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IZ3W/274: Editorial von Ausgabe 331 - Ni dieu ni maître - Kein Gott, kein Herr


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 331 - Juli/August 2012

Hefteditorial
Ni dieu ni maître



Über die Diskriminierung Gläubiger wurde in den letzten Jahren in hiesigen Medien viel berichtet. Anlässe gab es genug, etwa Christenverfolgungen im Irak, rassistische Ressentiments gegen Muslime in Europa oder Repression gegen buddhistische Mönche in Myanmar.

In jüngerer Zeit häufen sich Berichte über Angriffe auf AtheistInnen und Säkulare. Es drängt sich der Eindruck auf, als breche weltweit eine Welle religiöser Intoleranz über Nichtgläubige, ReligionskritikerInnen und andere »Gottlose« herein.

In der Türkei erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Pianisten Fazil Say wegen »Störung des öffentlichen Friedens« und »Verunglimpfung der religiösen Werte des Volkes«. Der bekennende Atheist hatte über Twitter ein knapp tausend Jahre altes (!) Gedicht des persischen Poeten Omar Khayyam verbreitet, in dem der Prophet Mohammed so angesprochen wird: »Du sagt, du wirst jeden Gläubigen mit zwei Jungfrauen belohnen - ist das Paradies denn ein Bordell?« Say drohen bis zu 18 Monate Haft, er überlegt nun, nach Japan auszuwandern.

Popstar Lady Gaga musste ihr Konzert in der indonesischen Hauptstadt Jakarta absagen. Die »Islamische Verteidigerfront« hatte gedroht, ihren Auftritt zu verhindern. Die aus begründeter Sorge vor gewalttätigen Ausschreitungen erfolgte Absage interpretierten die militanten Muslime als »Sieg Allahs«. Auch in Seoul und Manila hatte es Versuche gegeben, Lady Gagas Konzerte zu verhindern - dort von Seiten konservativer ChristInnen. Sie konnten sich allerdings nicht durchsetzen.

Anders war es im Falle des feministischen Kollektivs Pussy Riot in Russland. Die mit Punk-Attitude auftretenden jungen Frauen hatten im Februar in der wichtigsten Kirche der Orthodoxen ein Gebet gegen Russlands Autokraten angestimmt: »Mutter Gottes, verjage Putin«. Die Kirche als Ort des Protestes war mit Bedacht gewählt: Die engen Verbindungen zwischen Orthodoxen und russischem Staat sind ein wichtiger Bestandteil der Herrschaftsbasis von Putin. Drei der Frauen sitzen nun in Haft, ihnen droht Gefängnis bis zu sieben Jahren. Dass Russland offiziell ein säkularer Staat ist, hilft ihnen nicht.

In Tunesien gingen Salafisten Mitte Juni mit massiver Gewalt gegen die Kunstausstellung »Frühling der Kunst« vor. Dort wurden unter anderem Bilder gezeigt, die von IslamistInnen als »unislamisch« und »blasphemisch« inkriminiert werden, wie etwa jenes Bild, auf dem Ameisen das Wort »Allah« bilden. Die Mauern des Museums wurden mit Parolen wie »Ungläubige haben hier keinen Platz« beschmiert. Das kampagnenartige Vorgehen ist kein Einzelfall: Seit der Revolution im Januar 2011 fühlen sich radikale IslamistInnen ermutigt, alle zu verfolgen, die sich nicht ihren rigiden Moralvorstellungen anschließen wollen. Der Staat, der großteils von den Islamisten der En Nahda-Partei regiert wird, verhält sich indifferent oder sogar wohlwollend gegenüber den selbsternannten Tugendwächtern. Umso emsiger verfolgt er Säkulare, etwa die Filmemacherin Nadia El Fani.

Als besonders unerbittlich gegenüber anders Denkenden erweist sich erneut das Mullahregime im Iran. Mehrere Großayatollahs klagten den im deutschen Exil lebenden Rapper Shahin Najafi in einer Fatwa an, er habe sich der »Ketzerei« schuldig gemacht. Anlass war der Song »Naghi«, in dem Najafi mit ironischen Formulierungen die Bigotterie der Mullahs angreift. Das Youtube-Video zu diesem Song zeigt eine Karikatur, in der die Kuppel einer Moschee einer weiblichen Brust nachgebildet ist - ein drastischer Hinweis auf die Unterstützung der Prostitution durch muslimische Geistliche im Iran. Denn die von ihnen gegen Bezahlung geschlossenen »Kurzzeitehen« sind oft nichts anderes als eine verquaste Form der 'Legalisierung' von Prostitution.

Prompt wurde im Iran ein Kopfgeld von 100.000 Euro auf Najafi ausgesetzt. Auch wenn die Fatwa selbst nicht zu seiner Tötung aufruft, sind sich alle Fachleute einig, dass sein Leben in Gefahr ist. Die deutsche Bundesregierung verurteilt zwar die Drohungen gegen Najafi, die offensichtlich auch von einem Mitarbeiter des iranischen Generalkonsulats in München per Email verbreitet wurden. Doch sie übt sich einmal mehr in stiller Diplomatie gegenüber dem Mullahregime, statt sich in gebotener Deutlichkeit vor Najafi zu stellen.

Einer der erschreckend wenigen hiesigen Intellektuellen, die in dieser Situation die richtigen Worte finden, ist Günter Wallraff: »Es gibt zwei Wege, mit so einer Situation umzugehen: Man kann sich zurückziehen und sich raushalten. Aber damit ermutigt man diejenigen, die einen mit dem Tode bedrohen.« Wallraff entschied sich für den anderen Weg: Er bot Najafi Unterschlupf an. Bereits 1979 hatte Wallraff dem Schriftsteller Salman Rushdie Schutz gewährt, als dieser Opfer einer Todesfatwa von Khomeini war.

Was in allen genannten Fällen auffällt: Religionskritik vermischt sich fast immer mit Ablehnung der weltlichen Herrschaft. Sie richtet sich gegen die ganz profanen, unheiligen Allianzen jener weltlichen wie geistlichen Herren, die sich gegenseitig die Macht zusprechen. Nicht von ungefähr lautete eine der wichtigsten Parolen des antifeudalen Kampfes der AnarchistInnen »Ni dieu ni maître« (Kein Gott, kein Herr).

Religionsfreiheit ist selbstverständlich, sie gilt uneingeschränkt für alle Religionen. Sie beinhaltet aber auch die Freiheit, nicht zu glauben. Und sie endet dort, wo Gläubige die Freiheit der Anders- und der Nichtgläubigen einschränken oder gar gewalttätig zu unterdrücken suchen. Gegenüber jedweden Versuchen, partikulare religiöse Moralvorstellungen der Allgemeinheit aufzuoktroyieren und Religionskritik gewaltsam zu unterbinden, gibt es nur ein uneingeschränktes, unrelativiertes »Nein!«. Es auch aus dem Munde von Gläubigen zu hören, wünscht sich

die redaktion

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 331 - Juli/August 2012

Restitution geraubter Gebeine
Koloniale Sammelwut

Schädel und Gebeine, die in Kolonien geraubt wurden - dieses Thema mag auf den ersten Blick abseitig erscheinen. Doch die derzeitigen Rückgabeprozesse bringen die gesamten vergangenheitspolitischen Defizite im Zusammenhang mit der kolonialen Gewalt auf die Agenda.

Vor über 100 Jahren brachten deutsche Wissenschaftler zahlreiche Schädel und Gebeine etwa aus "Deutsch-Südwestafrika" nach Deutschland, auch um damit "Rassenforschung" zu betreiben. Bis heute lagern sie in deutschen Universitätseinrichtungen und Museen. Die Nachfahren der Opfer bestehen auf Rückführung (Restitution) der Schädel ins heutige Namibia, auf offizielle Schuldanerkennung und Reparationszahlungen.

Unser Themenschwerpunkt fragt: Was sind Schädelsammlungen? Was wollen WissenschaftlerInnen heute noch damit? Welche Diskussionen gibt es in den "Herkunftsländern" über die Restitution?

INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial - Ni dieu ni maître

POLITIK UND ÖKONOMIE

Salafismus: Reinheitsgebote
Was macht den Salafismus so attraktiv für Jugendliche?
von Jochen Müller

Mali: Nach dem Militärputsch
Zwischen Tuareg-Rebellion, Islamismus und Kriminalität
von Annette Lohmann

Namibia: Begehrter Brennstoff
Der Uranabbau boomt
von Bertchen Kohrs

Simbabwe: Anatomie des Terrors
Das Mugabe-Regime schüchtert mit Jugendmilizen politische GegnerInnen ein
von Beatrice Schlee

Simbabwe: »Die Täter sind selbst auch Opfer«
Interview mit der NGO Tree of Life

Soziale Bewegung: No Work, No Shopping
Occupy in den USA zwischen Erfolg und Stagnation
von Gerald Whittle

Nordkorea: Die Partei als Königsmacher
Nach dem Tod von Kim Jong Il beginnt eine neue Ära
von Rüdiger Frank

Südkorea: Ein Dorf im Belagerungszustand
In Gangjeong regt sich Widerstand gegen regionale Aufrüstung
von Elisabeth Schober

Myanmar: Neigung zum Autoritären
Der Westen kooperiert wieder verstärkt mit dem Militärregime
von Jörg Kronauer


THEMENSCHWERPUNKT: GERAUBTE GEBEINE

Editorial zum Themenschwerpunkt
Koloniale Sammelwut

Verschleppt - vermessen - vergessen
Die Restitution geraubter Gebeine steht in Deutschland erst am Anfang
von Reinhart Kößler und Heiko Wegmann

»Ethisch höchst fragwürdig«
Interview mit der Anthropologin Maria Teschler-Nicola über Schädel-Sammlungen in Österreich

Unterschiedliche Medienwelten
Der Rückgabeprozess im Spiegel deutscher und namibischer Medien
von Nicolai Röschert

Im Dienst der Wissenschaft
Die Schädel der Alexander-Ecker-Sammlung wurden in deutschen Kolonien beschafft
von Heiko Wegmann

Schädelrassen oder Rassetypen?
Ein Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Rassismus
von Christoph Seidler

Post vom Feldlazarett
Namibische Schädel in Berliner anthropologischen Sammlungen
von Holger Stoecker

Gebeine und Gesetze
Internationale Vereinbarungen zur Repatriierung menschlicher Überreste
von Sarah Fründt

»These skulls are not enough«
Der Restitutionsprozess in Namibia zwischen Vergangenheits- und Interessenpolitik
von Larissa Förster

Der Friedhof der Zwangsarbeiter
Knochenfunde verweisen auf deutsche Kolonialverbrechen in Namibia
von Reinhart Kößler


KULTUR UND DEBATTE

Film I: Einen Platz im Leben suchen
Das Internationale Frauenfilmfestival 2012 zeigt Geschichten des Umbruchs
von Ulrike Mattern

Film II: »Kein Fußbreit den Islamisten!«
Interview mit der tunesischen Filmemacherin Nadia El Fani

Film III: »Call me Kuchu«
Homophobie und queeres Selbstbewusstsein in Uganda
von Isabel Rodde

Medien: Für normale Leute
Das südafrikanische Zeitungsprojekt ZA Difference
von Philipp Mattern

Rezensionen

Szene/Tagungen

Impressum

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Quelle:
iz3w Nr. 331 - Juli/August 2012, S. 3
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2012