellung 1937 aus dem Pavillon des republikanischen Spanien wieder in Picassos Atelier zurückgebracht worden war, rief er entsetzt: "Haben Sie das gemacht?!". Darauf Picasso ruhig: "Nein, Sie!". Dummdreiste Verständnislosigkeit auf der einen Seite; künstlerisches und politisches Selbstbewusstsein auf der anderen.

Es gibt wohl kaum ein Bild, das seine Aktualität über so viele Jahrzehnte bis heute bewahrt hat. Am 1. Mai 1937 hatte Picasso - fünf Tage nach dem dreistündigen, verheerenden Bombardement deutscher Kampfflugzeuge der Legion Condor auf die baskische Stadt Guernica - spontan mit Studien für dieses große Bild begonnen. Als er die ersten Skizzen vollendet hatte, übermittelte ihm Josep Renau als Kulturbeauftragter der Republik Spanien den Auftrag für die Weltausstellung. In diesem Gemälde, das nahezu vollständig in unbunten Farben gemalt ist, herrscht der kalte, atemlose Schrecken, der lautlos brüllende Augenblick der Explosion. Die Vernichtungsmaschinerie, die in einen Innenraum einbricht, bleibt anonym. Opfer stoßen in schrillem Entsetzen Hilferufe aus, sie winden sich, wissen nicht, wie ihnen geschieht. Pferd und Torero brechen zerschmettert zusammen; das Schwert ist zerbrochen. Doch wie ein schützender Fels erhebt sich ein Stier über einer schreienden Mutter, in deren Armen ein totes Kind hängt; und wie ein Hoffnungszeichen dringt ein Kopf mit einem Arm und einer brennenden Kerze in das Dunkel, als wollte er die Toten erwecken. Das Bild erscheint wie eine zerklüftete Landschaft aus zersplitterten Flächen, in die Menschen- und Tierleiber verschachtelt sind. Es war Picasso nicht möglich, ein solches Geschehen mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts wiederzugeben. Aber alle seine Erfahrungen kubistischer Formzerteilung, die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen artistischen Experimente gaben ihm nun die Mittel in die Hand, sein "Guernica" zu einem monumentalen Aufschrei zu machen.

Nachdem die Republik mit deutscher und italienischer Hilfe im Blut erstickt war, schwor Picasso 1939, nie wieder seinen heimatlichen spanischen Boden zu betreten, solange Franco regierte. Am 20. Oktober 1944 gab Picasso der Zeitung "New Masses", New York, ein Interview: "Mein Beitritt zur Kommunistischen Partei ist die logische Folge meines ganzen Lebens, meines ganzen Werkes, denn ... ich habe die Malerei niemals als eine Kunst der simplen Verzierung, der Zerstreuung betrachtet; ich habe durch die Zeichnung und durch die Farbe, da dies meine Waffen sind, immer mehr das Bewusstsein der Welt und der Menschen durchdringen wollen, damit dieses Bewusstsein uns alle jeden Tag mehr befreie. ... Ja, ich habe das Selbstbewusstsein, immer mit meiner Malerei als wahrhafter Revolutionär gekämpft zu haben. ... Ja, ich bin der Kommunistischen Partei ohne das geringste Zögern entgegen gegangen, denn im Grunde war ich immer mit ihr."(2)

Wer künstlerische Mittel, fernab von naturalistischem Abklatsch, so eindeutig in den Dienst einer humanistischen Sache stellt, wer intuitiv jene Formen findet, die in einem bestimmten historischen Moment ein menschenbewegendes Anliegen am eindringlichsten zu transportieren in der Lage sind und zugleich aktivierend wirken, der wird zu Recht zu den Großen der Kunst gezählt. Es ist das Gesamtwerk Pablo Picassos, das uns immer wieder erregt, so, als sei es für die jeweilige Generation gerade neu erschaffen worden: seine Freude, seine Lust am Leben und Gestalten, seine Respektlosigkeit Tradiertem gegenüber, seine analytischen und synthetischen Methoden, die Bilder von Liebe und Eros, die Bilder der Anklage, des Glücks, der Trauer, der hintergründigen Ironie und seine mythologischen Spiele, die zugleich brandaktuell sein konnten; Spiel - verstanden als genussvolles Suchen nach neuen schöpferischen Möglichkeiten, als Produktivmachen von Naivität. Nicht von ungefähr zählte der Maler Henri Rousseau, genannt der Zöllner, zu seinen Freunden.

Natürlich durchschaute Picasso sehr schnell die Mechanismen des bürgerlichen Kunstbetriebes. Am 2. Mai 1952 formulierte er - nicht ohne Selbstironie: "Seit die Kunst nicht mehr die Nahrung der Besten ist, kann der Künstler sein Talent nun für alle Wandlungen und Launen seiner Phantasie verwenden. Das Volk findet in der Kunst weder Trost noch Erhebung. Aber die Raffinierten, die Reichen, die Nichtstuer und Effekthascher suchen in ihr Neuheit, Seltenheit, Verstiegenheit und Anstößigkeit. Seit dem Kubismus, ja schon früher habe ich selbst alle diese Kritiker mit den zahlreichen Scherzen zufrieden gestellt, die mir einfielen und die sie um so mehr bewunderten, je weniger sie ihnen verständlich waren. Durch diese Spielereien, diese Rätsel und Arabesken habe ich mich schnell berühmt gemacht, und der Ruhm bedeutet für den Künstler Verkauf, Vermögen, Reichtum. Ich bin heute nicht nur berühmt, sondern auch reich. Wenn ich aber allein mit mir bin, kann ich mich nicht als Künstler betrachten im großen Sinn des Wortes. Große Maler waren Giotto, Rembrandt und Goya. Ich bin nur ein Spaßmacher, der seine Zeit verstanden hat und alles, was er konnte, herausgeholt hat aus der Dummheit, der Lüsternheit und Eitelkeit seiner Zeitgenossen."(3)

Kaum ein Künstler hatte - neben dem "Vater" Cézanne - einen so prägenden Einfluss auf die Entwicklung der bildenden und angewandten Künste wie er. Und diese Wirkung hält bis heute an. Er ist ein Wegbereiter und einer der wichtigsten Repräsentanten der Malerei des 20. Jahrhunderts. Seine Figuren, Köpfe, Konstruktionen, Materialbilder und Assemblagen sind Schlüsselwerke der modernen Plastik; seine bemalten Keramiken, seine Bühnenbilder und Plakate geben wichtige Impulse. Was in der Klassischen Moderne künstlerisch produktiv war, gerinnt in der Postmoderne jedoch zur beliebigen Inszenierung von Zitaten und Gebärden. Wer sich an Picasso hält und dabei nicht nur seinen Formenkanon aus unterschiedlichen Perioden nachahmt oder variiert, sondern sich die Dialektik von menschlicher Haltung und Formfindung aneignet, entgeht dieser Gefahr.

Viele Künstler der DDR haben Picasso so verstanden. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren gerieten einige von ihnen damit in Widerspruch zu einer Kulturpolitik, die an Vorstellungen von sozialistischem Realismus sowjetischer Prägung geschult war. Erst seit der Mitte der Sechzigerjahre setzte sich ein offenerer Umgang mit diesem geistigen und künstlerischen Vermächtnis durch und es begann eine regelrechte Picasso-Renaissance. Als Lothar Lang 1985 im Staatlichen Museum Schloss Burgk eine Pablo-Picasso-Ausstellung mit den Zyklen "Minotauromachie" und "Traum und Lüge Francos" aus der Sammlung Ludwig, Aachen, zeigte, listete er 16 Bücher und Kataloge über Picasso auf, die bis dahin in der DDR erschienen waren, darunter einen Band "Pablo Picasso" von Richard Hiepe und Vladimir Pozner aus dem Verlag der Kunst Dresden, ein Bändchen mit einem Text von Picasso aus dem Insel-Verlag und ein wunderbares Buch "Picasso - Die Kinder und die Stiere von Vallauris" aus dem Kinderbuchverlag Berlin. Die Kupferstichkabinette der Staatlichen Museen Berlin und der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zeigten Picasso-Graphiken ebenso wie das Museum der bildenden Künste Leipzig, das Studio der Nationalgalerie Berlin, die Galerie der Hochschule für Graphik und Buchkunst Leipzig, die Kunstgalerie Gera und andere. Das sollte jenen zu denken geben, die von der ständigen Gängelung der Künstler in der DDR reden.

Die konsequenten, das Gesamtwerk durchziehenden Auseinandersetzungen Willi Sittes mit dem Werk Picassos sind jedem Kunstinteressierten geläufig; sie begannen mit der "Minotauromachie" und setzten sich mit der "Suite Vollard" und der "Guernica"-Thematik fort; Picassos "Massaker in Korea" und sein "Beinhaus" wirkten ebenfalls auf ihn, vor allem bei seiner Annäherung an das Thema "Lidice". Bei Walter Womacka waren es die Stierdarstellungen, Picassos "Schlafende Bauern" und dessen bemalte Keramiken, die ihn beeinflussten - bei seinen Stierbildern, beim "Paar am Strand" und bei seinen Gefäßgestaltungen. Ohne die gefalteten Papierplastiken Picassos sind die "Faltungen" Hermann Glöckners kaum denkbar. Die Fumiani-Variationen von Ronald Paris erinnern an die unterschiedlichen Annäherungen Picassos an die "Meninas" von Velázquez. Die Adaptionen des "Frühstücks im Freien" von Strawalde gemahnen an die gleichnamigen Arbeiten Picassos. Gerhard Rommels "Afrikanische Bergziege" ist ohne Bezug auf Picassos "Ziege" schwer vorstellbar Die "Kreuzigung nach Grünewald" von Pablo Picasso wirkte sicher anregend auf entsprechende Graphiken Horst Sakulowskis. Picassos Plastiken und Henri Moores Durchbrüche im plastischen Volumen sind wiederzufinden in der Bildhauerei Theo Baldens. Die erotischen Arbeiten Thomas Richters können ohne Erinnerung an die entsprechenden Zeichnungen und Aquarelle Picassos kaum betrachtet werden. Und schließlich malte Willi Neubert noch 1996 sein Bild "Erinnerung an 1937 und 1945" mit eindeutigen Bezügen auf Pablo Picasso. Damit sind nur wenige Beispiele genannt. Der Reichtum solcher Beziehungen ist größer und führt uns dazu, diese Verflechtung als ein Merkmal der in der DDR entstandenen Kunst zu erkennen.

Picasso war - und ist - ein Künstler an unserer Seite. Ihn zu entpolitisieren, ist nicht nur unredlich, sondern verfälscht seine Biografie und sein Werk. Er arbeitete aktiv in der internationalen Friedensbewegung mit, deren weltbekanntes Symbol seine "Friedenstaube" von 1947 wurde. In zahlreichen Variationen erschien sie auf Lithographien und Plakaten; sie schmückte den Bühnenvorhang des Berliner Ensembles und die Halstücher der Mitglieder der französischen Delegation zu den III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten 1951 in Berlin. 1948 nahm er am Weltfriedenskongress der Intellektuellen in Wroclaw teil und zeichnete dort den Initiator dieses Kongresses, seinen Freund Ilja Ehrenburg. Im selben Jahr wurde er von der französischen Regierung mit einer Verdienstmedaille und vom Präsidenten Polens mit einem Orden geehrt. 1949 wählte Louis Aragon Picassos "Friedenstaube" als Motiv für das Plakat des Weltfriedenskongresses in Paris aus. 1950 wurde er Ehrenbürger von Vallauris, reiste im Oktober zur Weltfriedenskonferenz nach Sheffield und wurde im November erstmals mit dem Lenin-Friedenspreis geehrt. 1951 war er Teilnehmer des Weltfriedenskongresses in Rom. 1954 wurde sein Friedenstempel in Vallauris eröffnet und 1958 vollendete er das Wandgemälde "Der Sturz des Ikarus", das im November im Verwaltungsgebäude der UNESCO in Paris angebracht wurde. Am 2. Mai 1962 wurde ihm zum zweiten Mal der Lenin-Friedenspreis verliehen. Im Alter von 91 Jahren starb Pablo Picasso am 8. April 1973 in seiner Villa Notre-Dame-de-Vie in Mougins an einem Lungenödem; er wurde am 10. April im Park seines Schlosses Vauvenargues bei Aix-en-Provence beerdigt; auf dem Grab steht seine Bronze "Frau mit Vase", die 1937 neben seinem "Guernica"-Bild auf der Pariser Weltausstellung zu sehen war.

Carsten-Peter Warnke kommt in seiner zweibändigen Picasso-Monografie zur abschließenden Wertung: "Picassos Werke ... zeigen, was sie sagen. Sie sind aus sich heraus verständlich. Bei ihm gibt es keine Diskrepanz zwischen abstraktem Inhalt und konkreter Form.Wie kein anderer in diesem Jahrhundert war er einerseits zur radikalen Neuerung fähig und andererseits in der Lage, Traditionelles fortzuentwickeln. So konnte er mit den 'Demoiselles d'Avignon' das schildernde Bild überwinden und mit 'Guernica' in völlig neuer Gestalt die Überlieferung des Historiengemäldes neu beleben. Picassos eigentliche Größe und Bedeutung liegt in seiner Doppelrolle, nämlich Revolutionär und Traditionalist zugleich gewesen zu sein. So erneuerte er die Kunst und bewahrte ihr dennoch schöpferisch - und nicht nur museal - die Lebendigkeit der Geschichte. Das begründet seine herausragende Stellung in der Kunst des 20. Jahrhunderts."(4)

Wir ehren unseren Pablo Ruiz y Picasso, den ewig Jungen, denn er gehört zu unserem Erbe.


Anmerkungen:

(1) Brassaï,Gespräche mit Picasso, Rowolth Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1966 (deutsche Ausgabe), S. 54/55
(2) Pablo Picasso, Reihe "Welt der Kunst", hrsg. von Diether Schmidt, Henschelverlag Berlin 1970, Rücktitel
(3) Veröffentlicht in der Zeitschrift "Kristall", Heft 7/1959
(4) Carsten-Peter Warnke, Pablo Picasso 1881-1973, hrsg. von Ingo F. Walther, Benedikt Taschen Verlag GmbH Köln 1995, Bd. II, S. 680


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Pablo Picasso
- "Selbstporträt", 1907. Öl/Lw.
- "Selbstporträt", 1972. Kreiden
- Sonderbriefmarke der Post der UdSSR zum Tod Pablo Picassos
- Herbert Sandberg "Pablo Picasso", Lithografie
- "Massaker in Korea", 1951. Öl/Lw.
- Studie zu "Krieg und Frieden" in Vallauris, 1952
- "Bildnis eines Mannes mit Hut", 1970. Öl/Lw.
- Friedenskämpfer zu "Krieg und Frieden", Zeichnung 1952

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Rezensionen

Jens Schulze

Erinnerungen an ein verschwundenes Land

Eine Veranstaltung der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde anlässlich des 7. Oktobers 2011 in den Räumen der Geschäftsstelle in der Berliner Weitlingstraße.

Ist dieses Land, die Deutsche Demokratische Republik, wirklich verschwunden? Würde Mensch allein nur die Artikel in Zeitungen, Zeitschriften, im Internet, die Bücher, die Sendungen in Rundfunk sowie Fernsehen und die finanziellen Ausgaben der Bundesregierung für politische Stiftungen und Veranstaltungen zur angeblichen Aufarbeitung von Geschichte jenes Landes als mathematische Funktion in einem Diagramm zu Papier bringen, würde er eine Exponentialfunktion erhalten. Wie verschwunden oder gegenwärtig müssen ein Land und seine Ideen denn sein, um einundzwanzig Jahre nach dem formalen Ende eine solche Präsenz bei seinen Gegnern und bei seinen Befürwortern hervorzurufen? Fragen wir uns, nur so zur Erinnerung oder doch mit Blick auf die Zukunft, wem dieses Land nutzte und im Umkehrschluss, wer keinen Nutzen mehr aus einem sozialistischen Staat ziehen konnte und alles zu seinem Ende hätte beitragen wollen, oder müssen, bei Strafe seines eigenen Untergangs.

Die DDR war der erste deutsche Staat, dessen gewählte Vertreter nicht aus den Reihen des Kapitals stammten und erst recht nicht dessen Interessen vertraten. Es war jener Staat, in dem es keine Arbeitslosigkeit gab,in dem ein stabiles Bildungssystem von Tausenden Menschen geschaffen und weiterentwickelt wurde, ein Land, in dem neben einem bezahlbaren Sozialsystem für die Bevölkerung ein neues Gesundheitswesen entstand. Es war eine Umgebung, in dem Antifaschismus zu den ersten Pflichten jedes Menschen zählte, ein Land, von dessen Boden kein Krieg ausging, keine Bomber in andere Länder starteten, um ihre tödliche Last über Städten und Dörfern abzuwerfen. In diesem Land entstand eine neue Justiz, die nicht dem Kapital diente. Wo wir gerade bei Kapital sind: Es wurden erstmals sozialistische Produktionsverhältnisse auf deutschem Boden geschaffen - trotz des schweren Anfangs nach den Zerstörungen infolge verheerender Kriege, die vom deutschen Boden ausgingen und dorthin zurückkehrten. Trotz der Embargopolitik der westlichen Welt gegenüber dem jungen sozialistischen Staat für fast einundvierzig Jahre wurde ein Wohnungsbauprogramm auf die Beine gestellt und umgesetzt, in Dimensionen, die unter kapitalistischen Verhältnissen undenkbar sind. Wir hatten keine Obdachlosen und mussten nicht täglich eine Million Menschen aus Suppenküchen(1) versorgen. Hier müssen wir uns unter anderem an bezahlbare Mieten erinnern. Soziale Verbindungen, ob in Schulen, Betrieben oder den Hauskollektiven wurden von dem einen oder anderen nur mit einem Lächeln bewertet, heute wirkt sich aber der permanente Konkurrenzdruck nicht nur negativ auf den Arbeitsalltag, sondern auch zerstörerisch auf das gesamte Lebensumfeld aus. Auf keinen Fall an das Ende dieser Aufzählung gehören die Kulturpolitik mit der Möglichkeit, der kulturellen Betätigung für jeden Menschen, oder der Veränderung der Stellung der Frau in der Gesellschaft. Die DDR gehörte nicht erst 1973 mit der Mitgliedschaft in der UNO zu den Ländern, die sich offen mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft auseinander setzten und auch international für Veränderungen sorgten. Angesichts dieser Tatsachen wäre es absurd, sich nicht mit diesen Erfahrungen zu beschäftigen und an einem Tag, wie dem Gründungstag der Deutschen Demokratischen Republik, dem 7. Oktober, nicht mit einem kulturellen Rückblick dem Gedächtnis oder auch dem Allgemeinwissen etwas Auffrischung zu geben. Die Begegnung mit Texten und Liedern aus jener Zeit ließ die heute selbst in linken Kreisen öffentlich verleugnete Lebensfreude und den kritischen Blick auf Geschaffenes und Zukünftiges in der DDR erahnen. Zu diesen Erinnerungen zählen durchaus auch offene Wunden, in der damaligen Auseinandersetzung mit und zwischen Kulturschaffenden, die offene Fragen im Umgang und mit der Wertigkeit von Form sowie Ziel betrafen. Hier sollten gerade wir die Kraft haben, trotz der einen oder anderen persönlichen Auseinandersetzung, auch Texte von Wolf Biermann mit Sachlichkeit zu bewerten, was Kritik, auch an seinem Umgang mit anderen Menschen einschließt. Barbara Ehwald(2) als Sängerin und Schauspielerin, gemeinsam mit dem Pianisten Roman Lemberg, regte mit einer sehr vielseitigen Auswahl von frühen Liedern aus der DDR, über Pionierlieder, oder dem sehr beliebten sowjetischen Geburtstagslied für das Krokodil Gena(3), mit Texten von Brecht und Liedermachern der späteren Jahre bis zu populären Titeln aus den achtziger Jahren zum Nachdenken an. Der Schriftsteller Eberhard Panitz(4), über den der Dresdner Goldenbogen-Verlag schreibt: "Das unverrückbare Bahngleis bestimmte die Vorstellungen des Vaters von einem geregelten Leben; der Sohn sieht das anders.", vertrat einen sehr wesentlichen Teil der Kultur in unserem Land. Bücher gehörten zum täglichen Leben in unserem Staat. Eberhard Panitz muss in die Reihe der antifaschistischen Schriftsteller eingeordnet werden, die nicht nur mit Interesse, sondern mit sehr hohem eigenem Anteil an der Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft aktiv mitgewirkt haben und es nach 1990 mit ungebrochenem Engagement weiterführen. Seine Bücher lassen uns unter anderem zahlreiche Lebenswege von Frauen miterleben und nachvollziehen, um letztlich Schlussfolgerungen für weiteres Handeln zu gewinnen. Das in Auszügen vorgestellte Buch "Frauenschicksale aus der DDR" fügt sich nahtlos in diesen Gedankengang ein.

Der kulturelle Rückblick rundete sich mit dem bereits 1991 gedrehten Film "Wut der Bilder" über den 1925 geborenen und 2011 verstorbenen Maler Bernhard Heisig ab. Die Sichtweise auf seine eigene Lebensgeschichte und die der Menschen in der DDR mit dem Anspruch auf ein Leben ohne Ausbeutung, ohne Faschismus und Krieg ist zwanzig Jahre nach Entstehung dieses Rückblickes noch viel aktueller geworden. Auch hier begegnete uns die "Ballade vom preußischen Ikarus" von Wolf Biermann als Bestandteil des Films und offenbar auch im doppelten Sinne als Teil unserer eigenen Geschichte.

Die Deutsche Demokratische Republik ist mit Sicherheit von der Landkarte verschwunden, aus den Erinnerungen, Erfahrungen und Schlussfolgerungen ist sie jedoch nicht zu löschen und nicht wegzudenken. Lassen wir es uns also auch nicht nehmen, gerade weil es gegenläufige Versuche auch aus den eigenen Reihen der Linken gibt, diese Erkenntnisse für eine zukünftige Gesellschaft ohne Ausbeutung und Krieg anzuwenden und weiterzuentwickeln.


Anmerkungen:

(1) Die Tafel versorgt heute bundesweit über eine Million Menschen täglich mit Nahrungsmitteln: http://www.youpodia.de
(2) http://www.barbara-ehwald.de/
(3) http://youtube.com/watch?V=mtKhUWtz2Tg
(4) http.//wwwgoldenbogenverlag.de/buch/005.php


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Drei mal DDR-Kunst - die Schauspielerin Inge Keller auf dem Bild im Hintergrund, der Schriftsteller Eberhard Panitz und die Malerin Heidrun Hegewald am 7. Oktober 2011 in der GBM

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Rezensionen

Maria Michel

Das bleibt unverloren

Eberhard Panitz. "Frauengeschichten aus der DDR" mit einer Titelgraphik von Gitta Kettner, Schkeuditzer Buchverlag 2002, 150 S., ISBN 3-935530-14-5, 8,50 €

Atemlose Stille, als Eberhard Panitz in der Geschäftsstelle der GBM am 7.10.2011 in der Veranstaltung "Erinnerungen an ein verschwundenes Land" aus seinem kleinen Band "Frauengeschichten aus der DDR" liest.

Er hat das Buch in drei große Abschnitte geteilt: I. Bis 1989; II. Danach; III. Begegnungen des Herrn O. Immer wieder wird der Wunsch der Frauen nach Gleichberechtigung, Arbeit, Selbstfindung und Liebe deutlich und immer wieder ringen der Mut, die Kraft und die Beharrlichkeit seiner Frauengestalten Bewunderung ab. Das ist sein großes Thema.

Da ist der sachliche Bericht einer allein erziehenden Mutter, die mit unglaublicher Stärke und Selbstbewusstsein ihr Leben in die eigenen Hände nimmt, lernt, sich bildet und das Chemiewerk Schwedt mit aufbaut. Oder Frau Lachmuth - einen Vornamen erfahren wir nicht -, die in einem Brief dem Vater ihrer Söhne, der das leichtere Leben im Westen vorgezogen hat, eine deutliche Absage erteilt und klar bekennt: "Ich bin stolz darauf, was aus mir und den Söhnen geworden ist. Jeder versucht hier, so viel wie möglich zu leisten, damit sich alle so viel wie möglich leisten können, das ist Sozialismus." (S. 70) Wir begegnen Frauen wie Anita oder Wera, die zu ihrer Liebe stehen und in schweren Zeiten alles dafür opfern.Wir erfahren von einer zweiundfünfzigjährigen Schauspielerin, die als altes Eisen nach der Wende abgeschoben wird ("Vorhang zu", S. 122), von der Besitzerin eines Farbenladens, die um ihre Zukunft bangt ("Ich habe Angst", S. 134) oder von der Redaktionssekretärin, die widerwillig vor dem Chef buckeln muss ("Karierte Krawatte", S. 126). "Am bunten Luftschiff Marktwirtschaft zeigt sich drastisch, wer in die Gondel und wer abgeworfen gehört." (S. 130)

Tief beeindruckt hat mich die Erzählung von der alten Baberke, deren Lebensmittelpunkt ein bescheidenes Gartenstück - "Gutsherrenland" - zwischen Meißen und Dresden ist, das sie gepachtet hat und mit Enkel Rico als Betreiberin einer kleinen Gärtnerei liebevoll pflegt. Da zaubert die Wende die Witwe des nach dem Westen gegangenen Alteigentümers hervor, die Unsummen für das Land fordert. Billige Importe von Blumen machen die Arbeit der alten Baberke sinnlos. "Der alten Baberke hätte es fast den Todesstoß gegeben." (S. 121) Die psychischen Schäden von Stasi-Opfern werden offiziell immer wieder beklagt. Wer erwähnt die psychischen Schäden der alten Baberke? Im ICARUS, Heft 3/4 2006, wird darüber geschrieben ("Das Sterben der Unseren", S. 4). Mit "Begegnungen des Herrn O.", kurzen, treffenden Betrachtungen zur Gegenwart, endet das Bändchen.

Eberhard Panitz, 1932 in Dresden geboren, ist freischaffender Schriftsteller, Drehbuchautor, Lektor und Publizist. Reportagen, Hörspiele und Drehbücher für Film und Fernsehen zeigen, dass er in vielen Genres zu Hause ist. Am bekanntesten ist wohl seine "Unheilige Sophia", verfilmt; in der Hauptrolle Renate Richter unter Mitarbeit von Manfred Wekwerth. Außergewöhnliche Frauengestalten sind sein Thema. Mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen wurde sein Schaffen gewürdigt. Die Literaturwissenschaftlerin Christel Berger schreibt: "So etwas ist unverloren". Fassungslos lese ich in der Presse, dass ein 1982 Geborener den "Unrechtsstaat" DDR verdammt. Das ist absurd!

Eine klare Sprache, die weder Schnörkel noch Pathos braucht, die eine tiefe Menschlichkeit und Mitgefühl auszeichnet, lässt die Frauen und ihre Schicksale so überzeugend erscheinen. Die Zuhörer, Bürger des "verschwundenen Landes", erkannten Begebenheiten aus ihrem eigenen Leben, die sie nie missen wollen.

Raute

Rezensionen

Peter Veleff

Ein wichtiges Buch zur Zeitgeschichte des Kalten Krieges

R. Rupp, K. Rehbaum, K. Eichner: "Militärspionage - Die DDR-Aufklärung in NATO und Bundeswehr", Berlin 2011 edition ost, ISBN 978-3-360-01828-1, 14,95 €

Vor 60 Jahren überfiel die Wehrmacht des damaligen "Deutschen Reichs" nach anderen Ländern völlig überraschend auch die Sowjetunion. Sie marschierte in aggressiver Eroberungsabsicht bis zum Kaukasus und an die Wolga. Die überfallenen Völker der Sowjetunion erlitten nebst unermesslichem weiterem Leid einen Blutzoll von 28 Millionen (!) Toten bis die Rote Armee - ab 1944 zusammen mit den West-Alliierten USA, England und Frankreich - die deutschen Truppen zurückgeworfen und auf deutschem Boden endlich besiegt hatte.

Folgen dieses Krieges waren eine Teilung Deutschlands durch die Siegermächte auf der Konferenz von Jalta und die Bildung von zwei ideologisch unterschiedlichen Machtblöcken. Aus dem einstigen Deutschen Reich wurden zwei deutsche Staaten, auf beiden Seiten geprägt durch die gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen der jeweiligen Besatzungsmacht.

Russland hatte im zweiten Weltkrieg bereits zum zweiten Mal feindliche westliche Aggressoren an den Pforten vor Moskau abzuwehren. Es hatte im mörderischen Kampf gegen die deutschen Truppen auch den größten Blutzoll aller Kriegsbeteiligten erlitten, nämlich, nach dem schweizerischen Historiker Dr. H.R. Fuhrer, innert nur eines einzigen Kriegsmonates etwa gleich viele Tote zu beklagen wie die US-Truppen während des ganzen Krieges. Erstaunt es, dass auf der Ostseite des späteren Eisernen Vorhanges nach dem Sieg über Deutschland die feste Entschlossenheit bestand, dass sich so etwas nie mehr ereignen dürfe, dass einem zukünftigen Aggressor nie mehr eine Überraschung gelingen dürfe und dass deshalb auf der eigenen Seite alles vorgekehrt werden müsse, um eine solche nie mehr zuzulassen? Keiner Begründung benötigt die Notwendigkeit des Aufbaues eines effizienten und innerhalb der Länder der eigenen Machtsphäre koordinierten Auslands-Nachrichtendienstes, in der DDR nach sowjetischem Vorbild aufgebaut und (nebst der militärischen Aufklärung der NVA) benannt "Hauptverwaltung Aufklärung (HVA)". Deren fachliche Kompetenz und Effizienz war und ist in Ost und West unbestritten.

Im neu vorliegenden Buch schildern die Autoren sowohl den Auftrag als die Erfüllung dieses Auftrages, insbesondere die geheimdienstlichen Erfolge der HVA gegenüber dem potentiellen Hauptgegner des östlichen Machtblockes, also der NATO und speziell der Deutschen Bundeswehr.

Das Besondere an diesem Buch ist, dass es nicht von irgendwelchen Leuten geschrieben wurde, welche die Geschehnisse nicht aus eigener Wahrnehmung kennen, sondern von solchen, welche selbst zu den Hauptträgern der operativen Tätigkeit der HVA gehörten, also aus eigenem, unverfälschtem Wissen schöpfen. Sie gehören zu den sehr wenigen Zeitzeugen des Kalten Krieges, welche praktisch alle Absichten, Einschätzungen, Planungen, Vorgänge und geheimen Dokumente der NATO und der Bundeswehr bestens kannten. So weil sie diese in der HVA selbst professionell zu beschaffen oder auszuwerten hatten. Ihre Darstellungen der erzielten Aufklärungserfolge vermitteln daher Einblick in zahlreiche, zum Teil im Westen noch immer unter Verschluss gehaltene geheime Vorgänge in NATO und Bundeswehr im Kalten Krieg, wie sie der Öffentlichkeit - offenbar aus politischen Gründen - bisher nicht zugänglich waren.

So ist auch heute - mehr als 20 Jahre nach der offiziellen Beendigung des Kalten Krieges! - eine Einsicht in das zentral wichtige NATO-Dokument MC 161 auch für Historiker noch immer verschlossen. Für eine historische Aufarbeitung des Kalten Krieges aber von besonderer Bedeutung, weil in diesem Dokument, in der NATO ständig nachgeführt, die Erkenntnisse und Einschätzungen der realen Möglichkeiten und Absichten des östlichen Machtblockes durch die NATO-Organe zuhanden der obersten, politisch entscheidenden Regierungen laufend dokumentiert wurden. Von politisch besonderer Brisanz zudem auch darum, weil, gemäss den Angaben der auch über den Inhalt des hochgeheimen Dokumentes MC 161 genau orientierten Zeitzeugen der HVA, aus dem umfangreichen Text hervorgeht, dass die westlichen Entscheidungsträger wussten, dass der gegnerische "Warschauer-Pakt" in Wirklichkeit weder beabsichtigte noch kräftemäßig in der Lage war, den westlichen Militärblock überraschend anzugreifen oder gar zu überrennen, so wie es im Westen in der Öffentlichkeit stets dargestellt wurde. Die Autoren bezeichnen deshalb den Kalten Krieg nicht nur als gegenseitige gigantische Absichts-Spiegelung (so der vorn erwähnte Schweizer-Historiker Dr. Fuhrer im Band XI der Geschichte des schweizerischen Generalstabes) sondern als eine - und zwar auf beiden Seiten betriebene! - gegenseitige "Absichtslüge" (Oberst Rehbaum). Stimmt diese Beurteilung, dann war das gegenseitige Hochtreiben der Rüstungsspiralen auf beiden Seiten doppelter menschlicher Irrsinn.

Eine Überprüfung dieser starken Aussage Rehbaums, notwendig durch seriöse Historiker beider Seiten, benötigt nun dringend der Freigabe der Einsicht in das Dokument MC 161 im NATO-Archiv in Brüssel. Sie ist nach 20 Jahren überfällig!

Zusammenfassend halte ich das neu vorliegende Buch (es ist als Band 6 der Geschichte der HVA im Handel) für einen wichtigen und nötigen Beitrag zur Zeitgeschichte. Es enthält eine Vielfalt von neuen Fakten zum Kalten Krieg. Und: wo es sich um persönliche Meinungen und/oder persönlich-subjektive Wertungen durch die Autoren handelt, sind diese als solche für den Leser zwecks eigener Meinungsbildung aus dem Text gut ersichtlich.

Als Schweizer bin ich weder befugt noch kompetent, mich in die schwierigen innerdeutschen Auseinandersetzungen rund um die (erst zum Teil bewältigte?) innere Wiedervereinigung Deutschlands einzumischen. Zu einer seriösen historischen Aufarbeitung des Kalten Krieges gehören aber sicherlich Angaben und Beurteilungen von Zeitzeugen nicht nur des Westens sondern auch des Ostens. Politisch oder noch immer ideologisch motivierte Versuche, nicht genehme Aussagen oder Publikationen einfach zu unterdrücken, sind nicht geeignet, sich der objektiven Wahrheit zurückliegender Geschehnisse mindestens anzunähern. Es ist deshalb nicht verständlich, warum auch nach zwei Jahrzehnten immer noch missliebigen Zeitzeugen aus der DDR erschwert oder, begleitet von persönlichen Diffamierungen, verhindert werden soll, auch deren Ausführungen und Meinungen öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Weder eine plötzliche Sperrung eines bereits gemieteten Saales (so geschehen für eine Buchvorstellung des hier besprochenen Buches), eine grundsätzliche Verweigerung von Lokalitäten für Veranstaltungen (eine von ehemaligen Angehörigen der HVA beabsichtigte Tagung musste 2007 von Berlin in eine dänische Universität verlegt werden!), eine Beschimpfung oder gar Niederbrüllen von Andersdenkenden in Diskussionen, noch die Verweigerung der Benützung und Akteneinsicht in ehemals eigene Akten aus der Zeit der DDR im BStU-Archiv für frühere Staatsfunktionäre sind einer notwendigen geschichtlichen Wahrheitsfindung hilfreich.

Raute

Marginalien

Echo

Düsteres Bild

So ist ein Beitrag im SPIEGEL 28/2011 überschrieben, in dem auch über die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde und ihren Anteil an den "concluding observations", die wir in ICARUS 3/2011 im vollen Wortlaut dokumentierten, berichtet wird. Könnte man schreiben, aber das Wort "berichtet" trifft es natürlich nicht. Der Text ist vielmehr ein schönes Beispiel dafür, was gemeint ist, wenn bürgerliche Medien "sachlich" und "getrennt in Bericht und Kommentar" ihren Part in der öffentlichen Meinungsbildung spielen: "Ein Bündnis aus ehemaligen Psychiatriepatienten, Intersexuellen und DDR-Veteranen brachte die Uno dazu, Deutschland ein vernichtendes Zeugnis auszustellen ... Auch die wirtschaftlichen und sozialen Zustände in Ostdeutschland werden in dem Bericht scharf gerügt. Die dazu nötigen Informationen hat die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde, kurz GBM, beigesteuert. Unter den Mitgliedern des Vereins sind viele ehemalige DDR-Funktionäre, auch manch früherer Stasi-Bediensteter. Sie haben es der Bundesrepublik bis heute nicht verziehen, dass ihre Renten gekürzt werden, nur weil sie zu DDR-Zeiten ihre ostdeutschen Mitbürger drangsaliert haben sollen. In der Öffentlichkeit fällt die Truppe sonst dadurch auf, dass sie Fidel Castro einen Menschenrechtspreis verlieh und die Verdienste der Deutschen Demokratischen Republik in Leserbriefen preist. Um so schöner für die Genossen, dass es ihnen gelungen ist, die Uno-Leute auf ihre Seite zu ziehen. Der Ausschuss sei besorgt über die "Diskriminierung", die bei der Behandlung von "Versorgungsansprüchen ehemaliger Minister und stellvertretender Minister der DDR zum Ausdruck kommt", heißt es in dem Bericht. Das entspricht genau der Formulierung, die Harald Nestler, ehemals Handelsrat der DDR in der Volksrepublik China, bei seinem Auftritt vor der Uno in Genf vorgeschlagen hatte.

Eigentlich erstaunlich, dass nur zwei Dutzend Lobbygruppen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, die Bundesrepublik bei der Weitgemeinschaft anzuschwärzen. Kritische Nachfragen durch die Unovertreter sind nicht zu befürchten. Die unter anderem aus China und Weißrussland stammenden Ausschussmitglieder schienen, so ein Teilnehmer, ehrlich empört darüber zu sein, wie die Menschenrechte in der Bundesrepublik mit Füßen getreten werden.

Als einen Tag später der aus dem Bundessozialministerium angereiste Staatssekretär Andreas Storm vor dem Ausschuss auftrat, stand das negative Urteil deshalb schon fest ..."


Gute Nachricht

Zu meinem Beitrag in ICARUS 3/2011 über den jüdischen Arzt Dr. Tuch habe ich Post bekommen. Anders, als der von mir angeführte Dr. Udo Schlagen vom Institut für Geschichte der Medizin der FU Berlin schreibt, verliert sich Dr. Tuchs Spur doch nicht. Er starb 63-jährig am 25.4.1954 in Berlin-Pankow. Seine nichtjüdische Ehefrau hat ihn vor dem Schicksal der Deportation durch die Faschisten bewahrt. Seine letzte Wohnadresse in Pankow war die Lindenpromenade 32. Sein Grab ist auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Es hat mir Freude gemacht, meine Beitrag so korrigieren zu können.

Kurt Fürst, Berlin

Raute

Aphorismen

Wer von Freiheit spricht, spricht stets von jemandes Freiheit und in der Regel von seiner eigenen.
Peter Hacks


Bildung wird nicht in stumpfer Fron und Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit ..., man erzwingt sie nicht, man atmet sie ein; verborgene Werkzeuge sind ihretwegen tätig, ein geheimer Fleiß der Sinne und des Geistes wirbt stündlich um ihre Güter.
Thomas Mann


Alle großen Dummheiten geschehen am Vormittag: der Mensch sollte erst erwachen, wenn die Amtsstunden zu Ende sind. Er trete nach Tisch ins Leben hinaus, wenn es frei von Politik ist.
Karl Kraus


Religion gilt dem gemeinen Manne als wahr, dem Weisen als falsch und dem Herrschenden als nützlich.
Seneca


"Armut", heißt es wohl, "ist keine Schande", aber es heißt nur so. Denn sie ist den Besitzenden höchst unheimlich, ein Makel, halb und halb ein unbestimmter Vorwurf, im ganzen also sehr widerwärtig.
Thomas Mann


Seine e-mail-Adresse ist bekannt: herr@cum spiritutuo.web., aber er antwortet nicht. Weiß der Teufel, wo er steckt.
Klaus Georg


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(Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)

Ralf Alex Fichtner, Finelinerzeichnung, laviert, 14,8 x 21 cm


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Zu unserem Titelbild

Willi Neubert "Hommage a Picasso"

Ein Maler, der einen anderen Maler ehrt, das ist nicht selten in der Kunst. Zumeist geht der Geehrte in das Bild, das ihm huldigen soll, als unverkennbares Bild-Zitat ein. Picasso selbst hat uns so eine ganze Ahnengalerie von ihm geachteter Vorbilder hinterlassen.

ICARUS hat das Jahr 2011 mit so einer hommage begonnen. Auf dem Titel von Heft 1/2011 ehrte Nils Burwitz gleich zwei seiner Wahlverwandten: Josep Renau, den Fotomonteur, Maler und kommunistischen Kulturpolitiker und dessen Landsmann aus dem 17. Jahrhundert Diego Velasquez. Er erinnert an den spanischen Beitrag zur Weltkultur, den Velasquez leistete, und an die Bewahrung dieses humanistischen Erbes durch die spanische Republik, in deren Auftrag Josep Renau für die Sicherheit dieses Erbes Sorge trug. Es ist eben auch der Renau, der 1937 seinem Landsmann Pablo Picasso die Bitte der spanischen Volksfrontregierung überbrachte, das Verbrechen der Faschisten in Guernica für alle Zeiten mit einem Bild im Gedächtnis der Menschheit zu bewahren.

Willi Neubert nun malt die "Hommage a Picasso", ehrt damit aber nicht den Malerstar, nicht die Kunstmarktgröße, sondern seinen Genossen. Picasso bleibt auf diesem Bild der kühne Erfinder bis dahin undenkbarer Formenwelten. Aber in Picassos Bildern löst sich die Welt nicht auf, wird nicht zum Ungefähren, zum Meditationsobjekt, zum Alles- und Nichts-Bedeutenden, zum Konstrukt. Auf Picassos Leinwänden entstehen "Weltanschauungen", erkennbare Urteile über Weltzustände. Neuberts Ehrung gilt dem politischen Genossen Maler, der das Tabu der bürgerlichen Kunstanständigkeit bricht, wonach "ein politisch Lied ein garstig Lied" ist, das in der Kunst nichts zu suchen habe. Ein für allemal habe sich der Künstler nur mit der Kunst zu befassen. Und was Kunst ist, entscheidet der Käufer, der Playboy, der Schokoladenfabrikant und der Kunsthändler.

Picasso hat sich das Recht zu malen auch gegen diesen Markt genommen. Neubert schreibt es mit Worten in dieses Bild. "Guernica" ist nicht das Bild irgendeiner metaphysischen Macht, des so beklagenswerten Bösen, im Leben der Menschen. Es ist ein genau benannter Feind, den Picasso und Neubert sichtbar machen. Es ist wohl auch der gemeinsame Feind, der ihnen gegenüber steht, das Bürgertum in seiner krassesten Herrschaftsform, dem Faschismus.

Im Französischen gibt es eine geläufige Wendung "einer sei dumm wie ein Maler". Sicher keine Wahrheit, aber es gibt viele Künstler, die stolz darauf sind, dass sie nicht wissen, was sie tun. Wo Picasso sagte "der Faschismus", da malten andere allgemeines Unbehagen am Krieg.

Neubert feiert mit seiner hommage den Künstler, den Denken und Fühlen gleichermaßen zum Schaffen drängen. Und ein wenig ist dieses Bild auch Auseinandersetzung mit der Kunstdiskussion in der frühen DDR, in der intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Bild sich immer mit abbildgetreuer Wiedergabe des Bildgegenstandes zu verbinden habe, weil nur die die Erschließung des Sinngehaltes gewährleisten könnte. Bei Picasso aber war zu erfahren, dass die violett-graue und schwarze Unfarbe in "Guernica" zur verständlichen Bildsprache gehörte, dass verstörende Formrudimente Wahrheiten über die Welt sagen. Neubert sagt mit diesem Bild auch Danke, weil da ein Anreger war, den eigenen Weg zu finden.

Peter Michel sagt an anderer Stelle dieses Heftes, warum Picasso bei uns ist, warum er für viele DDR-Maler bedeutsam war.


(Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)

- Pablo Picasso, Ausschnitt aus "Guernica", 1937 Öl/Lw.


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Ikarus - der Lexikoneintrag

Berblinger, Albrecht Ludwig, gen. Schneider von Ulm, * 24.6.1770, † 28.1.1829,
dt. Flugpionier. Konstruierte 1811 einen halbstarren Hängegleiter, mit dem er bei der Vorführung über der Donau am 31.5.1811 abstürzte.

Aus: Das neue Dudenlexikon, Mannheim, 1991

Raute

Unsere Autoren:

Hans Jürgen Falkenhagen - Übersetzer, Potsdam
Klaus Georg - Autor, Berlin
Lühr Henken - AG Friedensforschung, Kassel
Wolfgang Konschel - Staatsrechtler, Berlin
Adolf Eduard Krista - Jurist, Worbis
Klaus-Jürgen Künkel, Dr. - Agrarwissenschaftler, Müncheberg
Heinz Langer - Botschafter a.D., Berlin
Günter Meier, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Maria Michel - Kunsterzieherin, Berlin
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Harald Nestler - Handelsrat a.D., Übersetzer, Berlin
Brigitte Queck - Diplomstaatswissenschaftlerin, Potsdam
Wolfgang Richter, Prof. Dr. - Philosoph, Friedensforscher, Wandlitz
Erich Rübensam, Prof. Dr. - Agrarwissenschaftler, Waldsieversdorf
Horst Schneider, Prof. Dr. - Historiker, Dresden
Werner Schneider, Dr. - Wirtschaftswissenschaftler, Berlin
Jens Schulze, Dipl. ing. - Berlin
Peter Strutynski, Prof. Dr. - Politikwissenschaftler, Kassel
Peter Veleff, Dr. - Jurist, Zürich


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Titelbild:
Willi Neubert "Hommage a Picasso", Öl/Lw.
2. Umschlagseite
Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung
Rückseite des Umschlags:
Gedenktafel für den "Schneider von Ulm" Albrecht Ludwig Berblinger

Abbildungsnachweis:
Archiv Przyklenk S. 3, 11, 12, 17, 19, 21, 26, 27, 29, 31, 38, 39, 42, 43 (2x), 44 (2x), 45 (2x), 46 (2x), Rücktitel
Eulenspiegel-Verlag S. 22, 30
Ralf-Alex Fichtner S. 52
Rudolf Grüttner S. 47
Günter Meier S. 35 (2x), 36, 37 (2x)
Willi Neubert, Nachlass S. 22 (2x), 33
Jens Schulze S. 48
Mario Schwennicke Titelabbildung
Gabriele Senft S. 40
Verlag edition ost S. 50
Ulli Wittich-Großkurth S. 34

Raute

Impressum

Herausgeber: Gesellschaft zum Schutz von
Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
Weitlingstraße 89, 10317 Berlin
Telefon: 030/5578397
Fax: 030/5556355
Homepage: http://www.gbmev.de
E-Mail: gbmev@t-online.de
V.i.S.d.P.: Wolfgang Richter
Begründet von:
Dr. theol. Kuno Füssel,
Prof. Dr. sc. jur. Uwe-Jens Heuer,
Prof. Dr. sc. phil. Siegfried Prokop,
Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter

Redaktion:
Dr. Klaus Georg Przyklenk
Puschkinallee 15A, 15569 Woltersdorf
Tel.: 03362/503727
E-Mail: annyundklausp@online.de

Layout: Prof. Rudolf Grüttner
Satz: Waltraud Willms

Redaktionsschluss: 21.11.2011

Verlag:
GNN Verlag Sachsen/Berlin mbH Schkeuditz
ISBN 978-3-89819-374-0

Die Zeitschrift ICARUS ist das wissenschaftliche und publizistische Periodikum der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.; sie erscheint viermal jährlich und kann in der Geschäftsstelle der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin abonniert bzw. gekauft werden. Ihr Bezug ist auch unter Angabe der ISBN (siehe weiter oben) über den Buchhandel möglich. Der Preis beträgt inkl. Versandkosten pro Heft 4,90 EUR für das Jahresabonnement 19,60 EUR.

Herausgeber und Redaktion arbeiten ehrenamtlich. Die Redaktion bittet um Artikel und Dokumente, die dem Charakter der Zeitschrift entsprechen. Manuskripte bitte auf elektronischem Datenträger bzw. per E-Mail und in reformierter Rechtschreibung. Honorare können nicht gezahlt werden. Spenden für die Zeitschrift überweisen Sie bitte auf das Konto 13 192 736, BLZ 10050000 bei der Berliner Sparkasse. Helfen Sie bitte durch Werbung, die Zeitschrift zu verbreiten.


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Quelle:
ICARUS Nr. 4/2011, 17. Jahrgang
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2012