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IZ3W/269: Editorial von Ausgabe 3330 - Ernüchterte Ernüchterung


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 330 - Mai/Juni 2012

Hefteditorial
Ernüchterte Ernüchterung



»Klimakarneval in Rio« titelte die iz3w im November 1991 über die im Juni 1992 anstehende UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro (UNECD). Angesichts des wachsenden Verkehrsaufkommens in Deutschland seien die dortigen Verhandlungen am grünen Tisch ein »Klimabluff«. Dass so viele UmweltretterInnen zum Gipfel nach Rio reisen wollten, wurde skeptisch gesehen: »So viele Menschen sind sicher ein Segen für die brasilianischen Taschendiebe, ein Segen fürs Weltklima sind sie nicht.«

Doch die damalige Redaktion nahm das Thema trotz aller Vorbehalte ernst. Im Vorfeld von Rio folgten in gleich vier iz3w-Ausgaben die »UNCED-Infos«. Die darin gestellten Fragen lauteten: Sind es nicht die Entwicklungsländer, die die Hauptlast der beschlossenen Maßnahmen tragen müssen? (Soviel vorweg: Ja). Führt Nachhaltige Entwicklung zu einer erweiterten Herrschaft über die Natur? (Ja) Wird Ökologie auf die Vorstellung von »effizientem Ressourcenmanagement« verkürzt? (Ja) Oder auf »weise Selbstbeschränkung«? (Eher nicht)

Das UNCED-Info 3 berichtete von einer globalen Vorbereitungskonferenz der »Nicht-Regierungsorganisationen (NRO)« - wie das damals noch neue Zauberwort heißt. In sie wurden allerlei Hoffnungen auf eine »kritische Reflexion des eigenen Standorts und zu einer strategischen Neubestimmung zukünftiger Politik über Rio hinaus« gesetzt. Solche Positionsbestimmungen lasen sich nicht immer so spannend wie ein Krimi: »Die strategische Ratlosigkeit zeigte sich auch daran, dass eine politische Analyse der Bedeutung von UNCED, des Standes des Verhandlungsprozesses und seiner Perspektiven fehlte.«

Mit einem Themenschwerpunkt »Ökologie & Entwicklung« wollte die iz3w kurz vor Rio noch einmal Schwung in die Debatte bringen. Denn »ohne innergesellschaftlichen Druck auf die Staaten des Nordens« würde Rio »ein gigantisches Spektakel, ein Festival des Stillstands und der Scheinheiligkeit«. Eine Autorin schreibt über die Vorbereitungsverhandlungen der Regierungen, es sei bereits »große Ernüchterung« eingetreten.

Über die aktuellen Vorbereitungen zum erneuten Erdgipfel Rio plus 20 im Juni 2012 urteilt die Zeitschrift südlink: »Zwanzig Jahre und viele Krisen später ist allenthalben Ernüchterung angesagt.« Auch die KollegInnen von welt-sichten finden, die Bilanz zwischen den Rio-Gipfeln sei »ernüchternd«. Die einstigen Hoffnungen der entwicklungspolitischen Szene auf globale Strukturpolitik sind einem Zustand der ernüchterten Ernüchterung gewichen.

Dagegen spricht Kanzlerin Merkel geradezu von Hoffnung berauscht über Umweltkonferenzen: »Nur wenn wir offene Märkte, faire Wettbewerbsbedingungen, nachhaltiges Wirtschaften und soziale Gestaltung von Wachstum und Beschäftigung im Rahmen eines kohärenten Gesamtkonzepts verfolgen, werden wir einen fairen und ausgewogenen Globalisierungsprozess erreichen.«

Ein Erfolg muss Rio 1992 zugesprochen werden: Der begriffliche Grundpfeiler des damaligen Gipfels, »Nachhaltige Entwicklung«, ist zu einem Keyword der nord-süd-politischen und der Umweltdebatten geworden. Der Terminus war freilich von Beginn an umstritten: Radikalen KritikerInnen war er zu schwammig, Neoliberale beschworen die Gefahr der Regulierung, Linke reklamierten die fehlende Umverteilung.

Rio plus 20 verschiebt die Fragestellung ein wenig. Der neue Hoffnungsträger (und potentielle Ernüchterungsträger) ist die Green Economy. Zur Debatte in Rio stehen »grüne Ökonomie im Kontext der nachhaltigen Entwicklung« und der »institutionelle Rahmen für nachhaltige Entwicklung«. Doch wenn das strukturell bedingte Marktversagen im globalen Konkurrenzkapitalismus ausgeblendet bleibt und internationale Politik kaum mehr als Handelsliberalisierungen zustande bringt, ist das Ergebnis erwartbar: Wohlmeinende Appelle streichen die graue Realität grün an. Selbst der Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann sagt, dass er grünes Wachstum befürwortet. Die Green Economy entsteht dort, wo sie sich rentiert. Ihr Wachstum beinhaltet den weiteren Anstieg der Erdtemperatur.

Regelmäßige UNCED-Infos gibt es in dieser Zeitschrift keine mehr zu lesen. Wir verstehen einfach nicht mehr alles, was derzeit in der NGO-Szene diskutiert wird. Etwa wenn das Netzwerk 21 in seiner Publikation »Rio+20 - Nachhaltigkeit vor Ort!« proklamiert: »Wirtschaft und Umwelt, Ökonomie und Ökologie müssen näher zusammenrücken. Bedingung einer zukunftsfähigen sozialen Marktwirtschaft ist der ökologische Umbau der Wirtschaft hin zu mehr Energie- und Ressourceneffizienz und geschlossenen Kreisläufen.« Wir blicken auf solche Sätze, als kämen sie von einem anderen Planeten und beträfen auch einen anderen. Und bei geschlossenen Kreisläufen müssen wir an ein Hamsterrad denken.

Die Rede vom Global Village, in dem alle an einem Strang ziehen müssen, will uns wohl noch bis Rio plus 50 einlullen. Bis dahin wünschen wir den TaschendiebInnen in Rio wenig und den PolitikerInnen dort keinen Erfolg bei ihrer Arbeit.


die redaktion



Raute

Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 330 - Mai/Juni 2012
Arabischer Frühling 2.0
Die Wut ist nicht verraucht

»Die Revolution ist die erfolgreiche Anstrengung, eine schlechte Regierung loszuwerden und eine schlechtere zu errichten.« Trifft diese sarkastische Bemerkung von Oscar Wilde auch auf die Umbrüche zu, die unter der Bezeichnung »Arabischer Frühling« zusammengefasst werden? Diese Frage ist eine Art Leitmotiv dieses Themenschwerpunktes.

Selten hat eine Bewegung von der viel zitierten "Straße" weltweit so viele Hoffnungen geweckt wie die Aufstandsbewegung in arabischen Ländern. Trotz aller Rückschläge und betonartiger Strukturen bleibt festzuhalten: Die Bevölkerung sieht sich zunehmend als aktive politische Akteurin und nicht mehr als zu beherrschendes Objekt.


INHALTSÜBERSICHT
Hefteditorial - Ernüchterte Ernüchterung
POLITIK UND ÖKONOMIE
Migration: Kein Frühling für Flüchtlinge
Ägyptische Behörden gehen gegen eritreische Opfer von Menschenhändlern vor
von Meena Federer

Welthandel: Kein Grund zur Freude
Die WTO steckt in der Sackgasse
von Angela Geck

Konzerne: Gefährliche Pestizide
Das Permanent Peoples' Tribunal klagt Agromultis an
von Philipp Mimkes

Zentralasien: Aufstieg der Marschrutkas
Öffentlicher Nahverkehr und Linientaxis
von Wladimir Sgibnev, Janny Schulz und Friederike Enssle

Gambia: Jammeh auf Lebenszeit
Ein wahrlich bizarrer Präsident
von Günter Spreitzhofer

Pakistan: Vom Terror erdrückt
Warum wird Pakistan von Oligarchen, Militärs und Taliban dominiert? (Teil II)
von Jakob Rösel

*

SCHWERPUNKT: Arabischer Frühling 2.0
Editorial zum Themenschwerpunkt

Vorwärts und nichts vergessen
Die Demokratisierung ist nicht mehr aufzuhalten
von Jörn Schulz

Den Reset-Knopf drücken
Blogger-Pioniere in arabischen Golfstaaten (Langfassung nur online)
von Sultan Al-Qassemi

Moschee statt Kaserne
Inwieweit ist die türkische AKP ein Modell für Nordafrika?
von Magnus Engenhorst

Lang ersehnte Freiheit
Aufbruchstimmung in Libyen nach der Revolution
von Jacqueline Passon und Klaus Braun

Alexandria in der Hand von Islamisten
Eine ägyptische Bloggerin erklärt, wie es dazu kam
von Shahinaz Abdel Salam

Das Gefühl, alles verändern zu können
Eine Deutsch-Ägypterin spürte den Geist der Revolution
von Jasmin Ateia

Die Lebenden und die Toten
Eine deutsche Journalistin würdigt die Opfer des Kampfes um Befreiung
von Juliane Schumacher

Die Revolution bleibt aus
In Algerien erkauft sich das Regime politische Ruhe
von Rachid Ouaissa

Marokkos moderner Monarch
Mohammed VI. begegnet Protesten mit Schein-Demokratisierung
von Janina Pohle

»Was hat sie getrieben?«
Die syrische Opposition droht zerrieben zu werden
von Markus Bickel

Neue Spielräume
Wie die KurdInnen in Syrien den Arabischen Frühling für sich nutzen (Langfassung nur online)
von Thomas Schmidinger

nur online: Die Tür steht nur zum Teil offen
Die EU bietet dem neuen Tunesien eine "privilegierte Partnerschaft" an
von Stefan Brocza

*

KULTUR UND DEBATTE
Film I: Revolten auf der Leinwand
Cineastische Reflexionen der Umwälzungen in Nordafrika
von Karl Rössel

Film II: »Wenn die Revolution scheitert...«
Interview mit der ägyptischen Journalistin Nora Younis

Film III: »Du kannst die Erinnerung nicht zerstören«
Interview mit dem kambodschanischen Dokumentarfilmer Davy Chou.
Mit einer Einführung von Isabel Rodde
Rezensionen
Szene/Tagungen
Impressum

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Quelle:
iz3w Nr. 330 - Mai/Juni 2012, S.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2012