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IZ3W/184: Editorial von Ausgabe 315 - Schlimmer geht's immer!


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 315 - November/Dezember 2009

Editorial
Schlimmer geht's immer!


Neulich, am linken Stammtisch, da schlugen die Wellen hoch:

Hast du das neulich mitbekommen? Wie Guido Westerwelle den BBC-Reporter angeblafft hat, nur weil der ihn was auf Englisch gefragt hat? »Es ist Deutschland hier!« Brrr. Mit dem als Außenminister können wir uns ganz warm anziehen. Dieser Unsympath, der steht prototypisch für Schwarz-gelb. Eine Vollkatastrophe wird das in den nächsten vier Jahren.

Ach was, halb so wild. Der Typ hat wenigstens Unterhaltungswert. Der radebrecht in bester Lübke-Manier. Schau mal den unvergesslichen Auftritt bei Youtube an: »The Aufschwung ist da«.

Ich find's eine Unverschämtheit, wenn ein Außenminister auf Englisch stammelt, als habe er nicht mal Mittlere Reife. Jeder Praktikant in einer NGO muss fließend Englisch können. Aber ein deutscher Außenminister wohl nicht. (Imitiert Westerwelle): »Ich bin ja schon in vielen Hauptstädten der Welt gewesen, und Sprachkompetenz war noch niemals ein Thema«. Von wegen »Leistung muss sich wieder lohnen«! Überhaupt regt der Westerwelle mich total auf, mit seiner ständigen routinehaften Empörung, dem professionellen Beleidigtsein, diesem aggressiven Reklamegrinsen.

So what? Was soll an dem schlimmer sein als an anderen deutschen Politikern, inklusive seiner Vorgänger? Dieser unerträgliche Obermacho Joschka Fischer? Der jetzt die Nabucco-Pipeline durchpusht, damit sein anderer Auftraggeber BMW weiterhin Spritschlucker bauen kann? Oder Steinmeier, der Apparatschik, der jedem Kriegskredit zustimmen würde? Nee, ich finde es eine wunderbar ironische Volte des Weltgeists, dass jetzt ausgerechnet unter einer konservativ-bürgerlichen Regierung Deutschland von einem schwulen Außenminister repräsentiert wird. Und von einer Bundeskanzlerin. Stell dir mal die saure Miene von König Abdullah vor, wenn die beiden auf Staatsbesuch nach Saudi-Arabien kommen! Oder den katholischen Klerus bei einer Papstaudienz? Obwohl, lila Fummel haben die ja immerhin schon. Haha!

Ach, hör auf, da kommt doch nur deine verschwiemelte Homophobie zum Vorschein. Das ist ja wohl vollkommen wurscht, ob Merkel und Westerwelle jetzt Frau sind oder schwul oder sonstwas, solange sie katastrophale Politik machen. »Wandel durch Handel« will Westerwelle, das bedeutet nichts anderes als die vollkommen ungehinderte Durchsetzung deutscher Konzerninteressen in aller Welt. Da brechen jetzt alle Dämme, jegliche Sozialklausel im Welthandel wird eingestampft. Ist ja »Wettbewerbsverzerrung« oder sogar »Diskriminierung«. Es ist einfach unglaublich, dass ausgerechnet die Turbo-Neoliberalen von der Krise profitieren. Die haben sie uns doch überhaupt erst eingebrockt, mit ihrem Scheiß-Marktradikalismus. Schnaps gegen Alkoholismus! Da verzweifelt man echt am »Wählerwillen«. Der ist in Wirklichkeit ein Wille zum Quälen!

Stimmt. Aber jetzt mal ganz im Ernst: Schwarz-gelb wird viel größere Probleme haben, reaktionäre oder neoliberale Projekte durchzukriegen, als Rot-grün oder Rot-schwarz. Rot-grün hat sich doch letztlich als größeres Übel entpuppt. Wie die den Kosovo-Krieg in der Öffentlichkeit als humanitäre Mission verkaufen konnten, das wäre einer konservativen Regierung nicht möglich gewesen. Oder die Agenda 2010, mit der Rot-grün beispiellosen Sozialabbau durchboxen konnte. Im Vergleich dazu waren Kohl und die CSU Herz-Jesu-Marxisten. Und sie hätten die Gewerkschaften und den kritischen Teil der Öffentlichkeit nicht so einfach paralysieren können.

Naja, bei aller Kritik an Rot-grün: Schlimmer geht's immer! Zum Beispiel will die FDP jetzt das Entwicklungshilfeministerium abschaffen. Oder es dem Außenministerium angliedern. Damit ist es dann endgültig marginalisiert. Oder noch schlimmer, das BMZ wird zum bloßen Erfüllungsgehilfen für deutsche Außenwirtschaftspolitik umgemodelt. Da werden dann gerade die sinnvollen Projekte abgewickelt. Und die NGOs haben nichts mehr zu lachen, denen wird der Geldhahn abgedreht. Zumindest den halbwegs kritischen.

Sooo dolle ist die Bilanz der roten Heidi nun auch wieder nicht, dass man ihr Tränen nachweinen muss. Die 0,7-Prozent-Debatte steht genau da, wo sie vor elf Jahren war. Die Entwicklungsbürokratie bei GTZ und KFW blüht weiter. Public Private Partnership Programme sind auf dem Vormarsch, und, und, und. Am meisten regt mich aber an der Wieczorek-Zeul auf, dass sie ständig den Amis die Schuld an allen Übeln der Welt gab. Nur um sich und Deutschland dann als Weltretter zu präsentieren. Und was ist mit den deutschen Waffenexporten? Die sind während ihrer Amtszeit nicht gesunken.

Da kann HWZ doch nichts dafür. Die hat sich nicht nur deswegen immer mit dem Wirtschaftsministerium angelegt. Die hat ein ganz anderes Format als Westerwelle!

Träum weiter... ich geh schlafen. Morgen ist die Demo gegen den Abschiebeknast, da geh ich hin. Gute Nacht!
Gute Nacht! Und grüß

die red action

PS: A propos »Leistung muss sich wieder lohnen«: Lübke-Englisch können wir zwar nicht in Perfektion bieten. Aber dafür viele kritische Analysen aus aller Welt, und nicht nur aus den Hauptstädten. Weil das alles Geld kostet und dieses zumindest im iz3w knapp ist, bitten wir um freundliche Beachtung des beiliegenden Spenden-Überweisungsformulars.

PPS: Alle Jahre wieder ... braucht man zu einem gewissen Anlass Geschenke. Wie wäre es in diesem Jahr mit einem Geschenkabo?


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 315 - November / Dezember 2009


THEMENSCHWERPUNKT:
Digitale Welten - SoftWares und das Internet

Über 1,2 Milliarden Menschen weltweit und über die Hälfte der EU-BürgerInnen nutzen inzwischen das Internet. Die IT-Kommunikation wird in gelegentlich aber immer noch in überirdischen Metaphern beschrieben: "Nur gut, dass man das Internet nicht hören kann, denn allein das chinesische Netzgeschnatter wäre wohl laut genug, um das gesamte Universum zum Einsturz zu bringen", schreibt Christian Y. Schmidt in seinem neuen China-Buch "Bliefe von dlüben". Die Volksrepublik steht mit über 300 Millionen registrierten InternetnutzerInnen weltweit an erster Stelle derer, die spielen, chatten, posten und bloggen, "was die Tasten hergeben".

Wenn vom Süden und dem Internet die Rede ist, muss man auch über die "digitale Kluft" sprechen. Da schon heute in absoluten Zahlen rund 60 Prozent der InternetnutzerInnen im Süden leben, ist eine weitere entscheidende Frage zur digitalen Welt, wie die digitale Kommunikation im Süden genutzt wird. Und gerade in autoritären Regimes spielt das Internet eine wichtige Rolle für dissidente Sichtweisen: Freiheitsbestrebungen, die im politischen Raum scheitern, lassen sich im Netz kaum unterdrücken.

Themen im Schwerpunkt:
Im Netz von Clans - Global verteilte Gemeinschaften statt globaler Gesellschaft + Internet-Vernetzung für Weltverbesserer + to be bangalored... - Internationale Arbeitsteilung in der Softwareindustrie + Copy light - Freie Software und globale Emanzipation + Agender, Bigender, Genderqueer - Feministische Auseinandersetzungen um das Internet + "Das Internet wird überbewertet" - Interview mit John Bwakali über Indymedia Kenya + "Schluss mit dem Kulturpessimismus" - Interview mit Geert Lovink über die neuen Kommunikationsmittel

Weitere Themen im Heft:

Politik und Ökonomie:
Mexiko: Arbeitskampf Contra Continental + Erfolgreiche Skandalisierung - Das NoBorder-Camp auf der griechischen Insel Lesbos + Migration: Ohne Sprachzertifikat kein Ehegattennachzug + Menschenrechte: Erfahrungen mit Kinderrechten in Guatemala und Indien + Chile: Geschichtspolitik um den 11. September + Drogenpolitik: Die ekuadorianische Regierung zwischen Repression und Liberalisierung

Kultur und Debatte:
Film: Der Regisseur Barry Barclay und das indigene Kino aus Neuseeland + Vergangenheitspolitik: Der Berliner Streit um die Ausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" + Nationalsozialismus: Interview mit Raffael Scheck über sein neues Buch "Hitlers amerikanische Opfer"



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INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial: Schlimmer geht's immer!


Politik und Ökonomie

Arbeitskämpfe: Contra Continental
Ein mexikanischer Arbeitskampf fordert deutsche Gewerkschaften heraus Interview mit Lars Stubbe

NoBorder: Erfolgreiche Skandalisierung
Das NoBorder-Camp auf der griechischen Insel Lesbos
von Miriam Edding

Migration: »Ihr wollt uns nicht«
Ohne Sprachzertifikat kein Ehegattennachzug
von Katja Giersemehl

Menschenrechte: Die Ohnmacht des Rechts
Erfahrungen mit Kinderrechten in Guatemala und Indien
von Manfred Liebel

Chile: Erinnern, um zu vergessen
Geschichtspolitik um den 11. September in Chile
von Sebastian Sternthal

Drogenpolitik: »Legt euch nicht mit Ekuador an!«
Die Drogenpolitik der Regierung Correa zwischen Repression und Liberalisierung
von Linda Helfrich


Schwerpunkt: Digitale Welten

Editorial

Im Netz von Clans
Global verteilte Gemeinschaften statt globaler Gesellschaft
von Karsten Weber

Internet-Vernetzung für Weltverbesserer
von Sascha Klemz

to be bangalored - or not to be
Internationale Arbeitsteilung in der Softwareindustrie
von Vaba Mustkass und Winfried Rust

Copy light
Freie Software und globale Emanzipation
von Stefan Meretz

Agender - Bigender - Genderqueer
Feministische Auseinandersetzungen um das Internet
von Tanja Carstensen

»Das Internet wird überbewertet«
Interview mit John Bwakali über Indymedia Kenya

»Schluss mit dem Kulturpessimismus!«
Interview mit Geert Lovink über die neuen Kommunikationsmittel


Kultur und Debatte

Film: Der Wegbereiter
Barry Barclay und das indigene Kino aus Neuseeland
von Ulrike Mattern

Vergangenheitspolitik: Erinnerung als Politikum Der Berliner Streit um die Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«

Nationalsozialismus: »Sie wurden einfach erschossen«
Interview mit Raffael Scheck über sein Buch »Hitlers afrikanische Opfer«

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 315 - November / Dezember 2009, Seite II
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2009