Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IZ3W/215: Rezension - Südafrika - Die Grenzen der Befreiung


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 318 - Mai / Juni 2010

Südafrika - Die Grenzen der Befreiung.

Von Kolja Lindner


Die Phase euphorischer Hoffnung auf ein gutes Leben für alle ist vorbei. Immer häufiger wird Südafrika mit dem Begriff Post-Apartheid-Gesellschaft charakterisiert. Das doppeldeutige »Post« beinhaltet zum einen die Altlasten eines psychologisch und institutionell tief ankernden Rassismus, zum anderen die neuerlichen Formen der Ausgrenzung und Ausbeutung entlang rassistischer Kategorien sowie Klassen- und Geschlechtsidentitäten. Die einstige Solidaritätsbewegung gibt sich inzwischen enttäuscht über das Scheitern der Rainbow-Nation. Ihre Vorwürfe an die südafrikanische Regierung lauten meist, die von der internationalen Gebergemeinde überstülpte neoliberale Politik und die ökonomische Durchdringung aller Lebensbereiche akzeptiert zu haben. Es bleiben wenige, die am Potenzial südafrikanischer sozialer Bewegungen festhalten. Gegen diese Mattigkeit gibt es ein wirksames Mittel: Das Buch Die Grenzen der Befreiung. So haben Jens Erik Ambacher und Romin Khan ihren Sammelband über Südafrika genannt, in dem hauptsächlich südafrikanische AutorInnen die gesellschaftlichen Prozesse beschreiben, die das Land in Bewegung halten. Die Herausgeber bieten eine mitreißende Analyse, indem sie die machtpolitischen und psychologischen Abgründe und Widersprüchlichkeiten der sozialen Kämpfe ausbuchstabieren lassen. Dadurch gelingt es, die verflochtenen Verhältnisse darzustellen, in denen die Versuche der Überwindung von race & class & gender ständig zurückgeworfen werden.

Dass selbst augenscheinlich entgegen gesetzte Schlussfolgerungen in dem Buch Platz finden, ist eine Bereicherung. Dale McKinley merkt an, dass es ein Fehler gewesen sei, die Möglichkeit eines nicht-rassistischen Kapitalismus nicht mitzudenken. Greg Ruiters zeigt demgegenüber, wie ein neoliberales Wohlfahrtsmodell sozialer Grundversorgung zu einem technokratischen Kontrollsystem geworden ist, das auch ohne rassistische Aussonderung Armut festschreibt. Achille Mbembe argumentiert ebenso überzeugend, dass der Kapitalismus Reichtum und Armut ständig neu kreiert, solange das rassistische Verhältnis existiert - nicht nur, aber hauptsächlich entlang rassistischer, klassen- und geschlechterspezifischer Ein- und Ausschlussmechanismen. Patrick Bond hält die Stadtentwicklung etwa von Johannesburg mit einem auf Hochglanz polierten Stadtkern und illegalisierten Hüttensiedlungen an den Rändern für ein Abbild der Normalisierung rassifizierter Strukturen.

Ein tief verinnerlichtes Erbe rassischer Identitäten und geschlechterspezifischer Gewalt - oder auch Privilegien - macht es möglich, dass sich in Südafrika trotz Affirmative Action und Black Economic Empowerment soziale Spaltungen vertiefen. Gewalt gegen Frauen (Rita Schäfer) und vermehrt gegen MigrantInnen gehören trotz fortschrittlicher Verfassung zur Alltagserfahrung. Neville Alexander argumentiert, 'rassische' Kategorien so anachronistisch wie »Hexen« zu betrachten und vorzugeben, farbenblind zu sein, führe dazu, die historische Chance einer rassenlosen Gesellschaft zu vertun. Michael Neocosmos und Oupa Lehulere gehen darauf ein, dass Südafrika nicht nur ein altes innergesellschaftliches Problem zu lösen hat, sondern kraft seiner hegemonialen Stellung und wirtschaftlichen Macht in der Region auch die soziale Lage außerhalb der Landesgrenzen beeinflusst - und entrechtete Lebensrealitäten für MigrantInnen schafft. Die Feststellung Neocosmos, der Geburtsfehler Südafrikas sei die Bindung von freiheitlichen Rechten an die Staatsbürgerschaft, ist ebenso banal wie richtig. In Kombination mit der weitreichenden Ignoranz der Gewerkschaftsverbände gegenüber den Problemen der MigrantInnen und einer, wie Lehulele zeigt, ausnehmenden Depolitisierung der ArbeiterInnen konnten sich reaktionäre Tendenzen ausbreiten. Auch soziale Bewegungen seien vom nationalistischen »Proudly South African«-Gehabe nicht frei und hatten der xenophoben Gewalt nichts entgegenzusetzen, als sich reaktionäres Gedankengut in einer Hetzjagd gegen die »Anderen« entlud. Offene Grenzen für alle und Solidarität unter ArbeiterInnen und Arbeitslosen ist für ihn die Voraussetzung einer emanzipatorischen Selbstermächtigung.

Das Verhältnis zwischen race and class bleibt letztlich voller Spannung. Betont wird in dem Buch mehr die Forderung nach Klassensolidarität, über rassifizierte Kategorien hinweg. Doch auch eine starke Klassenzugehörigkeit kann zu Grenzziehungen führen und ist auf der Suche nach Befreiung vor identitären Fallstricken nicht gefeit.

Davon abgesehen bleibt das Buch ein großer Gewinn, auch wegen der Unnachgiebigkeit der AutorInnen in einem Punkt: Sie setzen alles daran, sich aus Selbstmitleid und von Verletztheiten zu befreien. Das Festhalten daran, so meinen sie, steht der Überwindung der rassistischen Spaltung genauso im Wege wie die durch Privatisierung der Grundversorgung erzeugte Armut. Ashwin Desais Aussage »Die Menschen erkennen wieder einmal, dass sie Geschichte machen können«, mag euphemistisch klingen. Doch sie beschreibt am besten, was sich im Mikrokosmos des Alltags in Südafrika ereignet: Einflussreiche Beharrungskräfte und ein ungebrochener Veränderungswille sind zeitgleich am Werke und verhandeln die Zukunft der Gesellschaft. Es gibt keinen Grund, in dieser Situation die Solidarität aufzugeben.


Jens Erik Ambacher/ Romin Khan (Hg.):
Südafrika - Die Grenzen der Befreiung
Assoziation A, Berlin/Hamburg 2010. 263 Seiten, 16 Euro


*


Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 318 - Mai / Juni 2010


Themenschwerpunkt:
Klare Fronten - Alte und neue Grenzregimes

Allen Debatten von der "De-Nationalisierung" zum Trotze durchziehen zahlreiche Grenzen den gesellschaftlichen Alltag. Der angebliche Abbau von Grenzen in Europa bedeutet nichts anderes als deren Verlagerung, nach innen wie nach außen. Schlussendlich dreht sich vieles weiterhin um die spezifische, historische Grenze: Die alt-umkämpfte Landesgrenze im Raum und in den Köpfen. Ihre Wirkungsmacht hat sie nicht verloren, nur sieht man sie mitunter nicht mehr.

Ein ernsthaftes Problem der begrenzten Welt sind die vielen Menschen, die den Grenzen auch heute zum Opfer fallen. Um von der armen zur reichen Hemisphäre zu gelangen, sterben tausende Menschen schon bei dem Versuch, die Außengrenzen Europas zu überwinden. Der Themenschwerpunkt folgt der Frage, wie sich über Grenzen die so genannte Herkunft konstituiert und wie sie sich sogar in kritisch gemeinten Debatten um Migration oder Kolonialismus festigt. Und er fragt danach, wie sich die Binnengrenzen der EU zu einem Kontrollregime in der Fläche transformieren, das für unliebsame MigrantInnen weniger die Einreise, als das alltägliche Leben in der EU verunmöglicht.

Themen des Schwerpunkts:
Überkreuzen, Überschreiten, Durchqueren - Die Kritik an Grenzen + Boundary-Work - Über das Verhältnis psychischer, sozialer und symbolischer Grenzen + Im Dschungel von Calais - Selbstorganisation von Flüchtlingen und staatlicher Abwehr + Drinnen und Draußen - Die EU-Grenzen verschieben sich + Geteilte See - Die Grenzkämpfe auf dem Meer weiten sich aus + Marokko: Operation Rückbindung + Sudan: Alte Konflikte und neue Territorien + Mexiko: American Dream, Mexican Nightmare + Iran: Grenzenlos reaktionär + Korea: Surrealsozialistische Grenze


INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial: Auf zu neuen Ufern


POLITIK UND ÖKONOMIE

Südafrika I: Ein Arbeiterviertel im Museum
Der South End District in Port Elizabeth
von Thomas Schmidinger

Südafrika II: »Als AktivistIn lebt man gefährlich«
Interview mit Ashraf Cassiem und Mncedisi Twalo

Iran: »Schwächer als je zuvor«
Interview mit Meir Javedanfar über das Regime und die Opposition

Honduras: Elitäre Versöhnung
Die politische Krise nach dem Putsch
von Tobias Lambert

Haiti: Im Griff des Militärs
Die Geschichte Haitis zwischen Unterdrückung und Widerstand
von Peter Hallward

Entwicklungspolitik: Apfelstrudel nach Peking tragen
Die letzten Züge der deutsch-chinesischen Entwicklungszusammenarbeit
von Dirk Olaf Reetlandt

Indien: Organic Mobile
Die Produktion von Biolebensmitteln boomt
von Nina Osswald


SCHWERPUNKT: GRENZREGIMES

Editorial: Grenzregimes

Überkreuzen, Überschreiten, Durchqueren
Die Kritik an Grenzen sollte jede Kategorie hinterfragen von Birgit zur Nieden

Boundary-Work
Über das Verhältnis physischer, sozialer und symbolischer Grenzen
von Albert Scherr

Drinnen und Draußen
Die EU-Grenzen verschieben sich
von Henrik Lebuhn

Geteilte See
Die Grenzkämpfe auf dem Meer weiten sich aus
von Kai Kaschinski

Operation Rückbindung
Der marokkanische Staat fördert Zugehörigkeit über Grenzen hinweg
von Frederic Schmachtel

Alte Konflikte und neue Territorien
Was bringt die Grenze zwischen Nord- und Südsudan?
von Thomas Schmidinger

American Dream, Mexican Nightmare
Der Grenzraum in Südmexiko unter dem Einfluss der USA
von Kathrin Zeiske

Grenzenlos reaktionär

Die weltweite Revolution der Islamischen Republik Iran
von Jonathan Weckerle

Surrealsozialistisch
Nord- und Südkorea trennt noch eine richtige Feindesgrenze
von Rainer Werning


KULTUR UND DEBATTE

Medien: Tele-Visionen
Anspruch und Realität des Nachrichtensenders Al-Jazeera English
von Benedikt Strunz

Surrealsozialistisch
Nord- und Südkorea trennt noch eine richtige Feindesgrenze
von Rainer Werning

Exotismus: Wilde Welten
Eine Ausstellung über die Aneignung des Fremden
von Ulrike Mattern

Interkultur: »Die Institutionen müssen barrierefrei werden«
Interview mit Mark Terkessidis über sein neues Buch »Interkultur«

Moderne Nostalgie
Die neue HafenCity in Hamburg würdigt den Geist des Kolonialismus
von Anke Schwarzer

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


*


Quelle:
iz3w Nr. 318 - Mai / Juni 2010
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020 Freiburg i. Br.
Tel. 0761/740 03, Fax 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org

iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 5,30 Euro plus Porto.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2010