Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

INTIFADA/010: Zeitschrift für antiimperialistischen Widerstand Nr. 34 - Herbst/Winter 2011


Intifada Nummer 34 - Herbst/Winter 2011
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand



INHALT
Editorial
Vom Tahrir-Platz nach Europa
ARABISCHER RAUM
Der lange Weg zum Volk
Die syrische Opposition auf dem Scheideweg
Syrischer Aufstand braucht zivilen Schutz, keine Intervention
Soubhi Hadidi im Gespräch
Stellungskrieg in Kairo
Arabische Aufstände und die Krise der ägyptischen Opposition
Ägypten verlässt den Westen
Reisebericht aus einem Land im Umbruch
Die nächste Revolution wird sozial sein
Abdelhalim Qandil im Gespräch
Revolution in den Mühen der Ebene
Wie der tunesische Aufstand weitergeht
Die tunesische Linke bleibt bei ihrer Familie
Kein Dialog zwischen Linken und Islamisten
Einheitsfront der Opposition unmöglich?
Politische Beobachtungen aus Tunesien
Syrien darf nicht Libyen werden
"Nato-Bodentruppen" sind keine Rebellen
Kein Frühlingserwachen
Die arabischen Volksaufstände und Palästina
Vor allem aber Gründlichkeit
Beobachtungen aus Palästina
Erdölreichtum und politische Armut
Saudi-Arabien im Kontext des arabischen Frühlings
EUROPA/ÖSTERREICH
Der Euro
Anatomie des Zerfalls
THEORIE
Der Euro und die EU
Zur Politischen Ökonomie des Imperiums-Aufbaus
Die Salafisten im revolutionären Ägypten
Eine Analyse des islamistischen Lagers
KULTUR
Die arabischen Revolutionen sind mir eine Bestätigung
Heiny Srour im Gespräch
Der Dschinn ist los
Interview mit Chalid al-Chamissi
Footnotes in Gaza
Rezension

Raute

EDITORIAL

Vom Tahrir-Platz nach Europa

Zu Beginn dieses Jahres erzählte man sich im arabischen Raum den Witz, dass das nächste arabische Gipfeltreffen eine Kennenlern-Runde sein würde; dass nämlich der arabische Frühling die altbekannten Staatsoberhäupter allesamt wegfegen werde. Im Herbst nach dem Frühling wird deutlich, dass diese Vorstellung zu optimistisch war. Tatsächlich, und das ist vieler Beiträge dieser Nummer der Zeitschrift Intifada, sind die arabischen Aufstände der letzten Monate nur der Beginn eines langen und komplexen Prozesses. Mancherorts hat er die Diktatoren abgesetzt, aber hängt jetzt in den Mühen der Ebene. Andernorts ist er zum Einfallstor des Westens geworden oder könnte es werden. Oder er rennt gegen Regime an und droht daran zu verbluten. Deutlich ist geworden, dass es mancherorts mehr, andernorts weniger, aber letztlich überall an politischer Weitsicht, Strategie und Führung fehlt. Die Kehrseite der unabhängigen, spontanen und virtuellen Jugendrevolte.

Dennoch, die Aufstände haben die Verhältnisse gehörig ins Wanken gebracht. Dazu gehört auch, dass das Alte untergeht, während sich das Neue noch nicht entwickeln konnte. Dies mag für die arabische Linke gelten, die sich gerade entzweit. Das Neue ist aber auch, dass der politische Islam seine Rolle als Führung des Widerstandes verloren hat. Man sollte dennoch keine voreiligen Schlüsse ziehen. Es braucht noch mehr, damit die verarmten Massen einer revolutionären Führung folgen, ja, damit sich eine solche überhaupt bilden kann.

Neu ist auch, dass die Dynamik der arabischen Aufstände bis nach Europa ausstrahlt. Die Protestbewegungen in Griechenland und Spanien beziehen sich in Form und Inhalt auf den arabischen Frühling. Zwar sind die Erschütterungen vor allem hierzulande noch nicht fühlbar. Doch das mag sich mit dem Fortschreiten der Eurokrise ändern. Zumal mit Italien ein europäisches Kernland ins Wanken kommt.

Raute

ARABISCHER RAUM

Der lange Weg zum Volk

Die syrische Opposition auf dem Scheideweg

Von Mohammad Aburous

Die syrische Volksrevolte stellt die arabischen progressiven Kräfte und die antiimperialistische Solidarität vor ein schwerwiegendes Dilemma. Während im Fall von Tunesien und Ägypten Konsens für die Bewegungen gegen die prowestlichen Diktaturen herrschte, so sind die Meinungen über Libyen und Syrien geteilt.


Grund für die unterschiedlichen Herangehensweisen sind die direkte militärische Intervention der NATO in Libyen und die Dynamiken, die einen ähnlichen Ausgang in Syrien herbeiführen könnten. Das syrische Regime unterliegt dem westlichen Diktat nicht zu hundert Prozent. Vielmehr verteidigt es seine Souveränität durch kalkulierte Unterstützung des palästinensischen und libanesischen Widerstands sowie durch die Allianz mit dem Iran. Die Volksrevolte richtet sich nicht gegen diese Haltung des Staates, sie hat zwar sozialen Charakter, jedoch bringt sie das Regime ins Visier des Westens, der sein bestes tut, um den Aufstand als Erpressungsmittel gegen Bashar al-Assad zu instrumentalisieren. In einem historischen Moment, in dem die syrische und die gesamte arabische Linke erneut eine Chance hätte, gesellschaftliche Relevanz zu erlangen, wird sie von den Ereignissen überrumpelt und durch dieses Dilemma mehr geschwächt als durch den Volksaufstand gestärkt.

Komparsen in der Bernard Henry Levi-Show

Wie aus einer Einmischung des Westens zugunsten von Demokratie in einem arabischen Land der gewohnte koloniale und pro-zionistische Diskurs wird, das zeigte am 4. Juli die Solidaritätskonferenz mit der syrischen Opposition, die von der Zeitschrift Règles de Jeu [Spielregeln] des französischen Denkers Bernard-Henry Levy organisiert wurde. Der Charakter der Organisatoren sowie die Prominenz der Teilnehmer aus der französischen Elite warfen Fragen über die syrischen Teilnehmer und ihre Verbindung zu westlichen und zionistischen Interessen auf.

Unter den Teilnehmern befanden sich prominente Figuren der Sarkozy-Elite und alte Ideologen des Kalten Krieges vom Kaliber eines Glucksman. Der Ton der Konferenz drückte die westliche und zionistische Herangehensweise an die Frage der Demokratie im Arabischen Raum aus. Zwei junge Aktivisten der syrischen Opposition wurden sofort des Konferenzraums verwiesen, als sie den zionistischen Charakter der Organisatoren und ihre Rolle bei der Unterstützung Israels sowie dessen Verbrechen an den Palästinensern kritisierten. Zur Gewährleistung der Sicherheit im Saal waren prozionistische Aktivisten bereit gestellt. In Paris lebende Führer der syrischen Opposition, wie etwa Haytham Manna and Subhi Hadidi warnten vor dem politischen Charakter der Konferenz, der die Tür für eine Auslandsintervention à la Libyienne öffnen würde.

Sieben Konferenzen und eine tiefe Spaltung

Die Pariser Konferenz war das dritte Treffen der syrischen Auslandsopposition nach den Parallelkonferenzen von Brüssel und Antalya im Juni. Die Brüsseler Konferenz erhielt viel mediale Aufmerksamkeit und vermittelte den Eindruck, es formiere sich eine Oppositionsfront gegen das Regime, die auch den Forderungen der Aufständischen im Land eine politische Stimme verleiht.

Während die Brüsseler Konferenz nur Reformforderungen stellte und im Schatten der Antalya-Konferenz stattfand, war letztere von der Moslembrüderschaft dominiert und vom türkischen Staat stark beeinflusst. Sie forderte als erste den Sturz des Regimes (und verwendete auch die Fahne Syriens statt der offiziellen panarabischen Fahne). Der mediale und politische Erfolg der Antalya-Konferenz spaltete die Gruppe um die Damaskus-Erklärung, die bekannteste syrische Oppositionsgruppe. Die Führer der Damaskus-Erklärung kritisierten die Konferenz aufgrund der islamistischen und türkischen Vereinnahmung. Sie wurden im Gegenzug von einigen Konferenzteilnehmern als stalinistisch bezeichnet. Das Regime selbst nützte den antagonistischen Charakter der Konferenz, um seine Repression gegen die moderatere Opposition im Inland zu rechtfertigen.

Angesichts des warnenden Beispiels Libyen ist die syrische Opposition in ihrer Haltung zu einer ausländischen Intervention gespalten.

Angesichts der zunehmenden westlichen Einmischung und des warnenden Beispiels Libyen ist die syrische Opposition in ihrer Haltung zu einer ausländischen Intervention und zum Ausmaß, das eine solche annehmen sollte, gespalten. Zwar begrüßt keine Gruppe offen eine Militärintervention der NATO, jedoch unterscheiden sich die Positionen zu einer möglichen Intervention der "moslemischen" Türkei. Die Moslembruderschaft, kurdische und liberale Gruppen befürworten eine türkische Intervention. Hingegen berichtete der syrische Oppositionelle Burhan Ghalyun in einem Artikel, die Türkei habe eine Massenflucht über die Grenze provoziert, damit ein Flüchtlingsproblem entstehe und der Weg für eine türkische Militäroperation bereitet werde, deren Ziel es sei, eine Sicherheitszone auf syrischem Boden zu errichten.

Andererseits ist es auch die Haltung des Regimes, die dem pro-westlichen (und pro-türkischen) Teil der Opposition ermöglicht, die Oberhand zu erlangen. Die meisten Oppositionsführer im Land wurden verhaftet. Denn gerade, als nach der Pariser Konferenz die Auslandsopposition leicht diskreditiert war und eine Oppositionskonferenz in Damaskus stattfand und das Regime zu einem Dialog mit den Oppositionskräften im Land aufrief, eskalierte der Staatsapparat die Gewalt gegen die Demonstranten. Als in Istanbul zu einer neuen Konferenz der Opposition für den 17. Juli aufgerufen wurde, geschah dies gleichzeitig in Damaskus. Nur wurde die Konferenz in Damaskus gewaltsam aufgelöst, was praktisch die Initiative wieder an die Auslandsopposition übertrug. Mit seiner bisher letzten Eskalation beendete das Regime jede Möglichkeit zum Dialog und setzte nunmehr auf die Keule.

Auf der Seite der Opposition hat wiederum die Konferenz von Istanbul die Unfähigkeit der Auslandsopposition, einen Konsens gegen das Regime zu finden, gezeigt. Mehrere Teilnehmer berichteten über die hegemoniale Position der Moslembruderschaft. Der Versuch, eine Exilregierung zu bilden, artete in einen Kampf um die Sitze aus. Kurdische Teilnehmer forderten die Streichung des Wortes "Arabisch" aus dem offiziellen Namen Syriens ("Arabische Syrische Republik"), was für alle anderen Teilnehmer inakzeptabel war. Sie zogen sich (bis auf jene aus islamischen Milieus) von der Konferenz zurück. Nach der Konferenz von Istanbul herrschte Funkstille seitens der Auslandsopposition. Das islamistische Milieu veranstaltete in Zusammenarbeit mit der Türkei eine Konferenz von Religionsgelehrten, die dem Regime Assad aus religiöser Sicht die Legitimität entzog.

Jeder Kompromiss mit der Opposition wäre für die Mächtigen im Staatsapparat ein Machtverlust.

Ende August kündigten die in Istanbul versammelten Oppositionskräfte einen Übergangsrat an. Die Erklärung einer Auslandsführung der Opposition wurde von einigen Exponenten der Bewegung als einseitig und nicht-repräsentativ kritisiert. Beispielsweise hatten schon einige Tage zuvor andere Gruppen einen Koordinationsrat ausgerufen. Eine Woche später riefen Aktivisten der Jugend der Syrischen Revolution erneut einen Übergangsrat aus. Dessen 94 Mitglieder sollen einen repräsentativen Querschnitt durch die syrische Gesellschaft darstellen. Inwieweit dieser Übergangsrat tatsächlich repräsentativ ist und wie die unterschiedlichen politischen Kräfte darauf reagieren werden, ist derzeit noch nicht abzusehen.

Im Inland entwickelte die Bewegung während der großen Offensive des Regimes im Juli und August allmählich ihre lokalen Führungen und Koordinationen. Vergebens durchquerte die vierte Division, eine aus den loyalsten Elitetruppen zusammengesetzte Einheit der Armee, das Land und stürmte eine Stadt nach der anderen. Das Ausmaß an Tod und Zerstörung ist umstritten und wird erst durch unabhängige Untersuchungen festgestellt werden können. Kaum verließ die Armee jedoch einen Ort, entflammten die Massenproteste erneut und in größerer Zahl als zuvor.

Regime verabsäumt Dialog

Die vom Regime angekündigten Reformen kommen nach dem Blutbad zu spät und es stößt nunmehr sowohl im In- als auch im Ausland auf taube Ohren. Auch in der Annahme, dass Präsident Assad an einer Versöhnung interessiert wäre, bleibt es zweifelhaft, ob er diese seinem Staatsapparat aufzwingen könnte. Assad selbst war als schwache Person der Kompromiss zwischen den Machtzentren des syrischen Regimes. Jeder Kompromiss mit der Opposition wäre jedoch für die Führenden im Staatsapparat ein Machtverlust. Sie würden daher versuchen, jede Deeskalation zu torpedieren.

In diesem Sinne ähnelt die Taktik des syrischen Regimes bei seiner Offensive jener der anderen Regime in der Region: Gewaltsame Beendigung der Revolte und gleichzeitig Ankündigung von Reformen. Die Tendenz der Opposition, vermehrt zu Waffen zu greifen, macht die militärische Lösung für das Regime politisch vertretbar. Im Unterschied zu anderen Staaten wie Bahrain oder Jordanien kann sich das Regime nicht der vollen Unterstützung des Westens sicher sein. Möglicherweise sieht der Westen in Assad einen angenehmen und berechenbaren "Feind", aber je schwächer das Regime wird, desto bereiter ist der Westen, die Regimegegner zu unterstützen. Das Regime befindet sich daher in einem Rennen mit der Zeit. Es muss die Revolte schnell genug ersticken: Wackelt Assad, so wird nach dem Nächstbesten gesucht und diesen versucht die Moslembruderschaft (nicht nur in Syrien) anzubieten. Wenn dabei noch die syrische Armee durch NATO-Angriffe dezimiert wird, ist das auch aus israelischer Sicht begrüßungswert.

Die Interessen der Auslandsopposition treffen sich mit jenen des Westens, die syrisch-iranische Achse zu brechen und ein sunnitisches Bündnis gegen die Schiiten aufzubauen.

Auf der anderen Seite steht eine Auslandsopposition, die zunehmend von der Moslembruderschaft dominiert wird. Sie hat eine offene Rechnung mit dem Regime, das 1983 ihren bewaffneten Aufstand blutig niederschlug. Auch wenn das Regime versuchen sollte zu deeskalieren, würden die Brüder danach trachten, Kanonenfutter auf den Straßen zu mobilisieren, das das Regime mit hoher Wahrscheinlichkeit auch opfern würde.

Die Interessen der Auslandsopposition, die syrisch-iranische Achse zu brechen und ein sunnitisches Bündnis gegen die Schiiten aufzubauen, treffen sich aktuell mit jenen des Westens und seiner Alliierten in der Region. Im August verurteilte die Arabische Liga das Vorgehen des Regimes, und mehrere arabische Staaten zogen ihre Botschafter aus Damaskus ab. Im Westen wurden die Sanktionen gegen Syrien verschärft. Für den Westen muss das syrische Regime unter Druck gesetzt werden, um bestimmte Forderungen zu erfüllen: Die Grenzen zum Staat Israel effizient zu sichern, die Beziehung zu den Widerstandsbewegungen in der Region und zum Iran abzubrechen und sich in der westlichen politischen und wirtschaftlichen Ordnung in der Region zu integrieren.

Das grundlegende Dilemma

Der allmähliche Umstieg der Aufständischen auf den bewaffneten Kampf hat seine Gründe in der exzessiven Gewaltanwendung seitens des Regimes. Der Staat ist vermehrt auf treue konfessionelle (alewitische) Elemente angewiesen, während die Opposition (vor allem im Ausland) vermehrt einen sunnitischen Charakter annimmt. Die Militarisierung, begleitet von einer Horizontalisierung der Konfrontation, kann jedoch eine schnellere Desintegration des Staates beziehungsweise eine ausländische Intervention herbeiführen.

Anders als in anderen arabischen Staaten ist die Massenbewegung mit einer Diktatur konfrontiert, die nicht vollständig prowestlich ist. Die Demokratiebewegung hat mit einem Regime zu tun, das offiziell Widerstandsbewegungen in der Region unterstützt und eine strategische Allianz mit dem Iran eingegangen ist. Diese Linie machte bislang die real existierende Widerstandsachse in der Region aus. Daher ist eine westliche Intervention zu erwarten, bei der die Bewegung instrumentalisiert wird, um die regionalen Verhältnisse zugunsten des Westens zu verschieben. Das erklärt die Reaktionen von Diktaturen wie Saudi Arabien oder Bahrain, die im Einklang mit der westlichen Eskalation ihre Botschafter aus Damaskus abzogen.

Wie in anderen arabischen Staaten ist diese Bewegung sozial motiviert und ein Ergebnis der starken Liberalisierung der Wirtschaft in den letzten zehn Jahren. Die Aufstände brachen gerade in den ländlichen Gebieten aus, in denen das Regime früher die größte Unterstützung genoss. Anfangs beschränkten sie sich auf lokale soziale Forderungen und verbreiteten sich durch die Brutalität des Regimes langsam, aber stetig im Land. Erst spät wurde der Sturz des Regimes zu einer politischen Forderung der Massen, zu einem Zeitpunkt, als das Regime seine Inflexibilität gegenüber den politischen Reformforderungen bewies.

Der spontane Charakter der Aufstände lässt alle Türen für jegliche Intervention offen, sei es durch nationale politische Kräfte oder durch das Ausland.

Historisch hatte das syrische Regime sozialistische Elemente. Landreform, freier Zugang zu Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Beschäftigungspolitik sicherten ihm die Unterstützung in den ärmeren ländlichen Gebieten. Hingegen war die Opposition eher städtisch und verbreitete sich in den Mittelschichten. Sie war entweder kulturell motiviert (islamistische Opposition) oder ihre Hauptanliegen waren die Frage der Demokratie und der politischen Freiheiten (Linke und Liberale). Deswegen gestaltet es sich für die existierenden Oppositionsgruppen schwierig, den ausgebrochenen Volksaufstand politisch und sozial zu artikulieren. Die westliche Einmischung machte es die Regime leicht, Oppositionsgruppen als Auslandsagenten zu bezeichnen, während ausschlaggebende Exponenten der Opposition in ihrem liberalen Diskurs sowohl die soziale Frage als auch die nationale Souveränität völlig außer Acht ließen. Diese Kluft erklärt die mangelnde Verankerung der Auslandsopposition in den aufständischen Gruppen und die Tendenz der islamischen Gruppen, den Konflikt durch aus dem Ausland eingeschleuste Gruppen zu militarisieren.

Es besteht kein Zweifel daran, dass der Geist des Aufstands, der durch den Arabischen Raum geht, dem authentischen Volkswillen entspringt und eine natürliche Folge der jahrelangen Herrschaft von Regimen ist, die einander trotz politischer Unterschiede in ihrem mafiösen und repressiven Charakter stark ähneln. Der spontane Charakter der Aufstände lässt alle Türen für jegliche Intervention offen, sei es durch nationale politische Kräfte oder durch das Ausland. Durch den Ausfall der Linken, der nur teilweise durch jahrelange Repression zu erklären ist, mangelt es bei den Massenaufständen an politischer Artikulation. Dadurch wird es für demagogische Kräfte, sei es seitens des Regimes oder der Moslembruderschaft, leichter, den Aufstand zu diffamieren beziehungsweise zu instrumentalisieren. Anstatt durch die historische Chance eines Volksaufstands mit sozialem Charakter zu wachsen, steht die von den Ereignissen überrumpele Linke gespalten und machtlos da und verliert das Feld an die besser organisierte Moslembruderschaft und an andere islamistische Milieus. Ändert sich nichts daran, so kann der "Arabische Frühling" in einer Neuauflage des imperialistischen Regimes enden, die bestenfalls grün angestrichen ist.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Solidaritätskundgebung in Nazareth
- Solidaritätskundgebung in Jerusalem

Raute

ARABISCHER RAUM

"Syrischer Aufstand braucht zivilen Schutz, keine Intervention"

Soubhi Hadidi im Gespräch

Der bekannte Gegner des Assad-Regimes und Literaturkritiker Soubhi Hadidi spricht über die Stärken und Schwächen der Oppositionsbewegung in Syrien.

Das Interview führte Ali Nasser


Intifada: Der 9. September 2011 wurde von den syrischen Aufständischen "Freitag des internationalen Schutzes" getauft. Verlangen die Aufständischen in Syrien tatsächlich eine ausländische Intervention?

Soubhi Hadidi: Man muss zwischen internationalem Schutz durch Staaten und Regierungen einerseits und durch zivile Organisationen andererseits unterscheiden. Ersteren können wir nicht vertrauen, da sie in Sachen Menschenrecht mit zweierlei Maß messen und weil sie ihre eigenen Interessen haben. Zweiteres bedeutet, dass Nicht-Regierungsorganisationen wie z.B. Amnesty International, Human Rights Watch und andere Menschenrechtsorganisationen ihre Beobachter schicken. Es bedeutet auch freie Bewegung und Berichterstattung für internationale (arabische und nicht-arabische) Medien. Ihre Präsenz in den unterschiedlichen syrischen Städten kann die Brutalitäten des Regimes signifikant eindämmen. Das ist etwas anderes als Hilferufe an die USA und die UNO, die keine selbstlosen Agenden haben.

Intifada: Es gab von einigen Auslandsgruppen die Forderung nach Sanktionen gegen den syrischen Staat. Schließen Sie sich dieser Forderung an?

Soubhi Hadidi: Ich bin gegen derartige Sanktionen, weil sie mehr dem Volk als dem Regime schaden. Das Regime und die an es gebundenen Mafias können sich schnell an solche Situationen anpassen und ihre Gelder weitgehend in Sicherheit bringen. Die jetzigen westlichen Sanktionen sind kosmetisch, wenn nicht lächerlich und zeugen von der Heuchelei der westlichen Regierungen, die unter dem Druck der Öffentlichkeit den Schein wahren wollen. Andererseits können Sanktionen gegen regimenahe Personen effizienter sein. Ich meine hier Personen aus der Wirtschaft wie den Vorsitzenden der Handelskammer von Aleppo und mehrere Geschäftsmänner, die mit der polischen Macht alliiert bzw. verschwägert sind. Diese haben etliche Investitionen in Europa und können unter Druck gesetzt werden. Genau diese Personen zahlen die Gehälter der Schläger.

Intifada: Es gab in den letzten Wochen mehrere Konferenzen der syrischen Opposition im Ausland, wobei mehrmals eine politische Vertretung des Aufstands gewählt bzw. ernannt wurde. Inwiefern vertreten diese Konferenzen den Volksaufstand im Inland?

Soubhi Hadidi: Die meisten dieser Treffen sind steril und bringen dem Aufstand mehr Schaden als Nutzen. Sie haben das Ziel, Oppositionsgruppen im Ausland zufriedenzustellen, die eigentlich keine Unterstützung im Inland haben, wie etwa die Moslembruderschaft und große Geschäftsmänner wie Sonqor. Ich finde, die Opposition im Inland ist in der Lage, wenn auch mit bescheideneren Mitteln, sich politisch zu artikulieren. Die Konferenzen im Ausland haben die Gruppen mehr gespalten als vereinigt. Sie rufen bei den Aufständischen im Inland vielfach Frustration hervor und haben andere negative Auswirkungen. Diese Schritte nützen dem Aufstand nicht.

Die meisten der Auslandskonferenzen sind steril und bringen dem Aufstand mehr Schaden als Nutzen.

Intifada: Meinen Sie, dass solche Formationen nicht wirklich ernst zu nehmen sind?

Soubhi Hadidi: Im Gegenteil, sie sind sehr ernst zu nehmen, jedoch leider im negativen Sinne. Sie sind nicht nur keine Unterstützung des Aufstands, sondern eine Gefahr für ihn. Das ist sehr ernst zu nehmen. Sie spaßen nicht, wenn sie sich in Paris mit Zionisten vom Schlag eines Bernard Henry Levi treffen. Ihr Ziel ist es, einen Übergangs-, Koordinations- oder Nationalrat (wie auch immer sie ihn nennen mögen) zu ernennen, der seinen Weg zum Elisée, 10 Downing Street und zum Weißen Haus suchen wird. Sie wollen zum Gesprächspartner des Westens werden.

Ich möchte niemanden diffamieren oder des Verrats bezichtigen. Ich weiß, vielen liegt das Land am Herzen und sie haben eigentlich gute Absichten. Jedoch ist der Weg zur Hölle meistens mit guten Absichten gepflastert.

Intifada: Wurden hier nicht Personen ernannt, die als Konsenspersonen gelten?

Soubhi Hadidi: Genau das ist einer der schädlichen Effekte. Personen, die bisher als Konsenspersonen galten, müssen sich nach solchen Ernennungen bemühen, alle zufrieden zu stellen. Jemand wie Burhan Ghalioun, der eine breite Anerkennung genießt, muss dann Kompromisse mit der Moslembrüderschaft schließen. Dadurch schweigt er zu politischen Themen, wo er Nein hätte sagen sollen. Das wandelt ihn von einer Konsens- in eine politisch angreifbare Person.

Intifada: Was sind Ihrer Meinung nach die höchsten Prioritäten des Aufstands in Syrien sowie der Solidarität im Ausland?

Soubhi Hadidi: Die absolut höchste Priorität ist es, vor Ort die Kontinuität und das Andauern des Aufstands zu sichern und seine Fähigkeiten auszubauen. Z.B. wären logistische Unterstützung, medizinische Hilfe, sichere Häuser und effizientere Medien eminent notwendig. Im Ausland ist mediale Unterstützung hilfreich. Die größte Hilfe besteht jedoch darin, den Aufstand nicht durch nutzlose Konferenzen und Räte zu stören bzw. zu irritieren.

Medial muss betont werden: Die syrische Öffentlichkeit verlangt zivilen Schutz und keine staatliche Interventionen. Zivilschutz wäre im Moment sehr bedeutend, weil das Regime in seiner Todesagonie seine letzten und gröbsten Gewalttaten vollbringen wird. Priorität des Aufstands ist es, das Fortbestehen und die Einheit zu sichern.


Soubhi Hadidi musste als junger Aktivist der Syrischen Kommunistischen Partei - Politbüro (die heutige Demokratische Volkspartei, eine der bekanntesten Parteien der syrischen Opposition) mehrere Jahre im Untergrund leben, bis er in den 1980er Jahren floh. Er gilt als einer der führenden Figuren der oppositionellen "Pariser Gruppe" des Komitees der "Damaskus Erklärung" (2005). Hadidi ist Literaturkritiker. Er lebt derzeit in Paris.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Soubhi Hadidi in Wien

Raute

ARABISCHER RAUM

Stellungskrieg in Kairo

Arabische Aufstände und die Krise der ägyptischen Opposition

Von Mohammad Aburous

Die Analysen aus dem arabischen Raum zum "Frühling der Demokratie" sind in der zweiten Jahreshälfte vorsichtiger und weniger optimistisch geworden.


Die schnellen Erfolge der Massenbewegung beim Sturz von Ben Ali und Mubarak lösten eine Dynamik aus und erzeugte die Illusion eines Dominoeffekts, der nicht aufgehalten werden könne. Nach einem halben Jahr sieht die Situation anders aus: In den meisten Ländern konnten die Aufstände gewaltsam beendet werden. In Libyen verwandelte sich der Aufstand schnell in einen militärischen Konflikt zwischen zwei Fraktionen der regierenden Elite.

Tatsächlich verlangsamte sich die Dynamik in allen arabischen Ländern. Nach dem Schock von Tunesien und Ägypten fassten sich die Regime offensichtlich und lieferten den Massen die einzige für sie mögliche Antwort: Gewalt. So wurden die Protestbewegungen in Bahrain, Algerien, Marokko, Jordanien, Saudi-Arabien und Oman gewaltsam niedergeschlagen. In Syrien scheitert die gewaltsame Beendigung des Aufstandes u.a. an der delikaten außenpolitischen Position des Regimes, die eine gewisse offizielle Unterstützung der Aufständischen durch den Westen mit sich bringt. In den Ländern, in denen die Bewegungen anfänglich Erfolge verbuchten, finden Gegenoffensiven der Regimekräfte statt. Da keine bestimmten Parteien bzw. organisierten Gruppen hinter den Aufständen standen, ist es dem Regime leicht, sich vorgeblich auf die Seite des Aufstands zu stellen oder eine "Opposition" zu erfinden, die bei der Beseitigung bzw. Marginalisierung der Aufständischen hilft. Das Fehlen von politischen Programmen und klaren Forderungen über den Sturz der Diktatoren hinaus gab den jeweiligen Regimen ausreichend Manövrierrahmen.

Das Fehlen von politischen Programmen und klaren Forderungen über den Sturz der Diktatoren hinaus gab den jeweiligen Regimen ausreichend Manövrierrahmen.

Wenn am Anfang ein Volkskonsens gegen die Spitzen des jeweiligen Regimes bestand, so zerfiel dieser in Ägypten und Tunesien nach deren Abgang. Klare Differenzen zwischen den linken, islamischen und liberalen Kräften in der sozialen Frage sowie in ihrer Haltung zum alten Regime sind deutlich geworden. Die daraus resultierenden neuen Fronten bildeten sich auf regionaler Ebene und verhindern heute die Entstehung eines Konsenses gegen die Diktaturen in den anderen Staaten. Wo die Regime aus den Ereignissen Lehren zogen und präventive Schritte unternahmen (bzw. die Forderung nach Demokratie in Richtung Syrien und Libyen exportierten), konnte kein Vertrauen unter den oppositionellen Kräften hergestellt werden.

Militärrat und Moslembruderschaft in wilder Ehe

In Ägypten geht die subtile Zusammenarbeit zwischen Militärrat und Moslembrüderschaft allmählich in eine offene Allianz über. Einig sind sich beide in der sozialen Frage sowie in der pragmatischen Haltung zur Demokratie. Die Moslembrüderschaft distanziert sich von den radikalen Forderungen der Bewegung und rief gleich nach dem Abgang von Mubarak zu "Ruhe und Ordnung" auf. Die Interessen der Moslembrüderschaft sind die Legalisierung ihrer Partei, die Beteiligung am Staatsapparat, die Entfernung der mafiösen Elite des Regimes und eine dadurch weniger korrupte Marktwirtschaft, an der ihre Führungsschicht sich beteiligen kann, und schließlich kulturelle Konzessionen seitens des Staates zugunsten islamischer Gesetze, ohne dadurch eine offene Konfrontation mit dem Ausland zu verursachen. Dem Militärrat ist diese Form der Opposition als Feind willkommener als die Linke, die einen totalen Bruch mit dem alten Regime, der liberalen Marktwirtschaft sowie mit dem Kolonialverhältnis gegenüber dem Westen fordert. Sie sind auch willkommener als die liberalen Kräfte, deren Verhältnis zum Westen so gut ist, dass sie den Militärrat ersetzen könnten.

Klare Differenzen zwischen den linken, islamischen und liberalen Kräften in der sozialen Frage sowie in ihrer Haltung zum alten Regime sind deutlich geworden.

Bei den ersten Zeichen von Konfrontation zwischen Militärrat und Demonstranten im April verhielt sich die Moslembrüderschaft eher neutral. Sie sprach sich auch grundsätzlich gegen Straßenaktionen und bezeichnete im Einklang mit dem Militärrat Streiks von Arbeitern und Interessensgruppen als "sektiererische Forderungen, die der Volkswirtschaft schaden". Im April verhielt sie sich zur gewaltsamen Räumung des Tahrir-Platz ruhig. Sie warnte davor, den Militärrat zu "provozieren". Im Mai mobilisierte sie aktiv gegen die Kundgebung für "die Durchsetzung der Ziele der Revolution". Die große Teilnahme an dieser Aktion trotz Abwesenheit und Gegenmobilisierung der Moslembruderschaft zeigte erneut die Grenzen des Einflusses der Islamisten und die Existenz einer signifikanten säkularen Opposition. Die eher passive Haltung der Moslembruderschaft ermutigte das Regime zu Repressionsschritten gegen die Demonstranten und zu einer langsameren Umsetzung versprochener Reformen. Die Einsetzung einiger Oppositionsfiguren in der praktisch machtlosen Übergangsregierung sowie der Beginn des Mubarak-Prozesses genügten dem Militärrat, um sich als volksnah darzustellen.

Diese Kluft mündete Ende Juni in eine offene Konfrontation: Ein Angriff von regime-nahen Schlägern auf eine Feier der Angehörigen der Opfer vom 25. Jänner führte zu neuen Auseinandersetzungen im Zentrum von Kairo. Die Brutalität der neuformierten Sicherheitspolizei ließ die Anzahl der Demonstranten schnell anwachsen. Am 30. Juni war der Tahrir-Platz erneut von Demonstranten besetzt. Die Moslembrüderschaft hielt sich zu den Ereignissen zurück und wartete lieber auf die Ergebnisse des Untersuchungskomitees zum Vorgehen der Polizei. Sie verurteilten jedoch erneut die Besetzung des Tahrir. Da diese Besetzung aber wochenlang andauerte, nahmen die Islamisten ihren Boykott zum "Freitag der zweiten Revolution" am 9. Juli zurück und mobilisierten gemeinsam mit den Salafisten zum "Freitag der Einheit". Diese Annäherung der Moslembrüder hatte für die Demonstranten einen hohen Preis, da sie die Suche nach einem Konsens notwendig machte, auf die Forderung nach einer neuen Verfassung zu verzichten. Lehnten die Linken den Konsens ab, so würde eine Konfrontation mit den Islamisten die Räumung einer Demonstration durch eine andere bedeuten.

Die Moslembrüderschaft distanziert sich von den radikalen Forderungen der Bewegung und rief gleich nach dem Abgang von Mubarak zu "Ruhe und Ordnung" auf.

Die Kompromissbereitschaft der Linken hat letztendlich nichts genützt: Kaum trafen die aus dem ganzen Land mobilisierten und transportierten Anhänger der Moslembruderschaft und der Salafisten ein, wurden sofort die Vereinbarungen mit Füßen getreten und die Islamisten riefen ihre eigenen Losungen zum islamischen Staat und zur Scharia. Sie zogen am Ende des Tages ab. Einige Tage darauf räumte die Armee erneut den Tahrir-Platz und Sprecher der Islamisten begrüßten die "Beendigung dieser abartigen Situation am Tahrir". Mit diesem Ereignis gilt die Spaltung der Opposition als vollkommen. Als Symbol des Aufstands will die Moslembruderschaft den Platz nicht von anderen besetzt sehen. Diese Meinung teilt der Militärrat, der den Platz wochenlang von Armee- und Polizeieinheiten besetzen ließ. Ähnlich verhielten sich die Islamisten, als sich im August im Zusammenhang mit der Ermordung von ägyptischen Soldaten durch israelischen Beschuss die Proteste zur israelischen Botschaft verlagerten. Die Moslembruderschaft verhielt sich zur Forderung nach der Ausweisung des israelischen Botschafters neutral, nicht jedoch, wenn es um die Ausweisung des syrischen Botschafters ging.

Die November-Wahlen und die "überkonstitutionelle Demokratie"

Als sich der Militärrat die Passivität der Moslembruderschaft bezüglich der Repression der radikalen Linken gesichert hatte, machte er einen Kurswechsel und kündigte eine "überkonstitutionelle Prinzipienerklärung" an, um die "Reche der Minderheiten zu schützen".

Diese Grundsatzerklärung war ursprünglich eine Forderung der linken und liberalen Kräfte, um den zivilen und demokratischen Charakter der kommenden Regierung zu garantieren. Da dadurch automatisch der säkulare Charakter des "bürgerlichen Staates" festgeschrieben würde, richtet sich die Erklärung primär gegen das Vorhaben der islamistischen Gruppen, durch einen Wahlsieg im kommenden Herbst in Richtung eines islamischen Staates zu arbeiten. In ihrem Zusammenschluss mit dem Regime zur Verfassungsfrage nützten sie im vorigen April den in der jetzigen Verfassung verankerten "islamischen Charakter" des Staates als Stoßrichtung für ihre Unterstützung der kosmetischen Verfassungsänderung. Nun drohen die Islamisten, große Proteste gegen eine "säkulare" Erklärung zu organisieren.

Da die Betonung der Säkularität und des demokratischen Charakters des Staates eine Forderung der Linken, der Liberalen und der Christen ist, wäre sich der Militärrat der Unterstützung der säkularen Kräfte sicher. Es ist noch nicht klar, ob sich diese Wende in Richtung Säkularismus tatsächlich durchsetzt oder ob sie nur ein taktisches Manöver ist, um den Druck auf die Moslembrüderschaft zu erhöhen und die Kluft zwischen den Polen der Opposition zu erweitern. Klar ist nur, dass in Abwesenheit von Massenaktionen und Streiks weiterhin der Militärrat die Themen der politischen Debatte bestimmt und somit die politische Initiative innehat.

Der Militärrat spielt die Oppositionskräfte erfolgreich gegeneinander aus und drängt die soziale Frage aus der Debatte hinaus.

Durch diese Manöver spielt der Militärrat die Oppositionskräfte erfolgreich gegeneinander aus und drängt die soziale Frage aus der Debatte hinaus. Da mit großem Widerstand seitens des politischen Islams zu rechnen ist, wird sich der Militärrat als ein "Vermittler" zwischen den beiden Oppositionsblöcken behaupten. Aus beiden Blöcken sind bisher keine Zeichen wahrgenommen worden, den Konflikt mit dem alten Regime und seinem Militärrat als Hauptwiderspruch zu betrachten.

Eine Eskalation dieser Konfrontation kann die für November geplanten Wahlen weiter aufschieben.

Während für die Moslembruderschaft der Wahlerfolg eine Frage der Verhandlungen mit dem Regime zu sein scheint, ist die Niederlage der systemgegnerischen Kräfte vorprogrammiert. Das neue und verschärfte Parteiengesetz erschwert die Bildung von politischen Parteien zugunsten von Kräften, die über die nötigen finanziellen Quellen und bestehende Netzwerke verfügen. Hinzu kommt die Organisationsform der Wahlen: Diese werden im November in drei Phasen stattfinden, was viel Raum für vorprogrammierte Ergebnisse lässt, bis hin zur Wahlfälschung. Zudem sind "gemischte Wahlen" geplant. Das bedeutet ein Gemisch aus Personen- und Parteilisten in allen Wahlkreisen. Scheitert ein Kandidat bei einer Personenliste, so hat er noch die Chance über eine Parteiliste zu kandidieren, und umgekehrt. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass in solchen Systemen jene Kräfte gewinnen, die bei der Gestaltung der Wahlkreise die Oberhand haben.

Bis dato sind die Wahlkreise noch nicht definiert und weder Kandidaten noch Wähler wissen, wo kandidiert und gewählt wird. Außerdem entfällt jede Art von Volkskontrolle, ähnlich wie bei den Wahlen unter dem Mubarak-Regime. Wenig Vertrauen in den Ablauf erweckt die Tatsache, dass in der Wahlkommission Personen eingesetzt wurden, denen Wahlfälschung bei den Parlamentswahlen Ende 2010 unter Mubarak vorgeworfen wird. Die Ägypter haben noch nicht vergessen, dass dies einer der Auslöser des Volksaufstands war. Für allgemeine Belustigung sorgen Aussagen von Mohammad Qumsan, einem der Wahl-Designer Mubaraks und Mitarbeiter des Innenministers für Wahlangelegenheiten, die Wahlen würden diesmal "sauber" sein.

Daher tendieren einige Kräfte der Linken dazu, die Wahlen zu boykottieren, schaffen dafür jedoch nicht den nötige Konsens unter den antagonistischen Kräften, um diesem Boykott Signifikanz zu verleihen.

Bisher unfähig, die progressiven Kräfte des Landes auf der Basis der sozialen Frage in einer Front zu vereinigen, erwarten die Fraktionen der ägyptischen Linken, sei es bei Teilnahme oder bei Boykott, keine großen Erfolge bei den kommenden Wahlen. Hingegen steht die Moslembruderschaft als die einzige organisierte Kraft der Opposition da und kann mit einem großen Wahlsieg rechnen. Sie erkennt den Unwillen des Regimes, die Macht nach den Wahlen aufzugeben, und wäre bereit, die Macht zu teilen. Die USA, welche die Unterstützung der Moslembruderschaft in der Region (Syrien, Libyen, Bahrain) brauchen, sind bereit, ihr mehr Platz in der ägyptischen Politik einzuräumen. Die USA sind somit der Moslembruderschaft gewogener als der Militärrat. Verhandlungsgegenstand mit dem Regime ist die Anzahl der Wahlkreise, in denen sie Kandidaten aufstellen und welche Mehrheitsverhältnisse im Parlament daraus resultieren.

Ein langer Weg

Das Regime und die Moslembruderschaft haben die Kräfte, die den Aufstand vom 25. Jänner ausgelöst hatten, erfolgreich aus dem aktuellen politischen Prozess hinausgedrängt. Jedoch konnte weder die Repression durch die neugebildete Polizei, noch die Diffamierung durch die Medienkanäle der Islamisten die Basisbewegung von den Straßen fernhalten. Streiks konnten weder durch ein Streikverbotgesetz noch durch Fatwas unterbunden werden. Die Ereignisse auf dem Sinai und die Dauerproteste vor der israelischen Botschaft zeigen, dass die antagonistischen Kräfte auch in der Lage sind, politische Initiative zu ergreifen. Eine Machtbeteiligung der Moslembruderschaft wird auch in islamistischen Milieus die Notwendigkeit einer anderen Opposition im Land beweisen. Der Weg zu einer qualitativen Veränderung der politischen Verhältnisse scheint lang. Auch wenn die kommenden Wahlen diese nicht mit sich bringen werden, so ist die größte Errungenschaft des Jänner-Aufstands die politische Freiheit, in der die Bildung neuer progressiver Kräfte möglich ist. Diese sind mehr als notwendig, damit der nächste, unter den erdrückenden sozialen Bedingungen zu erwartende Aufstand seine Ziele nicht erneut verfehlt.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Demonstration am 27. Mai am Tahrir-Platz. Eine Frau trägt ein Schild gegen den Militärrat
- Aufschrift am Tahrir-Platz: "Nieder mit dem Militärrat"
- Demonstration am Tahrir-Platz

Raute

ARABISCHER RAUM

Ägypten verlässt den Westen

Reisebericht aus einem Land im Umbruch

Von Wilhelm Langthaler

Um den 1. Mai 2011 besuchte eine Delegation des Antiimperialistischen Lagers verschiedene Vertreter der ägyptischen politischen Bewegung, die Mubarak zu Fall gebracht hatte. Ziel der Reise war es, die Dynamik der Bewegung zu verstehen, unserer Solidarität Ausdruck zu verleihen und Verbindungen zu knüpfen.


Kurz zusammengefasst fanden wir eine äußerst dynamische Situation vor. Der durchsichtige Versuch des alten Regimes, sich seines Kopfes zu entledigen und damit die Dinge möglichst beim Alten zu belassen, ist gescheitert. Die Volksbewegung befindet sich im Aufschwung und wird sich so einfach nicht stoppen lassen. Die neuen Akzente in der Außenpolitik, namentlich das Embargo gegen Gaza zu lockern und wieder diplomatische Beziehungen zum Iran aufzunehmen, geben die Bewegungsrichtung an.

Unmittelbar nach dem Fall des Diktators sprachen wir von einem Block des alten Regimes, dem es zumindest gelungen war mit dem Verfassungsreferendum vom 19. März die Initiative an sich zu reißen. Bereits wenige Monate später zeigt dieser Block Zerfallserscheinungen. Zeichen dafür sind die Gerichtsverfahren gegen Vertreter des alten Regimes, Mubarak eingeschlossen, die am Anfang nicht abzusehen gewesen waren. Praktisch alle, die Armee, die Tycoons, die Medien etc. fühlen sich gezwungen die "Revolution" zu umarmen. Die Wahlen rücken näher und dem alten Regime mangelt es an einer politischen Partei. Noch weniger verfügt es über einen politischen Führer, den es ins Rennen um die Präsidentschaft schicken könnte. All das sind Krisensymptome des politischen Blocks, der in Kontinuität zum alten Regime steht.

Stolperstein Verfassungsreferendum

Für die Wahlen musste eine formale Grundlage geschaffen werden. Auch dazu diente das Referendum vom 19. März. Es war jedoch vor allem eine kluge politische Operation der alten Elite. Die realen Änderungen an der Verfassung sind minimal. Artikel 179, der im Namen der Terrorbekämpfung grundlegende politische Rechte beschnitt, wurde gestrichen. Kernstück der Verfassungsänderung ist das Prozedere bezüglich einer neuen Verfassung. Demnach wird die verfassungsgebende Versammlung vom Parlament bestellt, das demnächst zur Wahl steht.

Eigentlicher Sinn der Abstimmung war, der radikalen Forderung nach einer direkt vom Volk gewählten Konstituante, so wie es in Tunesien der Fall ist, einen Riegel vorzuschieben.

Der Versuch des alten Regimes, die Dinge möglichst beim Alten zu belassen, ist gescheitert.

Das Ergebnis des Urnengangs (mehr als 70% Ja-Stimmen) war unmittelbar ein Erfolg des alten Regimes, das die Situation stabilisierte und der Volksrevolte Wind aus den Segeln nahm. Unter Führung der Armee fanden die alten Eliten, die Moslembruderschaft und die salafitischen Kräfte zusammen und ließen die Konturen eines neuen herrschenden Blocks sichtbar werden.

Hier die Argumente einiger liberaler und vor allem der linken Kräfte für ein "Nein":

a) Zuerst braucht es einen demokratischen Prozess für eine neue Verfassung. Damit erst sind die Bedingungen für wirklich demokratische Wahlen gegeben. Wahlen auf der Basis des alten, höchst präsidentialistischen Systems nützen tendenziell der alten Elite.

b) Die Parlamentswahlen im September sind zu kurzfristig angesetzt, um der Volksopposition Chancen einzuräumen. Auch der Termin bevorteilt die Kräfte des alten Regimes und vor allem ihre Partner.

c) Eines der wenigen bisher von der Junta verabschiedeten Dekrete regelt die Bildung politischer Parteien für die Beteiligung an Wahlen. Die formalen Hürden wurden im Vergleich mit jenen unter Mubarak sogar noch erhöht.

d) Einer der politischen Führer der "Volkskomitees", Gamal Abd el-Fattah, erhob die Forderung nach einer provisorischen, zivilen Regierung, gestützt auf alle Kräfte der revolutionären Bewegung, die den Militärrat ablösen soll. Diese Idee ist repräsentativ für das gesamte radikale Milieu.

Wir wollten wissen, wie die Moslembruderschaft (MB) auf diese Konzepte regieren würde. Fragen, gestellt an ihre zweite Führungsebene, auch an jene Vertreter, die von der Linken als offener eingeschätzt wurden, brachten keine Ergebnisse. Sie vermieden klare politische Antworten und benutzten eine allgemeine islamische Rhetorik der Einheit. Als wir jedoch Magdi Hussein von der "Islamischen Arbeiterpartei" fragten, bekamen wir genau jene Antworten, die wir uns von der MB erwartet hätten. Von der Linken kommend, hatte sich seine Partei bereits vor Jahrzehnten in das Milieu der MB begeben. Hussein kann als inoffizielles Sprachrohr der MB begriffen werden. Er hat sogar seine Kandidatur für die Präsidentenwahlen angekündigt und hofft ihr inoffizieller Kandidat zu werden, denn die Moslembrüder selbst wollen keinen Kandidaten stellen.

"Die Linke fürchtet sich davor die Wahlen zu verlieren. Daher wollen sie sie verschieben." Das "Nein" beim Referendum würde die Militärherrschaft de facto prolongieren, während die angenommene Verfassungsänderung für einen schnellen Übergang zu einer zivilen Regierung sorgte. Beide Argumente erscheinen uns als demagogisch.

Viel wichtiger unter den Massen, vor allem unter jenen, die sich nicht an der Volksbewegung beteiligen, war die Projektion, dass sich eine eigenartige Front aus Kommunisten, Liberalen und westlichen Agenten gebildet hätte, die sich gegen den islamischen Charakter Ägyptens verschworen hätten. Die MB hätte mit dem "Ja" in letzter Minute die Scharia gesichert.

Eigentlicher Sinn des Verfassungsreferendums war, eine direkt vom Volk gewählte verfassungsgebende Versammlung zu verhindern.

Mohamed Waked, einer der politischen Führer der "Nationalen Front", ein Projekt aus der revolutionären Bewegung eine politische Kraft zu bilden, die auch bei den Wahlen kandidieren kann, schätzt das "Nein" indes wesentlich positiver ein. "Wenn man in Rechnung stellt, dass sie die Medien vollständig kontrollieren, während es uns an elementaren Ressourcen fehlt, so haben wir uns gut geschlagen."

Der stabilisierende Effekt des Referendums ist schnell verflogen. Die Bewegung preschte vorwärts. Der Tahrir-Platz bleibt ein lebendiges politisches Laboratorium und Zentrum der Proteste. Hunderttausende erheben die Forderung nach einem Prozess gegen Mubarak und nach dem Rücktritt von General Tantawi, dem Chef der Militärjunta. Nach Abdelhalim Kandil, einem bekannten Journalisten, führender Figur von Kifaya und prominentem Nasseristen, ist die Frage nach einer neuen Verfassung keineswegs erledigt. Die Bewegung hält an der Forderung nach einer echten verfassungsgebenden Versammlung, gestützt auf die Volksbewegung, fest.

Gescheiterte Versuche repressiven Vorgehens

Erstaunliche Werbungen sieht man in den Straßen Kairos. Alle lassen die Revolution hochleben. Unternehmen, die zum Netzwerk Mubaraks gehörten, genauso wie die Militärs, bejubeln die Revolution. Außer den Salafiten kann sich niemand öffentlich gegen die Revolution wenden. Trotz dieses allgemeinen Klimas versucht die Armee ab und an mit repressiven Vorstößen der Bewegung Grenzen zu setzen. Mehrmals schon wurde der Tahrir-Platz geräumt. Am 8. April verhaftete man mehrere Offiziere, die sich an einer Demonstration gegen Tantawi beteiligt hatten. Sie wurden vor ein Militärgericht gestellt und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Ihre Freilassung ist eine wichtige Forderung der Bewegung.

Bis jetzt hat die Junta drei antidemokratische Dekrete erlassen:

a) Eines zu Schlägern, das vorgibt sich gegen den Pro-Mubarak-Mob zu richten, das in Wirklichkeit aber gegen die Aktivisten der Bewegung zielt. Einige von ihnen wurden vor Militärgerichte gestellt, während Mubarak - wenn überhaupt - der Prozess vor einem Zivilgericht gemacht werden wird.

b) Ein Streikverbot. Überall entwickeln sich soziale Bewegungen. Es gibt eine ausgesprochene Welle an Streiks und Arbeiterprotesten für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Vielfach werden unabhängige Gewerkschaften gegründet. Bisher getraute sich der Staat nicht sein Dekret durchzusetzen.

c) Die bereits genannte Verordnung zur Bildung politischer Parteien. In dieser werden die Hürden, insbesondere die finanziellen, sehr hoch gelegt, so hoch, dass mögliche aus der Bewegung hervorgehende politische Formationen praktisch von den Wahlen ausgeschlossen werden.

Wir befinden uns in einer Situation des permanenten Konflikts zwischen Junta und Bewegung. Partiell wird es zu repressiven Versuchen kommen, aber eine volle Konterrevolution erscheint unwahrscheinlich. Kandil: "In der modernen Geschichte Ägyptens schritt die Armee nie gegen das Volk ein und auch heute können die Generäle die Soldaten nicht gegen das Volk losschicken. Doch die Armee braucht den permanenten Druck des Volkes."

Außenpolitische Wende

Ägypten bildete die letzten Jahrzehnte die wichtigste Stütze der USA in der arabischen Welt. Es stützt Israel, so wie in den Verträgen von Camp David 1978 festgehalten. Mit dem Ende Mubaraks ist das nicht mehr aufrecht zu erhalten. Meistens ändern Wahlen nicht viel. Doch dieses Mal sind sie sehr wichtig, denn die politische Elite muss sich zum ersten Mal Wahlen stellen und daher auch mehr oder weniger auf die politischen Wünsche des Volkes eingehen. Und dieses ist mehrheitlich antiamerikanisch und antiisraelisch eingestellt.

Das erste Zeichen einer Wende war die Ankündigung der teilweisen Aufhebung der Blockade gegen Gaza. Natürlich wird die Armee versuchen amerikanische und israelische Interessen so wenig als möglich zu verletzen, aber bereits diese Symbolik führte zu Verärgerung in Tel Aviv und Besorgnis in Washington. Von der Aufhebung des Embargos kann indes keine Rede sein. Diese kann nur durch den fortgesetzten Druck der Volksbewegung erreicht werden. Tatsächlich finden fast permanent Demonstrationen für die Schließung der israelischen Botschaft in Kairo statt. Eine weitere Forderung ist die Annullierung des Gasliefervertrages, der in Ägypten selbst dringend benötigten Brennstoff zu 20% des Marktpreises an Israel quasi verschenkt.

Wir befinden uns in einer Situation des permanenten Konflikts zwischen Junta und Bewegung.

Im Zusammenhang mit der partiellen Grenzöffnung in Rafah steht die Versöhnung zwischen Fatah und Hamas, die von Mubarak bisher immer blockiert worden war. Auch in dieser Frage waren verärgerte Reaktionen von Zionisten zu vernehmen.

Genauso wichtig ist die Intention des Militärrats, die Beziehungen zum Iran, dem Erzfeind der USA, Israels und Saudi-Arabiens, zu normalisieren.

Inzwischen hat das Regime viele dieser anfänglichen, unter dem Druck der Bewegung vorgenommen Änderungen des außenpolitischen Kurses zurückgenommen. Dennoch sind sie bedeutsam, insofern sie zunächst die Stärke des Volksaufstandes ausdrückten und heute für die Schwierigkeiten stehen, welche die Bewegung damit hat, das Regime endgültig loszuwerden.

Die Moslembruderschaft

Allgemein wird in Ägypten mit einem Wahlerfolg der Moslembrüder oder der ihr zugeordneten Formation gerechnet. Indes spielen diese ein kompliziertes Spiel mit mehreren Variablen. Für ihre fromme Klientel suchen sie möglichst große Distanz von politischen Funktionen. Gegenüber dem Militär gaben sie mit dem Referendum ein Zeichen der Bereitschaft einer zumindest losen Zusammenarbeit ab. Auf der anderen Seite versuchen sie auch die demokratische Bewegung für sich zu reklamieren, obwohl sie erst auf sie aufsprangen, als sie unaufhaltsam erschien.

Schließlich lancierten sie einen schlauen Vorschlag: eine gemeinsame Liste für das neue Ägypten, auf der sie die Hälfte der Plätze stellen, während die anderen Kräfte sich den Rest teilen. Auf diese Art und Weise werden alle Kräfte repräsentiert - von Gnaden der MB. Zudem fürchten sie eine zu starke internationale Exposition, die sie so dämpfen könnten. Obwohl dieser Vorschlag keinerlei Chance auf Annahme hat, dient er den MB dennoch, um die an sie gerichteten Vorwürfe, die Zusammenarbeit zu verweigern, zu entkräften.

Tatsächlich brauchen die MB in gewisser Weise sowohl die Kooperation mit der Junta als auch mit der Bewegung. Sie koalieren mit der Armee und der alten Elite, um die Bewegung unter Kontrolle zu halten und umgekehrt. Obwohl sie vermutlich als stärkste einzelne politische Kraft aus den Wahlen hervorgehen werden, wären sie allein zu schwach, um sich als führende Kraft aufzuschwingen. So können sie beanspruchen, die Resultante zu sein.

Die Moslembruderschaft koaliert mit der Armee und der alten Elite, um die Bewegung unter Kontrolle zu halten und umgekehrt.

Nicht nur deswegen spielen sie eine widersprüchliche Rolle. Das kann auch an ihrer Geschichte festgemacht werden. Unter dem prosowjetischen, nationalistischen Regime von Nasser kooperierten sie in der bipolaren Logik mit dem Westen. Es ist aber ein oftmals begangener Fehler, sie als Agenten oder Marionetten des Imperialismus zu verstehen. Der Bezug zum Islam dient ihnen als symbolischer, kultureller Antiimperialismus. Von Sadat wurden sie gegen die Linke eingesetzt. Doch Mubarak stutzte ihnen wiederum die Flügel und reduzierte sie auf eine halblegale Opposition.

Die Bewegung gegen Mubarak war einzigartig, weil die Linke und die MB auf einer demokratischen Plattform zusammenfanden, die historisch gesehen ein linkes Gepräge hat. Auf dem Tahrir-Platz vermischten sich die Milieus, was unerhörte Auswirkungen auf die jüngere Generation der Anhängerschaft der MB hat. Für die kulturkonservative Führung der MB ist es nun schwer sich gegen demokratische Rechte zu stellen oder offen konfessionalistisch zu sein. Anders ausgedrückt sind sie näher an den Mainstream gerückt.

Was die soziale Frage im engeren Sinn betrifft, halten die MB jedoch an einer prokapitalistischen Position fest. Sie lehnen Streiks und Arbeiterproteste ab. Eigentumsrechte bleiben heilig. Ihre Führung besteht überwiegend aus mittelständischen Berufen wie Ärzten, Ingenieuren und Professoren, fast einer Kaste gleich. Es ist die Kultur eines Händlerkapitalismus, die sich nur an Auswüchsen wie den Tycoons stößt. Die Verteidigung der sozialen Schichtung, die enge Kopplung von sozialem Status und wirtschaftlichem Erfolg, ist tief in ihrer Variante des Islam verankert. So haben sie auch die Rücknahme der Landreform Nassers durch Mubarak unterstützt.

Eingedenk der explosiven sozialen Situation und der wachsenden Kraft der Mobilisierung von unten, zeichnen sich größere politisch-soziale Konflikte ab, in denen die Linke sich allein gegen die alte Elite, die Armee und die islamischen Kräfte (die salafitischen natürlich mit eingeschlossen) befinden könnte.

Im Übrigen haben die Saudi-nahen Salafiten durch ihre Rolle als Mob von Mubarak jede Glaubwürdigkeit als Antiimperialisten verloren.

Die Linke

Es wäre sowohl eine unzulässige Vereinfachung als auch eine Unterschätzung der Zersetzung der Linken nach 1989/91, wenn man die Volksrevolte als links bezeichnen wollte. Tatsächlich ist die organisierte Linke sehr klein. Sie kann dennoch eine wichtige Rolle spielen. Es war letztlich Kifaya ("genug"), eine Koalition linker und nationalistischer Kräfte, deren unablässige Proteste unter widrigen Bedingungen den Weg für den massiven Ausbruch des Volkszorns ebneten. Über weite Strecken hatten sich die MB einmal mehr, einmal weniger beteiligt, während sie einen Kanal zum Regime offen hielten. Ihr Aufspringen auf den fahrenden Zug charakterisiert ihr generelles Verhalten in den letzten Jahren. Die Frontlinie gegen die Diktatur wurde jedenfalls von der Linken besetzt.

Die Bewegung ist ein breites, demokratisches Erwachen, das zahlreichen und unterschiedlichsten Kräften Platz bietet, von Liberalen bis hin zu den MB. Aber es ist auch eine Tatsache, dass die expliziten Forderungen der Linken für die Bewegung nichts Fremdes darstellen, sondern als radikale Variante aus ihr herauswachsen:

a) eine konstituierende Versammlung auf den Trümmern des alten Regimes

b) Antiimperialismus

c) Klassenkampf gegen die kapitalistische Oligarchie

Ad a) Gerade eben weil sie die völlige Schleifung des alten Regimes bedeutet, ist die Konstituante kein einfaches Ziel. Während die MB diese Forderung nicht offen ablehnen können, hintertreiben sie sie durch ihre Zusammenarbeit mit der Junta für einen geordneten Übergang. Die Idee: zuerst das bereits abgehaltene Verfassungsreferendum, dann Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und auf der Basis stabilisierter Institutionen eine neue Verfassung - unter weitgehendem Ausschluss der Volksbewegung. Letztere schreitet indes vorwärts und versucht diesen Plan zu vereiteln.

Letztes, dafür aber umso wirkungsvolleres, Mittel der Eliten ist die konfessionelle Frage. Hier liegt auch die Achillesferse der Linken, die hinsichtlich des Säkularismus gespalten ist. Wichtige Teile gehen noch mehr als die Liberalen gegen den Islam. Das Faktum, dass die Bewegung keine islamische ist, darf nicht den Blick auf den nach wie vor übergroßen symbolischen Wert des Islam verstellen. Ägypten war das erste arabische Land, das in engen Kontakt zur westlichen Kultur und zum Kolonialismus gekommen ist. Eine Linie der Selbstverteidigung, der Selbstbestätigung war immer der Bezug auf den Islam mit allen seinen politischen Unzulänglichkeiten, reaktionären Elementen und der Tendenz, die bestehende politische Herrschaft zu bewahren.

Tatsächlich ist die organisierte Linke sehr klein. Sie kann dennoch eine wichtige Rolle spielen.

Nach unserem Verständnis geht es darum, dieses Element der symbolischen Selbstbestimmung zu verstehen und zu würdigen, während man auf dem Prinzip der Souveränität der Volksmassen besteht. Diese Kombination ist keine einfache Sache, aber die einzige Möglichkeit die Mehrheit des Volkes um das Projekt der Linken zu sammeln. Gelingt das nicht, stabilisiert sich die Allianz der MB mit dem alten Regime und marginalisiert so die Linke. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich die MB immer unter dem Druck der salafitischen Strömungen befinden, die leichtes Spiel haben, wenn die Linke die symbolische Bedeutung des Islams nicht respektiert.

Ad b) Zum Antiimperialismus und Antizionismus besteht ein viel breiterer Konsens auch mit den MB. Doch die revolutionäre Linke muss immer nachstoßen, damit die Proklamationen nicht leere Worte bleiben und ihnen auch Taten folgen.

Ad c) Mittelfristig wird die soziale Frage in den Vordergrund treten. Sie bildet auch die wichtigste Bruchlinie mit der MB. Obwohl ihre Anhängerschaft tief in die Armut hinein reicht, bleiben die kapitalistischen Mittelklassen dominant. Nicht umsonst unterstützten die MB das von der Junta erlassene Verbot von Streiks. Ihr Argument ist die wirtschaftliche Stabilität. "Zurück an die Geschäfte, um das Volk zu ernähren."

Die soziale Lage ist dramatisch und verschärft sich weiter. Vor dem Fall Mubaraks hatte man Ägypten als einen der besten Schüler der globalen Finanzinstitutionen gelobt. Doch selbst dort waren zwischenzeitlich Zweifel ob der Tatsache aufgetreten, dass sich der notorische Trickle-down-Effekt einfach nicht einstellen wollte: Die Inflation liegt bei 12% und für Lebensmittel bei 20%. Selbst unter Mubarak mussten die Preise gestützt werden, andernfalls hätten Hungerrevolten gedroht. 5% des BIP wird für die Stützung der Brennstoffpreise aufgewendet. Rund die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die durchschnittlichen Industrielöhne liegen unter jenen Chinas. Die Hälfte des benötigten Getreides wird importiert. Es gibt einen heftigen Konflikt mit den Staaten am Oberlauf des Nils über die Wasserverteilung, eine Lebensfrage für eines der trockensten Länder der Welt.

Mittelfristig wird die soziale Frage in den Vordergrund treten. Sie bildet auch die wichtigste Bruchlinie mit der Moslembruderschaft.

Mubarak folgte strikt den neoliberalen Vorgaben. Günstige Bedingungen und vor allem geringe Lohnkosten sollten ausländische Investitionen für die Exportindustrie anziehen. Das funktionierte ausschließlich in dem Sinn, dass eine kleine Elite ungeheure Vermögen anhäufte, während die Armen nur noch ärmer wurden. Die gegenwärtigen Arbeitskämpfe könnten indes zu höheren Löhnen führen, was unter gewissen Bedingungen einen neuen kapitalistischen Zyklus anstoßen könnte. Wenn aber der wirtschaftspolitische Rahmen der Mubarak-Zeit beibehalten wird, könnten sie sogar die gegenteilige Wirkung zeitigen.

Eine sozioökonomische Wende weg vom Neoliberalismus hin zu etwas, was die indischen Widerstandsbewegungen "Entwicklung von und für das Volk" nennen, ist dringend nötig. Es ist also nicht genug, der Oligarchie die politische Macht zu entreißen, sondern man muss sich auch ihrer ökonomischen Basis bemächtigen. Abdelhalim Kandil: "Die nächste Etappe der Revolution wird die soziale sein." Obwohl auf diesem Feld größere Konflikte zu erwarten sind, steht die Bewegung einschließlich der Linken hier noch ganz an den Anfängen.

Gegenwärtig verzeichnet die Linke einen signifikanten Aufschwung. Neue Gruppen entstehen und die alten bekommen Zuwachs. Am 7. Mai fand in Kairo eine Konferenz für eine verfassungsgebende Versammlung und gegen die Militärjunta statt, an der für die Organisatoren unerwartet mehrere Tausend Menschen teilnahmen - Zahlen die noch bis vor Kurzem undenkbar gewesen wären.

Während Kifaya laut einem seiner Initiatoren Abdelhalim Kandil seine Aufgabe erfüllt hat und daher überholt ist, gibt es zwei breitere politische Projekte der revolutionären Linken. Auf der einen Seite die "Volkskomitees", die in den Armenvierteln und Mittelstandsquartieren organisiert werden und an denen sich auch mehrere politische Organisationen beteiligen. Auf der anderen Seite die "Nationale Front" (die den Begriff "qawmi" verwendet, der das Panarabische betont, und nicht "watani", welches sich nur auf Ägypten beziehen würde). Sie versucht der Bewegung einen politischen Ausdruck zu geben, grob gesprochen auf Basis der oben genannten drei Aspekte, auch mit dem Ziel, bei den Wahlen anzutreten. Auf der Ebene der Wahlen läuft die Linke (und noch mehr die revolutionären Kräfte) indes Gefahr viel schwächer als auf der Straße zu erscheinen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Magdi Hussein von der Islamischen Arbeiterpartei
- Mohamed Waked, Nationale Front
- Mit dem Niqab am Tahrir-Platz unter der linken 1. Mai Demo zu sozialen Anliegen

Raute

ARABISCHER RAUM

"Die nächste Revolution wird sozial sein"

Abdelhalim Qandil im Gespräch mit Margarete Berger

Der Sprecher der linken Bewegung Kifaya über den ägyptischen Volksaufstand vom Januar 2011 und die Perspektiven der Linken.

Im Mai 2011 besuchte eine Delegation des Antiimperialistischen Lagers Ägypten und traf u.a. mit Abdelhalim Qandil zusammen. Obwohl sich die ägyptische Aufstandsbewegung inzwischen weiterentwickelt hat, veröffentlichen wir im Folgenden das leicht gekürzte Original-Interview, das eine interessante Bestandsaufnahme der ägyptischen Bewegung wiedergibt.


Intifada: Mubarak wurde durch einen Volksaufstand gestürzt. Haben Sie auf diesen Moment gewartet?

Abdelhalim Qandil: Ich habe zehn Jahre lang darauf gewartet. Es gibt eine Revolution, doch sie hat keine ebenbürtige Führung. Die Revolution war gezwungen, sich eine Führung auszuborgen, dargestellt durch den Militärrat. Das führt dazu, dass der Kampf weitergeht, sogar selbst um die demokratischen Slogans dieser Revolution Das ist ein Hin und Her. Manchmal geht der Rat schnell auf die Forderungen ein, wie z.B. im Fall des Mubarak-Prozesses, was das Maximum dessen darstellt, was der Militärrat zuzugestehen bereit ist. Allerdings bedeutet die Verschiebung der Verfassungsfrage eine Verlangsamung des Prozesses, und dass wir weiterkämpfen müssen.

Die Revolution vom 25. Januar wird nicht die letzte Revolution in Ägypten sein. Weitere ähnliche Revolutionen sind auf dem Weg. Grund dafür ist, dass zentrale Fragen wie etwa die soziale noch nicht beantwortet wurden. Auch bei der Frage der nationalen Souveränität haben wir noch einen langen Weg vor uns.

Die jetzige Entwicklung hat direkte Auswirkungen auf die Beziehungen mit Israel. Die Ära, als Ägypten im Dienst Israels stand, ist vorbei. Die jetzige Übergangsverwaltung tendiert zu mehr Balance in ihren Beziehungen mit den verschiedenen Mächten in der Region. Es gibt eine koordinierte Kampagne seitens Israels, Saudi Arabiens und den USA gegen die ägyptische Revolution. Ihr Ziel ist es, eine Wirtschaftskrise auszulösen, die den Fortschritt dieser Revolution verhindert.

Natürlich macht sich Israel große Sorgen. Seit der Revolution wurde die Erdgasleitung zu Israel dreimal gesprengt.

Intifada: Welche neue Revolution erwartet Sie? Wie sind die Umstände einer solchen Revolution? In wie fern ist der Militärrat in der Lage, die Situation zu stabilisieren?

Abdelhalim Qandil: Der Militärrat ist kein Rat der Revolution. Er hat bewiesen, dass er immer Druck von Unten braucht, um etwas zu unternehmen. Der Militärrat wollte nicht einmal Mubarak festnehmen und wurde nur durch den Druck des Volkes dazu gezwungen. Er kann jedoch keine feindlichen Maßnahmen ergreifen, weil die ägyptische Armee ihm diese unmöglich macht. Die Beziehung zwischen der ägyptischen Armee und dem Volk hat einen speziellen Charakter. Seit zweihundert Jahren, in der gesamten modernen Geschichte Ägyptens, ist es nie passiert, dass die Armee eine Konfrontation mit den Volksmassen einging. Entweder entfachte die Armee selbst die Revolutionen, wie Orabi im 19. und Nasser im 20. Jahrhundert, oder sie unterstützte die Revolutionen, wenn auch mit gewisser Trägheit. Der Charakter der nächsten Revolution wird jedenfalls sozial sein.

Die zentrale Aufgabe ist es, eine vereinigte Partei der Linken zu bilden.

Intifada: Der Aufstand vom Januar stellte einen Volkskonsens gegen Mubarak dar. Welche Fronten werden sich nach dem Abgang von Mubarak bilden? Kann man erwarten, dass ein Aufstand sozialen Charakters einen ähnlichen Konsens herstellen kann?

Abdelhalim Qandil: Dieses Regime hat Ägypten in der Wirtschaft, in der Kultur, in der Bildung und in der Landwirtschaft zurückfallen lassen. Die Aushöhlung des Landes hat dazu geführt, dass sich bei der Bevölkerung unter der Oberfläche viel Wut anstaute. Die hunderttausend Menschen am Tahrir-Platz sind jene kritische Masse, eine kleine Minderheit, die den Deckel vom Druckkochtopf entfernte und die Wut entweichen ließ. Das ist genau, was am 25. Januar passiert ist. Es waren siebzigtausend und die Sicherheitsapparate haben den Fehler gemacht, brutal an die Sache heran zu gehen. Dieser Fehler der Apparate ist unvermeidlich, denn man kann nicht ein Monster züchten und dann von ihm erwarten, behutsam zu sein.

Die Menschen stürmten wie hypnotisiert den Platz. Sie waren vor allem von Wut getrieben. Sie hatten auch unterschiedliche Forderungen neben Demokratie: Menschlichkeit, Würde, Hoffnung, Arbeit, Wohnung, Nahrung usw. Deswegen glaube ich, dass es weitere Episoden geben wird. Medial herrscht diesmal die Demokratiefrage und übertönte andere Fragen, die nicht durch bloße parlamentarische Demokratie gelöst werden können. Diese benötigen eben eine neue Revolution mit sozialen und auch patriotischen Motiven.

Intifada: Aber da wären die Kräfteverhältnisse doch viel ungünstiger. Die Moslembrüder, die einen wesentlichen Teil der Opposition ausmachen, werden bei einer sozialen Revolte nicht mitmachen. Das gilt auch für andere Kräfte, die bei diesem Aufstand dabei waren.

Abdelhalim Qandil: Die Moslembrüder sind im Moment tatsächlich die größte organisierte Kraft. Nichtsdestotrotz hat diese größte Kraft keine Rolle bei der Auslösung der Revolution gespielt. Heute findet eine neue Art von Revolten statt, die eine genauere Beobachtung benötigt. Revolten bedienen sich neuer Kommunikationsmittel. Die Bewegungen sind in der gesamten Region sehr ähnlich, weil auch die Regime sehr ähnlich sind. Überall herrschen Familien, umgeben von einer Schicht von Vertretern eines parasitären Kapitalismus, geschützt von aufgeblähten Sicherheitsapparaten. Die Wirtschaft basiert auf primitiver Verteilung und die Politik auf Scheinparteien. Deswegen sind die Szenarien in den verschiedenen Ländern ähnlich. Nur Libyen stellt eine Abweichung dar.

Es ist nicht überraschend, dass nach der Revolution die Moslembrüder in einer günstigeren Lage sind. Sie sind als einzige Kraft im Land gut organisiert. Es war zu erwarten, dass sie sich in eine wirtschaftsliberale Partei mit einer islamischen Maske umwandeln, ähnlich der CDU in Deutschland. Sie werden zur größten Kraft der ägyptischen Rechten. Das bedeutet ein großes Gewicht rechts und ein großes Vakuum links.

Die nächste Bewegung wird von anderen Kräften angeführt werden. Die zentrale Aufgabe ist es, eine vereinigte Partei der Linken zu bilden. Damit ist nicht die marxistische Linke gemeint, sondern die linken Kräfte der Gesellschaft, darunter die Nasseristen, Marxisten, Sozialdemokraten, Islamisten mit progressiven Tendenzen, auch Liberale mit sozialer Verantwortung. Sie soll auch jene große Gruppe der Jugend beinhalten, die hinter dem Aufstand stand und sich heute noch nicht politisch definiert hat. Diese Partei soll ein politisches Programm entwerfen, das als Basis für die nächste Revolution dienen kann.

Es ist großartig, was in Ägypten passiert ist. Kurz zusammengefasst: Wir sind von einer Todesagonie in eine kritische Lage übergangen. Es ist besser in Lebensgefahr als am Sterben zu sein.

Intifada: Was halten Sie von den neuen politischen Formationen? Ersetzt die neu entstandene Nationale Front Kifaya? Hat Kifaya ausgedient?

Abdelhalim Qandil: Kifaya hat tatsächlich eine ganze Reihe ihrer Ziele erreicht. Jetzt müssen diese Ziele erneuert werden. Wir brauchen eine politische Partei, die in ihrer großen Bandbreite Kifaya ersetzt. Erschwert wird diese Einheit durch den Drang vieler Gruppen, Parteien zu gründen. Doch nach den ersten Wahlen wird sich die Notwendigkeit der Einheit erweisen. Angesichts eines potentiellen Wahlsiegs der Moslemischen Brüder wird die Linke gezwungen sein, sich mit der Gründung einer solchen Partei zu beeilen. Die Moslemischen Brüder werden die ersten Wahlen gewinnen, aber ich zweifle daran, dass sie die nächsten auch gewinnen werden.

Die Moslemischen Brüder werden die ersten Wahlen gewinnen, aber ich zweifle daran, dass sie die nächsten auch gewinnen werden.

Es ist wichtig in dieser Phase eine Rolle für die Armee zu finden, nämlich die Verfassung zu schützen. Ich persönlich sehe die ägyptische Armee als Teil der antikolonialen Bewegung und als eine Kraft für die Einigung der Araber. Es gibt Kriegsgefahren, denn weder die USA noch Israel noch Saudi Arabien werden zuschauen. Man wird mit einer Konfrontation rechnen müssen.

Der Charakter der Armee zeigte sich in den letzten Tagen Mubaraks, als die Armee ihn ohne seine Zustimmung aus dem Amt entfernte. In den 24 Stunden zwischen seiner letzten Rede (in der er den Rücktritt ablehnte) und der Rede von Suleiman bewegte sich die sechste US-Flotte in Richtung Suezkanal. Der Plan war, den Suezkanal zu kontrollieren, während die israelische Armee in Sinai erneut einmarschiert. Im Camp David-Abkommen gibt es eine Klausel: Wenn Israels Sicherheit durch Ägypten bedroht ist, dann sind die Amerikaner verpflichtet militärisch einzugreifen. Sie waren in Verhandlungen mit den Saudis und den Israelis über die Situation.

Falls Mubarak keine Rücktrittsbereitschaft gezeigt hätte, wäre eine Eskalation bevor gestanden. Mubarak hat selbst die Amerikaner eingeladen, um die Lage zu retten, die Klausel im Camp David-Abkommen war der Vorwand. Hätte die Armee Mubarak genug Zeit gegeben, hätten wir eine ausländische Intervention gehabt, um Mubarak an der Macht zu halten.

Intifada: Besteht in Syrien die Gefahr eines libyschen Szenarios?

Abdelhalim Qandil: Nein. Die Situation in Syrien ist anders. Dort sind die politischen Kräfte, die den Aufstand unterstützen, großteils antiimperialistische Kräfte. Nur Einzelpersonen aus der Gruppe der Damaskus-Erklärung werden von den USA unterstützt, aber diese haben keinen Einfluss auf die syrische Öffentlichkeit. Es gibt keine Kraft in Syrien, die eine amerikanische Intervention fordert. Ich selbst bin gegen Assad, aber ich weiß, dass die wesentlichen Kräfte der syrischen Linken mit dem Regime einen weitgehenden nationalen Dialog über Reformen eröffnen möchten, ohne ihn stürzen zu wollen.

Ein US-amerikanischer Einmarsch im arabischen Osten wäre ein Höllenritt. Das möchten die USA im Moment vermeiden. In Libyen ist die Situation anders. Dort ist die Spaltung innerhalb der regierenden Elite Tatsache. Nach dem Abgang Ghaddafis wird eine Kraft von außen nötig, um die Integrität und die Einheit des großen dünn besiedelten Landes zu bewahren. Ich glaube nach wie vor, dass die beste Option die ägyptische Armee ist.

Intifada: Haben die Ereignisse im arabischen Raum die palästinensische Bewegung in ihrer Rolle als Trägerin des Widerstands überholt? Wird Palästina nicht mehr als Leitbild dienen?

Abdelhalim Qandil: Die arabischen Aufstände haben ein neues Modell geschaffen, das auch ein Instrument für die Palästinenser sein wird. Stellen Sie sich eine ähnliche Massenbewegung im Westjordanland und in Jerusalem vor! Diese Massenbewegung kann auch eine moralische Brücke bilden und eine positive Veränderung der gesamtarabischen Situation bewirken. Eine Folge der Veränderung in Ägypten war die palästinensische Versöhnung [zwischen Hamas und Fatah, Red]. Das Abkommen an sich ist nicht wichtig, aber es öffnet die Wege für eine andere Stimmung, in der eine neue Intifada möglich ist.

Intifada: Eine Frage zur verfassunggebenden Versammlung: Nach den gegensätzlichen Positionen der politischen Kräfte stehen die Chancen dafür nicht gut. Halten Sie diese Forderung für wichtig?

Abdelhalim Qandil: Vor kurzem habe ich einen Leitartikel mit dem Titel geschrieben "Die Verfassung zuerst, geehrte Generäle!". Erfahrungen haben gezeigt, dass, um etwas zu erreichen, Druck auf den Militärrat auszuüben ist. Man muss sich nicht unbedingt vor dem vom Militärrat entworfenen Szenario beugen. Die Aufgabe der Stunde ist die Bildung einer konstituierenden Versammlung, die eine neue Verfassung verabschiedet. Das ist das Fundament für jeden demokratischen Aufbau. Das Szenario der Wahlen unter der jetzigen Verfassung wird Komplikationen mit sich bringen und das Land drei Jahre lang politisch lähmen. Nach Parlaments- und Präsidentschaftswahlen entsteht nach sechs Monaten eine parlamentarische Verfassungskommission. Diese wird sechs Monate lang an einer Verfassung arbeiten. Dann würde es ein Referendum über den Entwurf geben. Nach der neuen Verfassung würde das Parlament nicht mehr gültig sein und es wären neue Wahlen nötig. Auch der Präsident müsste dann neu gewählt werden. So gehen wir von Wahlen zu Wahlen, ohne tatsächliche Reformen der Wirtschaft, der Politik und der Sicherheitslage zu realisieren. Dieses Szenario ist ein Desaster.

Es ist an den politischen Kräften, sich zu organisieren um auf den Militärrat Druck auszuüben.

Übrigens hat der Militärrat das Ergebnis des Referendums vom 19. März über Verfassungsänderungen relativiert. Bei diesem Referendum ging es auch um die Verfassung von 1971. Erst danach entdeckte der Militärrat, dass diese Verfassung keinen Militärrat beinhaltet.

Ich sehe die ägyptische Armee als Teil der antikolonialen Bewegung und als eine Kraft für die Einigung der Araber.

Intifada: Gibt es eine signifikante politische Koalition, die für die verfassunggebende Versammlung ist, ähnlich wie in Tunesien?

Abdelhalim Qandil: Ja, ich sehe große Möglichkeiten, in diese Richtung Druck auszuüben und den Militärrat dazu zu bringen, von den geplanten Wahlen im November abzusehen. Wichtig ist, dass sich die Gruppen einigen. Das Szenario der konstituierenden Versammlung ist das schnellste. Innerhalb eines Jahres hätten wir eine neue Verfassung und eine neue Regierung.

Intifada: Welchen Präsidentschaftskandidaten unterstützen Sie?

Abdelhalim Qandil: Es gibt zwei Kandidaten, deren Linie ich teile: Hamdin Sabahi und Hisham Bastawisi. Ich hoffe dass die beiden sich einigen, dass es nur einen gibt. Klar ist, dass wir auf keinen Fall Amre Mousa oder Mohammad Baradai unterstützen würden.

Intifada: Haben Sie erwogen, selbst zu kandidieren?

Abdelhalim Qandil: Ich wurde darauf angesprochen, doch ich sehe nicht darin meine Aufgabe, sondern in der Bildung einer neuen linken Partei. Diese Partei soll eine Kraft sein, die den Moslemischen Brüdern nicht feindlich gesinnt ist, aber doch im Wettbewerb mit ihnen steht. Ich bemühe mich, dass die Kampagne für die Präsidentschaft gemeinsam mit der Kampagne für die Bildung der Partei geführt wird. Die Moslemischen Brüder werden bei den nächsten Wahlen gewinnen, doch was ist mit den übernächsten?

Mit den Moslemischen Brüdern haben wir Übereinstimmungen hinsichtlich der nationalen Frage. Kulturell muss man verstehen, dass innerhalb der ägyptischen Gesellschaft die Frage "Säkularismus vs. religiöser Staat" keine authentische Debatte ist. Die Hauptdebatte spielt sich zu sozialen und wirtschaftlichen Fragen ab.

Intifada: Sehen Sie die Gefahr einer militärischen Eskalation seitens Israel?

Abdelhalim Qandil: Ja, Kriegsgefahr ist da. Deswegen betonen wir, dass die ägyptische Armee ein Teil der Bewegung ist. Die ägyptische Armee ist kein Berufsheer und kein Heer von Freiwilligen, sondern ein Volksheer. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass die Existenz Israels eine Bedrohung für die Existenz Ägyptens selbst ist. Die Palästina-Frage ist nicht nur eine Frage für die Palästinenser, die Araber oder die Moslems, sondern auch eine Frage der ägyptischen nationalen Sicherheit. Es sind sogar mehr Ägypter im Kampf gegen den Zionismus gefallen als Palästinenser. Die jetzige Behörde bemüht sich darum, die Erdgasverträge mit Israel loszuwerden.

Intifada: Sie haben oft betont, dass die nächste Revolution eine soziale sein wird. Wollen Sie die soziale Frage antikapitalistisch beantworten oder ist das unmöglich?

Abdelhalim Qandil: Die kapitalistische Lösung hat ihre Möglichkeiten verbraucht. In diesem Land kommt Kapitalismus der allgemeinen Plünderung und Aushöhlung der Ressourcen gleich. Die "Öffnung der Wirtschaft" und Privatisierungen haben das Land wirtschaftlich zerstört. Ägypten wurde einem Raubzug ausgesetzt, den es in den dreitausend Jahren seiner Geschichte nicht kannte. Es gibt keine kapitalistische Antwort.

Die kapitalistische Lösung hat ihre Möglichkeiten verbraucht. In diesem Land kommt Kapitalismus der allgemeinen Plünderung und Aushöhlung der Ressourcen gleich.

Intifada: Wie sehen Sie die Rolle von Saudi-Arabien in einem militärischen Szenario?

Abdelhalim Qandil: Was jetzt neu ist, ist die Wachsamkeit des ägyptischen Volkes. Im Jahr 2009 während der israelischen Angriffe auf Gaza waren die Reaktionen der Massen in Ägypten sehr beschränkt. Wenn jetzt eine Aggression gegen Gaza stattfinden würde, dann würden Millionen auf die Straße gehen. Das Regime wäre gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen. Jetzt sagt es, dass es innerhalb einer Woche den Grenzübergang nach Gaza dauerhaft öffnen wird. Das sieht Israel als Provokation.

Vorbei ist die ägyptische Bereitschaft, Israel zu dienen und an den israelischen Militäroperationen teilzunehmen. Mubarak war der Mann Nr. 1 der USA. Der israelische Generalstabschef Benjamin Ben-Eliezer bezeichnete ihn als "den größten strategischen Schatz Israels". Auch für Shimon Perez war er der "wichtigste Mann in der Geschichte Israels nach Ben Gurion". Für sie ist der Verlust von Mubarak nicht einfach. Dass er gestürzt wurde, ist eine Ohrfeige für Israel, die USA und Saudi Arabien. Von Camp David ist eine Art Koexistenz geblieben.

Die Ägypter sehen die Palästinenser als die erste Verteidigungslinie der ägyptischen Souveränität. In den USA führen jährlich Meinungsforschungsinstitute Umfragen im Arabischen Raum zu den Beziehungen zu den USA durch. Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass unter den arabischen Völker die Ägypter den USA am feindlichsten gesinnt sind.

Die Ägypter sehen die Palästinenser als die erste Verteidigungslinie der ägyptischen Souveränität.

Intifada: Wie sehen Sie die Zukunft der palästinensisch-israelischen Verhandlungen nach dem Sturz von Mubarak? Dies insbesondere nach der unterzeichneten Versöhnung zwischen Fatah und Hamas?

Abdelhalim Qandil: Ich glaube es wird keine echten Verhandlungen mehr geben. Es mag zu Scheinverhandlungen kommen, ohne dass es diese tatsächlich gibt. Konkrete Veränderungen wird es in der Realität geben. Ich glaube, dass die Palästinenser sich in Zukunft anders verhalten werden.

Intifada: Wir haben bei anderen Treffen mit linken Aktivisten gehört, dass die Arbeiterbewegung unpopulär sei und die Streiks angefeindet würden. Eine Isolation der Arbeiterforderungen von der politischen Bewegung würde ein Problem darstellen, vor allem weil die soziale Frage in Ägypten nach wie vor eine zentrale ist. Wie sehen Sie das?

Abdelhalim Qandil: Die Lage ist zwar noch kompliziert, jedoch geht es der Arbeiterbewegung heute besser. Neue Gewerkschaften werden gebildet und es gibt eine unabhängige Arbeiterunion. Die Aktivisten, mit denen ihr gesprochen habt, meinen das vom Militärrat verabschiedete Gesetz, das Streiks von Interessensgruppen einschränkt. In der Realität wird dieses Gesetz nicht umgesetzt. Keiner ist in der Lage, es umzusetzen. Bis jetzt wurde keinem auf der Basis dieses Gesetzes ein Prozess gemacht. Der Militärrat hat Angst vor der Massenbewegung. Er möchte die bestehende Ordnung möglichst beibehalten und gleichzeitig Konfrontationen vermeiden. Diese Gleichung ist schwer.

Das Interview führte Margarete Berger


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Abdelhalim Qandil
- Aufschrift am Tahrir-Platz
- Durch einen Polizeieinsatz verletzte Demonstranten am Tahrir-Platz

Raute

ARABISCHER RAUM

Revolution in den Mühen der Ebene

Wie der tunesische Aufstand weitergeht

Von Imad Garbaya

Obwohl Tunesien den arabischen Frühling einläutete, ist es bald aus den Medien verschwunden. Nach dem Aufstand stellen sich jedoch dringliche Fragen. Über Franko-Laizismus, das Versäumnis der Revolutionsräte und die Gefahr der Nato berichtet.


17. Dezember 2010: Mohamed Bouazizis Selbstverbrennung gibt den Startschuss für einen Aufstand, der zuerst von den Ärmsten und Benachteiligten getragen wird. Dieser Aufstand überraschte alle: das Regime, die Opposition, die Gewerkschaften. Seine Kraft war so groß, dass sie schnell gezwungen wurden, Position für oder gegen die Bewegung zu beziehen.

Der Letzte, der das verstand, war der Diktator Ben Ali selbst. In seiner letzten Rede am 13. Januar formulierte er: "Ich habe euch verstanden!" Am folgenden Tag verließ er unter dem Druck des Volks (und offensichtlich auch seiner Eliten) das Land, wohlgemerkt der Diktator, aber nicht die Diktatur!

Der 14. Jänner bezieht seine Wichtigkeit nicht nur aus dem Faktum, dass an diesem Tag Ben Ali stürzte, sondern vor allem daraus, dass die ganze Welt von einer "Revolution" in Tunesien zu sprechen begann. Plötzlich "entdeckten" alle, dass in Tunesien über Jahrzehnte eine Diktatur, ein korruptes System, ein Polizeistaat geherrscht hatten.

Seit 14. Januar gaben sich in Tunesien drei Regierungen die Klinke in die Hand. Über hundert politische Parteien haben sich gebildet. Alle betrachten sich als pro-revolutionär. Doch die Hauptströmungen spiegeln das klassische Bild der politischen Szene in den arabischen Staaten des Postkolonialismus wider: rechtsliberal, "rechts"-islamistisch, panarabisch-sozialistisch, kommunistisch - wobei es in Tunesien aus historischen Gründen, die mit dem Regime Bourguiba zu tun haben, eine starke franco-laizistische, eine "moderate" islamistische und eine starke kommunistische Bewegung gibt. Letztere neigt dazu, antiislamistisch zu agieren.

Seit 14. Januar hat die tunesische Revolution mehrere Wellen durchlaufen und verschiedene Etappensiege erreicht, von der Auflösung zweier Regierungen, die einige Minister vom Regime Ben Ali beinhalteten, bis zur Zusage für die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung, eine Kernforderung der Sit-ins im Kasbah-Regierungsviertel aber auch der Kommunistischen Arbeiterpartei PCOT.

Die verschiedenen Sit-ins, Demonstrationen, Bewegungen und Aktionen der Bewegungen zeigen immer wieder, dass eine politische Führung der Revolution fehlt.

Die verschiedenen Sit-ins, Demonstrationen, Bewegungen und Aktionen der Bewegungen zeigen immer wieder, dass eine politische Führung der Revolution fehlt. Denn obwohl unter dem Druck der Massen zwei Regierungen zurücktreten mussten und viele Gesichter des alten Regimes entfernt wurden, schaffen es die Revolutionäre nicht, eine alternative Regierung zu etablieren.

Was als Vorschlag in der Luft liegt, ist die Regierung der nationalen Einheit aus unabhängigen und nicht korrupten Persönlichkeiten. Die Kräfte der Bewegung, insbesondere die Linke, haben es nicht geschafft, die Entwicklung der Komitees zur Verteidigung der Revolution, die sich am Anfang in ganz Tunesien gebildet hatten, in Richtung eines Revolutionsrates mit Führungspersönlichkeiten zu fördern.

Auf der andere Seite zeigen die Kräfte der Konterrevolution immer wieder, dass sie besser organisiert sind, was nach über einem halben Jahrhundert Diktatur nicht verwundert. Sie schaffen es sowohl durch das Spielen der Sicherheitskarte als auch durch das An-die-Wand-Malen der "Gefahr" der Islamisten zu verhindern, dass sich eine politische Front formiert, die die Ziele der Revolution besser verteidigen könnte - in Richtung Demokratie, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Demokratie.

So haben wir heute in Tunesien die Sebsi-Regierung (Sebsi selbst war ein Bourguiba-Mann und in den sechziger und siebziger Jahren Innen- und Außenminister), die das Land zu den Wahlen führt, beim Aufbau einer demokratischen Republik mitwirkt, aber gleichzeitig die Entstehung einer unabhängigen Justiz verhindert und das Land wirtschaftpolitisch in den alten neoliberalen Bahnen der Globalisierung belässt.

Schafft es die progressive politische Szene in Tunesien sich von der Islamismus-Phobie (Nahdha-Phobie) zu befreien und sich mit der Kernbewegung des Volks zu identifizieren? Oder bleibt sie zerrissen zwischen ihren Ängsten vor den Islamisten an der Macht und dem Paktieren mit dem Teufel (den Wächtern des alten Systems)?

Am 15. und 16. August versuchten die Tunesier wieder ihre Revolution wach zu rütteln und gingen auf die Straße um zu zeigen, dass ihre Forderungen bei weitem nicht erfüllt sind ... und wieder hinken die politischen Kräfte nach.

Denn letztlich droht auch in Tunesien die Gefahr, dass die Revolution in den Armen der Nato endet, wie anderswo.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Kongress der Kommunistischen Arbeiterpartei PCOT

Raute

ARABISCHER RAUM

"Die tunesische Linke bleibt bei ihrer Familie"

Kein Dialog zwischen Linker und Islamisten

Ajmi Lourimi und Sami Brahem über ihr Verständnis von Demokratie und Islam, die Perspektiven der tunesischen Revolution und die Linke.

Das Interview führte Wilhelm Langthaler


Intifada: Sind Sie für einen islamischen Staat?

Ajmi Lourimi: Anfangs waren wir keine politische Bewegung im eigentlichen Wortsinn. Wir betrachteten den Islam als Lösung für alle Probleme. Gleichzeitig waren wir mit der forcierten Entislamisierung durch die Regierung konfrontiert. Für uns war die arabisch-islamische Identität in Gefahr. Dagegen propagierten wir die Reislamisierung.

Doch der Islam ist die Religion des Volkes geblieben, man konnte ihn nicht ausreißen. Die Globalisierung strebt eine Homogenisierung an, aber diese gelingt nicht. Der kulturelle Pluralismus ist fest etabliert und in ständiger Entwicklung.

Heute geht es daher nicht mehr um die Verteidigung des Islam, sondern um die Demokratie, in der dieser in Freiheit und Würde gedeihen kann. Die alten Eliten sind nicht mehr einheitlich. Sie können nicht mehr wie sie wollten.

Heute geht es daher nicht mehr um die Verteidigung des Islam, sondern um die Demokratie.

Sami Brahem: Von der Seite der Marxisten vermissen wir allerdings eine solche Selbstkritik, einen solchen Wandel, selbst wenn sie heute von Demokratie sprechen. Manche von ihnen sind extrem intolerant und sehen in der islamischen Bewegung den Hauptfeind. Man könnte sie Fascho-Laizisten nennen. Sie sind trotz ihrer Phraseologie eine Reserve der Konterrevolution.

Intifada: Ihre Feinde werfen Ihnen vor, die Scharia einführen zu wollen?

Ajmi Lourimi: Nein, die Einführung der Scharia, so wie sie von unseren Feinden an die Wand gemalt wird, befindet sicht nicht im Programm von Enahda. Auch nicht in der Form, wie sie in Afghanistan, Pakistan, Saudi-Arabien, Somalia und anderen Ländern praktiziert wird. Und schon gar nicht die Körperstrafen.

Wir verstehen die Scharia zuerst als universelles Wertesystem, ebenso wie die Menschenrechte. Nach ihr wollen wir die Gesellschaft gestalten, eine Gesellschaft ohne Kriminalität, gegründet auf Solidarität und Gerechtigkeit. Das heißt auch, dass man den Staatschef nicht heilig sprechen darf.

Dann erst kommt die Scharia als Gesetz, als Strafrecht. Aber so, wie das in den genannten Ländern praktiziert wird, steht das im Widerspruch zum Islam, so wie wir ihn verstehen.

Sami Brahem: Für mich sind die Menschenrechte Teil des Islam. Das Strafrecht und die Strafformen selbst müssen historisch gelesen und für die Gegenwart neu interpretiert werden. In diesem Sinn bin ich gegen die Körperstrafen.

Ajmi Lourimi: Die Körperstrafen finden sich im Koran und sind daher Teil des Islam, doch sind sie nicht Teil des Programms von Enahda.

Intifada: Würden Sie einen in einem demokratisch gewählten Parlament beschlossenen Gesetzeskodex akzeptieren?

Ajmi Lourimi: Ja.

Intifada: Die Kommunistische Arbeiterpartei (PCOT) wirft Ihnen vor, mit der Teilnahme an der "Hohen Kommission für die Realisierung der Ziele der Revolution, der politischen Reform und den demokratischen Übergang" mit der Übergangsregierung und damit den Resten des alten Regimes zu kooperieren.

Ajmi Lourimi: Wir nehmen teil, weil wir den Konsens mit allen Komponenten der Gesellschaft suchen. Nach der zweiten Kasbah-Bewegung,(1) die zum Rücktritt Premiers Mohamed Ghanouchis führte, suchten alle die revolutionäre Einheit. Der demokratische Übergang ist nur mit Konsens möglich, sonst drohen Konfrontation und Chaos.

Intifada: Man kann das aber auch als politische Unterstützung für die alten Eliten lesen, die sich im neuen Regime recycelt haben.

Ajmi Lourimi: Natürlich gibt es noch Leute des alten Regimes. Die müssen zurückgedrängt werden. Aber wir dürfen keine institutionelle Leere zulassen, die zu Chaos und Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führt. Die Institutionen, die aus der Revolution hervorgegangen sind, sind notwendig. Man muss den konstitutionellen Weg respektieren. Auch die Armee hat sich auf die Seite der Revolution gestellt und muss im Interesse des Volkes die Sicherheit erhalten. Die zweite Übergangsregierung von Essebsi hat schließlich vorgeschlagen, zur Sicherung der Revolution die Hohe Kommission zu schaffen. Die Reaktionen waren überwiegend positiv und ein großer Teil der Gesellschaft, von Parteien bis Individuen, beteiligte sich.

Intifada: Warum hat Enahda die Kommission verlassen?

Ajmi Lourimi: Wir haben immer wieder kritisiert, dass die Hohe Kommission nicht ausgewogen ist. Wir haben als wichtige Partei drei Sitze, während es zahlreiche Kleinparteien gibt, die kaum jemanden repräsentieren. Die sogenannten Unabhängigen sind in Wirklichkeit nicht unabhängig. Die Mehrheitsverhältnisse in der Hohen Kommission spiegeln jene in der Gesellschaft überhaupt nicht wider. Wichtige Kräfte wie die PCOT haben die Teilnahme verweigert. Auch das hat Bedeutung und muss in Rechnung gestellt werden, denn sie vertreten eine Sektion der Gesellschaft.

Wir haben unsere Teilnahme an der Hohen Kommission suspendiert, weil es in ihr keinen Konsens gibt und er nicht gesucht wird, weil sie nicht demokratisch funktioniert und weil sie die Wahlen nicht vorbereitet. Im Gegenteil, sie errichtet Hürden. Da ist das Problem der Einschreibungspflicht, die es insbesondere am Land vielen Leuten schwer macht sich zu beteiligen. Trotz dieser Schwierigkeiten haben wir uns von Anfang an beteiligt und sind auch in Zukunft wieder bereit teilzunehmen, wenn auf unsere Forderungen eingegangen wird.

Wir dürfen keine institutionelle Leere zulassen, die zu Chaos und Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führt.

Sami Brahem: Es geht ihnen darum einen Wahlerfolg der islamischen Kräfte zu unterbinden. Die marxistischen, feministischen und laizistischen Fundamentalisten (wie die "Demokratischen Frauen" oder die At-Tajdid(2) wollen maximal kleine Verfassungsänderungen, sie wollen keine demokratische verfassunggebende Versammlung.

Intifada: Gilt das auch für die PCOT oder ist mit dieser ein Block möglich?

Ajmi Lourimi: Unter der Diktatur gab es Kooperation gegen die Repression, für die politischen Gefangenen, die Bürgerrechte, gegen Korruption usw. nicht nur mit der PCOT, sondern auch mit anderen linken Kräften wie der PDP.(3) Es gab sogar ein gemeinsames politisches Dokument, in dem wir uns über die Meinungs- und Religionsfreiheit, die Frauenrechte, die Beziehung Religion-Staat verständigten.

Doch nach der Revolution bildete die PCOT die Front des 14. Januar - ein exklusiv linker Block -, während sich die PDP an der Regierung beteiligte. Der Dialog ist seither zum Erliegen gekommen.

Sami Brahem: Es gibt gegenseitigen Respekt zwischen Enahda und PCOT. Natürlich abgesehen von der Ideologie, können wir zu den unmittelbaren politischen Fragen viele Gemeinsamkeiten feststellen. Aber die PCOT zieht es vor, mit der linken Familie zu gehen, deren einzige wirkliche Gemeinsamkeit es ist, gegen die Islamisten zu stehen. Letztlich ist ihre Basis sehr säkularistisch. Man muss die Politik desakralisieren, die bei den Marxisten noch geistlicher ist als bei den Islamisten.

Intifada: Welche Antworten haben Sie auf die sozioökonomischen Schwierigkeiten, welche die Revolte mit ausgelöst haben?

Ajmi Lourimi: Wir glauben, dass es eine Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus gibt. Für uns ist die islamische Pflichtspende Zakat der entscheidende Pfeiler. Alle müssen ab einer gewissen Einkommensschwelle für einen Fond spenden, der nicht vom Staat verwaltet wird.

Grundsätzlich ist für uns die Schaffung von Reichtum kein Verbrechen, sondern eine Tugend. Aber natürlich sind wir gegen die extrem ungleiche Verteilung und für mehr soziale Gerechtigkeit. Wir brauchen Wachstum und Entwicklung, um Armut und Arbeitslosigkeit insbesondere auch in den unterentwickelten Regionen zu bekämpfen.

Wir glauben, dass es eine Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus gibt. Für uns ist die islamische Pflichtspende Zakat der entscheidende Pfeiler.

Demokratie heißt auch, dass wir unsere nationale Unabhängigkeit sicherstellen müssen. Der IWF und die internationalen Finanzinstitutionen haben zu viel Einfluss. Wir müssen ihnen ein anderes Entwicklungsmodell entgegenstellen. Unsere Wirtschaft ist zu stark auf Europa ausgerichtet. Wir sollten unsere Beziehungen zur arabischen Welt oder auch zu Afrika forcieren.

Intifada: Was halten Sie von der Idee der Streichung der Staatsschuld, wie sie von Teilen der Linken propagiert wird?

Ajmi Lourimi: Wir können uns die Konfrontation mit unseren internationalen Partnern nicht leisten. Selbst unter Ben Ali eingegangene Verpflichtungen müssen respektiert werden.

Intifada: Die ägyptischen Moslembrüder sprechen sich gegen Streiks als Mittel der Interessensvertretung aus. Sie auch?

Ajmi Lourimi: Streik ist ein legitimes Recht. Aber es darf nicht missbraucht werden und es gibt auch andere Mittel.

Intifada: Viele islamische Kräfte haben den Nato-Krieg gegen Libyen begrüßt. Sie auch?

Ajmi Lourimi: Nein, wir sind gegen die Nato-Intervention. Aber wir sind für die Revolution und diese war mit friedlichen Mitteln offensichtlich nicht möglich.


Ajmi Lourimi ist Mitglied des Exekutivkomitees der Enahda und einer ihrer historischen Führer. Der Philosoph gilt als Vertreter des progressiv-liberalen Flügels. Zu lebenslanger Haft verurteilt, verbrachte er siebzehneinhalb Jahre seines Lebens in den Gefängnissen Ben Alis und kam erst 2007 frei. Er übersetzte Jürgen Habermas ins Arabische.

Sami Brahem ist ein unabhängiger islamischer Intellektueller, der sich für die Historisierung der Scharia und damit ihre Anpassung an die Gegenwartsgesellschaft einsetzt.


Anmerkungen

(1) Kasbah bezeichnet auf Arabisch die volksnahe Altstadt und gleichzeitig das Regierungsviertel in Tunis.
(2) At-Tajdid - "Erneuerung", aus der ehemaligen pro-sowjetischen KP hervorgegangen.
(3) PDP - Fortschrittlich-Demokratische Partei, unter Ben Ali halblegale linke Opposition.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Aufschrift in Tunis: RCD (Regierungspartei) hau ab!
- Ajmi Lourimi

Raute

ARABISCHER RAUM

Einheitsfront der Opposition unmöglich?

Politische Beobachtungen aus Tunesien

Von Wilhelm Langthaler

Es scheint, als sei die tunesische Revolution ins Stocken geraten. Die Spaltung der Opposition hilft den Eliten.


Ben Ali ist zwar weg, aber kaum eine der Forderungen der Volksbewegung wurde bislang verwirklicht. Die alten Eliten haben sich nach einem ersten Schock gefangen und bremsen. Was ihnen aber am meisten zugute kommt, ist die Spaltung der Opposition entlang der Frage des Säkularismus.

Kommunistische Arbeiterpartei als Speerspitze der Linken

Auf Einladung der Kommunistischen Arbeiterpartei (PCOT) durfte ich Ende Juli deren ersten Kongress beobachten, der nicht im Untergrund stattfinden musste. Es gelang der Partei, die größte Sporthalle der Stadt mit mehreren Tausend Teilnehmer/innen zu füllen und damit ein kräftiges Lebenszeichen auszusenden.(1) Die Partei gilt als stärkste linke Kraft des Landes und verfügt auch über eine feste Verankerung in den ärmeren Regionen des Landes, unter den Arbeiter/innen und den Arbeitslosen. In den Gewerkschaften leistet sie systematische Arbeit. Sie wird bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung antreten.

Die unmittelbaren politischen Forderungen der PCOT schließen an die Volksbewegung an und radikalisieren sie. Sie lehnt die Übergangsregierung von Essebsi ab und nimmt auch nicht an der von dieser gebildeten "Hohen Kommission für die Realisierung der Ziele der Revolution, der politischen Reform und den demokratischen Übergang" teil. Letztere ist ein Versuch der Übergangsregierung, die Kräfte der Opposition zu binden und zu neutralisieren. Die Moderaten sollen von den Radikalen wie der PCOT getrennt werden. Nicht nur die islamische Opposition von Ennahda, sondern auch die linke PDP (Fortschrittlich-Demokratische Partei) ist neben vielen anderen auf das Angebot eingegangen. Vor allem sollte damit der Bildung einer revolutionären Front zuvorgekommen werden, die sich in der ersten Phase nach dem Umsturz auf zahlreiche, in der Revolution entstandene Volkskomitees hätte stützen und diese hätte ausbauen können.

Die PCOT argumentiert, dass die Übergangsregierung die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung nicht organisiert und im Gegenteil alles tut, um sie zu delegitimieren. Je weniger Wahlbeteiligung, desto besser für die alte Elite. Diese sei noch überall im Staatsapparat vorhanden und bleibe straflos. Nicht einmal diejenigen, die für die zahlreichen Opfer der Repression während des Umsturzes verantwortlich sind, wurden zur Rechenschaft gezogen, ganz zu schweigen von jenen, die für Folter und Unterdrückung während der bleiernen Jahrzehnte unter Ben Ali verantwortlich zeichnen.

Vor allem sozioökonomisch habe sich nichts verändert. Bekanntlich war ja die dramatische soziale Lage einer der Auslöser der Revolte. Hier gehen die Forderungen der PCOT bis zur Annullierung der Staatsschulden gegenüber dem Westen.

Die Frage der Front

Als Beobachter fragt man natürlich nach der Möglichkeit, diese Forderungen durchzusetzen. In zahlreichen Gesprächen im Umfeld des Kongresses stellte ich daher die Frage nach einer politischen Front der revolutionären Kräfte, um zumindest die Minimalforderungen der Volksbewegung zu realisieren. Eine politische Front könnte auch der Embryo einer Gegenmacht sein, einer Alternative zur Übergangsregierung, welche die PCOT ablehnt.

Die Antwort war immer wieder ähnlich: Es gäbe bereits eine solche Front, nämlich die des 14. Januars, doch seien einige der Kräfte nicht radikal genug oder wären auch auf der anderen Seite, nämlich an der Hohen Kommission, beteiligt. Damit wurde ihr Stocken erklärt. Doch ich insistierte und wies immer wieder auf Enahda hin, die stärkste organisierte Kraft der Opposition.

Bereits die Frage verwunderte, denn Enahda betrachtet man als eine durchwegs reaktionäre Partei, in einer Reihe zu nennen mit den Splittern des alten Regimes. Enahda sei für den Kapitalismus, sei an die sozialen Eliten gebunden und zudem um einen Ausgleich mit dem Imperialismus bemüht. Im Kampf gegen die Repression Ben Alis mag es Gemeinsamkeiten gegeben haben, doch nun gäbe es keinen Anlass mehr zur Zusammenarbeit.

Der Säkularismus französischen Typs ist tief in die tunesische Identität eingegraben. Die Linke sieht nicht, dass die Diktaturen von Bourghiba und Ben Ali im Namen des Säkularismus herrschten.

Die Tatsache, dass ein wesentlicher Teil der armen Klassen einerseits nach Demokratie verlangt und die Bewegung mit trägt, sich andererseits aber mit dem Islam identifiziert und auch direkt Enahda folgt, wird nicht betrachtet. Der Gedanke, dass die Zuwendung zum Islam eine Form des Protests, eine Abwendung vom globalen System und den mit ihnen verbundenen lokalen Eliten darstellen könnte, ist für dieses Milieu nicht vorstellbar. Der Konflikt zwischen alten Eliten und politischem Islam wird als Meinungsverschiedenheit innerhalb der Eliten angesehen.

Der Säkularismus französischen Typs ist tief in die tunesische Identität eingegraben. Er wird letztlich als unveräußerliches Erbgut der Linken betrachtet. Der Blick darauf, dass die Diktaturen von Bourghiba und Ben Ali im Namen des Säkularismus herrschten und daher eine Ablehnung produzieren könnten, ist dadurch gänzlich verstellt.

Franko-Laizismus

Doch macht man nur einen Schritt aus dem unmittelbaren Milieu der PCOT hinaus, in die breitere Linke, zu jenen Gruppen, die sich im Bündnis 14. Januar befinden, dann wird einem mit erstauntem Entsetzen klar, dass es noch viel schlimmer geht. Es gibt in Tunesien einen hysterischen, islamophoben Laizismus, der stark an das koloniale "Mutterland" Frankreich erinnert. Für viele dieser Kräfte besteht die Hauptfrage in der Verteidigung des Laizismus, oder, anderes gewendet, in der Abwehr des Islam, koste es was es wolle.

Beispielhaft dafür steht die ehemalige Kommunistische Partei, heute Erneuerungsbewegung (Ettajdid). Sie kooperierte bereits mit Ben Ali, um den wachsenden Einfluss der Islamisten von Enahda zurückzudrängen. Heute befindet sie sich in einem festen Block mit der Übergangsregierung. Die Verhinderung eines Wahlerfolgs von Enahda bedeutet ihr mehr als die Erkämpfung der Demokratie, denn diese könne - so die Diktion - zu einem Islamofaschismus führen. Entsprechend kann dieses Milieu der Beschneidung der Kompetenzen der verfassungsgebenden Versammlung, welche die Übergangsregierung plant, einiges abgewinnen. Man fühlt sich unweigerlich an die dunklen Tage Anfang der 1990er-Jahre in Algerien erinnert, als Teile der Linken den Militärputsch gegen die islamische FIS unterstützten.

Ein wichtiger Teil der Unter- und Mittelklassen, der sich Demokratie und soziale Gerechtigkeit wünscht, ist mit den Islamisten.

Erst an diesem Punkt weiß man die Bemerkung eines der Führer von Enahda, Ajmi Lourimi, zu würdigen, dass die PCOT trotz allem noch die toleranteste Kraft der Linken sei und insbesondere ihr Chef, Hamma Hammami, der viele Jahre mit den Führern der Islamisten in den Gefängnissen des Ben Ali-Regimes verbrachte.(2)

Zumindest von Teilen der Islamisten selbst wird indes die Bereitschaft zur Zusammenarbeit signalisiert. Zudem erscheint der tunesische politische Islam in Hinblick auf kulturelle Fragen des Islam ziemlich moderat und verhältnismäßig tolerant. Salafitische Kräfte spielen nur die Rolle von Randerscheinungen.

Unter der Diktatur wurden Enahda durch die Repression zusammengeschweißt. Nun, da größere politische Bewegungsfreiheit herrscht, wird ihr heterogener Charakter stärker zu Tage treten, sich Flügel oder sogar eigene Parteien bilden, was die Anknüpfungspunkte für die Linke erhöht.

Block für eine revolutionär-demokratische Regierung

Die Islamisten sind mit Sicherheit moderater als die radikale Linke. Sie tendieren zur Zusammenarbeit mit dem Übergangsregime, das sie nicht in Kontinuität mit Ben Ali sehen. Doch mit ihnen ist ein wichtiger Teil der Unter- und Mittelklassen, der sich ebenfalls Demokratie und soziale Gerechtigkeit wünscht. Nur wenn man diesen in einen revolutionär-demokratischen Block hineinzieht, wird das Übergangsregime geschlagen werden können. Verharrt die radikale Linke im säkularistischen Milieu, bindet sie sich an jene, die letztlich aus islamophoben Gründen die Übergangsregierung tolerieren. Sie wird handlungsunfähig und letztlich zur Randerscheinung. Nur wenn die islamische Basis mit ins Boot geholt und zumindest ein Teil ihrer Führung in ein Bündnis gebracht wird, kann eine revolutionär-demokratische Front an Mehrheiten und Siege denken.

Es bedarf einer Einheitsfrontpolitik gegenüber den toleranten Teilen des politischen Islam, so wie die Kommunisten es in den 1920er- und 1930er-Jahren gegenüber den Sozialdemokraten über manche Perioden erfolgreich versuchten. Die demokratische Bewegung bietet dafür das richtige Terrain, denn die Massen gehen für Demokratie und soziale Gerechtigkeit auf die Straße, egal ob sie sich als links-säkular oder islamisch verstehen.


Literatur

(1) siehe Bericht: www.antiimperialista.org/de/node/7034 (2) Siehe das Interview in dieser Ausgabe Seite 31


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Aufruf zu Solidaritätskundgebungen mit dem tunesischen Aufstand in Nazareth

Raute

ARABISCHER RAUM

Syrien darf nicht Libyen werden

"Nato-Bodentruppen" sind keine Rebellen

Stellungnahme der Antiimperialistischen Koordination (AIK)

Als Gaddafi fiel, jubelte die westliche Medienmaschine: Nur der westliche Bombenkrieg könne Demokratie bringen. Wird der Westen das neokonservative Paradigma gegen die revolutionären Bewegungen im arabischen Raum wieder gebrauchen?


Dabei verliert man im Westen natürlich kein Wort über die zahlreichen zivilen Opfer der Nato-Angriffe in Libyen. Das ist leidlich bekannt aus allen bisherigen "humanitären" Kriegen. Will man von Revolutionen sonst nichts wissen (und bevorzugt den Begriff Terroristen), geht nun das Wort vom Sieg der Revolution allzu leicht von den Lippen. Ausgeblendet wird dabei, dass der Westen alles tut, um die gegen seinen Willen von Volksbewegungen angestoßenen demokratischen Prozesse in Tunesien und Ägypten zu blockieren. Der Westen arbeitet intensiv mit den alten Eliten zusammen und will sogar einen Teil der Muslimbrüder, die er jahrzehntelang verfemte, ins Boot holen. Ziel ist es, wirkliche demokratische Reformen, welche die Interessen der breiten Massen aufs Tapet bringen würden, zu verhindern.

Noch eklatanter ist die Situation am Golf. Den Ölprinzen wird dabei zugejubelt, wie sie die demokratische Rebellion ihres Volkes blutig unterdrücken. Zynischerweise sind diejenigen, die den Volksaufstand von Bahrain niederschlugen, auch jene, die für Libyen von Demokratie schwadronieren. Doch wenn es dem Westen offensichtlich nicht um Demokratie geht, um was dann?

Den demokratischen Revolutionen Gewalt antun

Die Vulgärkritiker haben allzu schnell eine Erklärung parat: Erdöl. Doch das greift zu kurz, war doch Gaddafi ein verlässlicher Geschäftspartner (und sogar persönlicher Freund Berlusconis), vermutlich verlässlicher als alles, was nun nachkommt.

Nein, in Libyen hat das Wirtschaftliche nur eine kollaterale Wirkung. Es geht um viel mehr, nämlich um die Vorherrschaft über die arabische Welt, die von den demokratischen Bewegungen in Frage gestellt wird. Nachdem man sie nicht mehr unterdrücken konnte, versucht man sie zu umarmen und notfalls mit Gewalt umzulenken.

In Libyen geht es dem Westen um die Vorherrschaft über die arabische Welt, die von den demokratischen Bewegungen in Frage gestellt wird.

Gaddafi bot sich als Exempel an. Er war zwar mit dem Westen verbündet, aber erst seit Kurzem und mit einer langen und wechselhaften Vorgeschichte des Konflikts. So gut die Freundschaft mit Berlusconi auch war, die jahrzehntelange soziale Verflechtung der Eliten mit dem Imperialismus war nicht in gleicher Weise gegeben wie in Tunesien und Ägypten. Zudem schätze man ihn als schwach ein. Allerdings hatte sich die Rebellion als noch schwächer herausgestellt, die keinen Monat auf eigenen Füßen zu stehen vermochte. Der Westen glaubte sich billig als demokratischer Phönix aus der Asche aufspielen zu können und damit die politische Führung wieder in die Hand zu bekommen. Das muss und wird von den arabischen Sozialrevolutionären, die alles in Gang gebracht haben, als Warnung gelesen werden.

Schwache "Nato-Bodentruppen", noch schwächeres prowestliches Regime

Ursprünglich entstanden aus dem Impuls der demokratischen Umbrüche in Tunesien und Ägypten, verkam die Rebellion schnell zur Bodentruppe der Nato. Die Führung übernahmen, grob gesagt, zwei Strömungen, offen Prowestliche und Islamisten verschiedener Couleurs, die den Westen für ihre Interessen benutzen zu können glaubten.

Doch bei der antiwestlichen Stimmung in der gesamten islamisch-arabischen Welt braucht man nicht viel politische Intuition, um zu verstehen, dass die politischen Kosten für Hilfe von der Nato sehr hoch sein werden. Wer will schon sein Leben für ein von den Nato-Staaten kontrolliertes Regime riskieren? Die prowestlichen Milizen sind dementsprechend politisch und militärisch schwach und völlig abhängig.

Den Imperialisten schien dies selbst nicht geheuer. Beeindruckend der Widerstand der Gaddafi-Leute, die selbst unter aussichtslosen Bedingungen bis zum Schluss kämpfen - jedenfalls kein Vergleich mit dem Saddam-Regime im Irak. Es liegt nahe, dass der Grund für die Standhaftigkeit vor allem Clan-Loyalitäten sind. Aber dass man den Kampf als antiimperialistisch darstellen kann, wird wohl sein Scherflein zur Moral beitragen.

Der Westen hat Angst davor, dass der Staat in die Unkontrollierbarkeit zerfallen könnte. Er hat Angst vor einem schwachen, handlungsunfähigen Regime, das Freiräume für Widerstand bietet. Er hat Angst vor Islamisten, die nicht das tun, was man von ihnen erwartet.

Schon drohte Catherine Ashton, die EU-Außenbeauftragte, damit beim "Aufbau von Parteien, der Organisation von Wahlen oder der Schaffung anderer Institutionen" behilflich sein zu wollen. Nachdem man über keine eigenen Bodentruppen verfügt, wird wohl die Idee von UNO-Truppen aufkommen, um die Situation im Sinne des Westens zu stabilisieren.

Politisch verantwortlich: Gaddafi

Bei den Nato-kritischen Kräften hört man viel von Verschwörungen. Der gesamte Volksaufstand sei eine Machination des CIA & Co. Betrachten wir die Sache anders. Die USA und ihre Verbündeten würden nicht die Welt beherrschen, wenn sie nicht zur permanenten Verschwörung fähig wären. Die westliche Intervention mit allen Mitteln ist eine Grundbedingung, eine Konstante jeglicher Politik. Und trotzdem laufen die Dinge meistens nicht so, wie es sich diese Weltenlenker wünschen.

Die Forderung nach Demokratie war und ist auch in Libyen legitim.

Tatsache ist jedenfalls, dass die Revolte von Tunesien und Ägypten inspiriert wurde und daher eine ähnliche politische Stoßrichtung hatte. Die Forderung nach Demokratie war und ist auch in Libyen legitim.

Die beste und einzige Möglichkeit, die imperialistische Militärintervention abzuwenden, wäre für Gaddafi gewesen, auf die Forderungen einzugehen, ihnen nachzugeben. Doch das wollte er unter keinen Umständen, denn das Volk zählt für ihn nicht. Gegen sein Volk kämpfend, wurde er zur Selbstverteidigung gegen den Imperialismus gezwungen - ein zum Scheitern verurteiltes Ding der Unmöglichkeit, für das er die volle politische Verantwortung trägt.

Warnung an Syrien

Derzeit tut Assad alles, um in die Fußstapfen Gaddafis zu treten und das Volk abzustoßen. Doch der Unterschied ist, dass die Bewegung in Syrien wesentlich stärker und politisch entwickelter ist. Die übergroße Mehrheit lehnt eine westliche Militärintervention ab, die nun mit den libyschen Ereignissen ins Spiel gebracht werden wird. Daher könnte sie über die Türkei unter islamischem Deckmantel durchgeführt werden. Aber auch das stößt auf massive Ablehnung.

Es ist zu hoffen, dass ein wesentlicher Teil der demokratischen Bewegung in Syrien nicht in die Falle der westlich-türkischen Intervention gehen wird. Aber ein gewisser Teil des politischen Islam wird es wohl. Er wittert die Chance, als Ersatz für die verbrauchten Diktaturen mit Washingtons Hilfe an die Macht zu gelangen. Von Pro-Interventionskräften sollten sich die antiimperialistischen Teile distanzieren und auch keine Bündnisse schließen. Mit den antiimperialistischen Teilen der islamischen Bewegung muss jedoch ein revolutionäres Bündnis geschlossen werden. Nicht der Islam sollte das Kriterium für Bündnisse sein, sondern die Stellung zum Imperialismus.

Es gilt, diesen antiimperialistischen Teil zu unterstützen. Kann er sich nicht durchsetzen, wird er wohl das erste Ziel der westlichen Aggression sein. Denn letztendlich geht es darum, eine sozialrevolutionäre Massenbewegung gegen die westliche Ordnung, wie sie in der gesamten arabischen Welt im Entstehen begriffen ist, im Keim zu ersticken, eben auch mit militärischen Mitteln.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Muammar Gaddafi
- Nach dem Putsch der Freien Offiziere gegen den libyschen König galt Gaddafi lange Zeit als Nachfolger Nassers in der Führung der panarabischen Bewegung.

Raute

ARABISCHER RAUM

Kein Frühlingserwachen

Die arabischen Volksaufstände und Palästina

Von Margarethe Berger

Seit Jahren stellt die Besetzung Palästinas ein zentrales Moment des Konfliktes zwischen dem arabischen Raum und dem Westen dar. Angesichts der Volksaufstände stellt sich die Frage, wie sich der palästinensische Kampf in diesem Kontext entwickelt.


Die unerwarteten und spontanen Erhebungen in Tunesien und Ägypten, später auch in anderen arabischen Ländern, führten in Palästina zunächst zu einer Aufbruchstimmung. Die Intifada selbst war an einem Tiefpunkt angelangt: Der Gazastreifen ist seit Jahren von der Außenwelt abgeriegelt. Die Westbank befindet sich unverändert unter israelischer Besatzung. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA) ist bereit, die Ziele eines jahrzehntelangen Befreiungskampfes aufzugeben und zur offenen Kollaboration mit Israel und den USA überzugehen. In der Westbank hat die Massenbewegung ihre Dynamik verloren und ist gerade dabei, sich in eine von westlichen Fördergeldern abhängige NGO-Szene zu verwandeln.

Zurück zur Einheit

In dieser Situation schwappte die Aufbruchstimmung v.a. aus Ägypten über und führte zunächst dazu, die Wiederherstellung der Einheit der palästinensischen Führung zu fordern. Fatah und Hamas traten in Verhandlungen ein, was zweifellos als Zeichen gestärkten Selbstbewusstseins gegenüber dem Westen gewertet werden kann. Denn dieser hatte die beiden großen Fraktionen der palästinensischen Befreiungsbewegung nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 in einen Bürgerkrieg getrieben. Seit damals war es die Politik des Westens, Hamas zu ächten und die Fatah als "verantwortungsvollen Partner" aufzubauen. Diesen Spaltungsforderungen die Einheit entgegen zu stellen, bedeutet, die dienerische Haltung ein Stück weit aufzugeben.

Die kurze "dritte Intifada"

Danach folgte die so genannte Dritte Intifada, eine Form der Mobilisierung nach dem Vorbild der arabischen Aufstände. Im Internet, über Facebook und andere virtuelle Medien, wurde dazu aufgerufen, den Jahrestag der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser/innen am 15. Mai 1948, mit Massendemonstrationen zu begehen. Es ging darum, an diese Katastrophe (arab. Nakba) zu erinnern und das Recht auf Rückkehr, eine der historischen Forderungen der palästinensischen Befreiungsbewegung, symbolisch in die Tat umzusetzen.

Das Ergebnis dieser Mobilisierung ist weitgehend bekannt. Als an praktisch allen Grenzen des israelischen Staates, zu Syrien am Golan, zum Libanon im Norden, am Eretz Checkpoint des Gazastreifens und an den Checkpoints des Westjordanlands, unerwartet viele und entschlossene Menschen demonstrierten und im Begriff waren, die Grenze zu durchbrechen, schoss die israelische Armee in die Menge und tötete insgesamt 22 Demonstrant/innen. Die meisten Opfer waren am Golan und an der libanesischen Grenze zu beklagen, während die Demonstrant/innen in der Westbank schon von der Polizei der PNA daran gehindert worden waren, bis an die Grenze vorzudringen. In Gaza beschoss die israelische Armee den Protestzug bereits weit vor dem Checkpoint mit Mörsergranaten und verhinderte so, dass dieser die Grenze erreichte. Ähnliches geschah in Jordanien.

Der Weg der Basismobilisierungen ohne politische Parteien mit klaren Programmen an seinem Ende angelangt.

Niemand hatte mit einer derartigen Brutalität der israelischen Armee gerechnet, zumal die Demonstrant/innen unbewaffnet waren. Das Medienecho war auch im Westen groß, weshalb viele die Aktion, trotz der hohen Opferzahl, als Erfolg betrachteten und von ihrer mobilisierenden Wirkung überzeugt waren.

Im Gegensatz dazu wurden die ganz ähnlichen Ereignisse des 5. Juni von den Medien weitgehend verschwiegen. Wieder war, im Gedenken an den Sechs-Tage-Krieg 1967, über Internet zu spontanen Demonstrationen an den Grenzen zum historischen Palästina aufgerufen worden. Wieder schoss die israelische Armee in die Menge, vor allem an der Grenze zu Syrien, und tötete dort mehr als zwanzig Personen.

Diesmal ging niemand mehr von einer mobilisierenden Kraft der Ereignisse aus. Ganz im Gegenteil, was auf diesen Tag im Yarmuk-Lager in Damaskus folgte, mag symbolisch für die Verwirrung und Enttäuschung stehen, welche die Aktion auslöste. Empörte Angehörige der Opfer gingen auf Führer der Organisationen los und machten sie für den Tod ihrer Kinder verantwortlich. Dem Tumult fielen weitere Personen zum Opfer. Damit war erst mal der Weg der Basismobilisierungen ohne politische Parteien mit klaren Programmen an seinem Ende angelangt.

Abbas' Gang vor die UNO

Die zunächst vielversprechende Aufbruchstimmung in Palästina ist somit wieder zum Erliegen gekommen. Da die Veränderungsprozesse in den arabischen Ländern stocken, hat auch der Druck auf die PNA abgenommen. Der Prozess der nationalen Einheit liegt auf Eis, nachdem die Fatah darauf bestand, Salam Fayyad, den allseits bekannten Mann der USA, zum Premierminister einer Einheitsregierung zu machen. Unannehmbar für die Hamas, hat diese die Verhandlungen abgebrochen. Bezeichnend ist es, dass auch die Massenmobilisierungen für die Einheit sofort abflauten, nachdem die großen Organisationen ihr Interesse daran verloren hatten.

So hat Abbas Zeit für ein politisches Projekt ganz anderer Art: die Bemühungen um die Anerkennung eines palästinensischen Staates durch die UNO. Was beim ersten Hinsehen eine zielführende Initiative scheinen mag, verliert diesen politischen Kredit in einem breiteren Kontext. Die Idee der Zweistaatenlösung würde dadurch gegenüber dem Konzept eines demokratischen Staates für alle seine Bewohner/innen an Stärke gewinnen. Viele der historischen Forderungen der Palästinenser/innen, wie das Recht auf Rückkehr, könnten jedoch in einer Zweistaatlösung nicht eingelöst werden. Zudem würde Israel von all jenen Staaten anerkannt werden, die dies jetzt nicht tun.

Der Antrag auf einen palästinensischen Staat wird im Sicherheitsrat blockiert werden und faktisch keine Auswirkungen haben.

Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass 1988, als Arafat die Gründung eines palästinensischen Staates erklärte, dieser von mehr Staaten anerkannt wurde als damals Beziehungen zu Israel unterhielten. Damit ist klar, dass auch im Falle einer Anerkennung durch die UNO heute, die Initiative im Sicherheitsrat blockiert würde und faktisch keine Auswirkungen hätte - mit Ausnahme der völkerrechtlich-moralischen Genugtuung, die aber seit Jahrzehnten gegeben ist (vgl. die UN-Resolution 3379 von 1975, die Zionismus und Rassismus gleichsetzt) und den Palästinenser/innen keine Veränderung ihrer Situation eingebracht hat.

Israel araberfrei?

Derweil verschärft der israelische Staat die Gangart gegen die arabische Minderheit innerhalb der eigenen Grenzen. Der arabischen Sprache wurde vor Kurzem der Status einer offiziellen Sprache aberkannt. Mit dem Herem Law wird jedwede Aktivität im Sinne von Boykott-Maßnahmen gegen Israel unter Strafe gestellt. Und selbst die jüngste soziale Bewegung, die ebenfalls in Anlehnung an die arabischen Revolten die israelische Regierung durch Massenmobilisierungen und Besetzung öffentlicher Plätze zur Verbesserung der sozialen Situation zwingen will, entbehrt nicht der Absurdität: Um der Wohnungskrise Herr zu werden verspricht die israelische Regierung neue Wohnungen zu bauen - in den Siedlungen in der Westbank und in dem noch zu einem großen Teil von Palästinenser/innen bewohnten Galiläa.

Facebook reicht nicht

In Palästina wird das deutlich, was auch allgemein für den arabischen Frühling gilt: So sehr die Form der Revolten, die spontanen, weitgehend führungs- und strukturlosen Massenmobilisierungen, das Wachsen und Fortbestehen der Bewegungen erst möglich gemacht haben, so sehr stellt sie ab einem gewissen Zeitpunkt eine Hürde dar. Facebook reicht nicht aus, um Antworten auf die schwierigen politischen Herausforderungen zu geben, die sich in den arabischen Ländern und in Palästina den Bewegungen stellen. Es bedarf politischer Strukturen, die in der Lage sind, strategisch und perspektivisch zu denken. Der arabische Frühling hat die politisch-sozialen Verkrustungen in der Region gehörig durcheinander gebracht und somit die Voraussetzungen für die Herausbildung solcher Strukturen geschaffen. Palästina mag sich in diesen Prozess einreihen. Wahrscheinlich werden jedoch die treibenden Impulse in der nächsten Zeit aus anderen arabischen Ländern kommen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Ein palästinensischer Junge beim 63. Gedenktag der Nakba
- Der 18-jährige Milad Ayash wurde in Jerusalem bei den Demonstrationen zum 63. Nakba-Gedenktag von der israelischen Armee getötet.

Raute

ARABISCHER RAUM

Vor allem aber Gründlichkeit

Beobachtungen aus Palästina

Von Anna Maria Steiner

Der letzte Montag im August wird als bemerkenswerter Tag in meine persönliche Historie eingehen - als aufregend wie lehrreich in gleicher Weise. Denn meine Westbankreisegefährtin und ich durften in der besagten Nacht im Ramadan einige Stunden an einem Checkpoint zusehen und hautnah erleben, wie gründlich Israeli gegen Palästinenser vorgehen, und wie spontan zugleich...


02:25 Uhr: Unser Transport ist, wie befürchtet, pünktlich. Muawya, der Taxiunternehmer in meinem Alter, ist zu früher Stunde gnädig, will uns die nächtliche Fahrt so angenehm wie möglich machen und drückt den Knopf zu seiner Lieblingsmusik. Into My Arms von Nick Cave trägt uns förmlich durchs Dunkel der Nacht, das uns die Häuser, in denen die vom Fastenbrechen erschöpften Bewohner Tulkarms längst zur Ruhe gekommen sind, nur umrisshaft erkennen lässt. Während wir Neuankömmlinge hier im äußersten Westen der Westbank letzte Kämpfe mit dem Schlaf ausfechten, erkundigt sich Bettina, die der guten Sache wegen hierher nach Palästina gekommen ist, und die Ulrike und ich für ihren unbeirrbaren Einsatz in diesem ungleichen Kampf bewundern, bei Muawya über die an uns vorbeiziehende Chemie-Fabrik: Von den Israelis hierher gestellt, verhilft sie nicht nur asthmatischen Palästina-Reisenden wie mir zu Atemnot, sondern macht den Distrikt auch gleich prominent in punkto Atemwegserkrankungen, Augenentzündungen und einem überdurchschnittlichem Krebsrisiko, von dem nicht nur hier behauptet wird, dass es das höchste im mittleren Nahen Osten sei. Tags drauf werden wir von einem unmittelbar angrenzenden Bauern erfahren, dass die aus ihr abgeleiteten Abwässer für Missernten und nachhaltiges Pflanzensterben verantwortlich sind. Uns dämmert: Israel scheint äußerst gründlich zu sein in seinem Bestreben, Palästinensern ihr Dasein so effizient wie möglich zu verunmöglichen.

Von Morgendämmerung allerdings noch keine Spur, als wir kurz vor drei Uhr Taybe erreichen, einen der in der Westbank omnipräsenten Checkpoints. Die Tatsache, dass sich deren Zahl im 5.655 Quadratkilometer großen Westjordanland laut UN-Angaben von 630 vor eineinhalb Jahren auf aktuell 505 verringert hat, lässt kaum Hoffnung keimen. Gefängnisse, durch die 5.000 Menschen hier in Taybe jeden Tag auf dem Hin- und Rückweg zur Arbeit passieren müssen. Wir gaffen auf all die unfreiwilligen palästinensischen Frühaufsteher, von denen manche wieder zurückkommen, weil das Lesegerät den Fingerprint nicht erkennt oder aus unerfindlichen Gründen die Identitätskarte über Nacht ungültig geworden ist. Allein schon die Tatsache, dass sich Menschen in ihrem eigenen Land ständig ausweisen müssen, erbost. Und dann: Genehmigungen - für: nahezu alles. Nichts anderes als israelische Beschäftigungspolitik kann es sein, Palästinenser für Arztbesuche, berufliche Reisen, Jerusalemaufenthalte, schlichtweg: für was auch immer, schriftlich Erlaubnis einholen zu lassen. Niemand soll unerlaubt über die Grenzen im eigenen Land kommen - zu Sicherheitszwecken, wie man uns Tage zuvor am Checkpoint in Ramallah, der sich mit EU-Pass mühelos passieren ließ, beteuerte. Gründlichkeit auch hier.

Geplant oder spontan: Erlaubt ist, was dazu dient, Palästinenser zu vertreiben.

Spontaneität hingegen scheint in der Westbank nur erlaubt, wenn es darum geht, sich Neues für oder gegen Araber auszudenken: Denn neben den Flying Checkpoints als spontan errichteten Kontrollpunkten trifft man in palästinensischen Autonomiegebieten beispielsweise auch auf aus dem Nichts auftauchende Road-Blocks - vom israelischen Militär errichtete Straßenblockaden und auf die von militanten Siedlern auf den ohnehin in miserablem Zustand befindlichen Palästinenser-Straßen aufgetürmten Steinhaufen. Wer als Lenker eines Wagens mit palästinensischem Kennzeichen nicht zuvor per Handy-Kurznachricht von ihrem Vorhandensein in Kenntnis gesetzt worden ist und während der Fahrt auf sie trifft, muss damit rechnen, weitere Stunden im Auto zu verbringen, zumal ein gut positionierter Road-Block eine Wegstrecke von zwanzig Minuten schnell auf zwei Stunden anwachsen lassen kann. Eine Erfahrung, die auch meine Reisegefährtin und ich indirekt machen mussten, als uns Bakhria, eine junge Aktivistin aus Jerusalem, mittels SMS-Botschaft des Inhalts "stuck in beit jala" gleich um zwölf Stunden versetzte.

Das Auffinden von Gründlichkeit, gepaart mit Spontaneität, entbehrt, so merken wir bald, hier in der Westbank einer gewissen Unausgewogenheit - allerdings nur für die israelische Besatzungsmacht. Denn was ordentlich sein muss und was chaotisch sein darf, wird seitens der israelischen Regierung bestimmt und vom israelischen Militär exekutiert. Wer spontan festgehalten, ins Gefängnis geworfen, von Siedlern mit Steinen beworfen oder mittels scharfer Munition verletzt wird, obliegt damit klar der israelischen Besatzung. Geplant oder spontan: Erlaubt ist, was dazu dient, Palästinenser zu vertreiben. Die dabei den Zweck heiligenden Mittel dürfen spontan gewählt werden oder aber auch von langer Hand geplant sein; wichtig ist nur, dass ihre Umsetzung mit Gründlichkeit erfolgt. So also geht es in der Westbank zu, denke ich mir auf dem Nachhauseweg vom Checkpoint in Taybe: gründlich und spontan - und beides offensichtlich gut geplant.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Der Taybe-Checkpoint im Westjordanland

Raute

ARABISCHER RAUM

Erdölreichtum und politische Armut

Saudi-Arabien im Kontext des arabischen Frühlings

Von Madawi Rashid

Saudi-Arabien gilt als reiche und stabile Monarchie. Diese scheinbare Stabilität beruht auf einer Flexibilität, die aus einer zirkulierenden Bewegung besteht und keine tatsächliche Veränderung zulässt.


Politik der Hoffnung und der Illusion

In den 1960er- und 1970er-Jahren herrschten in Saudi-Arabien liberalere Verhältnisse als heute. Frauen etwa genossen mehr Freiheiten: Viele erhielten Stipendien und studierten im Westen. In den 1980er-Jahren gab das Regime dem Druck der religiösen Führer nach und stellte Auslandsstipendien für Frauen ein. Das Land wurde konservativer, bis sich das Regime nach dem 11. September 2001 wieder den Anstrich von Modernität geben wollte. Daraufhin war es für Frauen erneut möglich, das Land zu Studienzwecken zu verlassen. Diese Art Zick-Zack-Bewegung gestaltete sich je nach Interesse des Regimes: Vorhandene Rechte können leicht zurückgenommen werden und seit dem Beginn der arabischen Aufstände wird das Regime zudem repressiver. Das neue Mediengesetz etwa verbietet Kritik an König, Mufti und religiösen Eminenzen.

In den letzten Jahren gab es mehrere symbolische Gesten in Richtung Liberalisierung. Beispielsweise durften bei den Kommunalwahlen von 2005 die Hälfte der Kommunalvertreter gewählt werden (die andere Hälfte wurde von der Regierung ernannt). Allerdings wurden 2009 die Wahlen auf unbestimmte Zeit verschoben, da der Minister für Kommunale Angelegenheiten beschlossen hatte, dass die Zeit dafür gerade ungünstig sei. Da gesetzliche Schranken und demokratische Kontrollmechanismen fehlen, kann die regierende Familie tun und lassen was sie will. Jetzt allerdings sollen diese Wahlen abgehalten werden, was unschwer als Reaktion auf die Ereignisse in Ägypten interpretiert werden kann.

Da gesetzliche Schranken und demokratische Kontrollmechanismen fehlen, kann die regierende Familie tun und lassen was sie will.

Monarchien leben von der Idee, dass auf einen schlechten König ein besserer nachfolgt. In Saudi-Arabien lautete die Devise in diesem Zusammenhang stets, abzuwarten, bis der jeweilige König stirbt und zu hoffen, dass durch seinen Nachfolger eine Verbesserung der Lage eintritt. Sobald die Könige alt und nicht mehr fähig waren zu agieren, begann die Gesellschaft beim Warten auf einen neuen, jüngeren und dynamischeren König zu stagnieren. Das ist auch jetzt der Fall.

Ein wesentlicher Faktor saudischer Politik ist die Unterstützung durch den Westen, der militärisch über die Sicherheit des Regimes und der Erdölfelder wacht. Beim Kuwait-Krieg 1991 lud König Fahad die US-Truppen ins Land ein. Die Mehrheit der Bevölkerung war gegen die Präsenz amerikanischer Truppen im Land; in den 1990er Jahren gab es dagegen dementsprechend viel Protest. Wirtschaftlich ist Saudi-Arabien wichtig für den Westen, nicht nur aufgrund der Erdölvorkommen, sondern auch für Investitionen und als Public-Relations-Faktor. Das Regime weiß, dass es nur durch diese Unterstützung überleben kann.

Interne Dynamik: Politik, Religion und Gesellschaft

Da die politischen Institutionen schwach sind, hat die herrschende Dynastie in der saudischen Politik praktisch eine Monopolstellung inne. Die Herrschaftsbeziehungen sind stark personalisiert. Selbstverständliche staatliche Dienstleistungen (wie etwa eine stationäre Behandlung im Krankenhaus, Studienplätze oder Stipendien) sind für einfache Bürgerinnen und Bürger oft nur durch Intervention eines Prinzen erhältlich. Personen aus der herrschenden Familie konkurrieren miteinander und untergraben so die staatlichen Institutionen.

Die Herrschaft ist in mehreren Machtzentren organisiert, innerhalb derer mehrere Prinzen unterschiedliche staatliche Machtinstitutionen leiten. Man könnte diese Situation mit dem europäischen Mittelalter vergleichen, wo unter einem anerkannten König jeder Fürst sein Gebiet kontrollierte, umgeben von seinen Untertanen. In Saudi-Arabien hat jeder Prinz seine intellektuelle Entourage; einige kontrollieren Zeitungen und TV-Sender. Im Rahmen der Konkurrenz unter den Prinzen gibt es manchmal kleine Fenster für die Gesellschaft, innerhalb welcher die Zivilgesellschaft agieren und Interessen durchsetzen kann. Mittlerweile verstehen es die saudischen Bürgerinnen und Bürger meisterhaft, das System auszutricksen.

Die offizielle Interpretation von Gehorsam dient der Kriminalisierung sowie der Unterdrückung jeglicher Form von Protest.

Saudi-Arabien unterscheidet sich von den übrigen arabischen Regimes im Umgang mit Religion und darin, welche Bedeutung dieser beigemessen wird. Die offizielle Interpretation von Gehorsam dient der Kriminalisierung sowie der Unterdrückung jeglicher Form von Protest. Während der letzten Proteste am 11. März 2011 wurden etwa 1,5 Millionen Flugblätter der Fatwa verteilt, die aus religiöser Sicht Demonstrationen als Aufruf zu Ungehorsam und zu Chaos verurteilt.

Die religiöse Aufladung ist auch mitverantwortlich für die Entwicklung des gewalttätigen Jihad und für interkonfessionelle Spannungen (die Ostküste des Landes ist mehrheitlich schiitisch). An sich beruht die Gründung des Reiches auf gewalttätigem Jihad, denn die wahhabitischen Gründer betrachteten die mehrheitlich andersdenkende Gesellschaft als Nicht-Moslems, welche mit Gewalt zum "wahren Islam" bekehrt werden müssten. Diese Vorstellung entbehrt nicht der Absurdität, hält man sich vor Augen, dass die Arabische Halbinsel seit 13 Jahrhunderten zu 100% moslemisch ist.

Nach der Vervollständigung der territorialen Expansion der Sauds und der Staatsgründung 1932 hörte der "Jihad nach Außen" auf. Er wurde durch den "Jihad nach Innen" in Form der "Islamisierung" der Gesellschaft ersetzt. Islamisierung bedeutete praktisch, dass die Religionspolizei kontrolliert, was die Bevölkerung tut, und sie auffordert, damit aufzuhören. Der öffentliche Raum wurde nach den konservativen Vorstellungen der Wahhabiten islamisiert. Opfer waren kosmopolitische Regionen wie der Hijaz, die Westküste der arabischen Halbinsel. Dazu kamen sektiererische Ansichten der Wahhabiten, gemäß welcher andere Konfessionen und Religionsrichtungen wie etwa die Schiiten im Osten und die Sufis im Westen/Südwesten als Blasphemie zu betrachten sind. Unter solchen Bedingungen gab es von Anfang an keinen Raum für Diversität und Toleranz, die im islamischen Raum bis dahin vorgeherrscht hatten.

Die auf religiöse Repression und Erdöleinnahmen gestützte familiäre Herrschaft der Sauds marginalisiert die religiöse, tribale, bürokratische und kommerzielle Elite des Landes. Religiöse Führer wurden zu Bürokraten, und Stämme verloren ihre Autonomie. Der Staat spielte Stämme und Regionen gegeneinander aus und kreierte auch multiple Führungen im selben Stamm. Damit leistet er der regionalen, konfessionellen und tribalen Fragmentierung des Landes Vorschub. Auch die kommerzielle Elite des Landes wurde marginalisiert. Auch, wenn formal freie Marktwirtschaft vorherrscht, ist die Handelsschicht an den Staat gebunden. Viele wurden auch gezwungen, Partnerschaften mit den saudischen Prinzen einzugehen.

Saudi-Arabien unterscheidet sich von Ägypten und Tunesien insofern, als hier die politischen Kräfte und die stabile, nationale Zivilgesellschaft fehlen, die eine ähnliche Revolte vorantreiben könnten.

Die staatliche Bürokratie ist ebenfalls verwässert. Das Fehlen eines produktiven Privatsektors macht den Staat zum größten Arbeitsgeber. Das saudische Innenministerium beschäftigt etwa 800.000 Personen. Das macht die Bildungselite erpressbar. Im Privatsektor hingegen sind 90% der Beschäftigten Ausländer.

Saudi-Arabien unterscheidet sich von Ägypten und Tunesien insofern, als hier die politischen Kräfte und die stabile, nationale Zivilgesellschaft fehlen, die eine ähnliche Revolte vorantreiben könnten. Politische Parteien, Gewerkschaften, Studierendenunionen und Menschenrechtsorganisationen sind inexistent (bis auf die einzige, nicht-anerkannte Gesellschaft für Menschen- und Bürgerrechte). Nach dem 11. September 2001 gab der Staat dem internationalen Druck nach und kreierte zwei staatliche Menschenrechtsorganisationen, die der Regierung direkt unterstehen. Es ist auch verboten, eine Studierendenbewegung zu initiieren.

Richter werden direkt vom Innenministerium ernannt. Das Fehlen sowohl einer unabhängigen Justiz als auch einer Tradition friedlichen Protestes erschwert eine Veränderung durch Reformbewegungen und bereitet den Boden für gewalttätigen Protest. Seit 1927 drücken sich Proteste gegen die Sauds in Gewalt aus. 1979 besetzten Jihadisten die heilige Moschee in Mekka. Die Terroranschläge von 2003 waren das Ergebnis einer langen Akkumulation von Wut. Offensichtlich fürchtet der Staat Demonstrationen mehr als Terroranschläge. Im Zuge letzterer ist es für ihn einfacher, die Bevölkerung auf seine Seite zu ziehen.

Soziale Probleme

Der mittelalterliche Staat ist mit modernen Fragen wie Bevölkerungswachstum und Arbeitslosigkeit konfrontiert. Explosiv werden diese durch die hohe Bildungsrate. Die mangelhafte Infrastruktur kann die vielen Berufsanwärter nicht auffangen. Neben Studierenden an heimischen Universitäten erheben auch die etwa 100.000 im Ausland studierenden Saudis Anspruch auf bessere Jobs und einen höheren Lebensstandard. Die daraus resultierende Frustration könnte Revolten entfachten, jedoch verfügt das Regime über die Erdölrendite, die im passend erscheinenden Moment verteilt wird. So ist es dem Regime immer wieder gelungen, den Revolten das zündende Element zu nehmen.

Andere interne Spannungen betreffen die Minderheiten im Land. Seit den Ereignissen in Bahrain betreiben die Golfstaaten konfessionelle Hetze, deren Opfer die Schiiten in Bahrain sind. In Saudi-Arabien stellt die Diffamierung der religiösen Institution für die Schiiten im Land bereits eine physische Bedrohung dar. Regionale Spannungen mit dem Iran erleichtern die konfessionelle Mobilisierung nicht nur in Saudi-Arabien, sondern auch in Bahrain und Kuwait. Frauen sind aktuell in Saudi-Arabien sehr aktiv und zu einem wichtigen Faktor geworden. Obwohl die Bildungsrate unter ihnen höher ist als unter Männern, sind sie stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. So haben 28% der arbeitslosen Frauen einen Universitätsabschluss im Vergleich zu 16% der männlichen Hochschulabsolventen. Was den Frauen bleibt, ist, über Internet zu agieren und auf den Straßen zu mobilisieren: Sie fordern das Recht auf Autofahren, und während der Überflutungen in Dschedda organisierten sich die Frauen für humanitäre Hilfe und kamen dadurch in Konflikt mit der religiösen Institution

Opposition?

Die Frage ist nun: Gibt es eine Opposition in Saudi-Arabien? Diesbezüglich muss zunächst auf die Tradition von Petitionen hingewiesen werden. Politische Forderungen an den König werden verfasst und von Tausenden unterschrieben. Obwohl diese weder von den Menschen noch vom König ernst genommen werden, sind sie wichtig. Zwischen 2003 und 2005 gab es acht Petitionen. Die Verfasser wurden verhaftet und zu Haftstrafen von sieben bis zehn Jahren verurteilt. Der König begnadigte sie später. Allein in diesem Jahr wurden in der Euphorie des arabischen Frühlings drei Petitionen erstellt. Sie fordern politische Reformen.

Eine Gruppe fordert als ersten Schritt eine konstitutionelle Monarchie. Eine andere Petition fordert Verwaltung auf lokaler Ebene und will, dass die dreizehn Provinzen Saudi-Arabiens ihre lokalen Geschäfte selbst verwalten. Im Moment unterstehen die Lokalgouverneure - allesamt Prinzen - dem Innenminister. Die Petition fordert demgegenüber gewählte Lokalparlamente und Korruptionsbekämpfung. Weiters wird gefordert, dass die Mitglieder des Staatsrates gewählt werden, während sie bisher vom König ernannt wurden. Diese Gruppe konstitutioneller Monarchisten zieht Unterstützer aus unterschiedlichen Milieus an: Liberale, Islamisten, ehemalige Panarabisten und Linke. Das Wort Parlament wird dabei weitestgehend vermieden, weil es nach zu viel Demokratie klingt. Doch sie bekommen nicht einmal die geforderte abgeschwächte Form der Mitsprache.

Ein weiteres Spektrum der Opposition sind die islamischen Sahwa-Gruppen(1) - Gruppen, die zumeist regimetreu waren. Ein Teil ist jedoch oppositionell und teilweise sind sie im Exil. Islamische Reformisten gibt es sowohl unter den Sunniten als auch unter den Schiiten.

Eine neue Gruppierung ist die neugegründete islamische Umma-Partei. Ihre Gründer stammen aus dem zentralen Raum Saudi-Arabiens, ihre Anhänger sind in erster Linie islamistische Akademiker und gelten als Salafiten. Sie verlangen ebenfalls einen gewählten Schura-Rat [beratendes Gremium, das als Oberhaus des ägyptischen parlamentarischen Zweikammersystems fungiert, Anm. d. Red.]. Unmittelbar nach der Veröffentlichung ihres Programms wurden fünf der Gründer verhaftet; ihr Sprecher ist im Untergrund und publiziert auf Youtube.

Gemeinsamer Nenner der politischen Opposition ist die Bekämpfung von Korruption, Nepotismus und Inflation. Bemerkenswert in einem so reichen Land wie Saudi-Arabien ist in diesem Zusammenhang, dass nur 30% der Bevölkerung Eigentumswohnungen besitzen.

Regime redet an Protesten vorbei

Die Revolte in Saudi-Arabien kann mit der in Ägypten nicht verglichen werden - politische und wirtschaftliche Reformen, Menschenrechte und soziale Verbesserungen werden mit geringer Intensität lediglich mittels punktueller Proteste gefordert. Weil Journalistinnen und Journalisten, die über die vor allem im Osten des Landes stattfindende konfessionelle Diskriminierung berichten, aus dem Land gewiesen werden, erscheinen kaum Meldungen in den westlichen Medien. Das Regime hat bislang keine ernstzunehmende Reaktion auf die Situation gezeigt. In seiner Rede gab König Abdullah keine Anzeichen dafür, dass er auf konkrete politische Forderungen einzugehen bereit wäre. Die Ankündigung baldiger Lokalwahlen, eines (neuen) Korruptionsbekämpfungskomitees beziehungsweise eines Sozialpakets geht am Thema der politischen und wirtschaftlichen Reform vorbei.

In Saudi-Arabien sind keine grundlegenden Reformen zu erwarten, die über die Modernisierung des autoritären Regimes hinausgehen würden.

Das Regime versucht der Krise durch Militarisierung zu entgehen. In der Rede des Königs wurden die Schaffung von 60.000 Arbeitsplätzen im Innenministerium und im Sicherheitsbereich sowie die Beförderung aller Armeeangehörigen als Reformmaßnahmen versprochen. Das Regime sucht sich externe Feinde wie den Iran beziehungsweise betreibt interne anti-schiitische Mobilisierung. Die Bedeutung religiöser Gruppen wird durch den Ausbau der religiösen Institutionen sowie durch neue Stellen und Geschenke gemindert.

Kosmetische "Reformen" dienen dazu, sowohl das Inland als auch das Ausland zu beschwichtigen und den Eindruck zu erwecken, dass Saudi-Arabien eine sich entwickelnde Monarchie sei. Die Sauds wollen die Welt davon überzeugen, dass nur sie das Land regieren können. Die multiplen Machtzentren des Staates werden nach wie vor bestehen bleiben und Abhilfe im chinesischen Modell suchen: Wirtschaftswachstum und Repression. Es ist jedoch zweifelhaft, ob dieser Ansatz in einem Land funktionieren kann, das im Gegensatz zu China keine produktive Wirtschaft hat, die Arbeitsplätze schafft.

Was nun den arabischen Frühling betrifft, muss gesagt werden, dass eine Revolte nach ägyptischem Modell derzeit nicht zu erwarten ist. Dennoch finden Proteste geringer Intensität statt. Was allerdings befürchtet werden muss, ist, dass deren Unterdrückung zu einem neuen Gewaltzyklus mit ungewissem Ausgang führt.


Madawi Rashid, Professorin am Londoner Kings College, war auf Einladung des Österreichisch-Arabischen Kulturzentrums (OKAZ) im Juni 2011 in Wien. In ihrem Vortrag, der hier in verkürzter Form veröffentlicht ist, bespricht sie die Auswirkungen der arabischen Volksaufstände vom Winter 2011 auf Saudi-Arabien.

Übersetzung von Mohammad Aburous


Anmerkung

(1) sahwa = arab. für Erwachen


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Madawi Rashid

Raute

EUROPA/ÖSTERREICH

Der Euro

Anatomie des Zerfalls

Von Stefan Hirsch

Ist der Euro am Ende? Neben der derzeit heiß diskutierten Euro-Krise, wird meist eine andere interessante Frage vergessen: Wer hat bislang vom Euro profitiert und wer bezahlt für dessen Probleme?


Nach der Einführung der Einheitswährung hat die deutsche Bourgeoisie und ihre Regierung mit gewaltigem Lohndruck und Sozialraub eine Hyperkonkurrenzfähigkeit der Exportindustrie erreicht (von 2001 bis 2006 ist die Summe aller Löhne und Gehälter in Deutschland inflationsbereinigt gefallen.); auch weil der Euro vor Aufwertung geschützt hat. Südeuropa, dessen Industriestruktur durch die Globalisierung ohnehin angegriffen war (deutsche Werkzeugmaschinen kann man nach China verkaufen, portugiesische Textilien weniger), konnte da nicht mithalten (auch weil der Euro Abwertungen verhindert hat).

Die herrschenden Eliten in Südeuropa begannen den abhängigen und untergeordneten Charakter der Wirtschaftsstrukturen zu verstärken: eine Immobilienblase in Spanien, ein ausufernder und parasitärer griechischer Staatsapparat als Selbstbedienungsladen der Oligarchie. Ergibt insgesamt eine gewaltige Verschiebung relativer Konkurrenzfähigkeit. Das hat zu ausufernden Defiziten im südeuropäischen Außenhandel geführt. In der Zeit niedriger Zinsen und gewaltiger Liquidität vor der Finanzkrise war die Finanzierung dieser Defizite aber nicht besonders schwierig. Mit der Finanzkrise war die Liquidität jedoch weg und die Gesamtschulden wurden auf einmal als relativ hoch erkannt. In Griechenland betrafen diese Schulden den staatlichen Sektor, in Spanien ausschließlich die privaten Haushalte und die Banken, Portugal war eine Mischung. Italien hat die Schuldenbonanza ausgelassen, die sinkende Konkurrenzfähigkeit hat einfach zu extrem schwachem Wachstum geführt (die Staatsschulden waren seit langem relativ hoch).

Im Frühjahr 2010 stockt die Finanzierung und Refinanzierung der Schuldenberge - der Kaiser war nackt.

Eine insgesamt unhaltbare Position. Im Frühjahr 2010 stockt die Finanzierung und Refinanzierung der Schuldenberge - der Kaiser war nackt.

In ihrer grenzenlosen Weisheit haben die europäischen Eliten schließlich beschlossen, die Kosten und die Last der Anpassung ausschließlich und vollständig auf die Steuerzahler der Defizitländer abzuwälzen. Die konnten sich am wenigsten wehren.

Das fällt zusammen mit dem vollständigen Wiederaufleben alter neoliberaler Weisheiten. Kanzlerin Merkel verkündet schon 2010, die Euro-Zone leide als ganze an zu geringer Konkurrenzfähigkeit und zu hohen Staatsschulden. Daher müssten alle Mitglieder mit dem Sparen beginnen und ihre Arbeitsmärkte "flexibilisieren" (heißt: Löhne senken). Eine offensichtliche Absurdität: Wenn alle sparen und alle Löhne senken, dann endet das in einer Depression, weil die Kaufkraft radikal absinkt. Konkurrenzfähigkeit ist eine Funktion des Währungskurses - wenn alle auf Lohn verzichten, aber die USA durch Gelddrucken und China durch Wechselkursintervention den Dollar und den Renminbi um 10 Prozent abwerten können, dann hat sich an der Konkurrenzfähigkeit nichts geändert.

Wenn wir die Probleme des Euro ein bisschen auseinanderanalysieren, dann fallen drei Themenbereiche ins Auge, die natürlich miteinander verbunden sind.

Unterschiedliche Konkurrenzfähigkeit

Südeuropa fehlt Konkurrenzfähigkeit. Die kann ganz grundsätzlich über vier Methoden wieder hergestellt werden: Man kann Löhne und Preise in den Krisenländern senken. Das funktioniert über eine fortgesetzte Wirtschaftskrise, wahrscheinlich ein Jahrzehnt lang. Für die Betroffenen eine Katastrophe. Nur weil die Löhne um 25 Prozent fallen, geht die Miete nicht mit hinunter. Auf der anderen Seite kann man die relative Konkurrenzfähigkeit Griechenlands und Italiens heben, wenn in Deutschland höhere Löhne bezahlt werden. Die deutsche Industrie und die "Wirtschaftsweisen" der Bundesregierung halten das dann für die "Bestrafung der Fleißigen" - das copyright für den Ausspruch hält der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz. Ein lustiger Kerl: die Fleißigen sind offensichtlich nicht jene, die das Zeug bauen, das die deutsche Industrie verkauft - wir würden vermuten, dass diese eine Bestrafung in Form von Lohnerhöhungen durchaus akzeptieren würden. Die "Fleißigen" des Wolfgang Franz sind die Chefs jener, die wirklich arbeiten. Die dürfen natürlich nicht durch höhere Löhne für ihre Beschäftigten bestraft werden.

Wenn alle sparen und alle Löhne senken, dann endet das in einer Depression, weil die Kaufkraft radikal absinkt.

Eine solche Politik müsste durch eine expansive und nachfrageorientierte Politik in den Ländern mit Überschüssen des Außenhandels und besserer Konkurrenzfähigkeit ergänzt werden (wieder Deutschland, aber auch Österreich und die Niederlande). Im Augenblick sieht nichts danach aus, die deutsche Bundesregierung versucht die Neuverschuldung 2011 auf fast Null zu drücken.

Nächste Möglichkeit für die Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit Südeuropas: Eine Steigerung der Produktivität samt Umbau der südeuropäischen Industriestruktur. Das geht nicht über gigantische Sparpakete, sondern mit großen staatlichen Investitionen und müsste von anderen EU-Staaten mitfinanziert werden. Südeuropa würde dies ein soziales Massaker ersparen.

Für Griechenland werden solche Maßnahmen angedacht und mit dem Etikett "Marshall-Plan" versehen (in Erinnerung an Zeiten, wo die Eliten durch die Sowjetunion unter Druck waren und solche Dinge eher möglich waren). Tatsächlich geht es aber nur um die schnellere Auszahlung von Mitteln der EU-Regionalfonds. Zu spät, zu wenig und für Spanien oder Italien gibt es gar nichts. Es würde auch der Logik der Standortkonkurrenz entgegenlaufen, welche die EU in den letzten Jahrzehnten geprägt hat (und ist für Wolfgang Franz wahrscheinlich die "Belohnung der Faulen").

Letzte Möglichkeit ist der Austritt aus dem Euro und eine dann folgende Abwertung. Das wäre mit einem sofortigen Kollaps des Bankensystems verbunden sowie wahrscheinlich höheren Inflationsraten. Für die Mittel- und Unterschichten aber sicher eine akzeptable Alternative. Für die Überschussländer (Deutschland, Österreich, Niederlande) gäbe das eine ziemliche Katastrophe. Einmal müsste das Bankensystem aufgefangen werden, das seine Schulden nicht mehr eintreiben kann. Andererseits bekommt man eine massiv überbewertete Währung, die Konkurrenzfähigkeit ist sofort beim Teufel. Vermutlich müssen dann wieder alle den Gürtel enger schnallen.

Schuldenberge

Das nächste Problemfeld ist die Höhe der Gesamtschulden. Diese sind in einigen EU-Ländern problematisch geworden, neben Portugal, Griechenland, Spanien und Italien auch in Irland (das bereits EU-Finanzhilfe beantragt hat) und Belgien. Wegen der großen Verbindlichkeiten des Bankensystems in Osteuropa könnte man auch Österreich auf die Liste setzen, das aber im Augenblick nicht auf dem Radar der Finanzmärkte auftaucht. Staatsschulden (sowie die Schulden des Bankensektors, die seit der Finanzkrise routinemäßig dem Staat umgehängt werden) werden zu jenem Zeitpunkt problematisch, zu dem die Finanzmärkte vermeinen Schwierigkeiten zu erkennen. Zu diesem Zeitpunkt werden höhere Zinsen verlangt, und das macht die Schulden zu teuer.

Bei zu hohen Staatsschulden gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann mit einem wütenden Sparprogramm versuchen die Neuverschuldung zu senken. Wenn aber die Sparanstrengungen zu groß sind, dann helfen sie nicht mehr wirklich, weil das staatliche Sparen die Wirtschaft umbringt und eine ruinierte Wirtschaft auch keine Steuern bezahlt. Gäbe es in Griechenland heute ein Wirtschaftswachstum, das dem deutschen oder österreichischen vergleichbar wäre, wäre das griechische Staatsdefizit angesichts der rabiaten Sparerei bereits jetzt relativ niedrig, sicher jedoch unter fünf Prozent des BIP. Damit wäre die griechische Schuldenkrise praktisch gelöst, die Gesamtschulden im Vergleich zum BIP würden bereits sinken. Nur wächst Griechenland nicht wie Deutschland. Die Sparmaßnahmen entziehen der Wirtschaft Nachfrage, diese sitzt in einer schweren Rezession fest, die Neuverschuldung liegt bei 10 Prozent des BIP und die Gesamtschulden im Vergleich zum BIP explodieren. Bei einer Arbeitslosigkeit von 16 Prozent fällt das Steuern-Eintreiben eben schwer. Dabei ist die Situation in Ländern mit zu geringer Wettbewerbsfähigkeit schwieriger. Belgien, Österreich oder Irland können oder könnten rückläufige Inlandsnachfrage zu größeren Teilen mit steigenden Exporten auffangen. Auch in Griechenland boomt der Export wegen der sinkenden Löhne und dem im Vergleich höheren Wachstum in anderen europäischen Ländern - eine jährliche Steigerung von über 10 Prozent (Frühjahr 2011). Aber er steigt von einer zu geringen Basis, um einen wirklichen Unterschied zu machen. 10 Prozent von wenig ist nicht sehr viel. Für eine schnellere Steigerung müsste man investieren können, das ist aber schwierig. Weder in Griechenland noch in Spanien vergeben die ums Überleben kämpfenden Banken noch Kredite an Mittelbetriebe.

Eine Wiederholung dieser griechischen Erfahrung wird es wohl in Italien geben: Eine schwach wachsende Wirtschaft wird mit einem 48 Mrd. Euro Sparpaket konfrontiert.

Eine Wiederholung dieser griechischen Erfahrung wird es wohl in Italien geben: Eine schwach wachsende Wirtschaft wird mit einem 48 Mrd. Euro Sparpaket konfrontiert (Zahlen von August 2011), das wütende Angriffe auf den Sozialstaat und absolut tödliche Kürzungen für Bildung und Infrastruktur beinhaltet. Unter solchen Voraussetzungen scheint eine Rezession unvermeidlich.

Die zweite Möglichkeit ist das Streichen der Staatsschulden, oder wenigstens eines Teils davon. Mit einiger Wahrscheinlichkeit führt das zum Zusammenbruch der jeweiligen Bankensysteme, die auf einem großen Teil der Staatsschulden sitzen. Ein Haufen Leute verliert sehr viel Geld.

Für Griechenland hat die EU einer kleinen Umschuldung zugestimmt. Die Banken mussten einen (relativ kleinen) Teil der griechischen Staatsschulden abschreiben. Dies wird jedoch nicht ausreichen. Bezeichnend ist auch der erbitterte Widerstand, mit dem die Europäische Zentralbank und vor allem die Bundesbank selbst diese kleine Maßnahme bekämpft haben.

Für die Eliten ist das Streichen der Schulden (ein Staatsbankrott) der letzte Ausweg. Erst einmal versucht man die Bevölkerung kaputt zu sparen. Und gegen die Eliten? Wenn eine solche Aktion nicht in Abstimmung mit großen internationalen Gläubigern passiert (wenn also EU und IWF einem - wenigstens teilweisen - Schuldenerlass nicht zustimmen und weiter Geld zur Verfügung stellen), dann bleibt dabei auch das Problem der Finanzierung des laufenden Staatsdefizits. Auch ohne Zinszahlungen ist etwa der griechische Staatshaushalt nicht ausgeglichen. Wenn man die Schulden streicht, dann wird es erst mal schwierig neues Geld zu bekommen - die Sparmaßnahmen müssten noch einmal verschärft werden. Für die griechische Bevölkerung macht so ein Schritt also nur Sinn, wenn gleichzeitig die Oberschicht zur Finanzierung des Staates gezwungen wird.

Finanzsektor

Für die Regierungen außerhalb der Defizitländer stellt die Stabilität des Finanzsektors eigentlich das größte Problem dar. "Lehman Brothers" heißt der Präzedenzfall: Eine große Pleite kann Schockwellen auf den Finanzmärkten auslösen. In Griechenland haben deutsche und französische Banken mit 35 beziehungsweise 50 Mrd. Euro Verlustrisiko - das ist nicht mehr besonders viel, die Eurostaaten und die EZB haben ihnen schon einen guten Teil der Risiken abgenommen. Aber eine italienische Pleite (oder der Austritt Italiens aus dem Euro und Tausch der Euro-Schulden in neue Lire) würde mit Sicherheit das Finanzsystem der Euro-Zone versenken.

Rettungspakete

Angesichts dieser Bedrohungsbilder stümpern die Euro-Regierungen durch die Krise. Zwei Dinge sind ganz oben auf der Agenda: die Faulen (Griechen und andere Sünder) müssen bestraft werden. Die Fleißigen (Oligarchen) muss man beschützen. Die Eurostaaten übernehmen die griechischen Staatsschulden. Die EZB rettet das griechische Bankensystem mit immer weiterer Liquidität, die griechische Oberschicht hebt diese Liquidität dann von ihren Bankkonten ab und bringt ihr Vermögen im Ausland in Sicherheit. Dann dreht die EZB durch, weil sie bei einem Zahlungsausfall Griechenlands ebenfalls Geld verliert.

Die Absurditäten gehen weiter: Die irischen Banken müssen vom Staat gerettet werden, damit die deutschen, britischen und französischen Banken nicht Pleite gehen. Dann ist der irische Staat pleite und muss von den Steuerzahlern der restlichen Euro-Staaten gerettet werden. Die faulen Iren müssen ihre Hausaufgaben erledigen und schrecklich bestraft werden, mit drakonischen Einsparungen.

Aus der Logik der Oligarchie macht das vielleicht noch Sinn, besonders stümperhaft ist jedoch die Zusammenstellung der Rettungspakete. Aus Populismus sind die Summen immer so knapp, dass ein Zusammenbruch gerade noch verhindert werden kann. Sie sind aber niemals groß genug, dass die Finanzmarktpanik einmal vorbei wäre und die "Ansteckungsgefahren" abklingen würden. Die Wellen der Panik werden dabei immer intensiver: Was mit dem Vertrauensverlust Griechenlands begonnen hat (2010), umfasst später auch Irland und Spanien. Im Juli 2011 taucht schließlich Italien auf dem Radar der Finanzmärkte (und Spekulanten auf) auf und auch Frankreich wird in Mitleidenschaft gezogen.

Dabei ist eines klar: Je länger die europäischen Regierungen keine klare Linie finden, um so weiter steigt die Wahrscheinlichkeit einer unkontrollierbaren Entwicklung. Ende August 2011 schicken Schuldenpanik und staatliche Sparmaßnahmen Europa wahrscheinlich in eine neue Rezession, die das Schuldenproblem nur verschärfen wird.

Das alles müsste nicht sein. Auch nicht im Kapitalismus. Etwas weniger verbohrte, verkommene und ideologische Eliten hätten ein besseres Paket zusammengebracht.

Das alles müsste nicht sein. Auch nicht im Kapitalismus. Etwas weniger verbohrte, verkommene und ideologische Eliten hätten ein besseres Paket zusammengebracht. Eine ordentliche (kapitalistische) Regulierung des Finanzsektors, mit ordentlichen Anforderungen für das Eigenkapital (Anfang des 20. Jahrhunderts hielten Banken 20 Prozent Eigenkapital vor) und einem Verbot von esoterischen Derivaten - damit die Ritter der Marktwirtschaft nicht ständig vom Staat gerettet werden müssen. Eine ordentliche (kapitalistische) Nachfragesteuerung in Deutschland (und dem Rest der nordeuropäischen Überschussländer) - gab es auch schon mal. Ein (kapitalistischer) Marshallplan für Südeuropa. Kapitalverkehrskontrollen (Beschränkungen, wie viel Geld von Konten abgehoben und in das Ausland transferiert werden darf), um die Liquidität der Banken aufrecht zu halten - üblich bis in die 1970er Jahre. Eine Finanzierung von Staatsschulden über Zwangsanleihen für Vermögende, dort wo die Zinsen sonst zu hoch werden - alles schon gehabt. Oder gemeinsame Anleihen der Euro-Zone um die Märkte zu beruhigen. Ein Streichen von Staatsschulden auf ein Maß, das sie letztlich bedienbar macht. Und zu Guter letzt eine Zentralbank, die der völlig undemokratischen "Unabhängigkeit der Geldpolitik" abschwört und sich bereit erklärt, im Fall einer Finanzmarktpanik, wenn nötig, die Schulden aller Euro-Länder zu monetarisieren und Geld zu drucken, damit sie bedient werden können.

Ende der Euro-Zone?

Die oben genannten Maßnahmen bedeuten letztlich, dass die Oligarchie die Krise mit bezahlen müsste und dazu hat sie keine Lust. Ein bisschen ausholend - denn diese Aussage trifft nicht nur für Europa zu: Zur längerfristigen Überwindung der kapitalistischen Krise bräuchte es ein Minimum an sozialem Ausgleich. Und das scheint nicht in Sicht.

Eine solche Politik wäre den Elitenprojekten der letzten Jahre diametral entgegen gesetzt: Umverteilung von Unten nach Oben, Sakralisierung der Finanzmärkte und ein Fetisch der Geldwertstabilität, Peripherisierung Südeuropas und deutsches Exportwunder. Wir würden daher davon ausgehen, dass die kapitalistischen Eliten ihre Krise nicht ordentlich beherrschen werden. Angesichts der sagenhaften Stümperei ist zusätzlich jederzeit ein Unfall möglich, der die Schockwirkungen der Lehman-Pleite in den Schatten stellt. Auch wenn der Unfall ausbleibt, weil ausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird, scheint es für die südeuropäischen Krisenstaaten kaum eine Perspektive jenseits der fortgesetzten sozialen Katastrophe zu geben. Auf solch einer Grundlage scheint der Fortbestand der Euro-Zone mehr als fraglich. Ohne ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich gibt es weder ein absehbares Ende der globalen Krise, noch ein Überleben der Gemeinschaftswährung. Der Euro als imperiales Hegemonialinstrument ist dabei, an seinen Widersprüchen zu zerbrechen.

Ein Kollaps der Euro-Zone hätte eine gewaltige Schockwirkung auf die Weltwirtschaft, vor allem aber auf die europäischen Überschussländer: Deutschland, die Niederlande und Österreich.

Raute

THEORIE

Der Euro und die EU

Zur Politischen Ökonomie des Imperiums-Aufbaus

Von Albert F. Reiterer

Die EU ist ein Imperium, ein supra-nationaler bürokratischer Staat mit dem Ziel der Ein-Drittel-Gesellschaft. Das macht ein Blick auf ihre Geschichte deutlich.


Als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, oft auch Montanunion genannt, (EGKS) (1951) und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) (1957/58) entstand sie als regionaler superimperialistischer Pol zur Abwehr des damals für viele attraktiven Sowjetkommunismus. Nebenzweck war die Zähmung des deutschen Imperialismus. Die Politiker waren stärker am außenpolitischen-militärischen Aspekt interessiert. Die Zollunion war für sie ein Substitut - nicht unwichtig, aber nicht prioritär.

Imperium ist ein Begriff, der einer Klarstellung bedarf - war er doch als "Empire" der Titel eines erfolgreichen Buchs von Michael Hardt und Antonio Negri. Ich verstehe unter Imperium das Ziel eines sozioökonomischen und politischen Prozesses, der

(a) den Staat als bürokratisches Herrschafts-Gebilde auf großregionaler, übernationaler Ebene aufbaut. Dieser Staat sucht seine Legitimität nicht mehr im Mythos der Volkssouveränität, sondern im Mythos der universalen Rationalität und des Sachzwangs.

(b) Er benennt gegenüber einer staatsskeptischen Bevölkerung als Grundlage für das angebli¬che Hauptziel Wohlfahrt eine Deregulierung der Kapitalaktivitäten und die Freizügigkeit des Finanz- und Banken-Kapitals über nationalen Grenzen hinweg. Der Freizügigkeit des Kapitals folgt die Freizügigkeit der Arbeitskräfte. Ziel ist die Große Schere in den Einkommen.

Zwei nationale Traditionen

Die französische "republikanische" Tradition nationaldemokratischer Entwicklung baut auf der Idee einer rationalen Bürokratie auf. Sie soll von einer monolithischen Nation legitimiert werden. Theoretisch von unten nach oben, von der Nation zum Staat orientiert, ist sie praktisch ein top down Modell. Dies soll auch dem europäischen Imperium als Raster dienen. Die EWG war von vorneherein beladen mit den Ambitionen der Ideologen. Alexandre Kojève, der sich selbstironisch den letzten bürgerlichen Theoretiker des Stalinismus nannte, sah sie als wesentlichen Schritt zum platonischen Imperium. Über Gesinnungsgenossen wie Robert Marjolin, französischer Europapolitiker, erhielten sie unmittelbar Einfluss auf die Zentralbürokratie. Sie bestimmten die Rhetorik, welche die Politiker nicht, sie selbst aber ganz und gar ernst nahmen.

Die deutsche Ideologie ist strukturell realitätsnäher. Sie legte sich auf die Nutznießer, das deutsche Großkapital mit seinen globalen Ambitionen fest. Die "soziale Marktwirtschaft" kam dem Misstrauen der deutschen Mittelschichten gegenüber dem Staat entgegen. Es gab ein Bedürfnis, den erdrückenden prussianischen Staat zurückzubauen. Die Ordo-Liberalen(1) sprangen auf den Zug auf. Wie sehr dieses Bedürfnis auch in der sonstigen Bevölkerung verankert war, ist eine Frage - jedenfalls gewann die CDU damit Wahlen. Ludwig Erhardt wurde zum Gesicht dieser Strategie. Man machte damit Politik für die Oberschichten und verkaufte sie als Politik der Gegenmacht gegen den Staat.

Die EWG entstand als regionaler superimperialistischer Pol zur Abwehr des damals für viele attraktiven Sowjetkommunismus.

Die EWG war als Zollunion konzipiert. Eine gemeinsame Währung war vorerst kein Ziel der Mitgliedsstaaten. Als Ziel der EWG-Kommission war sie präsent und wurde von Anfang an debattiert und von einigen propagiert. Die Art. 105-109 EWGV legen eine Koordinierung der Währungspolitik fest. Robert Triffin war hochgeschätzter und - bezahlter Berater der Kommission und vor allem Marjolins. Er meinte, die Währung spiele wirtschaftlich keine so große Rolle, der politische Aspekt sei viel wichtiger - erstaunlich für einen Ökonomen.

Die EWG damals und erst recht die Euro-Zone heute bilden keinen optimalen Währungsraum (OCA, optimal currency area). Heute, nach der "Eurokrise", ist das in jeder Zeitung zu lesen. Der Begriff des "optimalen Währungsraums" ist selbst fragwürdig: Er ist nicht zufällig mit der politischen Tendenz hin zur Einheitswährung entstanden. Dies ist gegenwärtig hauptsächlich ein Argument des Neoliberalismus gegen die Politik und war es immer. Das sollte uns hellhörig machen! Die OCA-These hat zwei Gesichter: Im einen sehen wir den Marktfundamentalismus der ökonomischen Dogmatiker: Man darf nicht in den Markt eingreifen, indem man politisch bestimmte Wechselkurse bzw. eine Einheitswährung durchsetzt. Das zweite Gesicht benennt die Einheitswährung in einem höchst inhomogenen Wirtschaftsgebiet als Realitätsverweigerung, vielmehr als brutale Umverteilungspolitik: Sie ist gewollt, verkleidet sich aber als Unwissen um die Wirkung einer solchen Politik.

Schließlich ist der Euro zwar eine regionale Währung. Aber sie war von den Zentralbanken und den von ihnen beeinflussten Formulierungen stets als internationale, als globale Strategie gedacht. Im Art. 110 des EWG-Vertrags liest man: "Durch die Schaffung einer Zollunion beabsichtigen die Mitgliedsstaaten, im gemeinsamen Interesse zur harmonischen Entwicklung des Welthandels, der schrittweisen Beseitigung im internationalen Handelsverkehr ... beizutragen." Erst danach werden die "günstigen Auswirkungen ... auf die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit" der Mitgliedsstaaten angeführt. Das abstrakte ideologische Ziel ist global. Die EWG soll als regionalisierte Organisation imperialistischer Welt Politik funktionieren.

Die Entwicklung

Die gewählten Politiker, die Oberflächenpolitik, benutzten die Währungsunion als Dekor für Sonntagsreden. Die wichtigere Kategorie der Politiker, die Bürokraten, wünschten von Anfang weg konkrete Schritte. Im Aktionsprogramm für die zweite Stufe der EWG (1962-1965) vom 24./29. Oktober 1962 schlug Walter Hallstein, von Robert Marjolin (Vizepräsident der Kommission) getrieben, bereits eine Währungsunion als Ziel vor. Er stieß auf Widerstand nicht nur De Gaulles, sondern auch Ludwig Erhardts. Hallstein war Politiker genug, die Idee fallen zu lassen. Erhardt traute den Franzosen nicht: Er wollte den deutschen Weg mit der "Unabhängigkeit" der Bundesbank oder keinen, auf keinem Fall eine Planung.

Die "Unabhängigkeit" von Zentralbanken nach deutschem Muster ist die Unabhängigkeit einer machtvollen Finanzbürokratie von parlamentarischer Kontrolle. Der wichtigste Politikbereich entzieht sich damit jeder Einflussnahme seitens der Bevölkerung. Eine solche "Unabhängigkeit" ist in einem demokratischen Gemeinwesen ein Skandal. Es sagt Einiges über die Qualität der Demokratie in Österreich und der BRD.

Die "Unabhängigkeit" von Zentralbanken nach deutschem Muster ist die Unabhängigkeit einer machtvollen Finanzbürokratie von parlamentarischer Kontrolle.

Bürokratie bedeutet nicht Übermaß an Beamten. Darum ist jeder Verweis auf die "vielen Brüsseler Beamte" kontraproduktiv. Es ist kein Zufall, dass die seinerzeitige Sowjetunion eher "unterverwaltet" war und doch zu Recht als Bürokratischer Kollektivismus gekennzeichnet wurde. Bürokratie heißt eine "rationale" (formale) Funktionsweise ohne Legitimierung durch Rückbindung an parlamentarische oder sonstige Kontrollprozesse. In diesem Sinn ist auch das Europäische Parlament Teil der Bürokratie. Denn diese Abgeordneten sind in keiner Weise am Elektorat orientiert. Die einzige Funktion ihrer Wahl ist, nationalen Stimmungen Ausdruck zu geben.

Nach diesem ersten Misserfolg der Kommission war der nächste konkrete Anlauf bescheiden. Das Barre-Memorandum über die Koordinierung der Wirtschaftspolitik und die Zusammenarbeit in Währungsfragen innerhalb der Gemeinschaft vom 12. Feber 1969 ist hauptsächlich seines Stils und seiner Argumentation wegen von Bedeutung: Wir müssen handeln, "vertiefen", d. h. die Bürokratie stärken und zentrale Vorgaben machen. Ansonsten fällt "die Gemeinschaft" auseinander. Dies wird zum Mantra bis in die Gegenwart, stets wiederholt, von quasi-religiöser Gewissheit und nicht begründet.

Die neue Instrumentalität der E(W)G

Mit der Zollunion war diese Phase um 1970 vorbei. Die politische Klasse entdeckte die Währungsunion als Hauptvehikel ihrer Absichten. Einige Politiker sahen die Möglichkeiten einer Fundamentalpolitik ohne Kontrolle, sprangen auf und zogen die anderen mit. Die ersten Versuche in den 1970er und 1980er Jahren waren allerdings ein jämmerlicher Misserfolg.

Parlamentarische Demokratie ist, gemessen an den Ansprüchen der normativen Demokratie-Theorien, keine befriedigende Form politischer Selbstbestimmung. Aber sie ist immerhin die einzig funktionierende, die Großgesellschaften bisher entwickelt haben, und hat mehr Potenzial als man gemeinhin annimmt. Die herrschenden Klassen fürchteten sie. In der Zwischenkriegszeit brachten sie diverse Faschismen dagegen in Stellung. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Stimmung anders. Aber erst nach einer Generation wurden die realen Auswirkungen auf die Lebenswelt der Unter- und unteren Mittelschichten sichtbar. Folge der neuen Politik des europäischen Sozialstaats war ein sehr kontrolliertes Ansteigen des Anspruchs-Niveaus. Mit dem Abtreten der älteren Generation mit ihren zaghaften Bedürfnissen änderte sich dies. Der Staat wurde nunmehr als Produzent und Lieferant meritorischer(2) öffentlicher Güter gesehen. Das war nicht vorgesehen gewesen.

Der Euro ist zwar eine regionale Währung. Aber sie war von den Zentralbanken stets als internationale, als globale Strategie gedacht.

Die politischen Eliten antworteten mit einem Strategie-Wechsel. Der Grundgedanke war einfach: Man muss die politischen Entscheidungen dem Druck steigender Ansprüche entziehen, man muss die Orte der Entscheidung weit vom Demos, vom Volk, wegbringen. Das parlamentarische System sollte erhalten bleiben. Die Grundsatzentscheidungen aber sollten nicht mehr auf nationaler Ebene und somit beeinflussbar vom Demos fallen. Dort durfte - "Subsidiaritätsprinzip" - noch die Ausführung verbleiben.

Die EG / EU hatte die nötige Distanz. Sie wurde als übernationales Instrument des europäischen Kapitals gegründet. Als die Zollunion stand, wurde ab 1970 ihre Kapazität frei. So ist es keineswegs zufällig, dass um diese Zeit die ersten realistischen Planungen für die Währungsunion auftraten.

Der "Werner-Plan" und der Tindemans-Bericht

Mit der Pfundabwertung 1967 und den Problemen des US-Dollars kamen die fixen Wechselkurse des Bretton Woods-Systems in die Krise. Dazu gesellte sich die unverschämte Art, wie die USA ihre Stellung einsetzten, um die Rüstung (Vietnam) zu finanzieren. Der luxemburgische Minister-Präsident Pierre Werner wurde 1969/1970 von der Konferenz der Staatschefs bzw. vom Rat beauftragt, den Plan "einer vollständige Wirtschafts- und Währungsunion" zu entwerfen (Werner-Bericht 1970).

Der Werner-Bericht ist der Plan für ein Wirtschaftspolitisches Direktorat. Im Gegensatz zur Oberflächenpolitik ist die Bürokratie langfristig orientiert. Sie greift bei ihrem Vorgehen immer wieder auf ältere Entwürfe zurück. In der EU ist dies ausgeprägt. Das Wirtschaftspolitische Direktorat blieb als Institution unvollständig. Vor wenigen Monaten griff die Kommission auf den alten Plan zurück: Sie wird die nationalen Budgets kontrollieren. Das ist jener Kern demokratischer Prozesse, an dem sich der Parlamentarismus als Politik entwickelt hat.

Der heutige "EU-Stil" ist voll entwickelt. Die Sprache ist der Diplomatie entlehnt, aber für bürokratische Vorgänge adaptiert. Im Vergleich zu später wird offen gesprochen. In der einleitenden Diagnose kommt als negatives Code-Wort "wirtschaftliches Ungleichgewicht" vor. Damit sind mehrere Aussagen verknüpft: (a) Die EWG funktioniert für die Nutznießer, z. B. das deutsche Großkapital, nicht zufrieden stellend. - (b) Aber auch Frankreich und Italien haben Grund zur Beschwerde. Die Transferunion (Gemeinsamen Agrarpolitik, heute stärker die Regionalpolitik) als Anliegen der Franzosen und Italiener ist kein echter Ersatz für mangelnden industriellen und Finanz-Erfolg.

Die Grundsatzentscheidungen aber sollten nicht mehr auf nationaler Ebene und somit beeinflussbar vom Demos fallen. Die EG/EU hatte die nötige Distanz. Sie wurde als übernationales Instrument des europäischen Kapitals gegründet.

Dem "Ungleichgewicht" setzt man Harmonisierung entgegen; das bedeutet einen Verwaltungsföderalismus - Brüssel gibt vor, die Mitgliedsländer zu administrieren. Es geht um die Kontrolle der Wirtschaftspolitik. Die Zollunion hat zu einem gewissen Kontrollverlust geführt. Außerdem entziehen sich die Nationalstaaten den "Empfehlungen ... in ganz allgemeiner Form" oft durch "Austrittsklauseln". Es gilt also, eine irreversible - das Wort kommt oft - Zentralisierung durchzusetzen. Ein Mittel dazu ist eine zentrale Budget-Politik mit einer "vollständigen Unterdrückung von fiskalischen Grenzen" (Festlegung von indirekten und direkten Steuern sowie Kontrolle der Haushaltsbeschlussfassung) durch den Rat. Gegenwärtig steht dies wieder auf dem Programm, jetzt aber durch die Kommission, eine völlig unverantwortliche Institution.

Das andere Mittel aber ist die Währungsunion. Das deutsche Kapital erwies sich als stärker als das französische, weil in Frankreich die Gewerkschaften weniger unter Kontrolle waren. Also wollte die Bürokratie eingreifen. Die "Befreiung" der Kapitalbewegungen war das Ziel, ohne regionale oder strukturelle "Verzerrungen". Verzerrung ist alles, was die Machtverhältnisse zwischen den nationalen Gesamtkapitalien politisch beeinflussen will.

Da ein Superstaat geschaffen werden soll, braucht man auch das Dekorum eines solchen (National-)Staats. Das ist der Parlamentarismus, das Europäischen Parlament (EP). Zuerst ist man verwundert: Die Kommission handelt sich damit Scherereien ein. Doch das EP ist Teil der Bürokratie. Es ist ein Scheinparlament, weil es keinen Demos, vertritt. Es repräsentiert einen Verbund von Oberen Mittelschichten und Intellektuellen - so wie Parlamente des 19. Jahrhunderts "Besitz und Bildung" vertraten.

Die faktische Entwicklung verlief etwas anders

Im Gegensatz zum Werner-Bericht und seinem nüchternen, technokratischen Stil prägt hohler politischer Pathos den Tindemans-Bericht. Er pflegt eine Katastrophen-Rhetorik: "Verwundbarkeit", "Ohnmacht", "besorgte Erwartung", usf. Er versucht eine Krise herbeizureden, um Ausnahme-Maßnahmen zu rechtfertigen. Hier wird das Pathos des Staats angestrebt. Die "Europäische Union" soll ein supranationaler Staat werden. Im Werner-Bericht zeigt sich die Hand der Technokraten am umfangreichen technischen Teil der Arbeitsgruppe aus Zentralbank-Leuten. Im Tindemans-Bericht kehren die Oberflächen-Politiker zurück. Die Währungsunion soll das eigentliche Ziel, das Imperium und seine Bürokratie, irreversibel machen, in einem notwendigen "großen Schritt", der in den 1990er Jahren so entscheidend werden wird. Die "politische Union" wird Selbstzweck; die "europäische Identität" ist der Wunsch, "nach außen vereint aufzutreten".

Unter den "konkreten Sofortmaßnahmen" des Abschnitts C werden die wesentlichen Ziele aufgezählt:

(a) Erste Priorität ist das Auftreten als einheitliche imperialistische Macht vis-à-vis der Dritten Welt ("neue Weltwirtschaftsordnung").

(b) Dazu bedarf es der Klärung der innerimperialistischen Konkurrenz zu den USA, "zugleich unser Verbündeter ... und ... gelegentlich unser Rivale", die "Führungsmacht".

(c) Denn noch existiert das sowjetische Lager, und die Alternative des "Realsozialismus" wird ernst genommen. Aber in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hat man sich ihm gegenüber als Einheit konstituiert.

(d) In Zeiten der Ölkrise hat der arabische Nahe Osten (noch hat die USA den Iran in der Hand) plötzlich viel Geld und damit viel Macht. Man muss ihm also geeint gegenüber treten.

"Imperialism is over", behaupten Hardt und Negri. Liest man diese Berichte, so begreift man, wie lächerlich diese Aussage ist. Das Imperium ist eine supra-imperialistische Einheit. Imperiumsbildung ist ein globaler Prozess, der sich auf regionaler Ebene abspielt. Die Währungsunion war das wichtigste Instrument dabei. Das ist ein Lehrbuch-Beispiel für das Paradigma bürokratischer Herrschaft.

Es waren Willy Brandt und Helmut Schmidt, welche auf diesem Weg weiter drängten. Das Europäische Währungssystem (EWS) entstand 1978. Der erste Versuch ohne eine formale Einheitswährung erwies sich rundum als Fehlschlag. Es kam in den nächsten Jahren zu zwölf "Anpassungsrunden", Auf- und Abwertungen. Die Teilnehmer am EWS traten nach Belieben ein und aus. Anfang der 1990er Jahre gab es nahezu einen Zusammenbruch. Nach dieser Erfahrung war es Leichtfertigkeit und zynische Brutalität, eine volle Währungsunion zu planen. Doch man wollte um jeden Preis das "Friedensprojekt EU", den einzig bisher gelungenen Ansatz zu einem Supra-Imperialismus! Wirtschaftliche Systeme können nur durch politische Absicherung funktionieren.

In einer entscheidenden Wende setzte sich nach der kleinen Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre in den USA Reagan und in Großbritannien Thatcher durch. In Frankreich zogen Mitterand und Delors nach. Der Regierungswechsel in der BRD von Schmidt zu Kohl spielte keine Rolle: Beide vertraten dieselbe Politik. Man wandte sich vom Keynesianismus ab und dem Monetarismus zu. Der Keynesianismus der 1960er und 1970er Jahre war eine Mischung mehrerer politischer Tendenzen. Ein hohes Beschäftigungsniveau war wichtig. Man fürchtete Arbeitslosigkeit. Aber die Vorgangsweise war eine Politik der leichten Hand - weil man die Erfahrung wachsender Staatseinnahmen gemacht hatte. Auch politische Entscheidungsunfähigkeit insbesondere der Sozialdemokraten spielte eine Rolle: Sie wollten eine gewisse politische Verschiebung erreichen, wagten aber nicht, die alten politischen Präferenzen über Bord zu werfen. Monetarismus ist ein Marktfundamentalismus, der bewusst staatliche Interventionen vermeidet, um den Stärkeren nicht in die Quere zu kommen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich ungehindert durchzusetzen.

Die neue Strategie: Der Delors-Plan

Diese Wende sowie der Zusammenbruch des "Realsozialismus" machte die Währungsunion erst möglich. Die europäische Nachkriegspolitik hatte über einen inklusiven Sozialstaat die Unterschichten erfolgreich integriert. Dazu hatte man in den Markt interveniert und massive staatliche Mittel eingesetzt. Darauf verzichtete man nun langsam: Die marktfundamentalistische Politik des Monetarismus wurde zum Credo der EG. Der "U-turn", Verteilung nach oben, stellte kein politisches Problem mehr dar. Man musste nicht mehr gegensteuern; dazu wären flexible Kurse ein Hauptmittel, wenn kein einheitlich kompetitives Gebiet vorhanden ist. Die Geburt des neuen Imperiums in Brüssel stellte die Krönung dar, und die wollte man mit der Währungsunion irreversibel machen.

Dieser Paradigmenwechsel ging in mehreren Schritten vor sich. Die zwei wichtigsten Etappen waren die "Süderweiterung" (1981-1986) sowie der Zusammenbruch des Sowjetsystems. Das Zerbröseln der Diktaturen im Olivengürtel war die Gelegenheit. Die Süderweiterung steckte die Claims des entwickelten nordwestlichen Zentrums ab und bot ein Experimentierfeld für die neue Politik der Disziplinierung. Der Zusammenbruch des "Realsozialismus" bot schließlich die Gelegenheit zu einem "Ende der Geschichte" nach konservativem Geschmack. Nun war es möglich, die Politik der akzentuierten Ungleichheit und des übernational-bürokratischen Staats zu verwirklichen. Man konnte die Beuteareale im Osten einsammeln.

Der Europäischen Rat gab einen Bericht über die Wirtschafts- und Währungsunion in Auftrag: Die Währungsunion ist das Mittel, die Beteiligten zu einer harten Wirtschaftspolitik zu zwingen. Äußere Zwänge ("constraints") sind unerlässlich. Es soll eine Politik nach deutschem Muster geführt werden; die einzige Währung, die genannt wird, ist die "Deutschmark". Das machte für die "Starken" - die BRD - Sinn und war im Interesse ihrer dominanten Kräfte, ob Helmut Schmidt oder Helmut Kohl. Auf sie schauten Delors und Mitterand neidvoll hin, und mit dem Eifer von Konvertiten machten sie sich ans Werk.

Die Währungsunion ist das Mittel, die Beteiligten zu einer harten Wirtschaftspolitik zu zwingen. Äußere Zwänge ("constraints") sind unerlässlich.

Die Regierung der BRD war skeptisch. Sie wollte nur eine Währungsunion, wenn das "role model" Bundesbank für die Europäische Zentralbank (EZB) gelte. Ausgerechnet in dieser Zeit kam sie unter Druck. Sie brauchte die Zustimmung des Westens zur Einvernahme der DDR. Die hausbackene deutsche Ideologie gewann Oberhand über monetaristisch-technokratische Interessen. Der Regierung war dieses Ziel wichtiger als die unumschränkte Macht über die EZB. So bestand sie auf den Konvergenz-Kriterien, die mit einer Einheitswährung nicht mehr zu tun haben wie jedes beliebige andere Kriterium auch. Die Konservativen wurden abgewählt. Sie haben ihr Ziel jedoch erreicht. Sozialdemokraten und Grüne führten ihre Politik in einer Härte durch, welche die CDU nicht gewagt hatte und sie auch heute nicht wieder wagt.

Die Länder, die sich aus ihrer Wettbewerbsfähigkeit heraus die Einheitswährung mittelfristig leisten konnten (der alte D-Mark-Block und Frankreich), zögerten. Die Bürger leisteten Widerstand und blieben z. T. draußen (Dänemark). Der Widerstand kam aus der konservativen Ecke. Er erreichte kurzfristig nicht viel. Die Motive sind teilweise in konservativer Dogmatik zu finden, im Bestehen auf den "optimalen Wirtschaftsraum"; teilweise zeigt sich aber, dass der Konservativismus in seiner Gebundenheit an kleinere nationale Einheiten auch bereit ist, einige Interessen des Finanzkapitals in Frage zu stellen, während Neoliberale sie rückhaltslos unterstützen. Altkonservative Kräfte, auch offen reaktionäre Positionen konnten dies nutzen und sind gegenwärtig im Aufwind.

Aber die wirtschaftliche Peripherie, Italien, Iberien, Griechenland, Osteuropa, die drängten aus symbolischen Gründen in die Union. Das Finanz- und Großkapital wusste, was sich ihnen da freiwillig zum Fraß darbot. Eine Krise war nur eine Frage der Zeit.

Der Euro ist eine Strategie der Kernländer in der heutigen EU. Er soll dem Ausbau ihrer ökonomischen und politischen Dominanz dienen. Als solcher ist er eine Strategie der zwei Geschwindigkeiten. Er hat allerdings einen strategischen Wandel durchgemacht. Als man den Werner-Bericht schrieb, bestand die EWG aus sechs Kernländern. Die "Westerweiterung" brachte zwei hoch entwickelte Länder hinzu (UK, Dänemark) und eines (Irland), das wegen seiner geringen Größe nicht zählte und überdies britische Peripherie war.

Der Euro ist eine Strategie der Kernländer in der heutigen EU. Er soll dem Ausbau ihrer ökonomischen und politischen Dominanz dienen.

Mit dem Olivengürtel kamen in den 1980er Jahren drei schlecht entwickelte Länder dazu. Die EWG betrachtete sie als ihre Domäne. Das war schon das Modell der "Osterweiterung": Ziel war politische und ökonomische Disziplinierung, der Aufbau eines süd- und osteuropäischen Protektorats. Daneben hatten sich in der "Norderweiterung" kleine hoch entwickelte Wirtschaften angeschlossen (Österreich, Schweden, Finnland). Sie wollten die Beute mit teilen und waren bereit, dafür zu zahlen. Die Norderweiterung scheiterte zur Hälfte, weil die Bevölkerung zweier Kandidaten (Schweiz, Norwegen) ihre Regierungen desavouierten.

Durch die Süderweiterung hatte die EG eine Zwei-Kreis-Struktur angenommen, besteht aus Zentrum und Peripherie. Was man in Südeuropa erfolgreich und noch mit einer gewissen Schonung durchexerziert hatte, wurde in den 1990ern mit aller denkbaren Brutalität in Osteuropa wiederholt: Die ganze Region wurde nun auf eine neue Weise zur "Zweiten Welt".

Die Konsequenzen

Der Euro ist pures Gift für die beteiligten Wirtschaften. Die BRD und Österreich könnten mit einem hohen Kurs gut leben und zogen gewisse Vorteile aus der Hartwährungspolitik, dieser "Produktivitätspeitsche". Sie fällt jetzt weg: Das bringt den Exporteuren hohe Gewinne und den Konsumenten hohe Preise. Das System hat eine positive Leistungsbilanz. Für Griechenland, Portugal und Spanien ist der Kurs dagegen viel zu hoch.

Umgekehrt waren und sind die Zinssätze völlig inkongruent. Diesmal verhält es sich umgekehrt: Die österreichische und die deutsche Entwicklung werden durch die zu hohen Zinsen gebremst. Gebremst wurde das Wachstum auch durch die gleichzeitigen Ansätze einer Austeritätspolitik vor der Etablierung des Euro. Für den Oliven-Gürtel aber waren die im Vergleich zu vorher niedrigen Zinsen ein Anreiz, sich hoch zu verschulden.

Die Entwicklung hat einen etwas anderen Weg genommen, als man es sich erwarten konnte. Die schlecht entwickelten Länder profitierten kurzfristig von der Aussicht auf die Euro-Einführung. Die Zinssätze sanken bereits in den 1990er Jahren. Auch die Inflation sank in diesen Hoch-Inflationsländern nach einem ersten Teuerungsschub. Sie bekamen so mehr Kredite zu besseren Bedingungen. Diese Jahre beschleunigte das Wirtschaftswachstum für eine Reihe von Jahren (Griechenland 2000-2007 im Schnitt: 4,27 %; Spanien: 3,61 %; Portugal nur 1,48 %; gegenüber BRD 1,53 %; Österreich 2,36 % und der Euro-15-Raum 2,15 %). Aber es war eine Blase: Mit den niedrigen Zinsen und der bail out-Erwartung seitens der Kreditgeber konnte man, privat wie staatlich, wesentlich mehr Kredite aufnehmen.

Die Entwicklung hat einen etwas anderen Weg genommen, als man es sich erwarten konnte. Die schlecht entwickelten Länder profitierten kurzfristig von der Aussicht auf die Euro-Einführung. Aber es war eine Blase.

Die Befürworter der Währungsunion (WU) hatten argumentiert: Innerhalb einer WU kommt es zu stärkeren Handelsströmen, zur Finanzmarkt-Integration. Damit entstehe ein "Versicherungs-Mechanismus" gegen "externe Schocks". Sie schienen recht zu behalten - kurzfristig! Allerdings ging es nicht um "Schocks", sondern um kurzfristig günstigere Bedingungen bei der Finanzierung von Investitionen und staatlichen Defiziten. Als der "Schock" kam, die Finanz- und Industriekrise 2008, erwies sich die WU als Falle. Sie lud in der Vergangenheit zu verfehlten Investitionen sowie zur Überschuldung ein. Sie ist in der Gegenwart eine Falle, weil sie nur mehr die Wahl zwischen Pest und Cholera zulässt: zwischen enorm aufgeblasenen Schulden durch neue Kurse im Falle eines Austritts; und einer vom Vereinigten Wirtschafts-Direktorat EU - IMF verordneten enormen Deflations-Krise. Der Austritt ist unvermeidlich, wenn die Wirtschaften wieder auf die Füße kommen wollen. Für die Bevölkerungen der starken Länder aber wird dies zur Rosskur. In Kürze werden die französischen, britischen und ­... Banken von ihren Regierungen neuerlich "gerettet" werden - auf Kosten der Bevölkerung.

In den starken Ländern erwies sich der Euro als eine veritable Wachstumsbremse. In Österreich sanken die Zuwachsraten auf die Hälfte von vorher. Die BRD oder vielmehr der größere Teil der arbeitenden Menschen kam auch zum Handkuss. Der Anschluss der DDR erzeugte eine schleichende Krise, und die BRD hat jetzt ihr eigenes "Mezzogiorno"-Problem. Dazu kommt die Umverteilung nach oben durch die Zahlungsbilanz-Überschüsse.

Die Vorteile der Währungsunion aber sind fiktiv: "Preistransparenz" ist ein Witz. Niemand fährt von Wien nach Kreta, um billiges Gemüse einzukaufen. Aber es geht noch trivialer: Ich erinnere mich an die Zeitschrift "Profil" vor einem Jahrzehnt. Da meinte ein Journalist, wie großartig doch die Währungsunion sei - als Journalist müsse man doch oft reisen, und da erspare man sich jetzt das lästige Wechseln...

Als der "Schock" kam, die Finanz- und Industriekrise 2008, erwies sich die Währungsunion als Falle.

Griechenland, Portugal und Irland, auch Spanien und Italien haben die Wirkung des Euro zu spüren bekommen. Der ESM (European Stability Mechanism) als Folgeprogramm des EFSF (European Financial Stability Facility - der "Rettungsschirm") ist ein Programm zur vollen Entmündigung der Mitgliedsstaaten. In Hinkunft wird systematisch bail out stattfinden, verknüpft mit "stringenten Programmen ökonomischer und fiskalischer Anpassung" im Rahmen "strikter Konditionalität" bei "strenger ökonomischer Überwachung" ("Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rats zur Änderung der Verordnung (EG) 1466/97" sowie mehrere vergleichbare Verordnungsentwürfe). Die heutigen "Problemstaaten" sind die Versuchskaninchen. Gerichtet ist die Übung noch stärker gegen größere Wirtschaften, die vorweg diszipliniert werden sollen: mit der Drohung der Entmündigung.

Was hat sich gegenüber ähnlichen Programmen des 19. Jahrhunderts gegenüber dem Osmanischen Reich oder Ägypten oder des 20. Jahrhunderts gegenüber Entwicklungsländern geändert? Inhaltlich wenig, aber es richtet sich jetzt an die Adresse des eigenen Clubs. Weiters wird es stärker formalisiert. Die CACs (collective action clauses), international seit 2003 üblich als Teil von Kreditverträgen, hat es faktisch auch bisher schon gegeben ("Pariser Klub"; "Londoner Klub"): Durch Mehrheitsbeschluss können auch gegen den Willen einzelner Schuldner Umschuldungen durchgeführt werden. Der ESM, die EZB und die EU treten formell als europäischer Gesamtkapitalist auf.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Der Euro verkörpert zwei konservative Revolutionen: Die eine besteht in der monetaristischen Reaktion gegen die keynesianische Politik der zwei Jahrzehnte von 1955-1975. Die andere, wesentlich weit- und folgenreichere, ist der Aufbau eines bürokratischen Imperiums, strukturiert nach Zentrum und Peripherie. Der Aufbau des europäischen Imperiums war für das europäische Zentrum aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen, Liberalen und "Grünen" die logische Folge des sowjetischen Zusammenbruchs. Der neidvoll beachtete kurzfristige Erfolg des Reaganismus in seiner vermenschlichten Version als Clintonismus war ein zweiter Impuls ("Lissabon-Strategie"). Gegenwärtig sind die sonst in den Vordergrund geschobenen ökonomischen Ziele, Wachstum vor allem, nicht mehr prioritär. Politische Ziele dominieren, globale Interventionen, die Aufrechterhaltung und Ausweitung des Besitzstands, usf. Es geht um den Aufbau des politischen Apparats, des nachnationalen bürokratischen Staats.

Und die politischen Konsequenzen?

Die Euro-Krise ist eine politische Krise. Es ist eine Krise des politischen Modells der EU. Das supra-nationale bürokratische Imperium will den Euro als eiserne Faust einsetzen, um neoliberale Disziplin im Zentrum und im ersten Kreis der Peripherie, im Mittelmeer-Raum und im europäischen Osten, zu erzwingen.

Die Krise im Olivengürtel ist aber eine riskante Angelegenheit geworden: Es gibt keinen geschlossenen Block des Kapitals und noch weniger der Handlungsträger in der Politik. Das harte Finanzkapital will schlicht "sein Geld" und ist dafür bereit, selbst einen Aufstand in Kauf zu nehmen. Derzeit überwiegt diese Tendenz, mehr noch in der Politik (EZB und Europäischer Rat) als in der Wirtschaft. Dort allerdings haben die Rating-Agenturen mit ihrer kompromisslosen Verteidigung der Banken das Sagen.

Die politische Klasse in Europa versucht, ihr politisches Projekt, das EU- und Euro-Imperium zu retten: Und sie versucht, die Krise der Staatsverschuldung in der Peripherie zu nutzen, um das Imperium auszubauen und seine bürokratische Struktur unumkehrbar zu machen. Ihre Chancen stehen nicht schlecht. Sie hatte aber auch schon einen besseren Stand. Sie versucht gleichzeitig, möglichst viel vom Kleingeld des Finanzkapitals, zu retten. Was in der letzten Zeit passierte, ist eine Umschuldung, die beim kommenden Schuldenschnitt die Gläubiger-Banken vollkommen entlastet und den Gesamtverlust auf die öffentlichen Hände überwälzt. Dieses Ziel kommt dem strategischen in die Quere. Damit bringt die europäische politische Elite einen großen Teil der Bevölkerung massiv gegen sich auf.

Die europäische Linke ist marginalisiert. Gegenwärtig werden nur mehr Rechtspopulisten als effiziente Gegner dieser EU-Politik wahrgenommen. Das allerdings ist ein allgemeineres Problem. Die Linke war stets und ist heute noch mehr eine Intellektuellen-Bewegung. Der EU-Widerstand aber ist plebeischer Widerstand und anti-intellektuell. Das ist die eigentliche Dialektik der modernen Geschichte.

In einigen Gruppen der Linken gibt es die Illusion, das Imperium quasi schmerzlos in die seinerzeit von Lenin oder Trotzki gewünschten "Vereinigten Staaten von Europa" umwandeln zu können. Wenn man sich schon auf Lenin beruft, sollte man ihn auch lesen. Vor der Oktober-Revolution setzte er sich gründlich mit dem Staat auseinander. Und dabei legte er - in gewohnt dogmatischer Weise - den allergrößten Wert auf den Marx'schen Gedanken: Man kann den Staat nicht einfach in den Dienst der neuen Politik nehmen: Man muss den alten Staatsapparat zerschlagen.

Man kann die EU nicht einfach in den Dienst einer gegensätzlichen Politik nehmen. Man muss sie "zerschlagen". Das ist eine nicht veraltete Idee. Die Konkretisierung liegt nahe: Die EU ist ein übernationaler Staat, also ist (in gewissem Ausmaß) Renationalisierung eine Strategie-Variante. Natürlich ist dieses "Zerschlagen" der EU für eine politische Praxis kein konkreter Hinweis. Wie dies praktisch aussehen sollte, liegt jenseits dieser Überlegungen.

Anmerkungen

(1) Der Ordoliberalismus ist ein Konzept für eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung, in der ein durch den Staat geschaffener Ordnungsrahmen den ökonomischen Wettbewerb und die Freiheit der Bürger auf dem Markt gewährleisten soll
(http://de.wikipedia.org/wiki/Ordoliberalismus)

(2) Ein meritorisches Gut (meritorisch - veraltet für "verdienstvoll") ist in den Wirtschaftswissenschaften ein Gut, bei dem die Nachfrage der Privaten hinter dem gesellschaftlich gewünschten Ausmaß zurückbleibt (http://de.wikipedia.org/wiki/Meritorisches_Gut)

Raute

THEORIE

Die Salafisten im revolutionären Ägypten

Eine Analyse des islamistischen Lagers

Von Muna El Shorbagi und Essam Fawzi

Wer sind eigentlich die radikalen Islamisten und welche Rolle spielen sie insbesondere in der ägyptischen Demokratiebewegung?


Ägypten 2011: Die Ereignisse überschlagen sich

1. Januar: Bei einem Bombenanschlag auf eine koptische Kirche werden insgesamt 21 Menschen getötet und 79 verletzt. Ägypten ist im Schockzustand. Der Anschlag wird wechselweise Al Qaeda, einer palästinensischen Organisation und ägyptischen Salafisten zugeschrieben.

25. Januar: erstmals seit den 1970er Jahren schaffen es Tausende von Demonstranten, organisiert Polizeisperren zu durchbrechen und sich aus mehreren Stadtteilen zu Tausenden auf dem Tahrir-Platz zu vereinigen. In den folgenden Tagen mobilisieren überall in der Stadt kleine Gruppen von jungen Leuten die Bevölkerung für weitere Großdemonstrationen. Es kommt zu mehreren hundert Toten in verschiedenen Städten, aber statt nach Hause zu gehen, besetzen die Leute den Tahrir-Platz und errichten dort eine Zeltstadt. Salafisten mobilisieren gegen die Demonstrationen, die Muslimbrüder halten sich zurück.

30. Januar: erste Millionendemonstration. Auf dem Tahrir-Platz donnern Düsenjäger über die Menge. Die Demonstranten schreien gegen den furchterregenden Lärm an: "nicht wir, sondern er (der Präsident) wird gehen!" Ihre Forderungen sind klar: Sturz des Regimes, Errichtung eines demokratischen, zivilen Rechtsstaates, Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit. Die Moslembrüder und einzelne Salafisten schließen sich den Demonstranten an und verteidigen den Platz in den nächsten Wochen Seite an Seite mit anderen politischen Kräften und Menschen aus allen Schichten und Altersgruppen der ägyptischen Bevölkerung gegen massive Angriffe von Schlägertruppen, Scharfschützen und Sicherheitskräften in Zivil.

11. Februar: der Präsident tritt zurück und ein Militärrat übernimmt die Macht. Die Ägypter jubeln und erinnern den Militärrat an ihre Ziele: ein ziviles, demokratisches politisches System, juristische Aufarbeitung von Korruption und Menschenrechtsverletzungen, freie Wahlen und eine neue Verfassung, die allen Ägyptern gleichermaßen politische Freiheiten, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz garantiert.

8. Juli: Nach wachsender Unzufriedenheit mit der schleppenden Umsetzung der Forderungen der Revolution wird der Tahrir-Platz wieder besetzt. Wie in allen Phasen der Revolution, tragen fast alle Plakate und Transparente auf dem Platz die Symbole Kreuz und Halbmond, die an die Revolution von 1919 erinnern, in der ebenfalls Christen und Muslime gemeinsam für Unabhängigkeit von britischer Besatzung und Errichtung eines zivilen Rechtsstaates demonstriert hatten.

29. Juli: mehr als eine Million Muslimbrüder, Salafisten und Mitglieder der ehemals militanten gama'at islamiya und Sympathisanten demonstrieren auf dem Tahrir-Platz für einen islamischen Staat und die Anwendung der Schari'a. Sie greifen die Schlagworte und den Rhythmus der Parolen der Revolution auf und formulieren sie um. Statt "das Volk will den Sturz des Regimes" skandieren sie "das Volk will die Anwendung der Schari'a" und statt "madaniya miya miya" (100% zivil) fordern sie "islamiya miya miya" (100% islamisch). Bärtige Männer dominieren das Bild. Bei Sonnenuntergang ziehen sie wieder ab. Der Spuk ist vorbei und der Platz bietet wieder den gewohnten Anblick bunt gemischter Gruppen, die mit vielfältigen Aktionen die gemeinsamen Forderungen der Revolution zum Ausdruck bringen.

Was war geschehen? Woher kommen plötzlich diese Massen bärtiger Männer und gesichtsverschleierter Frauen, die die Gegner eines islamischen Staates in aggressiven Parolen auffordern, das Land zu verlassen. Warum brachen sie ihre Vereinbarung mit den anderen politischen Kräften, mit denen sie sich auf gemeinsame Forderungen geeinigt hatten, so dass sich die meisten anderen Gruppen tagsüber vom Platz zurückzogen? Und wer sind diese Salafisten, die tagsüber den Platz dominierten?

Wer sind die Salafisten?

Die Salafisten sind in der Tat eine neue Kraft auf der politischen Bühne. Vor der Revolution beschränkten sie sich im wesentlichen auf da'wa, auf Aktivitäten, mit denen Muslime dazu aufgerufen werden, religiöse Vorschriften (gemäß der Salafi Interpretation) zu befolgen und sich aktiv für den Islam einzusetzen. Ehemals militante Gruppen wie die gama'a islamiya und tanzim al-gihad können auch den Salafisten zugerechnet werden. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen und den da'wa Salafisten liegt darin, daß sie im Unterschied zu letzteren das umstrittene Prinzip der Pflicht zur Rebellion gegen unislamische, ungerechte Herrscher anerkennen und darauf aufbauend Mitte der 1970er Jahre den bewaffneten Kampf gegen das ägyptische Regime aufnahmen. Die da'wa Salafisten lehnen dieses Prinzip strikt ab, auch wenn der Herrscher korrupt ist und nicht gemäß der Schari'a regiert. Die militanten Gruppen begannen 1997 einen Revisionsprozeß, der mit der Aufgabe des bewaffneten Kampfes endete. Die meisten Beobachter gehen davon aus, daß sie damit auch das Prinzip der Rebellion gegen unislamische Herrscher aufgaben. Man kann bestimmte Texte und Aussagen von ihnen jedoch auch dahingehend interpretieren, daß sie dieses Prinzip nur ausgesetzt aber nicht endgültig aufgegeben haben. Die meisten ihrer Mitglieder wurden in den letzten Jahren nach und nach aus den Gefängnissen entlassen und viele engagierten sich in salafistischen da'wa Aktivitäten.

Die Salafisten sind keine geschlossene Organisation, sondern bilden eine Vielzahl von Gruppen, die sich um bekannte Salafisten-Sheikhs gruppieren.

Die Salafisten sind keine geschlossene Organisation, sondern bilden eine Vielzahl von Gruppen, die sich um bekannte Salafisten-Sheikhs gruppieren. Sie nutzten v.a. Moscheen für die Verbreitung ihrer Botschaft und die Rekrutierung neuer Mitglieder, aber auch Satellitenfernsehkanäle und Internetseiten. Sie haben Zugang zu beträchtlichen Ressourcen, die v.a. aus zakat (religiöse Almosen, die für Muslime Pflicht sind), Spenden und Zuwendungen aus Saudi-Arabien bestehen. Letztere werden über ein kompliziertes Netzwerk religiöser NGOs und Institutionen verteilt. Dazu gehören auch ägyptische religiöse NGOs, v.a. die gama'iya schara'iya (Schari'a NGO) und die gama'iya ansar al-sunna al-mohamadiya (Sunna NGO, Sunna = religiöse Lebensweise des Propheten), die bereits 1912 und 1926 gegründet wurden. Diese beiden NGOs sind nicht nur Kanäle für vielfältige Unterstützung verschiedenster islamistischer Gruppen, sondern schulen in ihren religiösen und erzieherischen Aktivitäten auch das Denken ihrer Mitglieder und der Nutznießer ihrer sozialen Dienstleistungen in den ideologischen Grundprinzipien, auf die die verschiedenen islamistischen Strömungen aufbauen. Viele führende Mitglieder islamistischer Gruppen waren zu einem bestimmten Zeitpunkt Mitglieder in einer dieser beiden NGOs.

Die Salafisten schafften es in den letzten zwei Jahrzehnten, eine Vielzahl von Moscheen zu übernehmen und auch in den staatlichen religiösen Institutionen wie Al Azhar, des ältesten und in der ganzen islamischen Welt geachteten Zentrums islamischer Forschung und Lehre, Anhänger zu sammeln. Dazu gehören z.B. Mitglieder der sogenannten "Front der Azhar Gelehrten". Die Aktivitäten der Salafisten wurden durchaus vom Staat geduldet, solange sie sich im Rahmen der von Regime und Sicherheitsapparat vorgegebenen Grenzen hielten. Das Regime profitierte im Gegenteil von den Salafisten und nutzte sie dazu, zu bestimmten Zeitpunkten Auseinandersetzungen zu provozieren, die von den sozialen und politischen Brennpunkten der immer lauter werdenden Proteste der letzten Jahre ablenken sollten. In den Jahren vor der Revolution wuchs der Widerstand gegen das Regime, entwickelte neue Protestformen und umfasste immer breitere Kreise der Bevölkerung. Den Hintergrund bildete die immer maßlosere Korruption verbunden mit der zunehmenden Verarmung der mittleren und unteren Bevölkerungsklassen sowie die immer offener zutage tretenden Pläne des Regimes, den Sohn des Präsidenten, Gamal Mubarak, gegen den Willen des Großteils der Bevölkerung zur Not gewaltsam als Nachfolger zu installieren.

Das Regime nutzte die Salafisten dazu, Auseinandersetzungen zu provozieren, die von den immer lauter werdenden Proteste ablenken sollten.

Um den Widerstand zu neutralisieren, räumte das Regime den Salafisten breiten Spielraum ein, um religiöse Spannungen zu provozieren oder auch um gegen kulturelle und literarische Produktionen zu mobilisieren, die als moralisch oder religiös anstößig deklariert wurden. Gleichzeitig erlaubten die provokanten Aktionen der Salafisten dem Regime, sich dem Westen gegenüber als Bollwerk gegen die Machtergreifung radikaler Islamisten zu präsentieren. Die letzte große Kampagne der Salafisten richtete sich gegen die koptische Kirche, der vorgeworfen wurde, Frauen, die zum Islam konvertiert waren, gegen ihren Willen in Kirchen und Klöstern festzuhalten. Außerdem wurde ihnen auch immer wieder Verwicklung in Anschläge gegen Christen und christliche Einrichtungen vorgeworfen. Der letzte große Anschlag gegen eine Kirche in Alexandria wurde kurz vor der Revolution am 1. Januar verübt und kostete 21 Menschen das Leben. Nach der Revolution wurden Dokumente gefunden und ins Internet gestellt, die eine Verwicklung des Staatssicherheitsdienstes (SSD) in die Anschläge nahelegen. Diese Dokumente sind jedoch mit Vorsicht zu behandeln, da der SSD nachweislich selbst Dokumente gefälscht hat. Die Vorwürfe gegen den SSD werden gegenwärtig von der Staatsanwaltschaft untersucht.

Die Salafisten selbst verurteilten den Anschlag und sprechen sich gegen Gewalt gegen Nicht-Muslime aus. Die Presse in den letzten Monaten war jedoch voll von Augenzeugenberichten über die Anstiftung zu einer Serie gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen durch Salafisten, bei denen mehr als 25 Menschen ums Leben kamen. Die Begründung für die offizielle Verurteilung der Gewalt seitens prominenter Salafisten Sheikhs gibt auch zu denken. Sie argumentieren, dass Nicht-Muslime im Islam einen Schutzstatus, dhimma, genießen, wofür sie in einem islamischen Staat eine besondere Steuer, gizya, zahlen müssen. Das Konzept von dhimma und gizya ist jedoch kaum mit demokratischen Prinzipien wie Staatsbürgertum und Rechtsgleichheit vereinbar.

Ideologie und Wurzeln des Salafismus

Die Salafisten betrachten sich als die wirklichen Nachfolger (salaf) des Propheten und seiner Gefährten. Sie fordern eine strikte Orientierung an der Umsetzung islamischer Prinzipien zur Zeit der frühen islamischen Gemeinde. Sie bekämpfen bid'a oder Neuerungen, die nach ihrer Meinung im Gegensatz zu diesen Prinzipien stehen und shirk oder die Verletzung des islamischen Prinzips tawhid, das die Einheit Gottes betont sowie seinen alleinigen Anspruch auf Anbetung. Damit stehen sie nicht nur im Gegensatz zu Säkluaristen und liberaleren Auslegungen der islamischen Religion, sondern auch zur volkstümlichen Ausprägung der Religion und den der Volksreligion nahestehenden Sufi-Orden, die durch bestimmte Praktiken und Rituale die spirituelle Nähe Gottes suchen. Die Salafisten sind heute stark von den Wahabisten Saudi Arabiens beeinflusst, die für ihren extremen Puritanismus und ihre staatstragende Ideologie bekannt sind. Die Wurzeln des ägyptischen Salafismus reichen jedoch vor den saudischen Einfluss zurück und liegen in einer konservativen Strömung der Nahda- oder Renaissance-Bewegung, die v.a. von den Schriften des ägyptischen Gelehrten Raschid Rida (1865-1935) verkörpert wird.

Trotz ihrer Forderung der Rückkehr zu den Wurzeln des Islams ist der Salafismus definitiv eine moderne Erscheinung. Er entwickelte sich ebenso wie der liberale Islam aus der Nahda-Bewegung, die sich als Reaktion auf die französische Besatzung Ägyptens von 1798-1801 gebildet hatte. Trotz der kurzen Zeit erschütterte die Konfrontation mit Napoleon und seinen Truppen Ägypten bis in seine Grundfesten. Sie repräsentierte den ersten Zusammenstoß mit der technologischen, militärischen und administrativen Überlegenheit des kapitalistischen Europa, von dessen Entwicklung Ägypten seit den Kreuzzügen nicht mehr viel mitbekommen hatte. Sie stellte die Ägypter, die die Christen Europas noch als rückständige Barbaren zur Zeit der Kreuzzüge in Erinnerung hatten, vor die Frage wie es zu dieser schockierenden Unterlegenheit der Muslime kommen konnte und welche Rolle der Islam in dieser Entwicklung spielte. Die beiden Antworten auf diese Frage begründeten die heutigen liberalen und konservativen islamischen Strömungen. Erstere sehen in der Religion vor allem ein Hindernis, eine Quelle von Erstarrung und Blockierung von Erneuerung. Sie plädieren daher für eine moderne Neuinterpretation der Religion und eine stärkere Trennung von religiösen und weltlichen Angelegenheiten. Letztere sehen den Grund der Rückschrittlichkeit im Gegensatz in der Vernachlässigung der Religion. Sie fordern ebenfalls eine Neuinterpretation des Islam zur Erneuerung der Gesellschaft, jedoch auf der Grundlage der Rückkehr zu seinen Wurzeln.

Seit der Revolution sind fast alle islamistischen Kräfte damit beschäftigt, Parteien zu gründen, um an den für November geplanten Parlamentswahlen teilzunehmen.

Die zentralen Fragen der Nahda-Bewegung und die Auseinandersetzung um die Rolle der Religion in Staat und Gesellschaft sind bis heute aktuell, auch wenn das moderne Ägypten sich inzwischen selbst zu einer - um mit Samir Amin zu sprechen - abhängig kapitalistischen Gesellschaftsformation entwickelt hat und Entwicklungsfragen vorwiegend aus liberaler und sozialistischer Perspektive diskutiert werden. Die verschiedenen islamistischen Strömungen bleiben davon nicht unberührt. Die größte Oppositionsgruppe vor der Revolution, die Muslimbrüder, fordert schon seit den 1980er Jahren die Entwicklung Ägyptens auf der Grundlage demokratischer Institutionen und freier Wahlen. Seit der Revolution sind fast alle islamistischen Kräfte damit beschäftigt, Parteien zu gründen, um an den für November geplanten Parlamentswahlen teilzunehmen. Ende August gab es bereits 11 Parteien von Islamisten, davon drei, die von Personen aus dem Umkreis der Muslimbrüder und sieben, die von von Salafisten gegründet wurden, zwei davon von Mitgliedern ehemals militanter Gruppen.

Bedeutet das nun, dass die Salafisten Demokratie und politische Freiheit akzeptieren oder dass sie sie nur nutzen wollen, um an die Macht zu kommen, um sie danach so schnell wie möglich wieder abzuschaffen? Und wollen die meisten Ägypter nun einen säkularen oder einen islamischen Staat?

Die 29. Juli Demonstration: zoom-in

Szene 1, kurz nach Mitternacht: Massen bärtiger Islamisten strömen auf den Tahrir-Platz. Eine Gruppe von Platz-Besetzern aus verschiedenen Provinzen kommentiert "hier kommt die 'Revolution Revolution bis zum Sonnenuntergang-Truppe'", wobei sie das Wort nasr/Sieg der Parole 'Revolution Revolution bis zum Sieg' mit dem Wort 'asr'/Sonnenuntergang ersetzen. Sie spielen damit auf den Ruf der Salafisten an, immer nur dann aufzutauchen, wenn keine Gefahr besteht und keine Mühe erforderlich ist. Der Kommentar drückt den Zweifel an der Haltung der Salafisten zur Revolution und damit eine klare Distanz aus.

Szene 2, frühe Morgenstunden: Muslimbrüder und Salafisten agitieren die Massen von mehreren Bühnen aus mit aggressiven Parolen gegen Säkularisten. Am Rand der Zeltstadt in der Mitte des Platzes spricht ein junger Mann mit einer etwa 45-jährige Frau, beides Platz-Besetzer aus ärmeren Kairener Volksvierteln. Der Mann fragt die Frau nach dem Unterschied zwischen den Muslimbrüdern und den Salafisten worauf die Frau antwortet, die Muslimbrüder seien Muslime und die Salafisten Christen. Sichtlich konsterniert fragt der Mann zurück, warum die Salafisten dann allahu akbar (Gott ist groß, Teil des muslimischen Gebets) rufen würden, worauf die Frau antwortet, dass Christen schließlich denselben Gott anbeten würden und daher natürlich auch allahu akbar rufen würden. Und außerdem solle der junge Mann beide nicht so ernst nehmen, denn beide seien Fanatiker. Offensichtlich gibt die Frau Fanatikern wenig Chancen im revolutionären Ägypten - trotz der beeindruckenden Zahl der Islamisten auf dem Platz zu diesem Zeitpunkt.

Szene 3, frühe Morgenstunden: eine Frau mit unbedecktem Haar, offensichtlich Ausländerin, steht am Rand des erhöhten Rondells in der Mitte des Tahrir-Platzes und beobachtet die Islamisten, die auf der Bühne gegenüber Parolen gegen Säkularisten skandieren und alle Gegner eines islamischen Staates auffordern, das Land zu verlassen. Vor ihr steht ein Teeverkäufer, der aussieht wie ein Salafist und zusammen mit einem Mann aus der gebildeten Mittelschicht in die Parolen einstimmt. Nach und nach drehen sich beide verlegen zu der Frau um, die offensichtlich all das verkörpert, was in den Parolen attackiert wird. Der Teeverkäufer drängt die Frau freundlich, ein Glas Tee als Geschenk anzunehmen und der andere Mann sagt in perfektem Englisch "mach dir keine Sorgen, wir meinen das nicht so", worauf sich beide wieder umdrehen und weiter Parolen skandieren. Die Szene wirft die Frage auf, wieweit die Sympathisanten der Salafisten deren Ideologie eigentlich wirklich ernst nehmen.

Szene 4, mittags nach dem Freitagsgebet: ein junger Mann, der mit seinem Bart, seiner weißen Galabiya und seinem gehäkelten Käppi wie ein typischer Salafist aussieht sitzt auf der Schulter eines Demonstranten und skandiert islamistische Parolen in ein Mikrofon. Er kam mit einem der von den Salafisten organisierten Busse aus seinem Dorf in der Provinz Kafr El Sheikh und nimmt zum ersten mal in seinem Leben an einer Demonstration teil. Das glückliche Strahlen auf seinem friedvollen Gesicht bildet einen krassen Gegensatz zu seinen aggressiven Parolen und man fragt sich, ob seine Motivation nicht eher die aufregende Erfahrung ist, endlich selbst Teil dieser umwälzenden Ereignisse zu sein, die er vorher nur im Fernsehen zu sehen bekam und die er nicht wirklich verstand. Er kannte jedenfalls weder die genaue Bedeutung von Säkularismus noch von Staatsbürgertum. Die Islamisten scheinen den von den Ereignissen der Revolution marginalisierten Ägyptern ein Forum zu bieten, ihren Anspruch auf Teilnahme in einer Sprache zu artikulieren, die sie kennen.

Szene 5, früher Nachmittag: ein junger Mann, der ein T-Shirt mit dem Porträt von Che Guevara trägt, skandiert auf der Schulter eines Demonstranten Parolen mit der Forderung nach einem islamischen Staat. Auf die Frage, ob er wüsste wer der Mann auf seinem T-Shirt sei, antwortet er: "Ja, das ist Guevara". Auf die Nachfrage, ob das nicht ein Widerspruch sei, da Che Guevara nicht nur Säkularist sondern sogar Kommunist war, erwidert er, dass das keine Rolle spiele, denn Guevara habe schließlich auch gegen den Imperialismus der USA gekämpft. Die umstehenden Mitdemonstranten nicken Zustimmung. Diese Antwort suggeriert, dass die Gemeinsamkeit der Gegnerschaft zu den USA für diese Demonstranten wichtiger ist, als der Gegensatz zwischen Islamisten und Säkularisten - zumindest solange diese Säkularisten nicht in Ägypten leben. In jedem Fall deutet die Szene jedoch auf die Verwirrung hin, die in bezug auf den Versuch der Islamisten besteht, das Streben nach Freiheit, Unabhängigkeit und sozialer Gerechtigkeit in den Rahmen des Gegensatzes islamischer versus säkularer Staat zu zwängen. Die islamistischen Parolen sind möglicherweise für viele Sympathisanten zunächst eher eine Metapher zum Ausdruck ganz anderer Forderungen nach Unabhängigkeit, Nichteinmischung und eigenständiger Entwicklung.

Die Jugend der Moslembrüder, die während der Revolution mit ihren säkularen Gefährten den Angriffen des Regimes standhielten, fordern mehr Transparenz und interne Demokratisierung.

Was bedeutet diese Demonstration nun wirklich und wer gehört eigentlich zu diesem Lager der Islamisten?

Das Lager der Islamisten

Nach der Revolution kamen alle politischen Strömungen, die zuvor durch ein umfassendes System von Repression, Manipulation, Kooptierung und Kriminalisierung unterdrückt worden waren, an die Oberfläche und damit auch bislang zugedeckte interne Widersprüche und Interessenskonflikte. Die Moslembrüder (MB), die größte organisierte Oppositionsgruppe vor der Revolution, hat besonders mit internen Konflikten zu kämpfen. Die MB schafften es, acht Jahrzehnte lang viele soziale und politische Umwälzungen zu überleben. Dies gelang ihnen durch die Kombination einer kohärenten, hierarchischen Organisationsstruktur, einer autarken ökonomischen Basis auf der Grundlage von Wirtschaftsunternehmen und Investitionstätigkeiten, die geheim und auf Vertrauensbasis gemanagt wurden, einer beeindruckenden Zahl von klugen politischen Köpfen und Meistern von Taktik und politischen Manövern sowie einer breiten Mitgliederbasis, die durch politische ebenso wie durch soziale und ökonomische Beziehungen an die Organisation gebunden sind. Diese Strukturen, die den MB viele Jahre gute Dienste leisteten, erweisen sich heute auf dem Hintergrund der neuen politischen Freiheiten und der Forderungen der Revolution nach Demokratie, Transparenz und Rechenschaftspflicht in vieler Hinsicht als untauglich. Vor allem die Jugend der MB, die während der Revolution Seite an Seite mit ihren säkularen Gefährten den Angriffen des Regimes standhielten, fordern mehr Transparenz und interne Demokratisierung. Die Führung der MB zeigte bislang wenig Willen, diesen Forderungen nachzukommen, da sie nicht nur materielle und Machtinteressen berühren, sondern auch die Gefahr bergen, dass sich damit interne Spannungen aufgrund der verschiedenen sozialen und Klasseninteressen ihrer Mitglieder verschärfen und die Organisation auf längere Sicht vor eine Zerreißprobe stellen. Sie befürchten zudem, dass liberale Kräfte sich überzeugender als sie selbst als die kompetenteste Kraft zur Umsetzung der Forderungen der Revolution nach einer Transformation Ägyptens in einen zivilen, demokratischen Staat mit politischer Freiheit, gleichen Rechten und modernen Institutionen präsentieren könnten.

Das neue islamistische Lager präsentiert sich als einer der beiden Pole einer Dichotomie unter dem Namen islamistisch/authentisch im Gegensatz zu nicht-islamistisch/vom Westen manipuliert.

Die Führung der MB hat sich daher für das entschieden, was sie am besten kann: politische Manöver. Sie transferierte die internen und externen Auseinandersetzungen auf ein neues Terrain, in dem die Bedingungen von ihr und nicht von ihren Herausforderern definiert werden. Dieses Terrain ist das neu gebildete islamistische 'wir', konstruiert als Gegensatz zu säkularen und anderen nicht-islamistischen politischen Kräften. Das neue islamistische Lager ist keineswegs spontan entstanden, sondern wurde in den letzten vier Monaten aus rein politischen Gründen bewusst unter der Führung der MB konstruiert. Es ist weder kohärent, noch konsistent, aber es präsentiert sich als einer der beiden Pole einer Dichotomie unter dem Namen islamistisch/authentisch im Gegensatz zu nicht-islamistisch/vom Westen manipuliert.

Das Lager der Islamisten umfasst im wesentlichen die MB und die Salafisten, inklusive der ehemals militanten Gruppen und der salafistisch orientierten Angehörigen der staatlichen religiösen Institutionen. Die MB sind so etwas wie der Kopf dieses Lagers. Sie bestimmen die Themen der Polarisierung und überlassen den Salafisten die Frontarbeit. Die wichtigsten Felder der Auseinandersetzung bislang waren die Volksabstimmung im März über bestimmte Verfassungsänderungen sowie die Debatte über bestimmte Prinzipien, die vom künftigen Parlament auszuarbeitende Verfassung integriert werden sollen. Die Verfassungsänderungen betrafen im wesentlichen die Beschneidung der Amtszeit des Präsidenten sowie die Stationen auf dem Weg zu freien Wahlen und der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Unter der Anleitung der MB machten die Salafisten daraus eine Abstimmung für oder gegen den Islam, indem sie vorgaben, dass die Kritiker der vorgeschlagenen Änderungen in Wirklichkeit Art. 2 der alten Verfassung abschaffen wollten, der den Islam als Staatsreligion und die Schari'a als Hauptquelle der Gesetzgebung benennt. Unter dem Eindruck dieser Kampagne fordern nicht-islamistische politische Kräfte seitdem eine Einigung über bestimmte Prinzipien, die Freiheit und Gleichheit für aller Ägypter garantieren und unverändert in die neue Verfassung aufgenommen werden sollen. Den Hintergrund bildet die Befürchtung, dass die Islamisten als die am besten organisierte Kraft das künftige Parlament und damit den Inhalt der neuen Verfassung dominieren könnten.

Mit ihren konfrontativen Attacken brachten die Salafisten z.B. die Sufi-Orden mit ca. 15 Millionen Mitgliedern gegen sich auf, die der Volksreligion nahe stehen.

Innerhalb dieser Auseinandersetzung hatte die Machtdemonstration am 29. Juli vor allem eine PR-Funktion. Sie sollte den Anschein erwecken, dass die Mehrheit der Ägypter hinter den Islamisten steht und somit sowohl zur Einschüchterung der politischen Gegner als auch zur weiteren Mobilisierung genutzt werden kann. Es ist kaum anzunehmen, dass solche Machtdemonstrationen einfach wiederholt werden können, denn es erfordert beträchtliche materielle und personelle Ressourcen, alle tatsächlichen und potentiellen Sympathisanten zu mobilisieren und in Bussen nach Kairo zu bringen. Außerdem legen die oben beschriebenen Szenen nahe, dass sich längst nicht alle Teilnehmer so bewusst dem islamistischen Lager verschrieben haben, wie es auf den ersten Blick erscheint.

Was bedeutet das nun alles für die Zukunft? Viele Variablen sind noch offen. Mit ihren konfrontativen Attacken brachten die Salafisten z.B. die Sufi-Orden mit ca. 15 Millionen Mitgliedern gegen sich auf, die der Volksreligion nahe stehen und mit traditionellen Familien- und Stammesstrukturen verflochten sind. Die Sufi-Orden befürchten nun, dass ein islamischer Staat nach salafistischen Vorstellungen ihr Ende bedeuten würde. Sie könnten zusammen mit den nach größerer Unabhängigkeit und einer neuen Identität suchenden staatlichen religiösen Organisationen wie Al Azhar den Kern eines alternativen islamischen 'wir' bilden, das keinen Gegensatz zu den liberalen, linken und nationalistischen Kräften konstruiert und der Mehrheit der Ägypter viel näher steht als das Lager der Islamisten.

Die Molembrüder werden sich wahrscheinlich zum geeigneten Zeitpunkt und aus taktisch politischen Überlegungen von den Salafisten distanzieren.

Die MB selbst, die sich in den letzten Jahren immer mehr liberalen, demokratischen Vorstellungen angenähert hatten, werden sich wahrscheinlich zum geeigneten Zeitpunkt und ebenfalls aus taktisch politischen Überlegungen von den Salafisten distanzieren und als moderate Kraft präsentieren, die allein in der Lage ist, die Geister, die sie rief, wieder zu domestizieren. Andererseits gibt es Anzeichen, dass ein Teil der gama'at islamiya sich wieder militanteren Konzepten zuwenden und einen Teil der Salafisten mit sich ziehen könnte. Offen ist auch noch, inwieweit sich die konterrevolutionären Kräfte aus dem Umfeld des alten Regimes wieder politisch formieren können.

Und schließlich gibt es die Millionen, die direkt an der Revolution beteiligt waren und die ihr Leben oft spontan und ohne jemals vorher politisch tätig gewesen zu sein für Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit aufs Spiel gesetzt haben. Sie werden sich diese Freiheit nicht so einfach wieder nehmen lassen. Auch wenn die gegenwärtigen Entwicklungen zum Teil besorgniserregend sind, so sind sie doch gesund und der einzige Weg, in einer offenen Auseinandersetzung zu einem staatlichen und institutionellen Rahmen zu finden, in dem unterschiedliche soziale, kulturelle und Klassenkonflikte ohne und gesellschaftliche Gewalt und staatliche Repression ausgetragen werden können.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Teilnehmer der landesweiten Mobilisierung der Salafisten am 29. Juli 2011
- Banner am Tahrir-Platz mit der Aufschrift: "Der Koran ist unsere Verfassung"
- Demonstration für die Unabhängigkeit der Justiz

Raute

KULTUR

"Die arabischen Revolutionen sind mir eine Bestätigung"

Heiny Srour im Gespräch mit Anna Maria Steiner

Die Regisseurin Heiny Srour wurde 1945 im Libanon geboren. Sie schloss sich der libanesischen Linken und der palästinensischen Befreiungsbewegung an. Im März 2011 besuchte sie Österreich, wo sie ihren Film "Stunde der Befreiung" präsentierte.

"Stunde der Befreiung" behandelt einen der radikalsten Kämpfe in der arabischen Welt: die Guerilla-Bewegung zwischen 1965 und 1975 in Dhofar, Oman, gegen den britischen Kolonialismus. Der Film dokumentiert die Errungenschaften der "Front zur Befreiung des Arabischen Golfs" in politischer, sozialer und feministischer Hinsicht. Bis zu deren Zerschlagung war die Bewegung im Begriff, eine heute auf der Halbinsel unvorstellbare egalitäre Gesellschaft aufzubauen. Bei den Aufnahmearbeiten legte die Regisseurin 800 Kilometer zu Fuß in bergigem und verminten Gebiet unter Bombardierung zurück. "Stunde der Befreiung" wurde 1974 als erster Film einer arabischen Regisseurin auf dem Festival von Cannes gezeigt.


Intifada: Welche Erfahrungen haben Sie als Filmschaffende gemacht, und könnten Sie etwas zur Entstehung Ihres Films "Stunde der Befreiung" sagen?

Heiny Srour: Als Frau Anfang der 1970er Jahre war es nicht leicht, einen solchen Film zu machen - ich war die einzige auf der Welt, die einen Film in einem Partisanenkrieg drehen wollte. Es gab zwei andere bekannte Frauen: Agnès Varda in Frankreich und Vera Chytilová in der Tschechoslowakei. Beide drehten jedoch in der Sicherheit des Studios, unterstützt von einer großartigen Filmindustrie, sie hatten an den besten Filmakademien studiert - Varda fünf Jahre in Frankreich und Chytilová sechs Jahre in Moskau -, und ich hatte überhaupt keine Ausbildung in dieser Richtung absolviert.

Die "Front für die Befreiung des Arabischen Golfs" war feministisch ausgerichtet, und das hat mich motiviert, zwei Jahre lang gegen alle möglichen Hindernisse anzurennen. Die Produzenten sahen mich an, als hätte ich den Verstand verloren, und nach zwei Jahren begann ich selbst an meiner Vernunft zu zweifeln. Sie sagten mir alle, ich solle doch Schauspielerin werden, denn ich sah gut aus. Ich war nach diesen Gesprächen verzweifelt. Nach zwei Jahren folgte ich schließlich einem letzten Hinweis: Roger Pic. Pic war ein berühmter französischer Fotograf und Filmemacher. Er galt auch als Kommunist. Schon nach fünf Sekunden überzeugte er mich. Die anderen Produzenten hatten mir auf die Brüste und Beine gestarrt, aber Pic sah mir in die Augen und hörte mir zu. Während der Résistance musste er etwa 25 gewesen sein, und die Frauen im Widerstand gegen die Nazibesatzung hatten Großartiges vollbracht. Ich dachte also: Wenn auch er mir sagt, dass es verrückt ist, ohne Film-Ausbildung und in einem Kriegsgebiet zu drehen, dann muss ich wirklich wahnsinnig sein. Aber er war von dem Projekt überzeugt und schickte mich zu mehreren Leuten, die den Film finanzieren könnten, und gab mir seine Empfehlung. Ich drehte also meine Runden und niemand gab mir auch nur einen Groschen, aber was zählte war, dass er mich überzeugt hatte, dass das Projekt sinnvoll war. Er hat mich motiviert. Es sollte noch länger dauern, und der Film entstand eigentlich 1971, aber aus Geldmangel konnte ich ihn erst 1974 fertig stellen.

Intifada: Sie bauen Brücken zum Arabischen Raum, zu den Revolutionen dort - damals wie heute.

Heiny Srour: Die heutigen Revolutionen sind mir eine wichtige Bestätigung. Sie stimmen mich nicht nur positiv und optimistisch, sondern geben mir wirklich das Gefühl eines Triumphs. Da ist endlich unsere Befreiung, sie begann außerhalb des Zentrums und sie wird sich auch nördlich des Golfs ausbreiten. Die Revolution im Oman wurde niedergeschlagen, sie endete in einem Völkermord und Sultan Qabus(1) war vierzig Jahre lang an der Macht. Man muss ihm allerdings zugestehen, dass er ein weiserer Herrscher war als sein Nachbar im Südjemen. Er wurde natürlich von seinen britischen Herren beraten, doch er baute einen modernen Staat auf. Sein Vater hatte keine einzige Straße oder Schule bauen lassen, und verbot Medizin, Geschäfte, Schulen, Bücher, Radios - alles, was modern war. Sultan Qabus investierte die Öleinnahmen in Infrastruktur; Schulen und Unis waren kostenlos, ebenso das Gesundheitswesen, das Land blühte und war stabil. Jedes Mal, wenn ich den Film sah, kamen mir die Tränen, doch heute habe ich die Bestätigung, dass die Menschen letztlich doch unsere Forderungen, unsere Revolution wollen: Demokratie und Würde und Brot. Allerdings sind feministische Forderungen in der Bewegung nicht sehr stark, das wird noch eine Zeit lang dauern. Doch selbst in dieser Revolution gab es Scheichs, die der Muslimbruderschaft nahestanden und jetzt die Frauen loben.

Da ist endlich unsere Befreiung, sie begann außerhalb des Zentrums und sie wird sich auch nördlich des Golfs ausbreiten.

In Ägypten forderten einige die Gleichstellung der Christen, während Kirchen angegriffen wurden und der Westen Krokodilstränen über die armen Christen vergoss. Ein Universitätsprofessor sagte auch, dass die neue Verfassung Ägyptens Christen, Muslime und Juden gleichstellen muss. Es gibt aber praktisch keine Juden in Ägypten, höchstens eine Handvoll. Es ist also wirklich überraschend, dass die Juden da überhaupt erwähnt werden. Feminismus steht nicht wirklich auf der Tagesordnung, aber das ist nur noch eine Frage der Zeit. In Tunesien gibt es stärkere Tendenzen in diese Richtung, da der nicht-religiöse Teil der Bewegung stärker ist.

Intifada: Was bedeutet es für Sie, Jüdin zu sein?

Heiny Srour: Sie wollen über mein Judentum sprechen? Nun, an allererster Stelle bin ich Libanesin. Ich wurde im Libanon geboren und bin dort aufgewachsen.

Die gesamte politische Tätigkeit der Linken wurde von der Aufspaltung in Religionsgruppen - Christen, sunnitische Muslime, schiitische Muslime - behindert und zunichte gemacht. Wir hatten siebzehn Jahre Bürgerkrieg, das war ein Alptraum. Im Libanon ist das Religionsbekenntnis auf dem Personalausweis eingetragen. Wenn man als Christ an einer Straßensperre von Muslimen aufgehalten wurde, wurde man womöglich umgebracht oder entführt. Für die Angehörigen war es schlimmer, wenn man entführt wurde. Das ist eine schreckliche Qual für die Familie. Wir haben das selbst erfahren, als mein Schwager entführt wurde. Ich kenne Leute, die noch nach dreißig Jahren hoffen, dass ihr entführter Sohn oder Bruder oder Vater oder Ehemann zurückkommt. Tausende wurden im Libanon nur wegen ihres Religionsbekenntnisses entführt, es war einfach grauenhaft. Wir haben daher gefordert, dass das Religionsbekenntnis nicht mehr auf den Ausweisen aufscheinen soll.

Feministische Forderungen sind in der Bewegung nicht sehr stark, das wird noch eine Zeit lang dauern.

Wenn man mich heute über meine Religion fragt, dann erinnert mich das viel zu sehr an diese grauenhaften Morde und Entführungen. Da kommen wirklich schlimme Erinnerungen hoch. Bei einem palästinensischen Frauen-Filmfestival in Ramallah wollten die Organisator/innen einen Katalog zusammenstellen. Sie schickten mir deshalb eine Kurzbiografie auf Arabisch über mich und baten, die Details vor der Veröffentlichung zu überprüfen. Dieser Absatz fing an mit den Worten: "Heiny Srour ist eine jüdische Filmemacherin ..." oder so ähnlich. Ich sagte ihnen darauf: Nun, ich möchte meine religiösen Wurzeln nicht verstecken, aber Sie würden über eine palästinensische Filmemacherin mit christlichem Hintergrund auch nicht schreiben "Frau soundso ist eine christliche Filmemacherin." Ich will von dieser Logik nichts mehr hören. Wollen wir einen Religionskrieg? Das hatten wir ja im Libanon und ich bin absolut dagegen.

Die Frage nach meinem religiösen Hintergrund bringt wirklich schmerzliche Erinnerungen. Ich habe immer für einen nicht-religiösen Staat gekämpft, und ich lehne Heuchelei ab. Ich kann nicht im Libanon für einen nicht-religiösen Staat eintreten und dann im Ausland mein Judentum, meine Identität, in der Öffentlichkeit wie eine Fahne schwenken. Es ist natürlich ein Teil von mir. Ich bin Libanesin. Ich bin Jüdin. Ich bin in französischsprachige Schulen gegangen. Ich habe ein Vierteljahrhundert in England gelebt. Dort habe ich sehr viel von den Gewerkschaftskämpfen gelernt, auch Verhandlungstaktiken und Kompromisse einzugehen. Das alles ist ein Teil von mir. Ich verehre auch Baudelaire, aber Baudelaire allein macht nicht meine Identität aus - er hat einige sehr sexistische Gedichte über Frauen geschrieben. Nichts ist schwarzweiß.

Es geht nicht um Judentum, Islam oder Christentum; es geht um Gerechtigkeit und Land, das Menschen weggenommen wurde, die seit Jahrtausenden da gelebt hatten.

Als Libanesin und als Jüdin habe ich natürlich die Sache der Palästinenser gut verstanden. Im Libanon leben eine Viertelmillion Flüchtlinge aus Palästina in Lagern. Die Juden wurden im Libanon diskriminiert, aber man sagt, dass im Libanon jeder diskriminiert wird, und das stimmt natürlich. Die Juden wurden auch viel weniger diskriminiert als die Palästinenser. Es gab zwar eine antijüdische staatliche Politik - Juden durften zum Beispiel nicht in Banken arbeiten, durften nicht an staatlichen Schulen und Universitäten unterrichten usw. -, aber es gab keinen staatlichen Antisemitismus, und die Palästinenser wurden viel stärker diskriminiert. Worum es geht ist, dass ich die palästinensische Sache unterstützen würde, auch wenn ich Buddhistin und in Japan geboren wäre, aus Gerechtigkeitsliebe. Heute gibt es wirklich nach all den Jahren sogar in Japan Unterstützung für die Palästinenser, eine Bewegung für Boykott, Sanktionen und Abzug von Investitionen. Mir ist klar, dass die Palästinenser verzweifelt nach Juden suchen, die sie unterstützen, weil sie von den Zionisten als Antisemiten beschimpft werden, aber das ist die Taktik der Zionisten, die den Vorwurf des Antisemitismus als moralische Erpressung einsetzen. Ich denke, es ist an der Zeit zu sagen: Auch wenn irgendwelche Atheisten Buddhisten ihr Land wegnähmen, wäre das das Gleiche. Es geht hier nicht um Judentum, Islam oder Christentum; es geht um Gerechtigkeit, und Land, das Menschen weggenommen wurde, die seit Jahrtausenden da gelebt hatten. Es ist wirklich schade, dass es zu diesem Konflikt nicht mehr politische Kreativität gibt.

Intifada: Wo sind Sie aufgewachsen?

Heiny Srour: In einem "gutbürgerlichen" Teil von Beirut, mit französischsprachigen Schulen, am Rand des jüdischen Viertels. Unser Haus war hinter dem Präsidentenpalast.

Intifada: Und wie sind Sie Kommunistin geworden?

Heiny Srour: Ich würde nicht sagen, dass ich Kommunistin geworden bin, denn ich war allem und jedem gegenüber sehr kritisch. Niemand kann mich in eine Schublade oder in eine politische Partei stecken. Das gilt auch für den Feminismus. Ich war immer gegen Männerhass, dass "alle Männer Vergewaltiger" seien. Nicht alle Männer sind Vergewaltiger. Ich bin zwar auch von Sexisten umgeben, aber viele Männer unterstützen die Frauenbefreiung und einige Männer sind feministischer als viele Frauen. Ich war nie in einer Kirche oder Sekte, und viele Bewegungen werden zu Kirchen und Sekten sowie zu Gegenkirchen und Gegensekten - das interessiert mich nicht, denn ich bin ein Freigeist. Jedenfalls hoffe ich das. Manchmal gelingt es mir nicht, unter dem Druck der Gesellschaft. Bei den Veranstaltungen in Wien und in Graz sagte ich beispielsweise nicht, dass die "Front für die Befreiung des Arabischen Golfs" sehr fortschrittlich war, was die Frauenfrage betrifft, dem Westen um dreißig Jahre voraus. Ich fürchtete, man würde das für eine Übertreibung oder mich für eine Lügnerin halten, und das war feige. Ich habe also meine Momente der Schwäche.

Der Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen (UNDP) hat Statistiken veröffentlicht, nach denen die weltweiten Militärbudgets insgesamt das Hundertfache der Budgets für Bildung und Sozialwesen zusammengenommen ausmachen, und da Treffen sich Anliegen der Frauen und der Männer in allem, was sich auf der Welt abspielt: Dass Mörder hundertmal mehr Geld bekommen als die Frauen, die Leben hervorbringen, schützen und für es sorgen, zeigt, wie verrückt diese Welt ist und wie wichtig die Frauenfrage ist, wie sehr wir als Frauen dafür kämpfen müssen, dass in Soziales und nicht in Mord investiert wird. Die Zahlen des UNDP zeigen auch, dass Frauen das arme Geschlecht sind. Sie machen zwar zwei Drittel der Arbeit - Lohnarbeit außer Haus und unbezahlte Arbeit als Ehefrauen und Mütter, die aber genauso getan werden muss -, besitzen aber nur ein Prozent des weltweiten Reichtums und bekommen nur einen winzigen Bruchteil des Einkommens. Dass es einige Frauen in hohen Positionen gibt - Ministerinnen und Staatschefinnen -, täuscht manchmal darüber hinweg, dass Frauen als ein Segment der Gesellschaft immer ärmer werden. Für mich war, ist und bleibt die Frauenfrage also eine hochpolitische Angelegenheit.

Übersetzung aus dem Englischen von Gregor Kneussel

Anmerkung

(1) Sultan Qabus kam 1970 in Oman an die Macht, nachdem die Briten seinen Vater wegen dessen Ineffizienz in der Bekämpfung des Aufstandes von Dhofar abgesetzt hatten. Durch die Hilfe der Armee des Schahs von Iran und der britischen Luftwaffe gelang es ihm Ende der 1970er Jahre den Aufstand militärisch zu beenden. Er regiert den Oman heute noch mit absoluter Macht.

Raute

KULTUR

Der Dschinn ist los

Der ägyptische Autor und Journalist Chalid al-Chamissi über den Anteil ägyptischer Kunstschaffender an der Revolution, die Gefahren religiös motivierter Politik und die neu erlangte Freiheit.

Das Interview führte Anna Maria Steiner


Intifada: Herr Chamissi, Sie sind Roman- und Drehbuchautor und Journalist. Welche Rolle spielen Literaten wie Sie in Ägypten vor und nach dem 25. Jänner?

Chalid al-Chamissi: Ich denke, bezogen auf die Revolution in Ägypten haben Menschen des kulturellen Lebens, wie Künstler oder Literaten, eine wichtige Rolle - das hatten sie bereits Jahre vor der Revolution. Revolutionen beginnen für gewöhnlich mit Ideen, nicht mit Demonstrationen. Wie können wir von der Französischen Revolution sprechen, ohne dabei an Jean-Jacques Rousseau, an Montesquieu oder an Diderot zu denken? Es ist unmöglich, über Lenins Revolution von 1917 zu sprechen, ohne dabei an Marx zu denken oder an die Revolution in Europa von 1968, ohne von Jean-Paul Sartre zu reden. Es beginnt immer mit Ideen. In Ägypten begann es mit revolutionären Ideen in allen kulturellen Bereichen. Ich gebe Ihnen einige Beispiele dafür: Von 2005 bis heute hatten wir in Kairo zwischen 30 und 40 neue Buchgeschäfte und letztendlich 50 neue Musikgruppen; etliche neue Verlagshäuser wurden gegründet. In fünf Jahren, von 2005 bis 2010, stieg die Zahl der Blogger von 20.000 auf 500.000. Sie können sich also vorstellen, dass diese Revolution stark kulturell geprägt war. Von der Revolution ergriffen wurde auch das Kino. Während in den vergangenen zwanzig Jahren nur idiotische Filme produziert wurden, gewannen im Jahr 2010 ägyptische Filme auf bedeutenden Filmfestivals. Auch das ist Revolution!

Ohne die Tausenden von Kunstschaffenden wäre die Revolution nicht möglich gewesen.

Ohne die Tausenden von Kunstschaffenden wäre die Revolution nicht möglich gewesen. Am 25. Jänner waren Massen von Literaten und Künstler in den Straßen von Kairo, Alexandria und Suez. Wir überlegten gemeinsam, wie wir die Revolution unterstützen konnten, was wir tun konnten. Kino und Kunst allgemein waren völlig integriert in die revolutionäre Bewegung - stellvertretend für viele ist hier die aus dem Libanon stammende und in Ägypten lebende Filmemacherin Arab Lotfi zu nennen [siehe dazu das mit ihr geführte Interview Widerstand in kleinen Geschichten, in: intifada Nr. 32].

Intifada: Würden Sie sich selbst als politischen Aktivisten bezeichnen?

Chalid al-Chamissi: Der Vater meines Großvaters war Rechtsanwalt und aktiv in der Revolution von Ahmed Urabi im Jahr 1881. Nach der Revolution war er in Tunesien im Exil. Durch das französische Protektorat konnte er wieder nach Ägypten einreisen und relativ normal leben. Die Revolutions-Idee ist also dementsprechend alt in meiner Familie. Als politischen Aktivisten würde ich mich aber nicht bezeichnen. Als Romanautor schreibe ich eine wöchentliche Kolumne in der ägyptischen Presse, um einen Stein in stehendes Wasser zu werfen und damit Ideengeber zu sein und Menschen in Richtung rationales Denken zu bewegen. Aber mein Traum als Autor ist es, Geschichten zu schreiben. In Ägypten sind wir aktuell an einem Wendepunkt der Geschichte angelangt. Wären wir das nicht, würde ich meine Anstrengungen und Energien ausschließlich darauf verwenden, fiktionale Literatur zu verfassen. Aber wir leben in einem entscheidenden Moment, und es gibt niemanden, der nicht versucht, die Zukunft Ägyptens politisch und soziologisch zum Besseren zu wenden. Aus diesem Grund bin ich derzeit auch journalistisch tätig.

Intifada: Wäre die Entwicklungen in Ägypten bis hin zur Revolution Inhalt einer Ihrer fiktionalen Geschichten - wie würde diese Geschichte enden? Was ist Ihr Wunsch für Ihr Land?

Chalid al-Chamissi: In Ägypten wurde mit der Revolution von 1881 ein liberales und säkulares Projekt gestartet, das eine Vielzahl von Feinden hatte. Heute ist unsere Rolle, dieses Projekt zu finalisieren und eine Regierung zu bekommen, die liberal, rational und säkular für die tatsächliche Entwicklung der Menschenrechte eintritt. Wir alle wissen, dass wir dieses Projekt umsetzen müssen. Es war der Traum der Revolutionen von 1881 und 1990. Ich denke, wir setzen aktuell diese Ernsthaftigkeit der Revolution fort; sie ist dazu da, dem liberalen, demokratischen Projekt zum Erfolg zu verhelfen.

Intifada: Welche Rolle spielt Religion im politischen Leben Ägyptens (Stichwort "Moslembruderschaft")?

Chalid al-Chamissi: Es geht mir im Folgenden nicht um Religion an sich, sondern um die Instrumentalisierung von Religion zu Regierungszwecken. Das Erstarken der Moslembruderschaft und religiöser Strömungen allgemein ist eng verbunden mit dem Versagen unseres Projektes. Als wir große soziale und ökonomische Probleme hatten, war die Moslembruderschaft am stärksten. Im Grunde ist es ganz einfach: Wenn wir erfolgreich sein werden hin zu einer Entwicklung, die auf Menschenrechten basiert, werden weder Moslembruderschaft noch Religion Macht haben. Als von einem besseren Morgen geträumt wurde - ich nenne die Jahre 1919, 1925, 1930, 1935 oder die Zeit um das Ende der 1950er- und 1960er-Jahre, gab es keine solchen Mächte. Wenn wir von einem besseren Morgen träumen, hegen wir keinerlei politisch-religiöse Gedanken. Wir können diesen Traum aufrechterhalten, indem wir an unser säkulares Projekt und an menschliche Entwicklung glauben und dafür eintreten. Es ist unvorstellbar, dass diese politischen Ideen ohne unser eigenes Zutun verwirklicht werden. Unglücklicherweise verstehen das viele Ägypter und auch Europäer nicht. Viele Ägypter können das nicht nachvollziehen, weil sie noch völlig im Albtraum der letzten dreißig Jahre gefangen sind - in einem echten Albtraum, der ein Desaster für jede Familie war, für jede Person. Konservative Ideen werden noch Jahre lang andauern, aber sie werden verschwinden, wenn wir erfolgreich sein werden darin, unseren Traum zu verwirklichen. Ich spreche, wie gesagt, von politischen Aspekten von Religion, nicht von Religion selbst. Für Ägypten war Religion immer sehr wichtig. Wir sind sehr religiöse Menschen, was logisch ist, weil wir Bauern sind. Alles ist eine Gabe Gottes: im Land, im Wasser, überall ist Gott zu finden. Ägypter sind sehr religiöse Menschen. Wenn sich aber eine Regierung der Religion bedient, behauptet sie, mit Gott zu sein und vergleicht sich letztendlich mit Gott.

Intifada: In diesem Fall hat sie immer Recht...

Chalid al-Chamissi: ... und die anderen haben immer Unrecht, weil sie gegen Gott sind. Wenn du so gesehen mit Gott regierst, ist es aus, weil es keine Entwicklungsmöglichkeit mehr gibt, weil immer alles Wort Gottes ist.

Intifada: In einem Vortrag im Mai in Graz haben Sie die Ägyptische Revolution mit einem Geist verglichen, der aus der Flasche kam.

Chalid al-Chamissi: Es ist kein Geist, sondern ein wunderbarer Dschinn, der über tausend Jahre in der Lampe eingesperrt war. Erst die Revolution hat diesen Dschinn aus seinem Gefängnis befreit. Die Diktatur, die Stagnation und die Verbote haben die Träume der ägyptischen Menschen eingesperrt. Der Dschinn ist der Traum der Ägypter, und dieser Traum war ruhig gestellt. Jetzt hat jeder Ägypter einen Traum für morgen. Nun ist alles möglich - ein Morgen ist möglich. Wir erleben heute in Ägypten ein echtes Dampfablassen. Es bedeutet, dass Menschen Anteil nehmen können und wollen, dass sie sich Wahlen stellen, Freiheit und Demokratie erfahren und erlernen wollen. Die Menschen sind neugierig, wollen erfahren, wie Dinge funktionieren - Freiheit zum Beispiel. Und auch für mich ist eine wesentliche Frage im Zusammenhang mit der Ägyptischen Revolution, was Freiheit bedeutet. Der Dschinn ist aus der Flasche, und alles ist möglich.


Chalid al-Chamissi, geboren 1962 in Kairo, entstammt einer literarisch aktiven Familie mit kommunistischem Hintergrund. Er studierte Politikwissenschaften an der Universität Kairo und an der Sorbonne. Der kritische Beobachter gesellschaftlicher Verhältnisse aarbeitet als Autor, Journalisten, Produzent, Regisseur und als Spiel- und Dokumentarfilmautor. Jüngstes Buch: Im Taxi. Unterwegs in Kairo. Basel: Lenos 2011. (Weitere Infos unter: www.khamissi.com)

Raute

KULTUR

Footnotes in Gaza

Von Tamara Rennein

Anhand seines jüngsten Comics veranschaulicht der Graphic-Novelist Joe Sacco, dass die vermeintlich unscheinbaren Fußnoten der Geschichte die Gegenwart oft maßgeblich mitbestimmen.


Nach seinen bereits 1993 veröffentlichten Einzelcomics und darauf folgenden Graphic-Novels über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien kehrt Joe Sacco mit seinem jüngsten Comic thematisch wieder zurück nach Palästina. Während jedoch Palestine, Saccos erster Nahost-Band, einen umfassenden Überblick zu Entstehung und Fortgang des Konflikts bietet, legt der Comiczeichner in Footnotes in Gaza verstärkt Augenmerk auf die unscheinbaren Begebenheiten im Alltag der in Gaza lebenden palästinensischen Bevölkerung. Es sind die im Weltgeschehen als unbedeutend abgetanen Ereignisse der Vergangenheit, denen Sacco nachgeht und die er im Hinblick auf das aktuelle politische Geschehen in der Region als bedeutsam entlarvt.

Wie in seinen früheren Büchern, so ist auch die Geschichte in Footnotes in Gaza im selben Ausmaß simpel wie schockierend: Ein Journalist bereist im Zuge der Berichterstattung Krisengebiete dieser Welt - aktuell das 360 Quadratkilometer große und knapp 1,5 Millionen Menschen beherbergende palästinensische Autonomiegebiet am Mittelmeer. Was er dort vorfindet, verarbeitet der im Comic wie im wahren Leben als Journalist tätige Joe Sacco in schwarz-weiß gehaltenen Zeichnungen. Neben gewohnten Erzählsträngen werden den Rezipientinnen und Rezipienten auch die Beweggründe des Journalisten Joe geoffenbart. Denn der Beobachter unterzieht sich selbst ständiger Beobachtung und fragt immer wieder nach den persönlichen, hinter der Sensationsgier nach Geschichten liegenden Motiven für seine Reise. Damit übt er indirekt Kritik an einer journalistischen Jagd nach Tragödien.

Footnotes in Gaza liegt ein in der Öffentlichkeit vernachlässigter Massenmord zugrunde: das am 12. November 1956 an palästinensischen Männern verübte Massaker in Khan Younis nahe der palästinensisch-ägyptischen Stadt Rafah. Da in keinem namhaften westlichen Medium Informationen über diese seitens der israelischen Armee verübte Gräueltat gefunden werden konnte, machte sich Joe Sacco im November 2002 auf nach Gaza. In den folgenden vier Monaten sammelte er Augenzeugenberichte über die knapp fünf Jahrzehnte zurückliegenden Morde, wobei er sowohl in Gaza lebende Palästinenserinnen und Palästinenser als auch israelische Soldaten interviewte. (Am Ende des Buches findet sich eine umfassende Auflistung der verwendeten Quellen sowie der mit israelischen Soldaten geführten Gespräche.) Footnotes in Gaza lebt deutlich von Tragödien auf beiden Seiten, wobei klar bleibt, wer Aggressor ist. Allein damit erweist sich Sacco als sensibler Beobachter eines Konfliktes, der zur Langzeittragödie avancierte und dessen Vermittelbarkeit sprachlich eine Herausforderung bleibt - vielleicht ein Grund, warum der 51-jährige maltesisch-amerikanische Journalist vorwiegend in Bildern "schreibt".

Die im Titel angekündigten Fußnoten prägen den Comic in zweierlei Hinsicht: Als historische Fakten und als persönlich Erlebtes der Protagonistinnen und Protagonisten. In beiden Fällen bestimmt das Geschehene die Gegenwart mit - sowohl im politisch-gesamtgesellschaftlichen Kontext als auch im Alltag der jeweiligen Personen und beeinflusst den aktuellen Konflikt nicht unwesentlich. "History can do without this footnotes. Footnotes are inessential at best; at worst they trip up the greater narrative." Für Joe Sacco erweisen sich die kleinen Fußnoten der Geschichte als nicht vernachlässigbare Größe hinsichtlich des Verstehens großer Erzählungen - wobei im Falle der schmerzlichen Historie Palästinas sofort die Frage auftaucht, inwieweit im Sinne eines ganzheitlichen Erfassens der Wirklichkeit verstanden werden kann.


Literatur:

Joe Sacco: Footnotes in Gaza. New York: Metropolitan Books 2009. [ISBN: 978-0-8050-7347-8]

Von Joe Sacco außerdem erschienen (Auswahl): Palestine (2001) [1993-1995 bereits als Einzelcomics publiziert]), The Fixer: A Story from Sarajevo (2003), Notes from a Defeatist (2003), But I Like it (2006).

Raute

AUTOR/INNEN

Mohammad Aburous geboren 1976 in Palästina. Lebt derzeit in Österreich. Studierte technische Chemie an der TU Wien und dissertierte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Mitgestalter des Österreichisch-Arabischen Kulturzentrums in Wien.

Margarethe Berger geboren 1968 in Wien, studierte Slawistik an der Universität Wien, wiederholte Reisen in den arabischen Raum und Lateinamerika.

Muna El Shorbagi geboren 1962 in Deutschland. Lebt seit über 20 Jahren in Kairo. Studierte Politik und Islamwissenschaft an der FU Berlin. Arbeitet seit 15 Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit im arabischen Raum und schreibt z.Zt. an ihrer Doktorarbeit über den Einfluss der ägyptischen militanten Islamisten.

Essam Fawzi geboren 1958 in Ägypten. Studierte Anthropologie, Soziologie und Ingenieurswissenschaften an der Kairo Universität. Verfasste zahlreiche Publikationen zu verschiedenen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Themen sowie Skripte und Konzepte für Filme.

Imad Garbiya ist seit Jahrzehnten tunesischer Aktivist des sozialistisch-panarabischen Milieus und lebt im Exil in Österreich.

Stefan Hirsch geboren 1976 in Wien, studierte Geschichte und Geografie an der Universität Wien, arbeitet im Bildungsbereich.

Gregor Kneussel geboren 1973 in Wien, studierte Sinologie und arbeitet als Übersetzer und Lektor in Beijing.

Wilhelm Langthaler geboren 1969. Arbeitet als technischer Angestellter in Wien. Aktivist der Antiimperialistischen Koordination. Zahlreiche Reisen zu den Zentren des Widerstands, insbesondere am Balkan, in den Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent. Autor der Bücher Ami go home und Befreiung weltweit, erschienen im Promedia Verlag.

Ali Nasser geboren 1973 in Damaskus. Studierte Informatik an der TU Wien. Aktivist der Antiimperialistischen Koordination.

Madawi Rashid wurde in Saudi-Arabien geboren und ist Professorin für Sozialanthropologie am Kings College, London. Sie forscht zu Geschichte, Gesellschaft, Religion und Politik in Saudi-Arabien und im Golf, christlichen Minderheiten im Nahen Osten, arabischer Migration, islamistischen Bewegungen, sowie Staat- und Genderbeziehungen.

Isa Tamara Rennein geboren 1983 in Bruck an der Mur. Studium der Philosophie und Politikwissenschaften in Wien und Berlin. 2006 mehrmonatiger Aufenthalt in El Salvador im Rahmen eines länderübergreifenden Austauschprogrammes.

Albert F. Reiterer geboren 1948 in in Schiefling-Schönberg in Kärnten, arbeitet als freiberuflicher Sozialwissenschafter. Habilitation für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Verschiedene Lehraufträge an den Universitäten Wien und Innsbruck.

Anna Maria Steiner geboren 1976 in Lienz, studierte Theologie, Deutsche Philologie und Philosophie (Schwerpunkt Jüdische Philosophie). Sie lebt in Graz, wo sie u.a. Chefredakteurin einer Zeitschrift ist und Violoncello spielt.


*


Impressum

AIK
www.antiimperialista.org

Medieninhaber, Herausgeber und Verleger:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien, Österreich;
Verlags- und Herstellungsort: Wien;
Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz der Republik Österreich:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien
Grundlegende Richtung: Für einen gerechten Frieden im Nahen Osten.

Redaktion
Mohammad Aburous, Margarethe Berger, Gernot Bodner, Stefan Hirsch,
Wilhelm Langthaler, Isa Tamara Rennein

Kontakt
www.intifada.at
Antiimperialistische Koordination
Postfach 23, 1040 Wien, Österreich
Konto lautert auf Verein Vorstadtzentrum
Bank: BAWAG (BLZ 14000)
Konto-Nr.: 02510080702
BIC: BAWAATWW
IBAN: AT 381400002510080702

Beiträge
Die nächste Ausgabe der Intifada erscheint im Frühling 2012.
Wir freuen uns über die zeitgerechte Zusendung von Texten.

Anzeigen
Wir sind sowohl an bezahlten als auch an Austauschanzeigen oder Gegengeschäften
interessiert.

Abo
Intifada-Abonnement: 5 Zusendungen - 20 Euro
Förderabo: 5 Zusendungen - 25 Euro
Institutionen: 5 Zusendungen - 30 Euro
www.intifada.at/abo

Verkauf
Wir sind auf jene angewiesen, die aus politischer Sympathie die Zeitschrift in ihrer Stadt
oder Region dem interessierten Publikum anbieten und weiterverkaufen.


*


Quelle:
Intifada Nummer 34 - Herbst/Winter 2011
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand
Internet: www.antiimperalista.org/intifada.htm


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2011