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IZ3W/181: Rezension - Vergangenheitspolitik in Lateinamerika


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 313 - September/Oktober 2009

Vergangenheitspolitik in Lateinamerika

Von Carola Haug


Ein Verständnis von Geschichtspolitik, das sich auf die politische Instrumentalisierung von Geschichte durch politische AkteurInnen beschränkt, würde dem diesjährigen Jahrbuch des Österreichischen Lateinamerika-Instituts nicht gerecht werden. Vielmehr verwendet der Sammelband Vielstimmige Vergangenheiten - Geschichtspolitik in Lateinamerika einen bewusst offen gehaltenen Begriff, der sich als analytische Kategorie durch das Buch zieht und sich nicht auf eine Akteursebene beschränkt: »Es gibt kein Denken, Sprechen und Schreiben über Geschichte, das nicht auch einen gewissen Anteil an Geschichtspolitik aufwiese.« In diesem Sinne wird gar nicht erst versucht, ein klar definiertes Feld abzustecken, sondern stattdessen die heterogenen Möglichkeiten, sich dem Thema anzunähern, in der Themenvielfalt der Aufsätze widergespiegelt. Die Herausgeber formulieren als übergreifende Fragestellung der deutschen, englischen und spanischen Beiträge: »Wer spricht über Geschichte in welchem sozialen Kontext, mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck?«

Im zweiten Teil des Sammelbandes wenden sich die einzelnen Beiträge auch verschiedenen AkteurInnen zu, werfen die Frage nach ihrer Bedeutung in geschichtspolitischen Kontroversen auf und versuchen diese zu entmarginalisieren. Jens Kastners Aufsatz »Zeitgenössische Kunst als erinnerungspolitisches Medium in Lateinamerika« etwa thematisiert theoretisch und anhand von Beispielen aus Mexiko, Guatemala und Argentinien, wie Kunst in die Konstituierungsprozesse kollektiver Vergangenheit involviert ist. Auch der Beitrag von Stefanie Kron (»Am Rande erzählt. Geschichtspolitiken im Kontext von transnationaler Migration, Exil und Diaspora«) wendet sich einer Gruppe marginalisierter Akteurinnen zu. Anhand einer Genderanalyse von Erzählungen der Rückkehr guatemaltekischer Kriegsflüchtlinge aus dem mexikanischen Exil verdeutlicht sie, wie alternative historische Konstruktionen (counter narratives) politische Subjekte hervorbringen können.

Obgleich länderspezifische Beispiele präsentiert werden, sind diese kaum in einen rein nationalen Kontext gebettet. Mittels ihrer länderübergreifenden Perspektive wird offensichtlich, dass die Herausgeber ein transnationales Verständnis von Geschichtspolitik nahe legen möchten. Dass sich dieses nicht einmal auf den geographischen Raum »Lateinamerika« beschränken muss, zeigt der Artikel von Stephan Scheuzger über transnationale Expertennetzwerke von Wahrheitskommissionen. Ein Sammelband, der über starren Kategorisierungen steht und weitreichende Flexibilität fordert. Auch der Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission Perus, Wider das Vergessen, Yuyanapaq, der sich mit der intensiven Gewalt in den 1980er und 1990er Jahren beschäftigt, beschränkt sich nicht auf einen Blickwinkel. Die maoistische Organisation »Leuchtender Pfad« (Sendero Luminoso) setzte mit dem ersten Gewaltakt 1980 in Ayacucho einen Prozess in Gang, in dessen Verlauf die Regierung den Streitkräften die Führungsrolle im Kampf gegen die 'Subversion' überließ. Es kam zu einer Militarisierung des Konfliktes, der sich vom südlichen Teil der zentralen Anden auf ganz Peru ausdehnte. Opfer der Gewalt war größtenteils die ländliche quechuasprachige Zivilbevölkerung, deren Grundrechte nicht gesichert wurden. Bewaffnete, politische und gesellschaftliche AkteurInnen, Opfer, Schauplätze, verübte Verbrechen, psychische Auswirkungen auf die Bevölkerung - der Wahrheits- und Versöhnungskommission ist es gelungen, die Vielschichtigkeit des Konfliktes zu vermitteln. Ein Gesamtplan zur Wiedergutmachung und zur Versöhnung rundet den Bericht ab.

Wünschenswert wäre jedoch eine explizite Selbstreflexion der Kommissionsmitglieder gewesen, umso mehr, da diese im Gegensatz zu den Wahrheitskommissionen anderer lateinamerikanischer Länder internationale SpezialistInnen nicht direkt beteiligte. Ein einfaches »Ihre Mitglieder waren von der Regierung völlig unabhängig« stellt bei einem derart tief greifenden Thema keine ausreichende Auseinandersetzung dar.


Berthold Molden/ David Mayer (Hg.):
Vielstimmige Vergangenheiten - Geschichtspolitik in Lateinamerika.
Reihe: Atención! Jahrbuch des Österreichischen Lateinamerika-Instituts (Band 12) Wien 2009
296 Seiten, 24,90 Euro.

Salomón Lerner Febres/ Josef Sayer (Hg.): Wider das Vergessen, Yuyanapaq. Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission Peru. Ostfildern 2008. 208 Seiten, 16,90 Euro.


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 314 - September/Oktober 2009


THEMENSCHWERPUNKT: Alte Zeiten, neue Zeiten - Zentralasien postsowjetisch

Die historische Wende von 1989 ff. und der Siegeszug des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells haben nirgendwo größere Auswirkungen gehabt als in den Staaten und staatsähnlichen Gebilden, die aus der Sowjetunion hervorgingen. Über Russland und die osteuropäischen Länder ist hierzulande inzwischen einiges Wissen verbreitet. Die zentralasiatischen Länder Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan sind hingegen auf unserer Mental Map weitgehend eine terra incognita geblieben.

Ein Zufall ist das wohl kaum. Zentralasien war nicht nur die Peripherie des zaristischen Russlands, sondern auch der (Ex-)Sowjetunion. Hier herrschte jahrzehntelang der russische Kolonialismus und nach der Oktoberrevolution wurde der dort lebenden Bevölkerung erneut Gesellschafts- und Politikmodelle oktroyiert, die in Russland entstanden waren. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die staatliche Unabhängigkeit stellten die fünf zentralasiatischen Staaten vor enorme Herausforderungen. Nach dem Systemwechsel von 1991 waren es dann westliche Vorstellungen von Demokratisierung und Wirtschaftsliberalismus, die eine glorreiche Zukunft versprachen - und weitgehend fehlschlugen. Unser Themenschwerpunkt fragt nach den vielfältigen Problemen, die die diversen Systemwechsel in Zentralasien hervorbrachten, und die massiv die Gegenwart bestimmen.


INHALTSÜBERSICHT

Schwerpunkt: Alte Zeiten, neue Zeiten
Zentralasien postsowjetisch

Hefteditorial: Wüste Pläne


Politik und Ökonomie

Sri Lanka: "Kriegsende ohne Frieden"
In Sri Lanka wird militärisch aufgerüstet
von Fabian Kröger

Peru: Der Hund des Gärtners beißt zurück
In Peru erstarkt eine politische Indígena-Bewegung
von Hildegard Willer

China: Der gute Mensch von Sezuan
Eine kleine Farce über Nothilfe in China
von Wolf Kantelhardt

Mexiko: Femizid: Ein Verbrechen aus Hass
Wenn Morde an Frauen straffrei bleiben
von Mariana Berlanga

Geopolitik: Raum, Macht und Ideologie
Die anhaltende Bedeutung von Geopolitik und Politischer Geographie
von Sören Scholvin


Themenschwerpunkt: Zentralasien

Editorial

Unabhängigkeit von oben
Eine vorläufige Bilanz der postsowjetischen Systemtransformation in Zentralasien
von Tobias Kraudzun, Ellen Nötzel, Yulia und Michael Schulte

Weiße Elefanten sterben nicht aus
Die ökologische Frage in Zentralasien bleibt ungelöst
von Jenniver Sehring

Unser gemeinsames Haus
Kirgistan auf der Suche nach einer Nation
von Alexander Wolters

Peripherie mit starkem Staat
Zentralasien oszilliert zwischen Rohstoffreichtum und nackter Armut
von Tomasz Konicz

Mit der Bahn nach Kasachstan
Die deutsche Außenpolitik nimmt Zentralasien ins Visier    
von Jörg Kronauer

Ungeliebte Nachbarn
In Russland sieht man von oben auf Zentralasien herab
von Ute Weinmann

»Schaut euch unsere Gebäude an«
Die Umbrüche in Zentralasien verändern auch die Gestalt der Städte
von Wladimir Sgibnev

Bauboom für Moscheen
Die Re-Islamisierung in Zentralasien ist nicht mit Islamismus gleichzusetzen
von Sören Scholvin


Kultur und Debatte

Rassismus: 25 Jahre »Marche des Beurs«
Ein Rückblick auf Kämpfe der Migration in Frankreich
von Kolja Lindner

Film: »Das Sektiererische aufbrechen...«
Interview mit der Filmproduzentin Irit Neidhardt über »The One Man Village«

Musical: »Die Geschichte hat mich eingeholt«
Interview mit dem Hiphop-Musiker Yan Gilg über sein Stück »A nos morts«

Debatte: Auf der Suche nach Relativierungen
Eine Antwort auf Réne Wildangels Replik zum Themenschwerpunkt »Nazi-Kollaborateure«
von Karl Rössel

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 314 - September/Oktober 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2009