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IZ3W/303: Hefteditorial von Ausgabe 337 - Mit deutscher Präzision


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 337 - Juli/August 2013

Hefteditorial
Mit deutscher Präzision



Seine Lage muss ihm ausweglos erschienen sein: Am Abend des 29. Mai erhängte sich im brandenburgischen Eisenhüttenstadt der 20-jährige Djamaa Isu aus dem Tschad. Am darauf folgenden Tag stand seine Abschiebung nach Italien bevor, jener »sichere Drittstaat«, über den der junge Mann nach Deutschland gelangt war. Aus dem Tschad war er geflüchtet, weil er dort um sein Leben fürchtete. Die Unsicherheit und Ungewissheit in Deutschland hatte bei Isu schon vor dem Selbstmord zu ernsthaften psychischen Problemen geführt, er hatte seine Kammer in der Zentralen Aufnahmestelle für Asylsuchende kaum noch verlassen.

So oder ähnlich sieht sie aus, die Realität vieler Asylsuchender im Jahr 2013. Die Angriffe von Stiefelnazis, die sie mit Baseballschlägern und Brandanschlägen aus dem Land jagen wollen, sind zwar gegenüber den 1990er Jahren weniger geworden. Das beruht aber weniger auf der Abnahme von rassistischem Gedankengut als vielmehr auf der schlichten Erkenntnis, dass es nicht mehr notwendig ist, zur praktischen Umsetzung von Rassismus das Risiko von schweren Straftaten auf sich zu nehmen. Denn die Mission, AsylbewerberInnen zu vertreiben, wird seit zwei Jahrzehnten ganz legal von den SchreibtischtäterInnen in den Behörden übernommen. Mit deutscher Präzision schikanieren sie Flüchtlinge mit allerlei Auflagen wie der Residenzpflicht, verweigern ihnen jegliche Perspektive, organisieren Abschiebungen und führen Statistiken.

Den Auftrag zur institutionellen Gängelei bekamen die SchreibtischtäterInnen vor zwanzig Jahren vom Deutschen Bundestag erteilt. Am 26. Mai 1993 verabschiedete eine Zwei-Drittel-Mehrheit aus Abgeordneten von SPD, FDP und CDU/CSU de facto die Abschaffung des Asylrechts, wie es bis dahin in Artikel 16 des Grundgesetzes festgelegt war. Die Abgeordneten verstanden ihren »Asylkompromiss« als angemessene Reaktion auf rassistische Gewalt à la Rostock-Lichtenhagen - ein klassischer Fall von Täter-Opfer-Umkehrung.

Einmal mehr war Deutschland somit Vorreiter in Sachen Inhumanität: Aus einem verbrieften Grundrecht wurde mit dem neuen Artikel 16a ein »Deportationsparagraph« und eine »Blaupause der gesamteuropäischen Flüchtlingsabwehr«, wie die Kampagne »Fight Racism now!« unlängst treffend formulierte. Nach verschiedenen seriösen Schätzungen sind der militärischen und polizeilichen Verteidigung der Festung Europa während der letzten zwanzig Jahre über 16.000 Menschen zum Opfer gefallen.

Am Tag der Abschaffung des Asylrechts hatten mehrere tausend Demonstrierende versucht, den Bundestag in Bonn zu blockieren. Vergeblich. Die Ohnmacht, damals gegen den Rassismus des Volkes und seiner VertreterInnen nichts ausrichten zu können, gehört bis heute zu den bittersten Erfahrungen, die die antirassistische Linke im postnazistischen Deutschland machen musste. Seit dem 26. und 29. Mai 1993, an dem Nazis mit dem Solinger Brandanschlag die Bundestagsentscheidung auf ihre Weise zelebrierten, ist die Unterstützung von Flüchtlingen ein bloßer Abwehrkampf aus einer defensiven Position heraus.

Die Kampagnen gegen die fortlaufenden Einschränkungen des Asyl- und Ausländerrechts, die Abwehr rassistischer Anschläge, die Kritik an den sarrazinistischen Ressentiments der bürgerlichen Mitte, die Gegenwehr gegen behördliche Schikanen und institutionellen Rassismus - das alles sind seither weitgehend Geschichten von Niederlagen. Diese traurige Feststellung soll nicht das Engagement jener schmälern, die sich dem rassistischen Konsens entgegenstellen, ganz im Gegenteil. Doch von viel zu wenigen Ausnahmen abgesehen, sind FlüchtlingsunterstützerInnen und -Selbstorganisationen nicht in der Lage, auch nur das Schlimmste verhindern zu können, wie etwa Abschiebungen.

Das bloße Konstatieren dieser Ohnmacht hilft nicht weiter, es lähmt. Die seit Mitte 2011 entstandene Bewegung der Refugees, die insbesondere in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und in Italien mit Besetzungsaktionen einige Aufmerksamkeit erregen konnte, zeigt, dass auch aus einer Position der Schwäche heraus selbstbewusster Protest möglich ist. Viele Refugees agieren kämpferisch und lassen sich von der Hässlichkeit der Staatsmacht nicht einschüchtern. Wenn sie etwa gezielt am gesamtdeutschen Nationalheiligtum, dem Brandenburger Tor, demonstrieren, offenbart dies ein befreiendes offensives Moment.

Lassen wir uns davon anstecken, drehen wir das Blatt um und drängen die RassistInnen in die Defensive. Gleich ob sie als Nazis auf der Straße, als SchreibtischtäterIn in einer Behörde oder als HetzerIn in den Medien aktiv werden: Sie sind es, die unmoralisch handeln und die sich dafür zu verantworten haben. Sie sind es, die oftmals gegen geltendes Recht verstoßen, die politisch ewiggestrig sind, die eine moderne offene Gesellschaft sabotieren, die dem Fortkommen der Menschheit schaden und ergo unsympathische Hanswürste sind. Der einzig angemessene Umgang mit ihnen ist der Entzug jeglicher politischer und gesellschaftlicher Einflussnahme.

Drum rufen wir ihnen zu: RassistInnen, geht baden! Bei dieser schönen sommerlichen Aktivität könnt ihr wenigstens keinen großen Schaden anrichten, findet...

die redaktion


PS: Anfang 2014 werden wir uns in einem Dossier ausführlich mit Asyl und den Anstrengungen zu seiner Abschaffung befassen. Erstellt wird es in Kooperation mit Hinterland, dem Magazin des Bayerischen Flüchtlingsrates.

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 337 - Juli/August 2013


Arabische Frauenbewegungen
Yala! Yala!

Die Umbrüche durch den Arabischen Frühling brachten nicht überall und für jede Emanzipation mit sich. Im Zuge des islamistischen Backlashs müssen Frauen in den arabischen Ländern ihre Rechte vehement verteidigen.

Sie können dabei auf eine lange Tradition feministischer Kämpfe und Debatten zurückgreifen, die hierzulande kaum wahrgenommen werden. Bereits im 19. Jahrhundert wurden reformerische Ideen und Schriften zum Status der Frauen verbreitet. Und Frauen sind nicht erst mit der Arabellion 'plötzlich' auf der Straße erschienen. Ihre aktive Beteiligung an den antikolonialen Bewegungen war schon in den 1930er und 40er Jahren begleitet von Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung.

'Die' arabische Frauenbewegung ist lebendig und damit auch heterogen und widersprüchlich. Deshalb fällt es schwer, die unterschiedlichen Länder der arabischen Welt auf einen Nenner zu bringen. Gerade wegen ihrer Vielschichtigkeit lohnt jedoch ein Blick auf 'die' arabischen Länder und ihre Frauenbewegungen. Denn der nächste Frühling könnte ein feministischer sein.


HEFTEDITORIAL


Schwerpunkt: Frauenbewegungen in der arabischen Welt

Editorial zum Themenschwerpunkt

Selbstbewusst zwischen den Welten
Über 100 Jahre arabischer Feminismus zwischen Moderne und Tradition
von Hannah Wettig

»Die ägyptische Kultur ist auch frauenfeindlich«
Interview mit der Politologin Hoda Salah

»I am not a feminist!«
Frauenrechtsaktivistinnen in Ägypten
von Johanna Block

Zähes Ringen
In Tunesien kämpfen Frauen für den Erhalt feministischer Errungenschaften
von Katrin Dietrich

»Weibliche Sexualität wird nicht wahrgenommen«
Interview mit der Autorin Naha Sano

Ungleichheit per Gesetz
Algerische Frauen kämpfen um ein egalitäres Familienrecht
von Zahia Boudiaf

Mit dem Koran gegen Sexismus
Plädoyer für einen Feminismus ohne Grenzen
von Zahra Ali

Politisch, nicht kulturell!
Zur Kritik von »islamischem Feminismus« und Kulturalismus
von Hannes Bode

Empowerment und Ausschluss
Islamistische Frauen und die Politik der Frömmigkeit in Ägypten (Langfassung)
von Renate Kreile

Ein kurzer Moment von Freiheit
Saudi Arabiens Gesellschaft öffnet sich nur allmählich für Frauenrechte
von Julia Gerlach

»Den Verstand entschleiern«
Rezensionen zum Thema


POLITIK UND ÖKONOMIE

Atomkraft: »Eine brisante Angelegenheit«
In Tansania formiert sich Widerstand gegen den Uranabbau
Interview mit Anthony Lyamunda

Syrien: Selbst Brot ist knapp
Die Binnenvertriebenen in Kurdisch-Syrien bekommen keine internationale Unterstützung
von Thomas Schmidinger

Asyl: Wer ist eigentlich Flüchtling?
Proteste im tunesischen UNHCR-Flüchtlingslager Choucha
von Mareike Kessler und Marvin Lüdemann

Mali: In den Augen der anderen
Die transnationale Debatte über die Krise in Mali
von Olaf Bernau

Migration: Ethnisierung der Unterschicht
Rassistisches und neoliberales Denken gegen Sozialleistungen
von Sebastian Friedrich

Mexiko: Kampf gegen Windmühlen
Ein Windenergieprojekt in Mexiko stößt auf Widerstand
von Moritz Binzer und Jonathan Welker

Ostafrika I: Eigennützige Integration
Südafrika, Kenia und Äthiopien wollen Ostafrika nach ihren Interessen gestalten
von Sören Scholvin

Ostafrika II: Ein Hafen voller gemischter Gefühle Das Lamu-Projekt in Kenia von David John Bwakali


KULTUR UND DEBATTE

Cultural Studies: »Nicht auf Radical Chic reduzieren«
Interview mit Philipp Dorestal über afroamerikanische Style Politics

Oper: Schlingensiefs weißer Elefant
Das Operndorf in Burkina Faso wirft kritische Fragen auf
von Christa Aretz und Karl Rössel

Film I: Filmisch eingefangen
Das Internationale Frauenfilmfestival über Auswüchse der Globalisierung
von Wolfgang Kienast

Film II: Unter Strom
Das freiburger film forum zeigte neue internationale Produktionen
von Frederik Skorzinski

Rezensionen

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Quelle:
iz3w Nr. 337 - Juli/August 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2013