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IMI/370: Eskalation in "Bad Taloqan"


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.

Eskalation in "Bad Taloqan"

Von Jonna Schürkes


Taloqan im Nordosten Afghanistans galt lange als einer der ruhigsten Flecken im Land, weshalb Die ZEIT ihn noch vor einem Jahr als Kurort - als "Bad Taloqan" - betitelte, um damit auf die vermeintlich erfolgreiche Arbeit des Regionalen Beraterteams der Bundeswehr und die gute Zusammenarbeit mit der afghanischen Polizei in dieser Region hinzuweisen (Die ZEIT, 17.05.10). Vor dem Stützpunkt eben jenes Beraterteams wurden jedoch am 17.Mai bei Protesten gegen die NATO-Truppen ISAF und die afghanische Regierung mindestens 14 Menschen von Bundeswehrsoldaten und afghanischen Polizisten erschossen, ca. 80 Menschen wurden verletzt.

Anlass der Demonstration war die Tötung von vier Menschen in der Nacht zuvor. Der Nachtangriff ("night raid"), der nach Angaben der ISAF von US-Spezialkräften und afghanischen Sicherheitskräften durchgeführt wurde, war demnach gegen einen Führer der Islamischen Bewegung Usbekistans gerichtet. Auf dem Gelände, das von den Soldaten angegriffen wurde, wurde der Gesuchte allerdings offenbar nicht angetroffen. Stattdessen wurden vier Personen getötet, davon zwei Frauen.

Während ISAF erklärte, bei den vier getöteten Menschen habe es sich um Aufständische gehandelt, sind nicht nur die Demonstranten sondern auch der lokale Polizeichef und Präsident Karsai der Überzeugung, dass vier Zivilisten starben.

Night raids gelten auch dem Auswärtigen Amt zufolge als probates Mittel zur Aufstandsbekämpfung (Spiegel Online, 22.05.11). Im August 2010 erklärte der ISAF-Kommandeur David Petraeus, innerhalb von 90 Tagen hätten fast 3000 solcher Nachtangriffe stattgefunden. Die Zahl dieser Art von Angriffen nimmt weiter zu, obwohl die Trefferquote von Petraeus selbst als extrem schlecht eingestuft wird: Für jede gesuchte Person, die getötet oder gefangen genommen wird, würden drei Menschen, die nicht Ziel der Angriffe sind, getötet und vier weitere festgenommen (IPS-News, 15.09.10). Ein kürzlich erschienener Bericht von Oxfam und anderen NGOs stuft Night Raids als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung ein: "Auch wenn es in den letzten zwei Jahren einige Verbesserungen gegeben hat, schließen Night Raids in vielen Fällen die exzessive Gewaltanwendung, die Zerstörung und/oder den Diebstahl von Eigentum und die Misshandlung von Frauen und Kindern mit ein."(Oxfam: No time to lose, 10.05.11)

Angesichts dessen ist es allzu verständlich, dass die afghanische Bevölkerung gegen diese Form der Kriegsführung protestiert. Insgesamt ist festzustellen, dass es in Afghanistan immer häufiger Demonstrationen gegen die NATO-Truppen und die afghanische Regierung gibt. Die Bundesregierung hingegen versucht diese Demonstrationen als Ausdruck des Protestes zu verunglimpfen, indem sie behauptet, sie seien von den Taliban inszeniert. Diese Darstellung deckt sich jedoch in keinster Weise mit den Berichterstattungen über diese Proteste.

Die Demonstration vom 17. Mai begann am Morgen mit zunächst ca. 2000 Menschen in der Stadt. Es wurden die Leichen der vier getöteten Menschen durch die Stadt getragen, die Protestierenden "riefen Schmährufe gegen die USA und Präsident Hamid Karsai. 'Tod Karsai! Tod den USA!' hieß es" (Die Welt, 18.05.11). Bereits zu diesem Zeitpunkt ging die Polizei gewaltsam gegen die Demonstration vor, es gab erste Verletzte und Tote. "Die Menge sei später auf 15.000 angewachsen, darunter viele Schüler, die zum Teil bewaffnet gewesen seien, örtliche Einrichtungen angegriffen und Geschäfte und Autos demoliert hätten. Dabei seien Handgranaten über die Einfriedung des deutschen PAT [Stützpunkt des Regionalen Beraterteams] geworfen und nach afghanischen Angaben zwei deutsche Soldaten und drei afghanische Wachleute verletzt worden" (taz, 18.05.11).

Zunächst hieß es, die Bundeswehrsoldaten hätten "nur" Warnschüsse abgegeben und auf die Beine von gewaltbereiten und bewaffneten Demonstranten geschossen. Erst später gab das Einsatzführungskommando der Bundeswehr bekannt, in mehreren Fällen hätten die Soldaten auf den "Rumpfbereich beziehungsweise Arme und Hände" und den "Hals-Kopfbereich" geschossen.

Am nächsten Tag demonstrierten die Menschen erneut vor einer Polizeistation in Taloqan, wieder versuchte die Polizei die Demonstration gewaltsam aufzulösen, erneut wurden Menschen verletzt.

Obwohl in den Berichten alles darauf hindeutet, dass sich die Proteste gegen das Vorgehen der NATO und der afghanischen Polizei richteten, wurde auch in diesem Fall vonseiten der Bundesregierung versucht, die Demonstration zu delegitimieren und damit zugleich ihre Niederschießung zu rechtfertigen. So sprach Verteidigungsminister De Maizière von einer von den Taliban inszenierte Demonstrationen (NDR, 30.05.11). Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt, führte diese Behauptung am 25. Mai im Bundestag weiter aus: "[Es] liegen Erkenntnisse vor, dass diese Gewaltausbrüche von regierungsfeindlichen Kräften und lokalen Machthabern langfristig geplant waren. Das war keine spontane Aktion, die aus der vorangegangenen Erfahrung vom Vortag erwachsen ist. Es war eine geplante Aktion".

Inwiefern allerdings die von der Bundeswehr getöteten Zivilisten dabei eingeplant gewesen sein sollten, die den Anlass für die Proteste gaben, hierauf ging Hoyer nicht ein (BT-Drs. 17/12549).

Noch widersprüchlicher wird die Argumentation der Bundesregierung allerdings, wenn Hoyer nur wenige Sätze später behauptet, die Protestaktion hätte "offensichtlich eher etwas mit einer Unzufriedenheit von Teilen der afghanischen Gesellschaft zu tun..., die auf den geringen Möglichkeiten zur Partizipation an politischen und ökonomischen Prozessen beruht. Von daher war das gar nicht gegen ISAF gerichtet ".

Nur wenige Tage später, am 28. Mai traf sich der deutsche ISAF-Kommandeur Markus Kneip mit dem Gouverneur von Taloqan, dem örtlichen Polizeichef und dem Polizeikommandeur, um über das weitere Vorgehen nach der Niederschlagung der Proteste zu beraten. Ein Sprengsatz in dem Gebäude tötete neben den beiden Polizeichefs auch zwei deutsche Soldaten und zahlreiche weitere Menschen, Kneip wurde verletzt. Auch hier wurde schnell von der Bundesregierung behauptet, der Anschlag habe der afghanischen Polizei, nicht aber dem deutschen General gegolten. Zugespitzt sei die Bombe also eher zufällig gerade zu dem Zeitpunkt explodiert, als hochrangiger ISAF-Besuch anwesend war.

Offensichtlich versucht die Bundesregierung mit ihren Falschdarstellungen, den Misserfolg ihrer Strategie zu verleugnen. Weder die Schüsse auf Demonstranten, noch der Anschlag könnten Deutschland davon abbringen, diese Strategie in Afghanistan weiter zu verfolgen, erklärte Westerwelle eilig (NZZ, 29.05.11). Ernst-Reinhard Beck, verteidigungspolitischer Sprecher der CDU, forderte hingegen, die Bundeswehr müsse nun reagieren (obwohl sie doch gar nicht gemeint war), und dass nun ein entsprechender Gegenschlag gegen die Taliban-Organisation in dieser Provinz erfolgen müsse (Spiegel Online, 30.05.11). Offenbar setzt die Bundeswehr weiter auf Eskalation und Aufstandsbekämpfung im klassischen Sinne, bei der alle Gegner der Besatzer oder reine Sympathisanten zu Taliban und damit zu militärischen Gegnern erklärt werden. Mit weiteren zivilen Opfern, (gewalttätigen) Demonstrationen und deren Niederschießungen wird also zu rechnen sein.

Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
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Quelle:
IMI-Standpunkt 2011/031 vom 2.6.11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2011