Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


IZ3W/369: Editorial zum Themenschwerpunkt von Ausgabe 358 - Dschihadismus


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 358 - Januar/Februar 2017

Dschihadismus


In den vergangenen drei Jahren vollzogen sich drei dramatische Entwicklungen des Dschihadismus. Die erste einschneidende Veränderung waren die großen territorialen Gewinne des selbst ernannten »Islamischen Staates« in Irak und Syrien. Die politische Errichtung eines Kalifats und die Durchsetzung rigider salafistischer Verhaltensvorschriften wurden ab 2014 zur Realität für Millionen Menschen.

Die zweite große Veränderung bestand im Ausgreifen dschihadistischer Bewegungen in über zwanzig Länder in Afrika, Asien und im Mittleren Osten. In Nigeria beispielsweise konnte Boko Haram ganze Regionen zumindest zeitweise unter ihre Kontrolle bringen; hunderttausenden Geflüchteten im Nordosten droht derzeit eine Hungersnot. Die dritte massive Veränderung besteht in der großen Faszination, die der Dschihadismus inzwischen auch auf zigtausende junge Menschen in Europa ausübt. Einige von ihnen schließen sich nicht nur in Syrien und Irak dem IS an, sondern begehen auch in Europa Anschläge.

Was sind eigentlich Islamismus, Salafismus und Dschihadismus? In Übereinstimmung mit dem Gros der Fachleute verstehen wir unter Islamismus spezifische politische Formen der Auslegung des Islam. Sie zielen ab auf die Verwirklichung von Staaten und Gesellschaftsordnungen, in denen rigide islamische Normen als Grundlage allen öffentlichen und privaten Handelns durchgesetzt werden.

Salafismus bezeichnet jene fundamentalistische Strömung, die zum ursprünglichen Islam zurück will (arab. Salaf: Vorfahr, Ahn) und die alle angeblich 'verwestlichten' Formen islamischer Religionsausübung ablehnt. Nicht alle Salafisten sind auch Islamisten, aber viele streben über private Lebensentwürfe hinaus ebenfalls einen politischen Umsturz an. Dschihadisten sind jene gewaltbereiten Muslime, die ihre islamistischen und salafistischen Vorstellungen im Rahmen eines bewaffneten Dschihads (arab. Bemühung, Einsatz, Kampf) verwirklichen wollen.

Was macht nun die Attraktivität des Dschihadismus für so viele angry young men (und einige angry women) aus? Sie liegt in der Vorstellung, einer Avantgarde anzugehören, die eine ultimative Gesellschaftsveränderung will. Sie besteht im antiwestlichen Ressentiment, das sich bevorzugt, aber nicht nur gegen die USA und Israel richtet, und die in den damit assoziierten freien Lebensentwürfen etwa hinsichtlich sexueller Orientierung nur zersetzende Dekadenz am Werke sieht. Und sie besteht im entschlossenen Antisemitismus, der allen dschihadistischen Strömungen gemein ist und der zu einer Art Überbietungswettbewerb führte: Dem IS wird bisweilen von anderen Dschihadisten vorgeworfen, er vernachlässige den Kampf gegen die »Zionisten« zugunsten eigener territorialer Ansprüche.

Essentialistische Deutungen über das Wesen des Islam helfen bei der kritischen Analyse des Dschihadismus nicht weiter; mit dem Koran lässt sich alles und das Gegenteil davon belegen. Islam ist materialistisch betrachtet die Summe dessen, was weltweit 1,6 Milliarden MuslimInnen aus 'ihrer' Religion machen - und das umfasst äußerst unterschiedliche Lebensentwürfe, politische Überzeugungen und konkrete Handlungen. Leider beinhaltet dieser Befund, dass gerade im Nahen Osten allzu viele Gläubige mit Verweis auf die große innere Pluralität des Islams allzu indifferent sind, wenn es darum geht, das im Namen eben dieser Religion geschehende dschihadistische Morden zu ächten. Insbesondere die konservativen Gelehrten an den großen islamischen Universitäten halten sich mit wenigen Ausnahmen bedeckt, wenn es darum geht, die Opfer des Dschihadismus in Schutz zu nehmen. Demokratisch gesinnte, liberale MuslimInnen pochen demgegenüber auf die Universalität der Menschenrechte - auch im Falle des Dschihadismus.

Weil das dschihadistische Morden keineswegs die Vollstreckung vermeintlich islamischer Glaubenssätze, sondern in erster Linie Morden ist, besteht ein konsequentes Vorgehen gegen Dschihadismus nicht in einem Kulturkampf gegen 'den' Islam, wie es uns jene AbendländlerInnen weismachen wollen, die in den trüben Gewässern des kulturalistischen Rassismus fischen. Sondern es besteht im Kampf gegen die fundamentale Missachtung jeglicher Menschenrechte seitens des Dschihadismus. Dieser Kampf ist vor allem einer um die Köpfe, um das Denken der Menschen. Wird dieser Kampf in erster Linie militärisch geführt, ist er zum Scheitern verurteilt, wie die Lage in Afghanistan und Irak verdeutlicht. Die Fortsetzung des »Krieges gegen den Terror« in der bisherigen Weise wird ihren Teil dazu beitragen, dass fortwährend neue Generationen von Dschihadisten die angebliche Demütigung der muslimischen Welt rächen wollen.

»Ihr liebt das Leben, wir den Tod«, lautet einer der Wahlsprüche von Dschihadisten. Genau daran lässt sich bei gefährdeten jungen Menschen mit einer positiven Botschaft ansetzen: Spaßhaben ist doch viel attraktiver als apokalyptische Beklemmungen! Gegen das Musik- und Tanzverbot der Dschihadisten setzen wir auf Partys und coole Musik. Das Leben ist auf vielfältige Weise schön, wir genießen es. Wir tun alles dafür, dass alle Menschen auf der Welt ein gutes Leben führen können, und wir bemitleiden die armen Seelen, die es zerstören wollen.

*

Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 358 - Januar/Februar 2017

Dschihadismus
ihr habt den Tod, wir haben das Leben

In den vergangenen drei Jahren vollzogen sich dramatische Entwicklungen des Dschihadismus. Der selbst ernannte Islamische Staat errichtete ein Kalifat und setzte dort rigide salafistische Verhaltensvorschriften durch. Gleichzeitig kämpfen auch in zahlreichen weiteren Ländern dschihadistische Bewegungen erfolgreich um die Macht.

Dschihadismus als extreme Form von Gesellschaftsveränderung ist inzwischen für erschreckend viele junge Menschen attraktiv - nicht nur im Irak und in Syrien, sondern längst auch in Europa und Asien.

In unserem Themenschwerpunkt fragen wir: Wie entstanden die modernen Formen des Dschihadismus? Was fasziniert so viele Menschen daran? Welche Formen der Propaganda setzen die Ideologen des globalen Dschihads ein? Wie wurde der Selbstmordanschlag zu seinem Markenzeichen? Und welche Rolle spielen Frauen im Islamischen Staat?


INHALTSÜBERSICHT

Themenschwerpunkt: Dschihadismus

Editorial zum Themenschwerpunkt

Kalif oder Ayatollah
Der Kampf der Dschihadisten um die Vorherrschaft
von Jörn Schulz

Role Models für den Dschihad - Langfassung
Wie Selbstmordanschläge zum Markenzeichen des Islamismus wurden
von Christian Stock

»Herrschaft mit Gewalt aufzwingen«
Interview mit dem Dschihadismus-Experten Jawad Al-Tamimi über den IS und seine Strategien

Die Apokalypse als Erlösung
Endzeitvorstellungen in der englischsprachigen IS-Propaganda
von Christoph Panzer

Die Gewaltunternehmer
Wie finanziert sich die somalische Islamisten-Miliz al-Shabaab?
von Jutta Bakonyi und Raphaela Kormoll

Gotteskrieger werden wollen
Indonesien hat ein wachsendes Problem mit jungen Islamisten
von Edith Koesoemawiria

Liebe zur Gewalt
Die Rolle von Frauen im Islamischen Staat
von Hannah Wettig


POLITIK UND ÖKONOMIE

Hefteditorial: Unsere Trump Card

Kapitalismus I: Die Wirtschafts-NATO
Freihandelsabkommen sind ein neoimperiales Machtmittel
von Thomas Konicz

Kapitalismus II: Wenn Konzerne klagen können - Langfassung
Internationale Wirtschaftsabkommen schränken demokratische Rechte ein
von Michael Reckordt

Indien: Kuhschutz vor Menschenrechten
Der hindunationalistische Kult um die Kuh endet in Gewalt
von Hanns Wienold

Energiepolitik: Autozentrierte Fehlentwicklung
Namibias Regierung setzt auf fragwürdige fossile Energieprojekte
von Sören Scholvin

Äthiopien: Festhalten am Kurs
Trotz Repression bekommt Äthiopien Entwicklungshilfegelder
von Tina Goethe

Thailand: Wenn Generäle regieren
Die Demokratie wurde per Referendum abgeschafft
von Frank Arenz


KULTUR UND DEBATTE

Postkolonialismus: Gut vorbereitet
Die Wiener Kolonialpolizei bildete für künftige Kolonien aus
von Andreas Brocza und Stefan Brocza

Rezensionen

Fatima El-Tayeb: Undeutsch.

Erwin Schweitzer: The Making of Griqua, Inc.

Thomas Konicz: Kapitalkollaps.

Patrick Helber: Dancehall und Homophobie.

Ingo Schneider und Martin Sexl: Das Unbehagen an der Kultur.

David Kunzle: Chesucristo.

*

Quelle:
iz3w Nr. 358 - Januar/Februar 2017
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020 Freiburg i. Br.
Telefon: 0761/740 03, Fax: 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org
 
iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 5,30 Euro plus Porto.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und Zivildienstleistende 25,80 Euro
Förderabonnement ab 52,00 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang