Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IMI/221: Die Erneuerung der NATO auf dem Balkan


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
Broschüre "Kein Frieden mit der NATO - Die NATO als Waffe des Westens"

Die Erneuerung der NATO auf dem Balkan

Von Christoph Marischka


Der Balkan - eigentlich ein Gebirge - sei hier als die Halbinsel verstanden, die neben den Staaten, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgingen, auch Albanien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Teile der Türkei umfasst. Es geht also um einen Raum, in dem Orient und Okzident, Europa und Arabien, Christentum und Islam historisch immer wieder aufeinander trafen, ineinander übergingen und sich zeitweise bekämpften. Dies ist zumindest einer der Hintergründe, weshalb der Balkan wiederholt von Europa aus mit äußerst negativen Konnotationen der Bedrohung versehen wurde, geopolitisch heute als Inbegriff von ethnisch aufgeladener, konflikthafter Kleinstaaterei gilt. Eine aktuelle Variante dieser Tendenz, den Balkan als Brücke für über Europa hereinbrechende Gefahren zu beschreiben, ist der Begriff des "Kriminalitätskorridors", wie er in Publikationen des BND und deutscher Strafverfolgungsbehörden verwendet wird.

Hier soll es um das Engagement der NATO auf dem Balkan seit 1989 gehen. Entsprechend nehmen Griechenland und die Türkei, welche bereits seit 1952 Mitglieder der NATO sind, im Folgenden einen wesentlich kleineren Raum ein als Bulgarien, Rumänien und Albanien, die erst in jüngster Zeit Mitglieder der NATO wurden bzw. unmittelbar vor der Aufnahme stehen. Intensiver noch als diese, werden die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens behandelt, von denen einige sich nur mithilfe der Gewalt der NATO von der Belgrader Zentralregierung lösen konnten.

Von einer vorausplanenden Gesamtstrategie der NATO, der ihr damaliger Raison d'être mit der Auflösung des Warschauer Paktes abhanden kam, gegenüber dem Balkan zu sprechen, ist nicht möglich. Zweifellos aber kann man sagen, dass sich die Gesamtstrategie der neuen NATO kontinuierlich und wesentlich mit ihrem Engagement auf dem Balkan entwickelt hat. Anstatt einer Auflösung strebte das Militärbündnis die Ausdehnung nach Osten an und entwickelte hierfür mit dem Programm "Partnerschaft für den Frieden" (PfP) 1994 ein wichtiges und wegweisendes Instrument. Die ersten Länder, die bis Februar 1994 im Rahmen der PfP in eine engere Kooperation mit der NATO einwilligten, waren Rumänien, Litauen, Polen, Estland, Ungarn, Ukraine, Slowakei, Bulgarien, Lettland und Albanien. Jugoslawien verblieb als einziges Land auf dem Balkan mit einer engeren Anbindung an Russland als an die NATO. In den folgenden Jahren unterstützte die NATO die Unabhängigkeit der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken und der Provinz Kosovo von Belgrad und setzte diese zum Teil auch militärisch durch. Heute sind ausnahmslos alle Staaten [1] des Balkans entweder Mitglieder der NATO oder der PfP.

Christopher Bennett, Herausgeber der NATO-Review und zuvor Experte der International Crisis Group für den Balkan, beschrieb diese Entwicklung 2004 wie folgt: "Während sich der Balkan früher politisch anscheinend in eine ganz andere Richtung bewegte als die anderen Regionen des europäischen Kontinents, ist die Integration in die euro-atlantische Staatengemeinschaft heute ein realistisches Ziel aller Staaten und Entitäten - und dies ist weitgehend auf die Sicherheitspräsenz des Bündnisses zurückzuführen. Heute sind sowohl Bosnien und Herzegowina als auch Serbien und Montenegro, die noch vor kaum mehr als fünf Jahren Ziel lang anhaltender Luftangriffe der NATO waren, Beitrittskandidaten des Bündnisprogramms der Partnerschaft für den Frieden (PfP). Albanien, Kroatien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien streben die NATO-Mitgliedschaft an und stellen bereits Kontingente für NATO-Operationen außerhalb des euro-atlantischen Raumes zur Verfügung."[2] Wenn auch selbst im Jahr 2000 noch von keiner offiziellen und erklärten Strategie der NATO ausgegangen werden kann, den gesamten Balkan zu unterwerfen, so gab es spätestens zu diesem Zeitpunkt zumindest innerhalb der NATO den erklärten Willen, eine solche geopolitische Situation herbeizuführen. So berichtete Willy Wimmer, Bundestagsabgeordneter der CDU und bis 1992 Staatssekretär im Verteidigungsministerium, über eine sicherheitspolitische Konferenz in Bratislava vom April 2000, auf der amerikanische NATO-Vertreter geäußert hätten, "der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei geführt worden, um eine Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem 2. Weltkrieg zu revidieren [womit Jugoslawien dem sowjetischen Einflussbereich zufiel]. Eine Stationierung von US-Soldaten habe aus strategischen Gründen dort nachgeholt werden müssen [...] Es gelte, bei der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung die räumliche Situation zwischen der Ostsee und Anatolien so wiederherzustellen, wie es in der Hochzeit der römischen Ausdehnung gewesen sei."[3] Dieses Ziel wurde einerseits durch eine imperiale Militärbürokratie, andererseits durch handfeste Angriffskriege erreicht und spiegelt damit das Wesen der neuen NATO wider.


Imperiale Militärbürokratie - Partnerschaft für den Frieden

Das Programm Partnerschaft für den Frieden umfasst heute 24 Staaten, darunter die ehemaligen jugoslawischen Republiken Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Slowenien, Kroatien und Serbien, aber auch das an den Iran grenzende Aserbaidschan, die zentralasiatischen Länder Tadschikistan, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan sowie ehemals neutrale Länder wie die Schweiz, Österreich und Irland. Im Rahmen der PfP finden jährlich rund 1.500 Veranstaltungen statt, hierzu gehören neben gemeinsamen Militärübungen v.a. Seminare und Workshops. PfP-Mitgliedstaaten dürfen Vertreter ihrer Armeen an den zehn NATO-Offiziersschulen ausbilden lassen, von denen die Hälfte in NATO- und die andere Hälfte in PfP-Staaten eingerichtet wurden. Sie können - mit Einwilligung der NATO - auch Soldaten als Beobachter in die NATO-Kommandozentralen entsenden. Das Programm beinhaltet 24 Kooperationsbereiche, zum Beispiel einen Partnerschafts-Aktionsplan (PAP) Defense Institutions Building (DIB), über welchen die staatlichen Strukturen zur Kontrolle der Streitkräfte - von den für den Rüstungsexport und die Strategieplanung zuständigen Behörden bis hin zu den Verteidigungsministerien und Parlamenten - der NATO angepasst werden sollen.[4] Ein weiterer zentraler Partnerschaftsaktionsplan betrifft den Kampf gegen Terrorismus (PAP-T). In dessen Rahmen wird der Austausch geheimdienstlich gewonnener Informationen ebenso forciert wie der Aufbau spezieller Einheiten zur Terroristenjagd im Inneren. Auch Ausbildungsprogramme für den Grenzschutz und Gesetzgebungsprozesse, welche die Finanzierung von als terroristisch eingestuften Vereinigungen unterbinden sollen, finden im Rahmen des PAP-T statt. Weitere Kooperationsbereiche betreffen u.a. den militärischen Katastrophenschutz und die Rüstung. Auf die militärischen Beschaffungen nimmt die NATO insbesondere über den Planning and Review Process (PARP) Einfluss. Hier definiert die NATO, welche Fähigkeiten die jeweilige Armee entwickeln und welche Waffensysteme sie anschaffen sollte und führt regelmäßige Beurteilungen der erzielten Fortschritte durch. Oberstes Ziel ist es dabei, die Armeen der PfP-Staaten "interoperabel" zu machen, damit sie zukünftig problemlos in NATO-Einsätzen "Out-of-Area" eingesetzt werden können. Ein praktischer Nebeneffekt besteht darin, dass diese Staaten sich nur noch bzw. überwiegend mit Rüstungsgütern aus NATO-Staaten eindecken und somit diese Industrie stärken und durch höhere Verkaufszahlen die Kosten für Forschung und Entwicklung reduzieren.

Aus den angestrebten Kooperationsbereichen wird für jedes Partnerland ein individuelles Partnerschaftsprogramm (IPP) zusammengestellt, das zu einem Partnerschaftsaktionsplan (IPAP) ausgeweitet werden kann. Das PfP-Programm ist bewusst flexibel gehalten, d.h. nicht jeder Staat muss an allen oder denselben Aktionen teilnehmen und sich im selben Maße engagieren. Es erhält auch nicht jeder Staat dieselben Angebote und Rechte. Dies unterstreicht den imperialen Charakter einer NATO ohne klare Grenzen und es bringt die PfP-Staaten in dauerhafte Abhängigkeitsverhältnisse. Die NATO ist bei einem Angriff auf einen Partnerstaat - im Gegensatz zu einem Mitgliedsstaat - nicht zu einem militärischen Beistand verpflichtet, auch die Verteilung von Geldern aus dem PfP-Treuhandfond und die eventuelle Aufnahme in die NATO kann so flexibel geregelt und von Konditionalitäten abhängig gemacht werden. Diese asymmetrischen Beziehungen erklären sicherlich mindestens zum Teil, weshalb Bulgarien und Rumänien - anders als viele ältere NATO-Mitglieder - zahlreiche US- und NATO-Militärbasen auf ihrem Territorium einrichten ließen und fast alle neuen NATO-Mitglieder und Partnerstaaten auf dem Balkan (mit Ausnahme von Serbien und Montenegro) sich an dem NATO-Einsatz in Afghanistan und dem US-geführten Krieg im Irak beteiligt haben (Bosnien und Herzegowina und Albanien haben nur in den Irak, Kroatien hat nur nach Afghanistan Truppen entsandt). Auch gewährten die Bewerberstaaten bei den Einsätzen auf dem Balkan der NATO stets Überflugrechte. Von den USA wurde außerdem mehrfach bekannt, dass sie informell als Bedingung für eine NATO-Mitgliedschaft von dem betreffenden Staaten forderten, US-Bürger als immun gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof anzuerkennen.[5]


Der Membership Action Plan

Nachdem Polen, Tschechien und Ungarn 1999 der NATO direkt aus dem PfP-Programm heraus beigetreten waren, entwickelte die NATO mit dem Membership Action Plan (MAP) ein weiteres Programm, das die Staaten des Balkan und des Baltikums auf die Mitgliedschaft vorbereiten sollte. Auch der MAP beinhaltet zahlreiche Seminare, Übungen und Lehrgänge. Darüber hinaus müssen die MAP-Staaten jährlich einen Bericht verfassen, in dem die politischen und militärischen Umstrukturierungen, die im nächsten Jahr geplant sind, beschrieben werden. Ein hochrangig besetztes Gremium der NATO wird diesen Bericht dann beurteilen, auf mehreren Treffen mit den politisch und militärisch Verantwortlichen Änderungsvorschläge einarbeiten und einmal jährlich die erreichten und verfehlten Fortschritte schriftlich festhalten.

Die Anpassungen, welche durch die MAP-Staaten durchgeführt werden müssen, gliedern sich in die fünf Bereiche Politik und Wirtschaft, Verteidigung und Militär, Ressourcen, Sicherheitsaspekte und rechtliche Aspekte. Auch im MAP ist allerdings festgehalten, dass sich selbst bei Erfüllung aller Forderungen aus der Teilnahme keinerlei Anspruch auf eine Aufnahme oder auch nur einen konkreten Zeitplan für diese ergibt. Letztlich brachte die NATO die Bedingungen für eine Mitgliedschaft gegenüber Bosnien und Herzegowina 2001 schon bezüglich der PfP sehr deutlich auf den Punkt, als sie schrieb: "Mitgliedschaft verlangt, dass Partnerstaaten eher Zulieferer als Konsumenten von Sicherheit sein sollten."[6]

Als Voraussetzung hierfür gelten ein ausreichender Verteidigungshaushalt, die Ausrichtung der Armee auf Interventionen und die damit einhergehende Professionalisierung der Soldaten (Abschaffung der Wehrpflicht) sowie moderne und mit anderen NATO-Staaten kompatible Waffensysteme.


Weitere Programme zur militärischen Integration

Innerhalb der NATO-Struktur wurde 1999 die South East Europe Initiative (SEEI) gegründet. Geleitet wird diese von einer Steuerungsgruppe, denen Vertreter der Balkanstaaten, einiger europäischer NATO-Mitgliedsstaaten sowie Österreichs und der Schweiz angehören. Die SEEI erarbeitet Papiere, in denen "Chancen und Risiken regionaler Sicherheit" (Common Assessment Papers on Regional Security Challenges and Opportunities, SEECAP) erörtert und gemeinsame Maßnahmen vorgeschlagen werden.[7] Zu diesen Maßnahmen gehören wiederum gemeinsame Übungen, Austauschprogramme und die Zusammenarbeit beim Grenzschutz, die NATO macht im Rahmen der SEEI aber auch Empfehlungen bezüglich der Banken- und Sozialpolitik.

Der von NATO und USA initiierte Kooperationsprozess südosteuropäischer Verteidigungsministerien (Southeast European Defense Minister Process, SEDM) wurde bereits 1996 gegründet und umfasst mittlerweile neben den Balkanstaaten, den USA, Italien, Griechenland und der Türkei auch die Ukraine sowie - mit Beobachterstatus - Serbien, Moldawien und Georgien. 1999 beschlossen die beteiligten Verteidigungsminister die Aufstellung gemeinsamer Eingreifkräfte (SEEBRIG) und diese spielten auch eine entscheidende Rolle bei der Ausgestaltung einer gemeinsamen Schwarzmeerflotte der NATO-Partner (BLACKSEAFOR). Auf dem NATO-Gipfel 2004 in Istanbul wurde beschlossen, die regionale Kooperation auch auf die für die Innere Sicherheit und die Geheimdienste zuständigen Ministerien auszudehnen, also alle mit "Sicherheit" beschäftigten Minister an einen Tisch zu bringen, um zukünftig auch Themen wie Grenzsicherheit, Drogenbekämpfung und Katastrophenhilfe unter dem Einfluss der NATO gemeinsam zu bearbeiten.[8]

Neben der PfP und dem MAP existieren weitere Programme und Prozesse, welche die militärische Kooperation vereinfachen und den Einfluss der NATO auf die Bewerberstaaten verbessern sollen. So begründeten die USA 2003 gemeinsam mit Albanien, Kroatien und Mazedonien die Adriatic Charter Cooperation, mit dem Ziel, die NATO-Mitgliedschaft der drei Balkan-Staaten zu unterstützen. Hierdurch gewannen die USA aber auch einen offiziellen und unmittelbareren Kontakt zu den Bewerberstaaten, der sich wiederum in einer Vielzahl von gemeinsamen Konferenzen etc. gestaltete, die sich nicht nur auf Sicherheitsaspekte beschränkten, sondern auch Fragen des Freihandels und Infrastrukturprojekte betrafen. Alle drei Staaten stehen mittlerweile unmittelbar vor der Mitgliedschaft, Kroatien und Albanien werden vermutlich im Frühjahr 2009 aufgenommen, im Falle Mazedoniens steht der Mitgliedschaft nur noch ein absurder Namensstreit mit Griechenland im Weg. Im Sommer 2008 hat das US-Außenministerium daher Bosnien und Herzegowina sowie Montenegro eingeladen, an der Zusammenarbeit teilzunehmen.

Ebenfalls 2008 wurde im Rahmen der Adriatic Charter Cooperation die Civil Alliance 08 begründet, die unter Einbeziehung von "Nicht-Regierungs-Organisationen" den "zivilgesellschaftlichen Dialog" innerhalb der Beitrittskandidaten fördern soll. Dies ist aus Sicht der NATO auch bitter nötig, denn in vielen Balkan-Staaten ist die NATO-Mitgliedschaft sehr unpopulär. Die Befürchtungen bestehen durchaus berechtigt darin, dass mit der Mitgliedschaft US- und NATO-Basen in den Ländern entstehen werden und dass die Soldaten aus den jeweiligen Ländern an Kampfeinsätzen wie im Irak oder Afghanistan teilnehmen müssen, deren Sinn der Bevölkerung nicht klar ist.

Eine engere Anbindung der zukünftigen Mitgliedsstaaten versuchen die USA auch durch das IMET-Programm (International Military Education and Training) zu erreichen, einer Art Austauschprogramm für ausländische Soldaten, die an US-amerikanischen Militärakademien in Führung und an bestimmten Waffensystemen ausgebildet werden und dabei auch den "American Way of Life" kennen lernen sollen.[9]


Gemeinsame Militäreinheiten

Aus den genannten Kooperationen sind auch schon konkrete Truppen entstanden.[10] Am bedeutendsten dürfte dabei die bereits erwähnte South Eastern Europe Brigade (SEEBRIG) sein, deren Hauptquartier sich gegenwärtig in Istanbul befindet. Beteiligt sind Albanien, Bulgarien, Griechenland, Italien, Mazedonien, Rumänien und die Türkei. Sie besteht überwiegend aus leichter Infanterie, hat schon über 30 gemeinsame Übungen durchgeführt und 2006 die ISAF Multinational Brigade in Kabul übernommen. An den Übungen nahmen auch Kroatien, Slowenien, die Ukraine und die USA teil und die Einheit gibt sich offen für "weitere NATO- und PfP-Staaten der Region, die fähig und willens sind, konstruktiv beizutragen".[11] Die SEEBRIG umfasst auch eine Engeneer Task Force, die insbesondere bei Übungen in Mitgliedsstaaten zum Einsatz kommt und Straßen instand setzt oder Brücken baut und somit bei der Bevölkerung die Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft erhöhen soll.

Bulgarien und Rumänien hatten bereits 1998 ein gemeinsames Infanterie-Bataillon für Auslandseinsätze beschlossen, um damit ihre Chancen auf einen NATO-Beitritt zu verbessern. Auf die Initiative Österreichs geht die Gründung der Central European Nations' Cooperation in Peace Support (CENCOOP) zurück. Das österreichische Außenministerium stellte seine Pläne für eine engere militärische Zusammenarbeit der zentraleuropäischen Staaten 1997 zunächst dem UN-Generalsekretär sowie der NATO vor, welche die Initiative unterstützten, und besiegelte im folgenden Jahr die Kooperation mit Ungarn, Rumänien, Slowenien und der Slowakei. 1999 trat die Schweiz und 2002 Kroatien bei. 2003 wurden 700 Soldaten im Rahmen der CEN COOP unter ungarischer Führung für den EUFOR Einsatz bereitgestellt, mit dem die EU die Funktion in Bosnien und Herzegowina übernahm, die zuvor die NATO-geführte SFOR ausgeübt hatte. Diese Kommandoübergabe und die Beteiligung der CENCOOP daran verdeutlichen sehr gut die komplexen Überlagerungen zwischen EU- und NATO-Militärpolitik. De facto handelte es sich bei SFOR und EUFOR um denselben Einsatz. EUFOR fand im Rahmen des Berlin-Plus-Abkommens statt, womit automatisch der stellvertretende NATO-Oberkommandierende für Europa mit Sitz im NATO-Hauptquartier, der zugleich ranghöchster Offizier der EU ist, zum Oberbefehlshaber der Mission wird. Auch blieb die NATO mit einem eigenen Kommando und einem eigenen Stützpunkt im Land aktiv. Ungarn, das den CENCOOP-Beitrag leitete, war seinerzeit zwar Mitglied in der NATO, nicht aber in der EU. Einziger EU-Staat, der an CENCOOP beteiligt war, war damals Österreich, während alle Staaten Teilnehmer der PfP waren. De facto handelte es sich also eher um einen NATO-Beitrag denn als einen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und beim CENCOOP um eine flankierende Maßnahme zum PfP-Programm.

Die BLACKSEAFOR - eine Flotte bestehend aus Kriegsschiffen der Türkei, Bulgariens, Rumäniens, der Ukraine, Russlands und Georgiens - hat formal noch weniger mit der NATO zu tun. Sie geht auf eine türkische Initiative von 1998 zurück und wurde 2001 in Dienst gestellt. Ihre Aufgaben waren seinerzeit auf Rettungsdienste, Minensuche und ähnlich niederschwellige Einsätze beschränkt. Nachdem die NATO aber darauf drängte, ihren Anti-Terror-Einsatz auf dem Mittelmeer, Active Endeavor, auf das Schwarzmeer auszudehnen, konnte die Türkei das verhindern, indem sie Auftrag und Intensität ihrer gemeinsamen Marineeinsätze dem NATO-Einsatz anpasste. Heute versucht die NATO ihren Einfluss auf die BLACKSEAFOR durch die Bereitstellung von Luftraumüberwachung und Aufklärungsmitteln auszuweiten und die Flotte für eine Verbesserung ihrer militärischen Beziehungen zu den Schwarzmeeranrainern zu nutzen.[12]


Flankierende Angriffskriege - Kriegerische Sicherheitssektorreformen

Die bislang beschriebenen Formen der militärischen Einflussnahme durch Erweiterungen, Kooperationen, Konferenzen und Manöver wären mit Sicherheit nicht in diesem Maße erfolgreich gewesen, hätte die NATO nicht auch ihre Bereitschaft gezeigt, eine neue geopolitische Konstellation auf dem Balkan auch durch Grenzverschiebungen, Bombardements und Angriffskriege herzustellen. Auf friedlichem Wege wäre zwar eine enge Partnerschaft mit Bulgarien und Rumänien, evtl. sogar deren NATO-Mitgliedschaft und vielleicht sogar diejenige Albaniens denkbar gewesen. Selbst nach den ersten Unabhängigkeitserklärungen Kroatiens und Sloweniens wäre aber ohne die NATO-Interventionen ein ausreichend starkes Restjugoslawien "übrig" geblieben, das an einer engen Anbindung an Russland festhalten und die Bemühungen der NATO um eine Neustrukturierung des Balkans behindern hätte können. Dabei kann wieder nicht davon ausgegangen werden, dass es von Anfang an einen umfassenden Plan gegeben hätte, der von allen NATO-Staaten und -Vertretern geteilt worden wäre. Vielmehr hat sich auch die NATO-Strategie für Angriffskriege und anschließende Besatzungsmissionen erst mit deren Engagement auf dem Balkan entwickelt - wobei sich diejenigen, die eine funktionale und territoriale Ausdehnung der NATO wollten, durchsetzen konnten. Dies mag banaler klingen als es ist. Die Tatsache, dass die NATO-Soldaten nach dem Gefecht in einem fremden Land aus dem Panzer steigen müssen und die Frage, was dann in diesem Land zu tun ist, haben für die NATO als Bündnis jedoch zuvor kaum eine Rolle gespielt. Wie schwierig diese Frage ist, zeigt sich gegenwärtig an den Diskussionen über die Strategie in Afghanistan, obwohl die NATO hier schon auf die Erfahrungen aus den NATO-Einsätzen auf dem Balkan zurückgreifen kann.


Erste Erfahrungen mit UN und Besatzungen in Bosnien und Herzegowina

Die schnell durchgesetzte und insbesondere von Deutschland, den meisten EU- und NATO-Staaten anerkannte Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens weckte auch bei den bosnischen und kroatischen Minderheiten in Bosnien und Herzegowina Wünsche und Hoffnungen auf Autonomie. Die Serben in der Republik befürchteten, hierdurch ihrerseits zu einer Minderheit in dem neuen Staate zu werden und bevorzugten entweder wiederum die Abspaltung oder einen Anschluss an Serbien bzw. Rest-Jugoslawien. Teile der kroatischen Bevölkerung wollten einen Anschluss an den neu entstehenden Staat Kroatien. Ab April 1992 eskalierten die Zusammenstöße zunehmend zu einem offenen Krieg, bis Mitte Mai hatten alle drei Konfliktparteien eigene Armeen aufgestellt. Die Jugoslawische Volksarmee zog in diesem Stadium zwar aus Bosnien und Herzegowina (wohin sie ihre Truppen zuvor aus Kroatien zurückgezogen hatte) ab, überließ aber Waffen und Ausrüstung den serbischen Milizen. Diese konnten damit schnell die Kontrolle über 70% des Territoriums erlangen. Kroaten und Bosniaken wurden von Kroatien aus unterstützt und ausgerüstet, bekämpften sich aber bis ins Frühjahr 1994 hinein auch gegenseitig.[13] Alle Konfliktparteien machten sich Vertreibungen und schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig, es überwog eine irreguläre Kriegsführung auch deshalb, weil viele eigenständige Milizen beteiligt waren. Doch selbst die zentral geführten Armeen waren unter großer Beihilfe krimineller Netzwerke entstanden, die versuchten, sich im Zuge des Krieges weiter zu bereichern.[14]

Auf US-amerikanischen Druck hin einigten sich im Frühjahr 1994 die kroatischen und bosniakischen Verwaltungen, ließen ihre Armeen gemeinsam gegen die serbischen vorgehen und gründeten die Föderation Bosnien und Herzegowina. Der Vertrag von Dayton, ebenfalls auf amerikanische Vermittlung hin abgeschlossen, während die NATO die serbischen Einheiten bombardierte, beendete den Krieg, indem er der serbischen Seite 49%, der bosnisch-kroatischen Föderation 51% des Territoriums zusprach und den Rückzug der Truppen in die Kasernen festlegte. Die NATO sollte eine "Implementation Force" (IFOR) aufstellen, die das Kommando von der UNPROFOR übernimmt und die Einhaltung der militärischen Aspekte des Abkommens von Dayton überwacht und wenn nötig auch umsetzen kann. Die Zusammenarbeit insbesondere mit der UNO, vor allem aber die Besatzung und die Übernahme ziviler Aufgaben in Bosnien und Herzegowina stellten ein Novum für die NATO dar. So bezeichnete Michael Ehrke von der Friedrich-Ebert-Stiftung das internationale Engagement der NATO in Bosnien und Herzegowina als "Pilotprojekt internationaler Ordnungspolitik", sogar als "Pilotprojekt der Weltinnenpolitik".[15]


Wie die NATO die UN auf Eskalationskurs brachte

Die erste offizielle Militärmission der NATO fand 1994 mit einem Mandat der UN statt. Mit den Resolutionen 713 und 757 vom 25.9.1991 und 30.5.1992 verhängte der UN-Sicherheitsrat ein Waffen- und Handelsembargo über Jugoslawien, ohne jedoch die NATO, irgendwelche anderen Organisationen oder Staaten zu dessen militärischer Durchsetzung zu ermächtigen. Im Frühjahr 1992, also zwischen den beiden Resolutionen, stellte die NATO eine eigene Mittelmeerflotte, die Standing Naval Force Mediterranean (STANAV-FORMED), auf. Am 10.7.1992 beschlossen die NATO-Außenminister in Helsinki, das Embargo militärisch zu überwachen und die Kriegsschiffe begannen bereits am 16.7.1992 in der Adria zu patrouillieren. Formal unabhängig von der NATO, faktisch aber dieser unterstellt, nahmen auch v.a. französische Schiffe im Rahmen des West-Europäischen Verteidigungsbündnisses WEU teil. Damit hatte die NATO die entscheidenden Voraussetzungen geschaffen und auch einen gewissen Handlungsdruck gegenüber der UN aufgebaut, damit der Sicherheitsrat am 16.11.1992 mit Resolution 787 die militärische Durchsetzung des Embargos und im April 1993 mit Resolution 820 die Blockade serbischer und montenegrinischer Häfen autorisierte. Die im Juli 1992 in die Adria verlegten Schiffe waren bereits so zusammengestellt, dass nicht nur die Überwachung, sondern auch die militärische Durchsetzung des Embargos realisierbar war.[16] Der Einsatz umfasste trotz zahlreicher Marine-Aufklärungsflugzeuge bald auch zusätzliche AWACS (Großraumüberwachungsflugzeuge), die nicht zur STANAFORMED gehörten, aber (auch offiziell) die Überwachung des Luftraums über Bosnien und Herzegowina übernehmen konnten, sobald die Resolution 781 vom 9.10.1992 ein Flugverbot in der Region verhängte, mit dessen Überwachung der Sicherheitsrat formal jedoch in erster Linie die vor Ort stationierte UN-Truppe UNPROFOR beauftragte.

Wie bereits bei der Überwachung der Seewege verlegte die NATO, sobald die Überwachung durch die UN legitimiert war, bereits Waffensysteme in die Region, mit der das Flugverbot auch militärisch durchgesetzt werden sollte, während sich insbesondere die US-Regierung bemühte, ein Mandat der UN zu erwirken, das dies auch zulässt. Dies geschah mit der Resolution 816 vom März 1993. Gleichzeitig wurden Luftangriffe vorbereitet. Der von der NATO betriebene Eskalationskurs gegenüber Serbien wirkte sich auch auf die in Bosnien und Herzegowina stationierten UN-Soldaten der UNPROFOR aus, die zunächst zur Neutralität verpflichtet und lediglich mit der Überwachung von Waffenstillstandsabkommen beauftragt waren. Im Juni 1993 erhielt die UNPROFOR jedoch das Recht, "Schutzzonen" einzurichten, in denen sie gegen eindringende Soldaten auch militärisch vorgehen durfte. Da sie hierzu kaum ausgerüstet war, übertrug die UNPROFOR diese Aufgabe an die NATO, indem sie Ziele für Luftangriffe markierte. Dadurch wurden die UN-Soldaten zu einer schlecht ausgerüsteten Kriegspartei auf dem Boden, während die NATO insbesondere ab dem 30.8.1995 massiv mit Luftangriffen und von ihren Kriegsschiffen aus serbische Stellungen bombardierte. Inwiefern diese "Operation Deliberate Force" tatsächlich noch unter die Resolution 836 fiel, wie es meist angenommen wird, kann in Frage gestellt werden. Denn die Aufgaben der UNPROFOR, welche laut Resolution von Staaten oder regionalen Bündnissen durch Luftangriffe unterstützt werden durften, waren eng begrenzt und bestanden im Wesentlichen in dem Schutz der Zivilbevölkerung und humanitärer Transporte sowie der Durchsetzung der "Schutzzonen", keinesfalls aber in der allgemeinen Kriegsführung gegen nahezu ausschließlich serbische Einheiten.


Konzeptlose Besatzung

Das Abkommen von Dayton war de facto ein Waffenstillstandsabkommen. Die "Einheit" des neuen Staates wurde dadurch erhalten, dass er sich aus zwei ethnisch konstituierten "Entitäten" zusammensetzt, die in sich völlig unterschiedlich gegliedert waren. Die Gesamtregierung, ebenfalls ethnisch aus Vertretern aller Volksgruppen und beider Entitäten zusammengesetzt, erhielt sehr begrenzte Befugnisse. Die eilig zusammengezimmerte Verfassung des neuen Staates - ein Anhang zum Friedensabkommen, der bis heute nicht in die Landessprachen übersetzt ist - enthält die Verpflichtung zum wirtschaftlichen Liberalismus, schuf aber keinen überlebensfähigen Staat. Von einer Einheit kann bis heute nicht annähernd die Rede sein. Die kroatischen und bosnischen Nationalisten versuchen, die Kompetenzen des Gesamtstaates zu Lasten der serbischen Entität zu erweitern, diese wiederum blockiert nationale Reformen, um ihre Autonomie zu bewahren. Alle schwierigen Fragen jenseits von Waffenstillstand und Wirtschaftsliberalismus wurden offen gelassen und mussten im Rahmen der anschließenden Besatzung gelöst werden. Die NATO stationierte in kürzester Zeit 60.000 Soldaten in dem kleinen Land. Was diese aber jenseits der Besatzung, der reinen Befriedung durch Präsenz, erreichen sollten, blieb lange unklar. So begann die NATO beispielsweise recht schnell mit Vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen den Armeen der Entitäten, wie das nach internationalen Konflikten ein erprobtes Konzept ist, stellte diese jedoch mit der Feststellung wieder ein, dass sie die Gräben zwischen den beiden Entitäten, die ja gemeinsam einen Staat darstellten, eher vertieften denn überwanden.[17] Auch die einseitige Ausbildung der bosnisch-kroatischen Armee der Föderation durch die USA fast unmittelbar nach der NATO-Stationierung war in keinerlei Gesamtkonzept eingebunden und beschädigte eher spätere Bemühungen um eine Integration und Verkleinerung der beiden Streitkräfte.


Sicherheitssektorreform

Erste Ansätze zu einer "Reform des Sicherheitssektors" in Bosnien und Herzegowina - ein Terminus, der mittlerweile im Kontext von Besatzungsmissionen allgegenwärtig ist, sich seinerzeit aber noch nicht etabliert hatte - begannen erst 1998 mit dem informellen Beschluss der NATO-Staaten, das eher unbedeutende gesamtstaatliche Standing Committee on Military Matters (SCMM), ein Forum für den Austausch der Verteidigungsministerien der Entitäten, in ein gesamtstaatliches Verteidigungsministerium umzuwandeln. Eine wichtige Voraussetzung hierfür wurde kurz zuvor geschaffen, indem der "Hohe Repräsentant der Vereinten Nationen" (HR), dem die Überwachung des Dayton-Abkommens unterlag, 1997 in Bonn vom Friedensimplementierungsrat mit nahezu unbegrenzten Vollmachten ausgestattet wurde. Er durfte in der Folge selbst Gesetze erlassen oder für nichtig erklären sowie sämtliche Staatsbeamte und gewählten Vertreter entlassen. Spätestens damit wurde Bosnien und Herzegowina zum westlichen Protektorat.

Die Militärzelle des Büros des HR unter der Leitung britischer Soldaten bemühte sich um die Umstrukturierung des SCMM. 1999 wurden eine "Gemeinsame Arbeitsgruppe Sicherheitspolitik" und eine AG Verteidigung der "Institution Building Task Force" gegründet, im Juli 2000 folgte ein "Gemeinsamer Lenkungsausschuss zur Umstrukturierung" (Joint Restructuring Steering Board, JRSB) mit zunächst drei, später dann 19 Arbeitsgruppen. Diese Gremien wurden in unterschiedlicher Zusammensetzung von Vertretern der NATO, der SFOR, der OSZE, des Büros des HR und der bosnischen und serbischen Institutionen geleitet und mehrfach umstrukturiert, da sie ineffizient arbeiteten. Es sollte bis 2003 dauern, bis eine "Verteidigungs-Reformkommission" unter Vorsitz des US-Beraters James Locher III mit führender Rolle der NATO einberufen wurde, die sich seitdem konkret und erfolgreich um die Reform der Streitkräfte bemüht. Dem vorausgegangen war 2001 eine "Serie von informellen Verhandlungen ('Seminaren') in Klausur an der NATO-Schule in Oberammergau", in denen der Umbau des SCMM weiter vorangetrieben wurde sowie "Wehrrechtsseminare", welche die Arbeit der Reformkommission vorbereiteten.[18]

Von herausragender Bedeutung war auch eine Affäre 2002 um illegale Rüstungsexporte aus der serbischen Entität nach Irak, die von westlichen Geheimdiensten aufgedeckt wurde und die serbische Elite dermaßen schwächte, dass sich die Möglichkeit zum "Durchdrücken" (Vetschera) wesentlicher Forderungen von Seiten der NATO und der EU ergab. Der Hohe Repräsentant, der seit März 2002 von der EU gestellt wird, löste in der Folge den Verteidigungsrat der serbischen Entität auf und initiierte eine Gesetzgebung, die Fragen der Rüstung und des Rüstungsexportes unter internationaler Kontrolle zur Aufgabe des Gesamtstaates machte. Ende 2002 begann auch der Umbau des Sekretariats des SCMM in ein zunächst informelles Verteidigungsministerium auf Ebene des Gesamtstaates unter der Aufsicht des HR. Bereits im Januar 2003 legte das mittlerweile durch eine Verfassungsreform legalisierte SCMM erstmals "Pledges" vor, Versprechungen an die internationale Gemeinschaft, die Streitkräfte in eine "moderne, glaubwürdige, bezahlbare und fähige [Armee] zu transformieren, welche die Souveränität und die territoriale Integrität Bosniens und Herzegowinas verteidigen kann". Die Versprechungen enthielten zudem die Absicht, die Mitgliedschaft in der EU und der NATO zu erreichen und innerhalb von 18 Monaten ein "glaubwürdiger Partner" für das PfP-Programm zu werden.[19]

Hierfür war eine Reihe weiterer Gesetzes- und Verfassungsänderungen nötig, die auf "Wehrrechtsseminaren" der SFOR im Frühjahr 2003 diskutiert wurden. Am Ende des letzten Seminars wurde auf Vorschlag des HR die "Verteidigungs-Reformkommission" mit führender Rolle der NATO gegründet. Das Hauptziel dieser Kommission war es, die von der NATO definierten Kriterien zu erfüllen und so Bosnien und Herzegowina in das PfP-Programm einzubinden. Die hierfür notwendigen Schritte wurden auf einem einwöchigen Workshop in der NATO-Schule im oberbayerischen Oberammergau diskutiert und in einem "Konzeptpapier" festgehalten. Das größte Hindernis bei der Umsetzung stellte meist die Position der serbischen Entität dar, die es zu brechen galt, was tw. durch informelle Absprachen und nachträglich geänderte Beschlussfassungen erreicht wurde. Mit der Verteidigungs-Reformkommission ist es der NATO nach anfänglichen Schwierigkeiten und vielen Experimenten gelungen, nicht nur ihre PfP-Kriterien zum internationalen Leitbild der Entwicklung Bosnien und Herzegowinas zu machen, sondern auch die internationalen Bemühungen um diese Entwicklungen unter eigener Führung zu koordinieren.[20] So resümierte deren Vorsitzender bereits Ende 2004 in der NATO-Review: "Die Kommission für Verteidigungsreformen, die ursprünglich als ein vorübergehendes Expertengremium für den Entwurf neuer Verteidigungsgesetze oder die Änderung von Gesetzen konzipiert worden ist, hat sich inzwischen zu einem Motor des kontinuierlichen Wandels entwickelt und befasst sich mit allen aktuellen strategischen, operativen und technischen Fragen im Zusammenhang mit der Reform des bosnischen Verteidigungssektors. Dieser Prozess hat Bosnien und Herzegowina nicht nur geholfen, die nötigen Reformen zu bestimmen, zu planen und umzusetzen, sondern er hat auch die Koordinierung mit der internationalen Staatengemeinschaft deutlich verbessert."[21]


Schlafwandeln in die Krise

Als weiterer "Ratgeber" bei der Reform der Armee wurde, nachdem die EU-Truppe EUFOR Ende 2004 die Besatzungsaufgaben von der NATO übernommen hat, ein zusätzliches militärisches Kommando unter US-Führung in Sarajewo eingerichtet. Dieses ist mit etwa 150 Mitarbeitern neben der Sicherheitssektorreform auch mit der Terrorbekämpfung und nachrichtendienstlichen Tätigkeiten beschäftigt. In Tuzla sind weitere 200 US-Soldaten stationiert, die "als Vorposten und Ausbildungszentrum für andere Operationen" dienen sollen.[22] Auch der EUFOR-Einsatz selbst findet auf Basis des Berlin-Plus-Abkommens statt, weshalb sein Oberkommando beim stellvertretenden Befehlshaber der NATO in Europa liegt. Die NATO leistet zudem eine unverzichtbare Rückversicherung für den EUFOR-Einsatz, indem sie sicherstellt, dass bei einer Verschärfung der Lage in Bosnien und Herzegowina schnell wieder eine große Zahl an Soldaten in die Region verlegt werden und notfalls eingegriffen werden kann. Eine solche Rückversicherung ist bis heute notwendig, weil auch eine Eskalation weiterhin denkbar ist. Obwohl die Streitkräfte Bosnien und Herzegowinas mittlerweile ihre ersten Auslandseinsätze bewältigt haben, bestehen sie nach wie vor aus zwei (bzw. drei) ethnisch konstituierten Armeen, mit eigener Rüstungsindustrie und eigenen Reservistenverbänden. Die Entitäten verfolgen bis heute einander widersprechende Ziele und können sich der Loyalitäten ihrer jeweiligen Truppenteile sicher sein. Die Zivilbevölkerung hingegen lebt in Armut und sehr viele sind in informelle Tätigkeiten gezwungen und bedürfen des Schutzes eben jener ethnisch konstituierten politischen Eliten, die enge Kontakte ins Militär und die organisierte Kriminalität pflegen.

Am 22.10.2008 warnten beispielsweise Richard Holbrooke, einer der wesentlichen Architekten des Dayton-Abkommens und Paddy Ashdown, früherer HR, in einem gemeinsamen Artikel für den Londoner Guardian mit dem Titel "Ein Bosnisches Pulverfass": Die internationale Gemeinschaft drohe schlafwandelnd in eine neue Balkan-Krise zu geraten, Bosnien und Herzegowina drohe als Staat zu kollabieren, die serbische Entität warte nur auf eine Möglichkeit zur Abspaltung und unter den Kroaten und bosnischen Muslimen wachse der Nationalismus, die Furcht und das Misstrauen, welche 1992 den Krieg ausgelöst hätten, seien wieder erwacht.[23] Der Versuch, ein neoliberales Gemeinwesen durch Reformen des Sicherheitssektors zu erschaffen ist gescheitert. Die NATO steht bereit.


Die NATO im Kosovo

Unmittelbar nachdem unter Slobodan Milosevi Anfang der 90er Jahre die Sonderrechte der zuvor autonomen Provinz Kosovo revidiert wurden und die dort lebenden Albaner massiven Benachteiligungen und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt waren, gründete sich mit der LDK unter Ibrahim Rugova eine überwiegend zivile albanische Oppositionsbewegung und Parallelverwaltung mit dem Ziel einer kosovarischen Unabhängigkeit.[24] Obwohl auch die LDK sich bemühte, eine eher klassisch organisierte Armee zur Verteidigung gegen serbische Übergriffe aufzubauen, blieb sie bei der Rekrutierung von Soldaten, der Anschaffung von Waffen und auch hinsichtlich der internationalen Anerkennung jedoch weit hinter den Erfolgen der etwa fünf Jahre später gegründeten UCK zurück. Deren primäres Ziel war die militärische Loslösung von Serbien und der Anschluss des Kosovo an Albanien. Ihre Strategie bestand darin, durch Anschläge und Angriffe insbesondere auf serbische Polizeiposten - irreguläre Kriegführung - die Situation zu eskalieren und internationale Unterstützung zu gewinnen.

Bereits 1994 aus mehreren bewaffneten Widerstandsgruppen hervorgegangen und insbesondere durch Exil-Albaner finanziert und mit Waffen ausgerüstet (diese Unterstützung wurde zu einem großen Teil von Deutschland aus organisiert), trat die Guerilla erst ab 1996/1997 offen in Erscheinung. Dies hat mehrere Gründe: Erstens wurden im Rahmen des Lotterieaufstandes in Albanien hunderttausende Waffen geplündert, die in die Hände der UCK gelangten. Zweitens kehrten viele Albaner, die zuvor in Kroatien und Bosnien und Herzegowina gegen die Serben gekämpft hatten, zurück und schlossen sich der UCK an. Drittens verschaffte die zuletzt massive Unterstützung der NATO für die bosnische und kroatische Seite mit dem Ergebnis, dass diese zumindest innerhalb einer Entität eines neuen Staates in der Konfrontation ihre Ziele weitgehend erreichten, dem ebenfalls konfrontativen Kurs der UCK Auftrieb, während die LDK durch Dayton mit ihrer langfristigen, zivilen Strategie an Rückhalt verlor. Obwohl die UCK zu dieser Zeit bereits in allen drei Ländern als terroristische Vereinigung eingestuft war, unterstützten bzw. duldeten britische, US-amerikanische und deutsche Geheimdienste ab 1996 die Ausbildung und auch die Aufrüstung der UCK in Albanien. Nennenswerte Interventionen gegen die Rekrutierung und Finanzierung der UCK durch Exil-Albaner in diesen Ländern blieben aus. Hatten die Angriffe der UCK zunächst noch überwiegend serbischen Polizeiposten und vermeintlichen Kollaborateuren gegolten, wurde ab Anfang 1998 zunehmend auch die serbische Minderheitsbevölkerung im Kosovo zum Ziel der Übergriffe. Serbische Polizei- und Militäreinheiten reagierten ihrerseits mit völlig überzogenen Strafeinsätzen und Übergriffen auf die Zivilbevölkerung. Zwischen Februar 1998 und Mitte Oktober 1998 tobte ein handfester Bürgerkrieg zwischen 13.000 serbischen Polizeikräften, 6.500 serbischen Soldaten und etwa 400 irregulären Kämpfern auf der serbischen Seite und einer kaum zu beziffernden Zahl von Kämpfern auf albanischer Seite.

Die NATO übte zwar massiven Druck auf die serbische Regierung aus, sich zurückzuziehen, gleichzeitig zeigten ihre Mitgliedsstaaten aber wenig Interesse daran, Bodentruppen einzusetzen. Nachdem die serbischen Kräfte ab August große Geländegewinne verzeichneten und dabei auch schwere Menschenrechtverletzungen begingen, drohte die NATO offen mit Luftschlägen gegen Serbien und erließ am 13.10.1998 eine Activation Order, welche ohne weitere Abstimmungen kurzfristig den Beginn von Luftschlägen ermöglichte. Unter diesem Druck kam Mitte Oktober ein Waffenstillstandsabkommen zu Stande, das durch eine OSZE-Beobachtermission überwacht werden sollte. Es sah den Rückzug eines Teils der serbischen Kräfte, nicht aber die Entwaffnung der UCK vor. Parallel zum Waffenstillstandsabkommen unterzeichnete die serbische Regierung ein Abkommen mit der NATO, das dieser Überwachungsflüge von Mazedonien aus zubilligte und zusagte, seine Luftraumüberwachung und Flugabwehr über dem Kosovo sowie innerhalb einer Pufferzone einzustellen. Damit erhielt die NATO die Hoheit über den kosovarischen Luftraum. Während diese Operation "Eagle Eye" unmittelbar nach Unterzeichnung des Abkommens begann, konnte die zivile OSZE-Mission nur schleppend zusammengestellt werden. Während der OSZE-Mission reorganisierte sich die angeschlagene UCK offensichtlich, Spenden an die zivilen albanischen Organisationen wurden in militärische Kanäle umgelenkt. Doch auch die serbischen Truppen hielten sich in ihren kosovarischen Stützpunkten und an der Grenze bereit. Die NATO konnte mit ihren Überwachungsflügen das zukünftige Kampfgebiet und die serbischen Stellungen ausspähen, erhielt die Activation Order aufrecht und stellte - vermeintlich um im Notfall die OSZE-Beobachter evakuieren zu können - trotz erheblichen serbischen Protesten in Mazedonien Bodentruppen zusammen. Zeitgleich ließ die NATO der UCK über Albanien Waffen zukommen und dauerte das Training der Guerillas durch Geheimdienste und private Militärfirmen verschiedener NATO-Staaten an. Spätestens jetzt traten auch Angehörige von Spezialeinheiten mit der UCK in Kontakt, um Kommunikation und Zusammenarbeit im kommenden Krieg zu gewährleisten. Die Entscheidung war damit implizit gefallen: Die UCK sollte während der kommenden Bombardements als Bodentruppe der NATO fungieren. Deshalb kommentieren auch Andreas Heinemann-Grüder und Wolf-Christian Paes in ihrem sehr empfehlenswerten Papier über die Geschichte der UCK die damalige Aussage des US-Verteidigungsministers, die USA wollten nicht zur Luftwaffe der UCK werden, mit der Einschätzung, dass es hierbei eher darum gegangen sei das Unterordnungsverhältnis klarzustellen - es ging nicht darum, die Form der Arbeitsteilung insgesamt zu revidieren. Der US-Senator Joe Lieberman sagte seinerzeit eindeutig, die UCK sei eine "kämpfende Truppe im Feld, welche dieselben Ziele verfolgt wie unsere kämpfende Truppe von der Luft aus."[25]


Bombardement und Besatzung

Die Pläne für eine Bombardierung Restjugoslawiens wurden spätestens seit Juni 1998 vorbereitet, als der britische Verteidigungsminister seine Luftwaffe in Bereitschaft versetzte. Bereits damals war zwar eine Truppe von etwa 36.000 Soldaten im Gespräch, die nach dem Rückzug der serbischen Einheiten ein Friedensabkommen umsetzen sollten. Kategorisch ausgeschlossen wurde jedoch die Möglichkeit, NATO-Soldaten als Bodentruppen in den Kampfeinsatz zu schicken.

Diese Logik, eigene Verluste auf Kosten der UCK und der Zivilbevölkerung zu minimieren, wurde auch bei der Bombardierung verfolgt. Bereits im November 1998, also vor dem bis heute ungeklärten "Massaker von Racak" und den Verhandlungen von Rambouillet, die als Begründung und Legitimation für die Luftschläge dienten, gab der NATO-Oberkommandierende Wesley Clark intern die Doktrin aus, dass es bei den Bombardierungen keine Verluste eigener Flugzeuge geben dürfte. Als am 24.3.1999 die Bombardierung Serbiens und des Kosovo von US-Kriegsschiffen und 80 Kampfflugzeugen aus begann, war entsprechend die Angriffsflughöhe auf 15.000 Fuß festgelegt - eine Höhe, welche die Flugzeuge zwar vor der serbischen Luftabwehr schützte, gleichzeitig aber die Zahl ziviler Opfer auf dem Boden wegen weniger präzisen Angriffen in die Höhe trieb. So wurden auch Flüchtlingskonvois, Reisebusse und die chinesische Botschaft Opfer von Bombenangriffen. Die Luftschläge hatten u.a. die Wirkung, dass die serbischen Einheiten ihre zuvor bereits ausgespähten Stellungen in zivile Einrichtungen verlegten und in die Dörfer flohen. Dies trieb wiederum die Zahl der Flüchtlinge und Übergriffe in die Höhe.[26] Im Kontext des Bombardements ging auch die UCK immer offener zu Vertreibungen und Übergriffen auf die serbische Minderheit über, zahlreiche Albaner schlossen sich vorübergehend der Miliz an. Der NATO-Angriffskrieg beendete keine humanitäre Katastrophe, er löste eine aus.

Im Laufe des April strömten gut ausgerüstete und organisierte UCK-Einheiten unter Feuerschutz der NATO und unterstützt durch US-amerikanische, französische und britische Spezialeinheiten aus Albanien ein und zwangen die serbischen Truppen im Laufe des Mai, sich in Defensivstellungen zu konzentrieren. Diese Gelegenheit nahm die NATO wahr und flog allein am 1. Juni 197 Angriffe auf die serbischen Einheiten am Berg Pastrik. Dies war der Wendepunkt des Krieges: Am 9. Juni stimmte die serbische Regierung dem Rückzug aus dem Kosovo zu, am 12. Juni begann die KFOR einzumarschieren. In nur vier Tagen besetzten die ersten 14.000 NATO-Soldaten den Kosovo. Die UCK, die bereits in den Verhandlungen von Ramboulliet auf Drängen der USA die albanische Seite vertreten durfte und während des Krieges ein politisches Direktorat als Übergangsregierung formierte, übernahm in den von der KFOR besetzten Gebieten die Verwaltung. Die Parallelverwaltung der LDK war im Krieg geschwächt worden und wurde nun von der UCK ersetzt bzw. übernommen. Die UN-Mission UNMIK, die eigentlich die Übergangsverwaltung stellen sollte, wurde nur sehr langsam aufgestellt. Die Öffentliche (Un-)Ordnung wurde in dieser Übergangsphase von UCK und KFOR gemeinsam kontrolliert.

Erst langsam, schrittweise und bis heute nicht vollständig wurden Grenzposten, Gefängnisse und Polizeistationen der Kontrolle der UNMIK übergeben. Die UCK wurde nicht entwaffnet. Im September 1999 wurden 2.000 UCK-Kämpfer in die neu gegründete kosovarische Polizei und ihr restlicher Kern von 18.000 Mann offiziell in eine Katastrophenschutzeinheit (Kosovo Protection Corps, KPC) umgewandelt. Die freiwillige Demobilisierung wurde von der KFOR weitgehend der International Organisation for Migration (IOM) überlassen. Die UCK blieb stärkste Kraft im Land und setzte UNMIK und KFOR kontinuierlich unter Druck, der Eigenstaatlichkeit des Kosovo zuzustimmen. Die Drohung besteht dabei bis heute u.a. in Pogromen gegenüber den verbliebenen serbischen Minderheiten, wie sie im März 2004 stattfanden und von Teilen der UCK organisiert wurden. Im Jahr 2006 empfahl schließlich der einflussreiche Think Tank International Crisis Group, dass die KFOR langfristig im Land bleiben und in enger Partnerschaft mit der UCK bzw. dem KPC unter NATO-Aufsicht eine kosovarische Armee für Auslandseinsätze aufbauen sollte.[27] Dies sei die wünschenswertere Alternative gegenüber den zahlreichen inoffiziellen paramilitärischen Verbänden, die gegenwärtig im Land aktiv sind und KFOR und UNMIK korrumpieren. Unmittelbar vor der von den meisten EU- und NATO-Staaten unterstützten Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 stimmten die NATO-Verteidigungsminister auf einem informellen Treffen der Gründung einer kosovarischen Armee mit 2.500 Soldaten zu. Deren Ausbildung erfolgt seit Juni 2008 offiziell durch die KFOR.[28]


Schaden an Bevölkerung und Völkerrecht

Selbst mit zwischenzeitlich 50.000 KFOR-Kräften konnte die NATO dennoch keinen umfassenden Schutz für die Bevölkerung gewährleisten - im Gegenteil. Zwar ist es seit 2004 nicht mehr zu größeren Pogromen gekommen, dies wäre aber auf taktische Zurückhaltung im Vorfeld der Unabhängigkeitserklärung und in der Hoffnung auf deren Anerkennung zu werten, urteilte ein Bericht des Instituts für Europäische Politik im Auftrag der Bundeswehr aus dem Jahre 2007. Unterhalb der internationalen Wahrnehmungsschwelle seien Übergriffe an der Tagesordnung. Für die serbische Minderheit besteht nach wie vor keine Bewegungsfreiheit, viele müssen ihre Einkäufe in Begleitung von Soldaten verrichten oder lassen diese gleich von den Soldaten erledigen. Kulturelle Einrichtungen wie das Erzengelkloster, in dem sechs Mönche leben, werden rund um die Uhr durch gepanzerte Fahrzeuge, Wachtürme und Beobachtungsposten auf den umliegenden Bergen geschützt, regelmäßig wird die Niederschlagung von gewalttätigen Demonstrationen geprobt.

Das Institut für Europäische Politik rechnet mit "revolutionsähnlichen Erhebungen" durch die albanische Mehrheit etwa zwei Jahre nach der Unabhängigkeit. Diese sei nämlich mit Hoffnungen auf Prosperität verbunden, die nicht eingelöst werden können. Knapp 40% der Bevölkerung leben unterhalb der internationalen Armutsgrenze, 15% in extremer Armut. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 75%. Es kommt nach wie vor in weiten Teilen des Landes nahezu täglich zu Stromausfällen. Handel ist fast nur mit dem verfeindeten Serbien möglich. Für die 36.000 jungen Menschen, die jährlich dem Arbeitsmarkt ausgeliefert werden, gibt es fast keine Perspektive jenseits der Emigration.

Die internationale Truppenpräsenz ist Teil des Problems. So gäbe es "beträchtliche Korruptionsvorfälle innerhalb der UN-Administration", führende Personen der Organisierten Kriminalität würden den Schutz der KFOR-Soldaten genießen und "Teile des KFOR-Stabs [sind] als infiltriert zu betrachten". Das internationale Personal stünde "mehrheitlich" in dem Ruf, "im Kosovo entweder Abenteurertum oder individuelle Bereicherung zu betreiben". 2003 berichtete die International Organisation for Migration von 104 Bordellen, in denen junge Frauen zu Prostitution und unbezahlter Arbeit gezwungen würden.[29]

Der Schaden, den die NATO mit ihrem Engagement im Kosovo dem Völkerrecht angetan hat, lässt sich kaum ermessen. Mit der Bombardierung Restjugoslawiens ohne UN-Mandat machte das Bündnis deutlich, dass es sich nicht an die UN-Charta gebunden fühlt. Mit der humanitären Begründung für diesen geopolitisch motivierten Angriffskrieg hat sie das Gespenst des "Gerechten Krieges" wieder zum Leben erweckt, welches das völkerrechtliche Friedensgebot relativiert. Mit ihrer Dominanz über die UNMIK hat sie die UN im Kosovo und weit darüber hinaus völlig delegitimiert. Zuletzt hat sie mit ihrer Beihilfe zur Sezession des Kosovo eine der größten Errungenschaften des Völkerrechts - die Schlussakte von Helsinki zur Gründung der KSZE - beerdigt. Mit dieser kamen die europäischen Staaten (außer Albanien) und Russland seinerzeit überein, dass in Europa nie wieder eine Grenze durch Gewalt verändert werden dürfe.


Mazedonien: Den Krieg gewähren lassen

Mazedonien hatte einen friedlichen Weg in die Eigenstaatlichkeit gefunden. Nach der Unabhängigkeitserklärung im September 1991 zog sich die jugoslawische Armee ab Januar 1992 freiwillig zurück. Bereits im folgenden Jahr wurde Mazedonien in die UN aufgenommen. Es hatte sich eine Regierung unter Beteiligung der albanischen Minderheit gebildet, Minderheitenrechte waren teilweise bereits gesetzlich verankert, teilweise noch in der Diskussion. Während des Kosovo-Konfliktes nahm Mazedonien hunderttausende Albaner auf. Der Verlauf dieses Konfliktes weckte aber weitere Begehrlichkeiten in Teilen der albanischen Bevölkerung. Die Strategie der UCK, einen handfesten Bürgerkrieg und damit internationales Engagement zu provozieren, das die eigenen Forderungen unterstützt, war voll aufgegangen. Im Winter 2000/2001 sickerten zunehmend UCK-Kämpfer mit Wissen zumindest einzelner NATO-Truppen über die Grenze nach Mazedonien ein. Zugleich häuften sich Angriffe auf Polizeistationen in den eher von Albanern besiedelten Regionen Mazedoniens, zu denen sich eine Gruppe bekannte, die sich ebenfalls UCK nannte und dieselben Uniformen trug, wie viele kosovarischen UCK-Kämpfer.[30] Auch Waffen wurden offensichtlich von der kosovarischen UCK an die mazedonische übergeben.

Ende Februar wurde dann in der Grenzregion zum Kosovo vorübergehend ein Fernsehteam entführt, nach dessen Freilassung es zu einer Schießerei kam, bei der ein junger Albaner starb. In den folgenden Tagen kam es zu regelmäßigen Gefechten in den Dörfern entlang der Grenze, bei denen zunehmend professioneller organisierte albanische Kämpfer auftauchten und die mazedonischen Truppen beschossen. Flüchtlinge und auch Kämpfer passierten die Grenze, die nun zunehmend, wenn auch uneinheitlich von der KFOR kontrolliert wurde. Die Kämpfe griffen anschließend vor allem auf die Stadt Tetovo über und der Konflikt eskalierte auch auf rhetorischer Ebene: Die Regierung bezeichnete die Albaner als Terroristen, die UCK rief alle Albaner auf, zu den Waffen zu greifen. Die Regierung ging im Laufe des Frühjahrs 2001 immer gewaltsamer gegen die Rebellen vor, die ihrerseits über immer schwerere Waffen und besser organisierte Verbände verfügte. Auch innerhalb der Zivilbevölkerung wuchs der Hass und es kam zunehmend zu Übergriffen und Vertreibungen.

Diese bürgerkriegsähnlichen Zustände wurden im August 2001 durch das Abkommen von Ohrid beendet, das unter Vermittlung der NATO zustande kam. Auch dieses belohnte im Grunde diejenigen, welche den Minderheitenkonflikt eskaliert hatten. Für die Kämpfer der mazedonischen UCK sah es Straffreiheit vor und es verpflichtete Mazedonien, den Albanern weit gehende Minderheitenrechte zuzugestehen. Das Abkommen sah außerdem die kurzfristige Stationierung einer NATO-Mission im Lande vor, welche die freiwillige (!) Entwaffnung der Rebellen durchführen sollte. Auch die Unterstützung der NATO bei der Umstrukturierung der mazedonischen Armee war darin enthalten. Die NATO-Mission "Essential Harvest" begann am 22. August, nachdem die Kampfhandlungen tatsächlich - von einigen Anschlägen abgesehen - beendet wurden und dauerte 30 Tage. Die NATO überwachte hier zugleich den Rückzug der mazedonischen Armee und die Verabschiedung von Gesetzen zur Umsetzung des Friedensabkommens von Ohrid, während sie Sammelstellen eröffnete, an denen albanische Kämpfer ihre Waffen abgeben konnten. Nach einem Monat wurde Essential Harvest durch eine weitere NATO-Mission - Amber Fox - abgelöst, deren offizielle Aufgabe es war, zivile Beobachter zu schützen. Diese wiederum ging im Dezember 2002 in die NATO-Mission Allied Harmony über, die im Wesentlichen nur noch die "Beratung" der mazedonischen Regierung beinhaltete.

Mit dem Beginn des Jahres 2003 ließ die NATO dann im befriedeten Mazedonien die EU ihre ersten militärischen Gehversuche unternehmen. Die ESVP-Mission Concordia übernahm große Teile der vorangegangenen NATO-Mission und testete hierbei ihre seit 1999 aufgebauten militärischen Strukturen im Rahmen des Berlin-Plus-Abkommens, also mit Rückgriff auf NATO-Kapazitäten und unter der operativen Leitung des NATO-Hauptquartiers in Mons. Verantwortlicher Kommissar für die ESVP war seit 1999 Javier Solana, der zuvor NATO-Generalsekretär war.

Die NATO blieb aber mit einem eigenen Hauptquartier im Land. Dieses NATO-HQ mit etwa 180 Mitarbeitern ist dort bis heute aktiv, "leistet der Regierung in Skopje Hilfe bei den Verteidigungsreformen und den Vorbereitungen auf die angestrebte Bündnismitgliedschaft und unterstützt auch andere Balkanmissionen unter der Führung der NATO."[31]

Im Mai 2003 führte diese Regierung eine Überprüfung ihrer Militärstrategie durch, mit dem Ziel, die Armee statt auf die Territorialverteidigung auf Auslandseinsätze auszurichten, entsprechende Reformen wurden vom Parlament im folgenden Jahr abgesegnet. Milan Jazbec urteilt für das Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces (DCAF), welches die PfP-Programme der NATO begleitet, dass man "den starken Eindruck bekommen kann, dass sich das hohe Maß an intensiver internationaler Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft für Mazedonien sehr gelohnt hat [...] Es scheint, als seien die Aktivitäten bezüglich des Verteidigungssektors nach der Krise von 2001 enthusiastisch wieder aufgenommen worden."[32]


Neue NATO: Die Struktur des westlichen Militarismus

Wenn die NATO den Konflikt in Mazedonien auch nicht aktiv eskaliert hat, so haben doch Teile der NATO ihn zumindest sehenden Auges eskalieren lassen. Denn wenn ein Konflikt ausbricht, dann schlägt die Stunde der NATO. Wenn westliche Staaten militärisch vorgehen wollen, dann wenden sie sich an die NATO. Wo die NATO aber einmal eingegriffen hat, da setzt sie sich fest, besetzt Länder und zwingt diese in ihre Mitgliedschaft. Diese Mitgliedschaft wiederum setzt voraus, dass diese Länder selbst ihre Armeen befähigen, weltweit im NATO-Verbund Krieg zu führen. Dieser räumliche Expansionsdrang wird begleitet von dem Vordringen einer militärischen Bündnisstruktur in zivile, innerstaatliche Bereiche. Denn die neuen Staaten und diejenigen, die von der NATO umgebaut werden, werden von ihrem Sicherheitssektor her gedacht, von ihren strategischen Potentialen her. Die Sicherheit, welche die NATO versucht herzustellen, ist nicht die Sicherheit der Bevölkerung, sondern die Sicherheit ihrer kapitalistischen Zentren vor der Bevölkerung einer verarmten und verarmenden Peripherie.

Dies war nicht immer so. Doch indem die NATO beschloss, nach dem Ende des Warschauer Paktes in den postsowjetischen Raum vorzudringen, indem sie mehrfach auf die militärische Eskalation setzte, indem sie bereit war, mit massiven Luftschlägen zu intervenieren und indem sie bei den anschließenden militärischen Besatzungen ihre eigenen strategischen Expansionsinteressen verfolgte, anstatt zivile Organisationen zu unterstützen, die Interessen der Bevölkerung zu berücksichtigen und eine stabile Ordnung zuzulassen, ist sie geworden, was sie heute ist: Eine imperiales Bündnis, die Struktur des westlichen Militarismus. Rainer Rupp schrieb dazu 2001: "Das 'Neue Strategische Konzept' der NATO wurde mitten im Bombenkrieg gegen Jugoslawien, [im] April 1999 auf dem NATO-Gipfeltreffen in feierlicher Sitzung zum 50. Jahrestag der Gründung der NATO von den Staats- und Regierungschefs der NATO-Länder unterzeichnet. Außer den territorialen Grenzen der Mitgliedsstaaten 'verteidigt' nun die 'neue' NATO unscharf definierte Sicherheitsinteressen aller Art, die allerdings auch explizit 'den Zugang zu Rohstoffen' umfassen. Diese 'Interessen' werden offensiv, außerhalb des traditionellen Zuständigkeitsbereich der NATO im euro-atlantischen Raum verteidigt."[33] Lothar Rühl als Befürworter dieses Kurses drückte das im selben Jahr folgendermaßen aus: "Was auf dem Balkan geschah, war ein Schritt über den Rubikon von der gemeinsamen Verteidigung des europäischen Bündnisgebietes zur gemeinsamen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates... Doch Eingreifen heißt Durchgreifen, und Durchgreifen bedeutet Partei ergreifen, um eine bestimmte politische Lösung des Problems durchzusetzen. Dafür muss die Intervention über die Militärmachtanwendung hinaus fortgesetzt werden mit politischen Mitteln und zivilen Institutionen. Dies bedeutet im Kosovo seit Juni 1999 wie in Bosnien seit Dezember 1995 eine Kombination von Militärpolizei, Pionierdienst, Fernmeldedienst, technischer Nothilfe und Sanitätsversorgung der Bevölkerung."[34]


Anmerkungen

[1] Mit Ausnahme des Kosovo, dessen Charakter als Staat umstritten ist, der aber auch darüber hinaus bis vor wenigen Monaten über keine offizielle Armee verfügte. Diese wird inzwischen von der NATO aufgebaut.

[2] Robert Serry / Christopher Bennett: Kurs halten, NATO-Brief Winter 2004

[3] Zit. nach: Rainer Rupp: Die imperialen Absichten der USA auf dem Balkan, in: junge welt, 23.6.2001

[4] Hari Bucur-Marcu: Assessing the Status of PAP DIB Implementaion, in: Connections, Quarterly Journal, Vol. VII, No. 2/2008

[5] z.B.: Julie Kim: East Central Europe: Status of International Criminal Court (ICC) Exemption Agreements and U.S. Military Assistance, CRS Report for Congress, 2003

[6] Heinz Vetschera: Verteidigungsreform in Bosnien und Herzegowina, in: Erich Reiter / Predrag Jurekovic: Bosnien und Herzegowina - Europas Balkanpolitik auf dem Prüfstand, Nomos 2005

[7] The NATO Handbook (2001)

[8] Jeffrey Simon: Partnership For Peace - Charting A Course For A New Era, in: U.S. Foreign Policy Agenda, June 2004

[9] US State Departement: Military Assistance - International Military Education and Training, Foreign Military Financing, Peacekeeping Operations,
http://www.state.gov/documents/organization/9468.pdf

[10] Gunther Hauser: Regional Approaches to Comprehensive Security in Europe, in: Gunther Hauser / Franz Kernic: European Security in Transition, Ashgate Publishing, 2006

[11] Headquarters of the Multinational Peace Force South-Eastern Europe: Information Booklet,
http://www.seebrig.org/files/file/Information%20Booklet.rar

[12] Eugene Rumer / Jeffrey Simon: A Euro-Atlantic Strategy for the Black Sea Region, National Defense University / Institute for National Strategic Studies Staff Analysis, Januar 2006

[13] Zeljko Ivankovi und Dunja Melci: Der bosniakisch-kroatische "Krieg im Kriege", in: Melcic, Dunja: Der Jugoslawien-Krieg - Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, VS-Verlag 2007

[14] Peter Andreas: The Clandestine Political Economy of War and Peace in Bosnia, in: International Studies Quarterly 48, 2004

[15] Michael Ehrke: Von der Raubökonomie zur Rentenökonomie - Mafia, Bürokratie und internationales Mandat in Bosnien, in: Internationale Politik und Gesellschaft / International Politics and Society 2/2003

[16] Hans-Joachim Rutz: Der Beitrag der deutschen Marine zur Embargo-Operation in der Adria von 1992 bis 1996, in: Hartmut Klüver: Auslandseinsätze deutscher Kriegsschiffe im Frieden, Winkler 2003

[17] Heinz Vetschera: Verteidigungsreform in Bosnien und Herzegowina, in: Erich Reiter / Predrag Jurekovic: Bosnien und Herzegowina - Europas Balkanpolitik auf dem Prüfstand, Nomos 2005

[18] Vetschera 2005

[19] Christian Haupt and Jeff Fitzgerald: Negotiations on Defence Reform in Bosnia and Herzegovina, in: Predrag Jurekovi / Frédéric Labarre: From Peace Making to Self Sustaining Peace - International Presence in South East Europe at a Crossroads, National Defence Academy 2004

[20] Der erste Vorsitzende James Locher III ist zwar offiziell nur als US-Staatsbürger private Vertragspartei in der Kommission, durch Beschluss des HR von Ende 2004 wird die Kommission jedoch von zwei Vorsitzenden geleitet werden, von denen einer "ein hochrangiger ziviler Bediensteter der NATO" sein soll. Vgl: James Locher: Die Reform der Verteidigungsinstitutionen Bosniens und Herzegowinas, in: Nato Review (Winter 2004)

[21] Locher 2004

[22] Serry / Bennett 2004

[23] Paddy Ashdown / Richard Holbrooke: A Bosnian powder keg, in: Guardian (22.10.2008)

[24] Dieser Abschnitt gibt im wesentlichen die von Andreas Heinemann-Grüder und Wolf-Christian Paes aufgearbeiteten Fakten wieder: Wag the Dog - The Mobilization and Demobilization of the Kosovo Liberation Army, BICC-Brief 20, Bonn International Center for Conver- sion, 1999

[25] Scott Park: "State Department once called new allies 'terrorists': Cohen: For KLA victory, but not for KLA", in: Human Events, 30.4.1999

[26] Tiny Mason: Kosovo - The Air Campaign, in: Stephen Badsey/ Paul Latawski: Britain, NATO and the Lessons of the Balkan Conflicts 1991-1999, Frank Cass 2004

[27] International Crisis Group (ICG): An Army for Kosovo?, Europe Report N°174

[28] vgl.: "NATO bildet neue Kosovo-Armee aus", Deutsche Welle, 12.6.2008 sowie: "NATO plant Kosovo-Armee", RIA Novosti, 8.2.2008

[29] Institut für Europäische Politik (IEP): Operationalisierung von Security Sector Reform (SSR) auf dem westlichen Balkan, Studie im Auftrag des ZTransfBw, Januar 2007

[30] Andreas Heinemann-Grüder / Wolf-Christian Paes 1999

[31] Robert Serry / Christopher Bennett: Kurs halten, NATO-Brief Winter 2004

[32] Milan Jazbec: Defence Reform in the Western Balkans - The Way Ahead, DCAF Policy Paper April 2005

[33] Rainer Rupp: Strategischer Fehler Eisenhowers durch NATO-Angriff korrigiert,
http://www.medienanalyse-international.de/rainer.html

[34] Lothar Rühl: Die NATO und ethnische Konflikte, in: APUZ 20/2001


Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

Die Broschüre "Kein Frieden mit der NATO - Die NATO als Waffe des Westens" wurde von der Informationsstelle Militarisierung e.V. und der DFG-VK herausgegeben. Sie kann direkt heruntergeladen werden unter:
http://imi-online.de/download/webversion-imi-nato.pdf

Der hier veröffentlichte Beitrag kann als Einzeltext heruntergeladen werden:
http://imi-online.de/download/CM-NATO-Balkan.pdf


*


Quelle:
IMI-Studie 2009/03 - 15.2.2009
Broschüre "Kein Frieden mit der NATO - Die NATO als Waffe des
Westens", S. 41
Februar 2009
Herausgeber: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Hechinger Str. 203, 72072 Tübingen
Tel.: 07071/49154, Fax: 07071/49159
E-Mail: imi@imi-online.de
Internet: www.imi-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2009