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IZ3W/373: Hefteditorial zu Ausgabe 360 - Hunger ist keine Naturkatastrophe


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 360 - Mai/Juni 2017

Hunger ist keine Naturkatastrophe

Hefteditorial


»Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.« Mit diesem drastischen Zitat des bekannten Genfer Soziologen Jean Ziegler ruft derzeit die linke Hilfsorganisation medico international zu Spenden für Ostafrika auf. Laut Angaben der UN sind dort 20 Millionen Menschen akut von Hunger bedroht. Insbesondere im Nordosten Nigerias, im Südsudan, in Somalia und im nahe gelegenen Jemen ist die Ernährungslage so verheerend, dass sie über Mangel- und Unterernährung weit hinausgeht und vielen Menschen der Tod droht. Die UN sprechen von der »größten Hungerkatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg«.

Als Ursache für die Katastrophe werden von vielen Hilfsorganisationen und Medien die Dürren genannt, die am Horn von Afrika und in angrenzenden Regionen seit drei Jahren gehäuft auftreten. Etwa von der Welthungerhilfe, die die dramatische Situation vor allem auf die »immer schlechter werdenden landwirtschaftlichen Bedingungen infolge der wiederholten und anhaltenden Dürren« zurückführt. Der Hinweis auf die Dürren ist nicht falsch: In der Tat schädigen die häufig gewordenen extrem trockenen Phasen die Vegetation und die Tierwelt, nur um dann von ebenso zerstörerischem Starkregen abgelöst zu werden.

Dennoch ist diese gängige Ursachenbeschreibung irreführend. Denn sie unterschlägt, dass die aktuelle Hungerkrise im Wesentlichen menschengemacht ist. Hauptverantwortlich dafür, dass die Landwirtschaft die Menschen nicht mehr ernähren kann und sie sich den Kauf von Nahrungsmitteln nicht mehr leisten können, sind die Kriege in den betreffenden Ländern. Sie führen zur Vertreibung von Millionen Menschen, berauben sie jeder Einkommensmöglichkeit und ruinieren die lokalen Märkte. Die VerursacherInnen lassen sich klar benennen: In Nigeria sind es die Dschihadisten von Boko Haram, in Südsudan machtgierige Eliten und im von Mangel geplagten Syrien sind es fast alle Kriegsparteien, die den Hunger zu verantworten haben - wenn sie ihn nicht gar gezielt als Waffe zur Zermürbung gegnerischer Gruppen einsetzen.

Es gibt viele weitere Ursachen für den Hunger: Unfähige und korrupte Regierungen, die nicht in der Lage oder Willens sind, die Ernährungssicherheit großer Teile der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten. Den Industriestaaten ist das gleich, solange die Geschäfte gut laufen. Sprechen muss man auch vom Klimawandel: In welchem Ausmaß er für die Klimaextreme verantwortlich ist, kann niemand genau sagen, aber dass er mitverantwortlich ist, sagen alle unabhängigen Fachleute.

Nicht zuletzt ist die Hungerkatastrophe vom Versagen der »internationalen Gemeinschaft« mitverursacht. Nach Angaben der Vereinten Nationen fehlen 90 Prozent des Geldes, das benötigt wird, um die Hungernden vor dem Tod zu bewahren. Dabei handelt es sich um eine überschaubare Summe, um vier Milliarden Euro. Die Industrieländer stecken lieber Geld in die Flüchtlingsabwehr oder schauen weg, statt Nothilfe zu leisten.

Warum dennoch viele Hilfsorganisationen die Hungerkrise zu einer bloßen Naturkatastrophe stilisieren, obwohl ihnen die genannten Faktoren durchaus bekannt sind, liegt auf der Hand. Zum einen wollen sie es sich nicht durch allzu politische Ursachenbeschreibungen mit den Regierungen in Süd und Nord verscherzen, auf deren Goodwill sie bei ihren Hilfseinsätzen angewiesen sind. Zum anderen ist Spendensammeln leichter, wenn statt komplexer menschengemachter Ursachen eine im Wortsinne plakative Dürre angeführt werden kann.

Es ist also verständlich, wenn medico mit den eingangs zitierten Worten die Hungerkrise politisieren möchte. Doch wirklich überzeugen können sie nicht: Einem Mord liegt eine dezidierte Absicht zugrunde, und die dürfte im Falle von Hungertod nur selten gegeben sein. Statt des allzu plakativen Mordbegriffes wäre es angemessener, von grober Fahrlässigkeit und unterlassener Hilfeleistung zu sprechen. Beides ist mehr als kriminell genug und verlangt nach entschiedenem Einschreiten, findet


die redaktion

PS: Deniz Yücels legendäre taz-Kolumne »Besser« wurde hier im iz3w sehr geschätzt, wie auch viele andere seiner Texte. Umso geschockter waren wir über seine Verhaftung, die einer Geiselnahme durch das Erdogan-Regime gleicht. Bleibt die Hoffnung, dass er nach dem Referendum am 16. April zusammen mit den vielen anderen in der Türkei eingesperrten JournalistInnen freigelassen wird. Bis es so weit ist, rufen wir zur Teilnahme an allen #FreeDeniz-Solidaritätsaktionen auf.

PPS: In der letzten iz3w-Ausgabe erschienen zwei Debattenbeiträge von Daniel Bendix und Winfried Rust zu Degrowth. Die damit angestoßene Diskussion über Postwachstums-Konzepte geht auf www.iz3w.org weiter, und zwar mit einer Replik von Nina Treu.

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 360 - Mai/Juni 2017

Aktivismus in Freien Radios
Dazwischenfunken

Weltweit ist das Radio das Medium, das die meisten Menschen erreicht. In Europa verliert der Hörfunk zwar an Zuhörerschaft, aber gerade in Ländern des Globalen Südens sind Radiostationen ein sehr wichtiges Mittel der politischen Kommunikation. Gerade Freie Radios tragen zur Vielfalt von Stimmen und Meinungen bei, indem sie jenen Bevölkerungsgruppen eine Stimme geben, die keinen Zugang zu Zeitungen oder Internet haben und die bei öffentlichen Debatten nicht gehört werden.

In unserem Themenschwerpunkt fragen wir unter anderem: Welche Rolle spielen Radios in Konfliktregionen? Welche Bedeutung haben Community Radios im Amazonasgebiet? Wie können Geflüchtete das Radio für sich nutzen? Sind Freie Radios und Piratensender ein Auslaufmodell - oder im Gegenteil Avantgarde?

Der südnordfunk - die monatliche Radio-Magazinsendung des iz3w - ergänzt das Dossier mit Podcasts rund um das Thema Freie Radios weltweit.


INHALTSÜBERSICHT

Hunger ist keine Naturkatastrophe
Hefteditorial

Dossier: Freie Radios

Freie Radios
Editorial zum Dossier

»Es geht ums Ganze, den Weltgeist!«
Interview mit Geert Lovink über die Zukunft des Radioaktivismus

»Wir brauchen eine Dekolonisierung der Technologie«
Interview mit der Medienaktivistin Maka Munoz

Es begann mit einer mp3-Datei
Der internationalistische Radiodienst Onda
von Wolf-Dieter Vogel

»Weder mächtig noch Machos«
Interview mit Vicky Quevedo über das feministische Radio Tierra

»Schlag gegen die Gegenöffentlichkeit«
In Argentinien kämpfen alternative Medien gegen ihre Abschaffung
von Meike Bischoff

»Weder legal, noch illegal, einfach nur geil«
Vom Radiomachen im Amazonas
von Nils Brock, Rita Muñoz und Guilherme Figueiredo

The Great Firewall
Der Trend zu digitaler Kontrolle
von Arne Hintz

»Nichts als die Wirklichkeit« - Langfassung
Interview mit Jean-Marie Etter über Radios in Konfliktregionen

Auf drei Männer kommt eine Frau
Genderungleichgewichte in Freien Radios
von Bianca Miglioretto

»Es geht nicht nur um den Akt des Sprechens«
Was das Radiomachen für Geflüchtete bedeutet
von Johanna Wintermantel

»Mühsam und großartig zugleich« - Langfassung
Studiogespräch mit Aktiven von Radio Dreyeckland


POLITIK UND ÖKONOMIE

Iran: Ein legendärer Schah-Besuch
Der 2. Juni 1967 als Kristallisationspunkt internationaler Politik
von Harald Möller

Weltwirtschaft: Aufbruch ohne Erfolg
Warum ist die Neue Internationale Weltwirtschaftsordnung gescheitert?
von Jürgen Dinkel

Kolumbien: »Ich esse keine Blumen!«
Projekte solidarischer Landwirtschaft in der Stadtregion Bogotá
von Birgit Hoinle


KULTUR UND DEBATTE

Film I: Mutiger als gut ist?
Die Berlinale zeigte starke Frauenportraits aus dem Kongo
von Isabel Rodde

Film II: Überlebende, nicht Opfer
Auf der Berlinale wurden drei Filme zum Thema
Vergangenheitsaufarbeitung ausgezeichnet

Geschichtspolitik: Kontinentaler Perspektivwechsel
Die Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« wird in Kapstadt gezeigt
von Christa Aretz

Grenzregime: Handlungsmacht versus Struktur
Der »lange Sommer der Migration« und seine kontroversen Interpretationen
von David Niebauer und Till Schmidt

Literatur: »Kubas Hähne krähen um Mitternacht«
... ist nicht der stärkste Roman von Tierno Monénembo
von Ute Evers


Rezensionen

Sabine Hess et al. (Hg.):
Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III

Imraan Coovadia:
Vermessenes Land

Stephan Lessenich:
Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis

Reinhard Kleist:
Castro


Das Dossier "Freie Radios" wurde gefördert von Engagement Global mit finanzieller Unterstützung des BMZ. Herzlichen Dank.

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Quelle:
iz3w Nr. 360 - Mai/Juni 2017
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August 2017

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