iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 354 - Mai/Juni 2016
Ein großes Übel
Editorial zur Ausgabe 3534
Vor einigen Wochen bei einem Wahlkampfauftritt von Angela Merkel in Freiburg: DemonstrantInnen versammeln sich, um lautstark ihre Meinung kund zu tun: »Haut ab, haut ab!« Noch vor einem Jahr wäre davon auszugehen gewesen, dass sich der Protest gegen die Kanzlerin richtet: Gegen ihre knallharte Austeritätspolitik samt Demütigung der GriechInnen, gegen Bundeswehreinsätze im Ausland, gegen die Aufrüstung von Frontex und vieles mehr.
Doch diesmal war es anders. Die Linken demonstrierten nicht gegen Merkel, sondern gegen deren rechte KontrahentInnen. AfD und ALFA hatten dazu aufgerufen, der Kanzlerin wegen ihrer Flüchtlingspolitik die rote Karte zu zeigen. Und so fand sich die antirassistische Szene in der ungewohnten Position wieder, einer CDU-Politikerin beizustehen. »Anti-anti heißt aber nicht pro«, kommentierte dies einer der Demonstrierenden wenig begeistert.
Wer für das Grundrecht auf Asyl eintritt, sah sich im letzten Dreivierteljahr oft genötigt, Merkel gegen ihre GegnerInnen zu verteidigen. Im Vergleich zu Horst Seehofer, Frauke Petry oder Victor Orban erschien sie zumindest als kleineres Übel. Vom linksliberalen Milieu wurde die Kanzlerin gar mit Lob überschüttet. Etwa von der Toten Hose Campino, die Merkel wegen ihrer Flüchtlingspolitik am liebsten »umarmen« will: »Man darf ihr das auch schon mal sagen, dass sie das großartig gemacht hat.« Anerkennung kam selbst von Johanna Uekermann, Chefin der Jusos: »In dieser Frage muss man echt sagen, dass sie zum allerersten Mal in ihrer zehnjährigen Kanzlerschaft so etwas wie Rückgrat zeigt.«
Auf internationaler Ebene wurde Merkel gar zur Lichtgestalt verklärt. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon würdigte sie als »Stimme der Moral« in der Flüchtlingskrise. Merkel versuche, »den Schutz jedes einzelnen Menschen« in den Mittelpunkt zu stellen. Und ausgerechnet der griechische Migrationsminister Ioannis Mouzalas sagte: »Deutschland hat in dieser Krise Europa zusammengehalten und dazu beigetragen, dass dieses Europa der Aufklärung nicht ins Mittelalter zurückgefallen ist.«
Wie es um die deutsch-europäische Moral bestellt ist, lässt sich an Orten wie Idomeni besichtigen. In diesem griechisch-mazedonischen Grenzort knüppeln Polizisten im Auftrag der EU alle Geflüchteten nieder, die nicht länger im dortigen Elendscamp ausharren wollen. Zur Kenntlichkeit entstellt wird diese Moral auch im türkischen Hafen von Dikili gegenüber der griechischen Insel Lesbos. Hierher werden alle Refugees »rückgeführt«, die »irregulär« nach Griechenland eingereist sind. Ob sie ihr Leben auf einer Überfahrt mit einem Seelenverkäufer riskierten, weil die europäische Abwehrpolitik ihnen keine andere Wahl ließ, spielt keine Rolle, solange im Auftrag der Kanzlerin europäische Außengrenzen »gesichert« werden.
Dikili steht für einen der miesesten Deals, der je von der europäischen Politik eingegangen wurde. Ausgerechnet mit dem türkischen Präsidenten Erdogan unterzeichnete man unter Federführung von Merkel einen Pakt, der nichts anderes bezweckt, als möglichst viele Geflüchtete von EU-Europa fernzuhalten. Dafür belohnt man den »Möchtegern-Diktator« (so der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu) mit drei Milliarden Euro und hält sich mit Kritik zurück, etwa an Erdogans mörderischer Kurdenpolitik, seiner kriegstreiberischen Rolle im Syrienkonflikt und seiner Missachtung der Pressefreiheit.
Wie erpressbar Merkel geworden ist, zeigt der Fall Böhmermann: Sie gab dem Begehren Erdogans nach, eine Anklage gegen den Satiriker gemäß § 103 des Strafgesetzbuches zuzulassen - ein Affront gegen die Presse- und Meinungsfreiheit. Es ist bezeichnend, dass dieser Paragraph zuletzt von Pinochet und Khomeini bemüht wurde. Im medialen Schatten des Böhmermann-Merkel-Skandals reiste dann Außenminister Steinmeier nach Libyen, um mit der dortigen »Einheitsregierung« den nächsten Deal zur Flüchtlingsabwehr einzufädeln.
Dass Merkel im Sommer 2015 temporär die Grenzen öffnen ließ, ist nicht im Geringsten Ergebnis einer proaktiven humanitären Politik, sondern war das einzige, was ihr in der damaligen Situation übrig blieb. Die Alternative wäre gewesen, die Geflüchteten an der deutschen Grenze niederzuschießen. Davor zurückgeschreckt zu haben, lag im Interesse einer Wirtschaft, die auf Exporte und damit auf Deutschlands guten Ruf im Ausland angewiesen ist. Der Tod der Menschen an der eigenen Landesgrenze wäre zu nah gewesen. Der Tod soll die Unerwünschten möglichst weit weg ereilen, möglichst unsichtbar bleiben.
In diesem Lichte lassen sich die europäischen Werte, von denen bei Merkel so oft die Rede ist, mit drei Buchstaben zusammenfassen. Sie lauten D, A und X. Es ist höchste Zeit, die Politik dieser Kanzlerin wieder als das große Übel zu bekämpfen, das es zu jeder Zeit war, findet
die redaktion
P.S.:
Unser Titelbild zeigt die US-amerikanische Globetrotterin Alison Teal
auf den Malediven. Von den dortigen Müllbergen war sie so geschockt,
dass sie seither eine Privatkampagne gegen Plastik betreibt.
Zum Titelbild unseres Mülldossiers in der Heftmitte gibt es ebenfalls eine Geschichte: 1992 fiel ein Container von einem Frachter ins Meer. Seine Ladung, 28.000 Quietsche-Entchen, sind bis heute weltweit an zahlreichen Stränden zu finden. Die Meeresforschung profitierte, weil sie dadurch viel über globale Meeresströme erfuhr. Denn: Plastikmüll verrottet so schnell nicht.
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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 354 - Mai/Juni 2016
Zugemüllt
und wer räumt den Dreck weg?
Deutschland ist Exportweltmeister in Sachen Müll: Elektroschrott, giftige Schlacken oder ausgemusterte Schiffe werden von hier aus massenhaft nach Ghana, in die Türkei oder nach Bangladesch verbracht, um dort "entsorgt" zu werden. Bloß weg damit! An der Vermüllung der Welt sind alle Industriestaaten des Nordens weit überproportional beteiligt.
Unser Dossier befasst sich mit der politischen Ökonomie und Ökologie des Mülls. Die Grundthese lautet: Im Umgang mit dem Müll und den Menschen, die mit ihm arbeiten müssen, verdichten sich (welt-)gesellschaftliche Verhältnisse und Ungleichheit in besonderem Maße. Dabei geht es nicht nur um Umweltprobleme, sondern mindestens genauso um soziale Fragen nach angemessener Entlohnung, Arbeitsschutz, Nichtdiskriminierung und weiteren sozialen Standards.
Der südnordfunk - die monatliche Radio-Magazinsendung des iz3w - hat eine ganze Sendung dem Thema Müll gewidmet. Die Sendung steht HIER.
INHALTSÜBERSICHT
Ein großes Übel - Hefteditorial
Dossier
Es stinkt zum Himmel - Editorial zum Dossier
Start-Up auf der Deponie
MüllsammlerInnen organisieren sich für ihre Rechte
von Martina Backes
südnordfunk-Beitrag der Autorin zum Thema
Zikamücken und Quietscheentchen
Müll ist eine Metapher für die Entwicklung der Gesellschaft
von Cord Riechelmann
Leben in der Plastisphäre
Über Plastikmüll in den Meeren zirkulieren viele Mythen
von Sven Bergmann
Sondermüll nach Accra
Die Kontrollen für Elektroschrott sind löchrig
von Meike Bischoff
südnordfunk-Beitrag der Autorin zum Thema
Peak Waste
Das globale Müllaufkommen wächst und wächst und...
von Christian Stock
Überfluss und Überschuss
Wie Lebensmittel systematisch zu Müll gemacht werden
von Amelie Bihl
Kreislaufstörungen
In Bangalore zeigt sich das Für und Wider von Recycling
von Nicolas Schlitz
Bloß weg damit
Industrieabfälle aus dem Bergbau landen oft im Meer
von Onno Groß
POLITIK UND ÖKONOMIE
Türkei: »Eine neue Form von Diktatur«
Im türkisch-kurdischen Konflikt agieren beide Seiten undemokratisch
von Eva Savelsberg und Siamend Hajo
Debatte: »Ihr liebt das Leben, wir den Tod!«
Die Kriegswaffe des Selbstmordattentats ist bis heute nicht explizit
geächtet
von Matthias Küntzel
Indien: Das gallische Dorf in Delhi
An der Jawaharlal Nehru University wehren sich Studierende gegen
Hindunationalismus
von Oliver Kontny
Kambodscha: Bittersüße Ernte
Der Zuckerboom hat Landgrabbing zur Folge
von Christopher Wimmer
KULTUR UND DEBATTE
Berlinale: Einige kommen durch
Dokumentarfilme auf der Berlinale erzählten von Flucht
von Isabel Rodde
Berlinale: The revolution will be live
von Isabel Rodde
Comic: Kreativ gegen eine Leerstelle
Die afrikanische Comicszene ist lebendiger, als der Westen ahnt
von Alexander Sancho-Rauschel
Sport: Feiern, dopen, feuern
Hürden auf dem Weg der kenianischen AthletInnen
südnordfunk-Beitrag des Autors zum Thema
von John Bwakali
Philosophie: »Eine Form des Empowerment«
Interview mit Franziska Dübgen und Stefan Skupien über Afrikanische
Philosophie
Rezensionen
Jens Kersten (Hg.): Inwastement - Abfall in Umwelt und Gesellschaft. transcript Verlag, Bielefeld 2016.
Johannes Bühler: Am Fuße der Festung-Begegnungen vor Europas Grenze. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2015.
Christian Jakob: Die Bleibenden - Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren verändern. Ch. Links Verlag, Berlin 2016.
Fatima El-Tayeb: Anders Europäisch. Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa. Unrast Verlag, Münster.
Niq Mhlongo: Way Back Home. Übersetzung: Gunther Geltinger. Verlag das Wunderhorn, Heidelberg.
Lateinamerika-Nachrichten. Nr. 500, Februar 2016.
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Quelle:
iz3w Nr. 354 - Mai/Juni 2016
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2016
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