Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

LICHTBLICK/184: Ich sehe was, was du nicht siehst... - Kriminalprognosen


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 348 - 3/2011

Ich sehe was, was du nicht siehst...
Kriminalprognosen

Eine Reportage



Die Kriminalprognose ist ein wichtiges Instrument im Strafvollzug. Mit Ihrer Hilfe müssen Vorhersagen über die zukünftige Gefährlichkeit eines Straftäters erstellt werden. Wenn schon die Wettervorhersage, die meist nur Prognosen für wenige Tage abgibt, oft ungenau und fehlerbehaftet ist - wie ist es dann um die Kriminalprognose bestellt, die für einen langen Zeitraum das menschliche Verhalten vorhersagen soll?


Die Justiz soll blind sein - Justitia, die römische Göttin der Gerechtigkeit und des Rechtswesens, trägt eine Augenbinde, hält eine Waagschale und droht mit dem Richtschwert. Diese weit verbreitete Darstellung versinnbildlicht, dass das Recht ohne Ansehen der Person, nach sorgfältiger Abwägung der Sachlage gesprochen und schließlich mit der nötigen Härte durchgesetzt wird. "Bravo"!, mag man nun rufen - das klinge und sei doch fair.

Aktuelle Umfragen geben der bundesdeutschen Justiz, die sich den Maximen der römischen Göttin verpflichtet fühlt, jedoch schlechte Noten: Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung bezeichnet die deutsche Justiz als mit Mängeln behaftet.

Ein Grund für diese Justiz-Verdrossenheit ist leicht ausgemacht: Die Judikative, die Gerechtigkeit verspricht, richtet ob der ihr durch die Legislative vorgegebenen Gesetze. Der Richter fällt sein Urteil nicht aufgrund eines Naturrechts, sondern er wendet die vom Bundestag und den Landesparlamenten verabschiedeten Gesetze an und legt sie aus. So haben auch im nationalsozialistischen Unrechtsstaat die Richter "Gerechtigkeit" ausgeübt. Wer stimmt deshalb nicht dem Aphorismus des zweiten Bundeskanzlers Ludwig Erhard zu:

"Ich habe es mir angewöhnt, das Wort Gerechtigkeit fast immer nur in Anführungszeichen auszusprechen, weil ich erfahren habe, daß mit keinem Wort mehr Mißbrauch getrieben wird als gerade mit diesem höchsten Wert."

Was kann ein Richter tun, wenn die Gesetze, aufgrund derer er Recht sprechen soll, ungerecht sind? Er könnte die Radbruchsche Formel anwenden: Das Gesetz findet dort seine Grenze, wo es im Widerspruch zu den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts oder zu dem Naturrecht steht oder der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als "unrichtiges Gesetz" der Gerechtigkeit zu weichen hat.

Es ist also kein einfacher Job, den Richter ausüben. Große Verantwortung lastet auf ihren Schultern, ihre Tätigkeit bedarf viel Einfühlungsvermögen und Sachkenntnis; sie dürfen nicht nur nicht blind sein, sondern müssen mit außerordentlicher Hell- und Weitsichtigkeit gesegnet sein. Dabei bedienen sich Gerichte auch Helfern, die noch mehr sehen, weil sie Fachleute auf ihrem Gebiet sind: den Gutachtern.

Kriminalprognosen

Auch wenn sich das Strafrecht mit einer zurückliegenden Tat beschäftigt - mitnichten ist das Strafrecht zeitlich rückwärtsgewandt, denn das Ziel des modernen Strafrechts ist auch die Prävention; Prävention bezogen auf den Täter bedeutet auch, Aussagen über seine Gefährlichkeit zu treffen - genau dies soll die Kriminalprognose leisten.

Dem erkennenden Verfahren, in dem es um die Aufklärung und Aburteilung einer Straftat geht, sind kriminalprognostische Überlegungen immanent: Jeder Strafrichter muss bei Entscheidungen zum Strafmaß, zur Strafaussetzung zur Bewährung, bei der Erteilung von Weisungen oder Beschlüssen zur Unterbringung kriminalprognostische Überlegungen anstellen.

Aber nicht nur im Strafverfahren, sondern auch im Strafvollzug - der Strafvollstreckung - werden Gutachten benötigt - sei es bei der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung (§ 57 StGB) oder der Gewährung von Vollzugslockerungen (§ 11 StVollzG). Forderte früher § 454 StPO nur für Gefangene mit lebenslanger Freiheitsstrafe zwingend die Einholung eines Sachverständigengutachtens vor der Strafaussetzung zur Bewährung, wird seit 1998 durch das "Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten" für die zu mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe Verurteilten aus diesem Täterkreis zwingend ein Prognosegutachten vorgeschrieben. Auch innerhalb des Strafvollzugs werden Begutachtungen verlangt - beispielsweise bei der Gewährung von Lockerungen.

Gutachten im Strafvollzug sind prognostisch, das heißt, dass die zukünftige Gefährlichkeit eines Straftäters eingeschätzt werden muss. Dabei bergen Prognoseentscheidungen "stets das Risiko der Fehlprognose, sind im Recht aber gleichwohl unumgänglich. Die Prognose ist und bleibt als Grundlage jeder Gefahrenabwehr unverzichtbar, mag sie auch im Einzelfall unzulänglich sein", so das Bundesverfassungsgericht (2 BvR 2029/01 am 05.02.2004). Zwar führt es weiter aus, dass sich in der Praxis der forensischen Psychiatrie in den letzten Jahren das Wissen erheblich verbessert habe und somit über einen Teil der Delinquenten relativ gute und zuverlässige Prognosen erstellt werden könnten - Wissenschaftler kommen jedoch auch zu anderen Ergebnissen: Ihre Kritik setzt bereits bei der Auswahl des Sachverständigen an. Häufig werden mit der Gutachtenerstellung psychiatrische, teilweise auch forensisch-psychologische Sachverständige betraut, die schon auf Grundlage ihrer Profession zu einer Pathologisierung des Probanden tendieren. Signifikant schlechter sind - so die Ergebnisse einer neuen wissenschaftlichen Studie - die Prognosegutachten von Psychiatern; Psychologen erfüllen die geforderten Mindeststandards besser als Psychiater.

Wissenschaftliche Untersuchungen von Kriminalprognosen zeichnen teilweise ein verheerendes Bild: von 80 % der Probanden, bei denen eine schwerwiegende Diagnose und ungünstige Prognose erstellt wurde, ging keine erhebliche Gefahr aus - diese Täter wurden trotz der ungünstigen Prognose entlassen und waren in der Folge zum größten Teil ungefährlich. Diese sogenannten "falsch Positiven" führen zu zu Unrecht Inhaftierten - es sind die Ungefährlichen, die mit Rücksicht auf das vermeintliche Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung weggesperrt werden beziehungsweise bleiben.

Mindeststandards von Kriminalprognosen ...

Noch vor wenigen Jahren attestierten Wissenschaftler vielen kriminalprognostischen Gutachten Fehlerhaftigkeit - viele Gutachten würden Mängel aufweisen; die Gutachter hätten oft schlechte handwerkliche Arbeit geleistet, vielmehr sei herumgedoktert und versucht worden, in der Glaskugel zu lesen - das Ergebnis habe oft angemutet, als sei ausgewürfelt worden; tatsächlich sei das Ergebnis oft nicht besser gewesen, als der Zufall.

Etwa seit dem Jahr 2000 haben immer mehr Gerichte den Gutachterauftrag präzisiert und Grundsätze entwickelt - kulminiert ist dies in den von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe aufgestellten "Mindestanforderungen für Prognosegutachten", die neben formellen auch inhaltliche Mindestanforderungen festschreiben: "Ziel dieser Informationserschließung ist es, ein möglichst exaktes, durch Fakten gut begründetes Bild der Person des Probanden, seiner Lebens- und Delinquenzgeschichte, der in seinen Taten zutage getretenen Gefährlichkeit und seiner seitherigen Entwicklung zu gewinnen", so die interdisziplinäre Arbeitsgruppe.

... und deren Kritik

Der Wecker klingelt. Sie stehen auf. Ihre Frau bleibt liegen. Am Morgen ist sie oft grummelig und wird erst nach Kaffee und Zigarette genießbar - sie kennen sie; oft verstehen sie sich auch ohne Wort: Menschen bleiben sich in wesentlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen gleich.

Der Wecker klingelt. Sie stehen auf. Ihre Frau ist schon wach - fröhlich summend tanzt sie durch die Wohnung; sie hat einen neuen Job, ihre Ernährung umgestellt und Ihre Partnerschaft ist glücklich: Menschen ändern sich.

Auch wenn diese Änderungen oft allmählich ablaufen - von heute auf morgen wird kaum jemand zu einer ganz anderen Person - besonders situative Gegebenheiten beeinflussen das Verhalten eines Menschen. Situationen bieten jeweils bestimmte Gelegenheiten und stellen ebenso spezifische Anforderungen - die Reaktionen des Individuums können durchaus differieren. Oder anders: Wer weiß nicht von Situationen zu berichten, in denen er sich spontan entschlossen hat, etwas zu tun, was er vielleicht sonst nicht getan hätte.

Ein solches Verhalten vorherzusagen, ist schlichtweg unmöglich. Deshalb ist es auch verfehlt, selbst einer Kriminalprognose, die alle Kriterien der Mindestanforderungen vortrefflich erfüllt, eine stringente Beweiskraft zu unterstellen. Mit anderen Worten: Mindeststandards gaukeln eine Wissenschaftlichkeit vor, die realiter nicht gegeben ist. "Seriöse Sachverständige betonen deshalb immer wieder, dass eine zeitliche Begrenzung der Treffsicherheit und Gültigkeit von Prognosen erforderlich sei, weil langfristig neue äußere Einflüsse nicht vorhersehbar seien", so der Jurist Dr. Michael Alex von der Ruhr-Universität Bochum. Auch andere Experten betonen, dass die Möglichkeit der wissenschaftlichen Vorhersage menschlichen Verhaltens relativ begrenzt ist.

Wertet ein studierter und erfahrener Meteorologe die Daten von Wetterstationen sorgfältig aus, analysiert er die Satellitenfilme und Isobarenkarten ganz genau, berücksichtigt er die Großwetterlage und Globalstrahlung, so wird er sich dennoch davor hüten, eine Wettergarantie für die nächsten Tage abzugeben - geschweige denn eine Vorhersage für die nächsten Jahre zu erstellen! Dass das menschliche Verhalten weitaus komplexer ist als das Wetter, sei hier nur am Rande erwähnt.

Sachverständige

In der Kritik steht aber nicht nur die Zuverlässigkeit - und somit Zulässigkeit - der Prognose selbst, sondern auch die Gutachter, die diese Prognosen erstellen.

Die Anfänge der modernen Kriminalprognose liegen im späten 19. Jahrhundert, als der italienische Mediziner und Psychiater Cesare Lombroso die sogenannte Positive Schule der Kriminologie begründete. In seinem Werk "L'uomo delinquente" (dt. "Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung") vertrat er die These, dass Verbrecher anhand physiologischer Merkmale erkannt werden können. Seine Lehre vom geborenen Verbrecher - das Verbrechen ist, so Lombroso, bereits bei der Geburt vorherbestimmt - war von Anfang an umstritten; heutzutage werden seine Theorien kaum noch vertreten.

Mit der Erstellung von Prognosegutachten können psychiatrische Sachverständige, aber auch andere Disziplinen wie (Rechts-)Psychologen beauftragt werden. Bereits die Beauftragung steht jedoch in der Kritik: die Gutachtenerstellung ist eine lukrative Dienstleistung für den Auftragnehmer - etliche tausend Euro verdient ein Gutachter an dem Auftrag, der neben dem ausgiebigen Aktenstudium meist mehrere Gespräche mit dem Probanden umfasst. Das Gutachten selbst besteht sodann aus bis zu 100 Seiten. Auftraggeber der Gutachten ist die Justiz (Gerichte, Anstalten, Staatsanwaltschaften). Jeder Gutachter tut also gut daran - will er weitere einträgliche Aufträge erhalten - die Wünsche des Auftraggebers zu beachten; zumindest aber wird er bemüht sein, den Auftraggeber nicht zu verstimmen.

Oft bestehen langjährige Seilschaften zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern - man kennt sich nicht nur von etlichen Anhörungsterminen im Gericht, sondern begegnet sich im Tennisclub oder auf dem Golfplatz.

Bei aller Professionalität der Sachverständigen scheint eine Beeinflussung nicht ausgeschlossen.

Eine deutliche Präferenz konstatiert eine aktuelle wissenschaftliche Untersuchung über Kriminalprognosen: Etwa 80 % der untersuchten Gutachten stimmten mit der Einschätzung des Auftraggebers (hier: Justizvollzugsanstalten) Die sogenannten Mindeststandards gaukeln eine Wissenschaftlichkeit vor, die realiter nicht gegeben ist. überein. "Das kann zum Einen daran liegen, dass ein Gutachten zu Lockerungen bzw. Entlassung erst dann in Auftrag gegeben wird, wenn die JVA der Ansicht ist, dass der Insasse nun soweit ist, dass eine solche Frage überhaupt ansteht, zum anderen aber auch daran, dass sich die Gutachter aus "Sicherheitsgründen" dem Votum der JVA anschließen", so der renommierte Kriminologe Dr. Helmut Kury und die Psychologin Brit Adams, die die Untersuchung durchführten.

Deutliche Worte findet auch der Fachanwalt für Strafrecht Marcel Börger:

"Der Faktor Mensch ist und bleibt ein ernst zu nehmendes Problem. Wo viel Spielraum für Bewertungen und Ermessen vorhanden ist, muss mit vielen Fehlerquellen und einer erheblichen Anzahl von fragwürdigen Resultaten gerechnet werden. Wenn Überlegungen zum eigenen Einkommen, Angst vor Presseberichten etc. hinzutreten, kann die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit faktisch auf der Strecke bleiben. Fatal ist, wenn tatsächlich oder nur so geglaubte "unerwünschte Ergebnisse" unterlassen werden, obwohl sie fachlich geboten waren. Ganz gleich welchem Druck oder welcher Angst man sich gebeugt hat, dass Gutachten ist fachlich und damit insgesamt wertlos. Fragwürdig ist es auch, wenn dir ein (angeblich unabhängiger) Sachverständiger mitteilt, dass er den geschilderten Fall zwar sehr interessant fände, aber keine Gutachten oder Methodenkritiken im Auftrag eines Verteidigers schreiben kann und will. Hier liegt vieles im Argen."

Gefangene stehen einer kriminalprognostischen Begutachtung überwiegend skeptisch gegenüber: durch die Flure und Zellen geistern abschätzige "Verurteilungen" des Gutachterstandes - diese seien desinteressiert, hätten sich ohnehin schon ihre Meinung (die eine ablehnende sei) gebildet, wären lebensfremd und miesepetrig.

Diese Vorurteile - durchaus aber ernstzunehmenden Befürchtungen - stehen im Widerspruch zur Erfahrung: Gefangene, bei denen Gutachten beauftragt werden, sind seitens der Anstalt bereits in den Prozess von Lockerung / Entlassung gebracht worden; die Anstalt steht Lockerungen / vorzeitiger Entlassung zumindest aufgeschlossen gegenüber und deshalb wird ein nun notwendiges Gutachten beauftragt - daraus folgt auch, dass viele Gutachter zu einem für den Insassen positiven Ergebnis kommen. Dass trotzdem Angst und Zweifel vorherrschen, könnte daran liegen, dass besonders die Gefangenen, bei denen das Gutachten zu einem negativen Ergebnis führte, in der Anstalt verbleiben und dieses Ergebnis verbreitet wird und prominent bleibt.

Eine Begutachtung - als soziale Interaktion - muss jedoch die Ängste und Zweifel der Gefangenen berücksichtigen, will sie nicht die Chance eines von Offenheit, Vertrauen und Verständnis zumindest rudimentär durchdrungenen Dialogs vertun - gefordert sind hier die Sachverständigen, als die die Begutachtungsinteraktion dominierenden Akteure.

Die von dem französischen Gelehrten Michel Foucault (Philosoph, Psychologe, Historiker, Soziologe) in seinem 1975 erschienenen Buch "Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses" konstatierte Trennung von Rechtsprechung und Strafvollzug in der Moderne - die Distanzierung vom Prozess des Bestrafens - treibt die Gutachter-Profession auf die Spitze: schon der Richter sitzt weit weg vom schäbigen Gefängnis, in dem zwar keine körperlichen Strafen mehr vollzogen werden, sondern verwissenschaftlich auf die Seele des Delinquenten eingewirkt wird - erst recht aber der Gutachter, der darauf verweist, dass strafrechtsrelevante Prognoseentscheidungen in letzter Konsequenz Sache des Rechtsanwenders sind - mit anderen Worten: der Richter entscheidet; jedoch aufgrund der vom Gutachter erstellten Prognose! Dieser Verantwortung müssen sich die Gutachter bewusst sein und sie übernehmen - für den Gefangenen hängt von der Prognose viel Leben ab, Gutachter entscheiden über dieses - sie müssen dies mit dem nötigen Bewusstsein, der notwendigen Verantwortung und Professionalität tun.

Statistische und klinische Prognose

In der Wissenschaft haben sich zwei methodische Wege von Verhaltensprognosen etabliert: die statistisch-nomothetische und die klinisch-idiografische Prognose. Der eine Weg - der statistisch-nomothetische - baut bei der Prognosebeurteilung auf empirisch kontrollierte Erfahrungen mit ähnlichen Tätergruppen über Rückfallhäufigkeiten und Rückfallprädiktoren auf; das heißt, dass ein statistischer Prognosealgorithmus angewendet wird, für den es jedoch erforderlich ist, dass zuvor umfangreiche Rückfalluntersuchungen durchgeführt worden sind und dass die untersuchte Population für den Einzelfall als relevant anzusehen ist.

Der andere Weg beruht auf einem idiografischen Ansatz und besteht im Kern darin, ein auf den Einzelfall zugeschnittenes Erklärungsmodell für die Anlasstat und ihre Hintergründe zu entwickeln; das heißt, dass aus der Analyse und Erklärung der bisherigen Delinquenz eine individuelle Delinquenztheorie abgeleitet wird, die im Fortgang der Untersuchung zur Beantwortung der dem Untersuchungsauftrag zugrundeliegenden Frage - beispielsweise, "ob keine Gefahr mehr besteht, dass dessen in der Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht" - herangezogen wird.

Beide Verfahren haben spezifische Vor- und Nachteile, die in diesem Aufsatz nicht dezidiert dargelegt werden können - ein sehr ernst zu nehmender Einwand gegen die statistische Prognose soll jedoch hier Erwähnung finden: bei konsequenter Anwendung lässt die statistische Prognose es nicht zu, Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen, auch wenn diese Besonderheiten für die Prognose sehr bedeutsam erscheinen.

Ein Bespiel für ein recht neu entwickeltes statistisches Prognoseinstrument, das auf der Grundlage weniger und einfach zu erfassender Merkmale unmittelbar eine Schätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit erlauben soll: Die Offender Group Reconviction Scale.

Offender Group Reconviction Scale

x1 Alter in Jahren
x2 Geschlecht (weiblich = 0; männlich = 1)
x3 Anzahl strafrechtlicher Verurteilungen während der Jugendzeit
x4 Gesamtzahl Verurteilungen bisher
x5 Zeit seit erster Verurteilung in Jahren
x6 Delikttyp (spezielle Code-Tabelle)

Y = 31 - x1 - 3x2 - x3 + 75 √ (x4 / x5 + 5) + x6

p = 1 / (1 + exp (3,115 - 0,0598Y))

p: Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verurteilung innerhalb von zwei Jahren

Mit dieser Formel wird die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verurteilung innerhalb von zwei Jahren errechnet. Grundlage dieser Berechnung sind bestimmte Merkmalskorrelationen, die das Risiko einer erneuten Verurteilung erhöhen oder vermindern. Notwendig hierzu sind einerseits umfangreiche Rückfalluntersuchungen (in denen festgestellt wurde, dass beispielsweise die Anzahl strafrechtlicher Verurteilungen während der Jugendzeit einen erheblichen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verurteilung innerhalb von zwei Jahren hat), und andererseits wird bereits bei der Zahl und dem Charakter der in die Berechnung einfließenden Variablen deutlich, dass individuelle Merkmale - qualitative Besonderheiten des Einzelfalls - keinerlei Einfluss haben. Diese Vernachlässigung individueller Merkmale führt - auf die Spitze getrieben - auch das Gefängnis als obsolete Organisation vor: Scheißegal, ob Inhaftierte Resozialisierungsmaßnahmen erfolgreich absolviert haben, ob sie Behandlungen durchlaufen, soziale Kontakte gepflegt, Berufsperspektiven erarbeitet haben oder auch "nur" vom Gefängnis nachhaltig geängstigt wurden oder nicht - auf das Ergebnis hat all dies keinen Einfluss!

Anhand von umfangreichen Rückfallstudien wurden diese Instrumente entwickelt, die Grundwahrscheinlichkeiten für erneute Vorkommnisse liefern - jedoch zu Lasten der Berücksichtigung von spezifischen, individuellen risikosteigernden oder -senkenden Eigenschaften / Verhaltensweisen des Probanden.

Die klinische Prognose bietet zwar die Chance, den Probanden individuell zu begutachten - sie stellt jedoch erhebliche Anforderungen an den Beurteiler. Selbst jüngst entwickelte Prozessmodelle klinisch-prognostischer Urteilsbildung bieten keine hinreichende Gewähr für die Erfüllung wissenschaftlicher Gütekriterien: so können bei aller Professionalität des Gutachters Sympathien, Tagesform und / oder Empathie das Untersuchungsergebnis beeinflussen.

Jedoch zeigen Evaluationen, dass ausgebildete und trainierte Gutachter individualdiagnostische Prognosen liefern können, die hinsichtlich der Prognosegüte deutlich über denen statistischer Methoden liegen; so sind klinisch-idiografische Prognosen nicht nur besser als statistische, sondern reduzieren die Schwächen statistischer Prognosen.

Genauigkeit und Irrtümer statistischer Prognosen

Neben der bereits erwähnten Vernachlässigung individueller Besonderheiten besitzen statistische Prognoseinstrumente weitere Begrenzungen und Schwächen, von denen nachfolgend einige aufgezeigt werden:


xxx (1. Kurvendiagramm, S. 44)


Rückfällige und Nicht-Rückfällige besitzen ein und dasselbe bestimmte quantitative Merkmal - die Nicht-Rückfälligen weisen im Durchschnitt für dieses Merkmal jedoch geringere Werte auf. Relativ beliebig wird nun der cut-off-Grenzwert festgelegt, ab dem man die Merkmalsausprägung als den Rückfall vorhersagend ansehen will. So werden - je nach Grenzwertsetzung - einige oder gar viele zu Unrecht "verurteilt".

Diagramm mit zwei Kurven für die Merkmalsausprägung bei Nicht-Rückfälligen und Rückfälligen.


In der Abbildung sind zwei hypothetische Häufigkeitsverteilungen dargestellt, welche die Ausprägungen eines bestimmten quantitativen Merkmals in einer Population von Straftätern darstellen. Die linke Kurve stellt die Verteilung in der Gruppe der Nichtrückfälligen dar, die für dieses Merkmal im Durchschnitt geringere Werte aufweisen; die rechte Kurve repräsentiert die Werte der Rückfälligen. Beide Verteilungen überschneiden sich - der Merkmalswert gibt folglich nicht eindeutig Auskunft darüber, ob die Person mit diesem Wert zu den Rückfälligen oder den Nichtrückfälligen gehört. Je höher der Wert, desto wahrscheinlicher jedoch ist, dass es sich um einen Rückfälligen handelt - ausgeschlossen ist aber nicht das Gegenteil.

Man legt einen bestimmten Grenzwert ("cut-off") fest, an dem man zwischen rückfällig und nicht-rückfällig unterscheidet - setzt man einen konservativen cut-off-Punkt (c1) an, so gelingt es mit großer Treffsicherheit, fast alle Gefährlichen zu identifizieren - aber es wird auch die überwiegende Zahl der nicht-gefährlichen Untersuchten als gefährlich eingestuft. Wird ein höherer cut-off-Wert gewählt, sinkt zwar die Quote der "falsch positiven" - es gehen aber auch etliche Gefährliche durch's Netz.

Hier treffen zwei widerstreitende Aspekte aufeinander: "falsch Positiven" wird aufgrund einer ungünstigen Prognose Freiheit entzogen; und auch die Gesellschaft hat unter der Fehleinschätzung zu leiden, da sie die Kosten für den unnötigen Freiheitsentzug zu tragen hat; nicht zuletzt kann ein Fehlurteil zu einer Selffulfilling-Prophecy (sich selbst erfüllenden Prophezeiung) führen: bei schlechter Prognose unterbleiben realiter Resozialisierungsbemühungen (beispielsweise Lockerungen), die tatsächlich zu einem Rückfall führen können.

Die "falsch Negativen" treten nicht nur wieder vor die Richterbank, sondern nicht selten auch ins Rampenlicht: Revolverblätter wissen von Verbrechern zu berichten, die laxe Gutachter entlassen haben; von Monstern, die für immer weggesperrt bleiben müssen.

Es stehen sich also der Anspruch des Einzelnen auf Freiheit (und Wiedereingliederung) und der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten gegenüber - dies ist vor allen Dingen eine politische Entscheidung; es sind also zwei Fragen:

Welche Risiken, ist unsere Gesellschaft bereit einzugehen?

Und welche Grundrechtseingriffe will sie ihren Bürgen zumuten?

Die Problematik der sogenannten "Basisrate" wird unter Fachleuten kontrovers diskutiert - im Ergebnis jedoch wird festgestellt, dass das methodologische Wissen über Basisraten eher unzureichend ist und nicht geeignet, die Zuversicht im Hinblick auf die Qualität von Wahrscheinlichkeitsaussagen zu steigern, so der Jurist Dr. Michael Alex von der Ruhr-Universität Bochum. Als Basisrate wird der Anteil von Personen innerhalb einer interessierenden Population bezeichnet, für die das zu prognostizierende Ereignis eintreffen wird; also das Vorkommen von Tätern eines Delikts in einer bestimmten, nach allgemeinen Kriterien definierten Menge. Die Bedeutung der Basisrate liegt darin, dass sie die Qualität von Prognoseentscheidungen und die Verteilung von Irrtumsrisiken beeinflusst, und zwar unabhängig von der Validität der Prognosemethode; mit anderen Worten: Eine "falsche" Basisrate macht das Ergebnis auch des besten Instruments ungültig.

Ein weiterer Nachteil von statistischen Prognoseinstrumenten ist die Gaußverteilung der Wahrscheinlichkeitsdichte: Dieses Phänomen ist jedem bekannt - die Noten von Klassenarbeiten in der Schule verteilen sich in einer Gauß'schen Glockenkurve; einige Wenige haben sehr gute Noten, ebenso haben einige Wenige sehr schlechte Noten, die Meisten aber haben ein "befriedigend". Diese Verteilung beruht unter anderem auf dem zentralen Grenzwertsatz und stellt sich als sogenannte Gauß-Verteilung dar.


xxx (2. Kurvendiagramm, S. 45)

Gauß'sche Glockenkurve: viele Ergebnisse - bezogen auf eine Kriminalprognose: viele Personen - liegen im Bereich mittlerer Ausprägung und sind folglich unspezifisch für die Prognose.

Gauß'sche Glockenkurve: viele Ergebnisse - bezogen auf eine Kriminalprognose: viele Personen - liegen im Bereich mittlerer Ausprägung und sind folglich unspezifisch für die Prognose.


Für die Kriminalprognose hat dies die Mittelfeldproblematik zur Folge: überproportional viele Personen liegen im Bereich mittlerer Ausprägung, sie sind also unspezifisch für die Prognose, ihre Rückfallwahrscheinlichkeit liegt nahe der Basisrate.

Konsequenzen

Rein statistische Verfahren gehen am Menschen vorbei; und auch am Gesetz: eine individuelle Behandlung - die Resozialisierung - ist grundrechtlicher Anspruch von Gefangenen und sozialstaatliche Verpflichtung der Justiz. Diesen Anspruch würde man mit Gutachten, die überwiegend statische Methoden anwenden, ad absurdum führen.

Kann hier also die Empfehlung erteilt werden, statistische Untersuchungen zu verweigern?

Nein - sofern sie denn als Hilfsmittel im Rahmen einer umfassenderen Beurteilungsmethodik angewendet werden.

Grundsätzlich sind Kriminalprognosen im Strafvollzug unverzichtbar - Entscheidungen müssen getroffen werden. Diese Entscheidungen sollten jedoch auf der Grundlage möglichst sorgfältig ermittelter Fakten und Risikoeinschätzungen getroffen werden. Ein Richter kann dies im Verfahren - selbst unter Zuhilfenahme von justizbehördlichen Stellungnahmen - nur schwer und nicht hinreichend leisten. Die im Rahmen einer Kriminalprognose erstellte individuelle Delinquenztheorie nebst einer individuellen Entwicklungstheorie kann in einer wenn-dann-Analyse die verbleibenden Risiken einschätzen - und gar Empfehlungen benennen; über eventuelle Risikofaktoren aufklären und Behandlungsmaßnahmen anregen.

Die entwickelten Mindeststandards zeigen die Richtung auf, in die sich die Kriminalprognosen, die dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung und dem Freiheitsanspruch des Probanden gerecht werden, entwickeln müssen. Jedoch scheinen wichtige sozialwissenschaftliche Aspekte in vielen Kriminalprognosen, die zwar den Mindestanforderungen genügen, zu kurz zu kommen: Der Krankheitsbegriff vieler Forensiker berücksichtigt sozialwissenschaftliche Erkenntnisse nicht hinreichend (beispielshaft soll hier nur der "labeling approach" benannt werden). Die Diagnose einer Krankheit - deutlich emergiert in einem der gängigen Klassifikationssysteme (beispielsweise DSM-IV-TR) - verortet die Delinquenz ausschließlich im Individuum und lässt (abgesehen von eventuell krankheitsverursachenden systemischen Zusammenhängen) familiäre, kulturelle, gesellschaftliche Faktoren unberücksichtigt. So ist bei vielen Jugendlichen, die - idealtypisch - in einem sozialen Brennpunkt aufgewachsen sind, Gewalthandeln im Alltag gängig und adäquat - ihr Handeln ist nicht krankhaft, sondern (für sie und ihr Umfeld) "richtig" und normal. Strafbare Handlungen sind per se Phänomene einer Gemeinschaft / Gesellschaft - folglich müssen auch in die Bewertung dieser Handlungen sozialwissenschaftliche Erkenntnisse einfließen. Hier sind die bisherigen Mindestanforderungen - vor allen Dingen bei Prognosen außerhalb des Maßregelvollzugs - dringend zu ergänzen.

Gutachter üben meist keine Extremsportarten aus, sie haben Medizin oder Psychologie studiert und sind berufstätig, sie kommen oft aus der bürgerlichen Mittelschicht, sie sind eher konservativ. Diese Gutachter müssen nun Risiken abwägen - und eingehen.

Zu Recht sorgen sich Gutachter - sie haben Sorge um die Bevölkerung, die vor weiteren schweren Straftaten geschützt werden muss, aber sie sorgen sich auch um ihr eigenes Wohlergehen: in den Strudel des allgemeinen Entsetzens über einen schlimmen Rückfall werden auch Gutachter hineingezogen.

Gefordert sind hier besonders die Medien und die Politik: 100%ige Sicherheit kann es nur zugunsten einer totalitären Kontrolle geben, die die Individuen aller Rechte beraubt! Und selbst dort werden Zwischenfälle die Ordnung stören; zudem wird in einem Orwell'schen Überwachungs- und Sicherheitsstaat nur vermeintliche Sicherheit proklamiert - wer schützt die Bürger von denen, die sie (angeblich) beschützen?

Das Leben birgt Risiken: jeder Schritt auf die Straße, jede Beziehung zu einem Mitmenschen, jede unserer Aktionen - oder auch jedes uns widerfahrene Ereignis - kann zu Verletzungen, Missstimmungen oder Enttäuschungen führen. Niemand will Opfer einer Straftat werden - aber auch niemand kann verhindern, Opfer zu werden. Mit diesem "Rest-Risiko" müssen wir leben.

Die Kriminalpolitik muss Risiken minimieren - aber sie muss auch sensibilisieren, und sie darf dem Leben innewohnende Risiken nicht im Sinne einer "Angst sells"-Manier erhöhen.

Die Rechtspflege ist auf Kriminalprognosen angewiesen, um Risiken abzuschätzen - dieses Instrumentarium muss jedoch mit der notwendigen Kenntnis, Sorgfalt und Verantwortung gebraucht werden.


Interview

mit Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber, Lehrstuhlinhaber am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité, einem der renommiertesten Gerichtsgutachters Deutschlands.

lichtblick: Herr Prof. Kröber - auch anknüpfend an die aktuelle Kontroverse um die Sicherungsverwahrung -: Wie eng oder breit Gefährlichkeit bestimmt wird, ist ja die Frage der Risiken, die die Gesellschaft einzugehen bereit ist. Leben wir in einer Gesellschaft, die sich nichts mehr traut?

Prof. Körber: Wenn schwere Straftaten zu verhindern sind, hat die Gesellschaft einen Anspruch darauf, dass es geschieht. Mit Einsperren kann man Risiken aber nur begrenzt verringern, denn die Dauer der Strafe richtet sich aus gutem Grund nach der Schuldschwere. Fast alle kommen daher wieder in Freiheit, und Risikominderung muss also auch andere Methoden anwenden.

lichtblick: Also Freiheitsstrafe abschaffen?

Prof. Körber: Natürlich nicht. Aber mittels einer Verlängerung von Freiheitsentzug Sicherheit zu erhöhen, ist sehr aufwendig; das kostet viel Geld und bindet viele Menschen, die Wichtigeres tun könnten. Man kann es nur auf eine sehr kleine Gruppe anwenden, und es ist wenig effektiv. Viel wichtiger wäre es, für alle Mittel- und Langstrafer das Übergangsmanagement zu verbessern: Eben Inhaftierte nicht mit einem blauen Müllsack am letzten Tag ihrer Strafe auf der Straße "aussetzen", sondern Ihnen dabei zu helfen, sich ganz konkrete Möglichkeiten für Wohnen, Arbeiten, soziale Eingliederung zu schaffen. Zum Beispiel offene Wohnheime schaffen, die Entlassene aufnehmen und unterstützen müssen. Genau das erhöht die Chancen für ein straffreies Leben.

lichtblick: Genau da kommen ja die Gutachter ins Spiel: Bei Prognosen zu Rückfall / Gefährlichkeit anlässlich der Gewährung von Lockerungen und bedingter Entlassung kommt den Aussagen des Gutachters entscheidendes Gewicht zu. Sollten Gutachter nicht mutiger sein - schließlich sind Gutachter keine Hellseher, sie wissen nicht, was wirklich geschehen wird?

Prof. Körber: Entscheider sind immer die Gerichte. Es geht nicht um mutig oder ängstlich, sondern um handwerklich gute und fundierte Gutachten oder aber Gutachten, wo der Gutachter letztlich nur vermutet, wie es weitergehen wird. Ich habe jedoch im Jahr 2006 zusammen mit anderen Experten die "Mindestanforderungen für Prognosegutachten" entworfen ...

lichtblick: Trotzdem testieren aktuelle Untersuchungen den Kriminalprognosen nur eine "ausreichende" Qualität, nicht wenige sind mangelhaft.

Prof. Körber: Es gibt Regionen, wo es zu wenig kompetente Gutachter gibt. Berlin gehört nicht dazu. Mit den "Mindestanforderungen" haben wir Standards festgelegt für sorgfältige, wissenschaftlich fundierte Kriminalprognosen, die anhand Fakten überprüfbar sind. Die sollen den Gerichten als Entscheidungshilfe vorgelegt werden, und auch die Gerichte benötigen kriminalprognostische Kompetenz.

lichtblick: Ist das gelungen?

Prof. Körber: Wir selbst haben keine Untersuchungen über die Qualität von Kriminalprognosen durchgeführt, sehe aber viele Gutachten anderer. Die Mindestanforderungen sollen unter anderem auch dazu dienen, feststehende Klischees - beispielsweise dass eine fehlende Tataufarbeitung pauschal als Negativkriterium gewertet wird - zu durchbrechen.

lichtblick: Tataufarbeitung ist also nicht gut?

Prof. Körber: Doch, sicher ist es gut für sich zu klären, wieso man zu der Tat gekommen ist und was man unbedingt künftig anders machen muss. Für das Rückfallrisiko spielt dieser Aspekt jedoch meist keine wichtige Rolle. Wissenschaftlich gesichert sind soziale Kriterien am wichtigsten: Wo kommt der Verurteilte hin, in welches Umfeld wird er entlassen. Und welche Chance hat er, dort anders zu leben als früher?

lichtblick: Was soll also im Gefängnis mit den Straftätern geschehen?

Prof. Körber: Es ist noch deutlich mehr machbar auf dem Weg zum Behandlungs-Vollzug. Dass man die Kräfte nicht vorrangig für Bewachung einsetzen muss, sondern dafür, zusammen kooperatives Sozialverhalten zu trainieren. Das würde nicht mal viel Geld kosten!

lichtblick: Wieso unterbleibt es dann - wider besseren Wissen?

Prof. Körber: Das heutige Gefängnis ist wirklich schon viel weiter als noch vor 20 oder gar 40 Jahren; wenn man drin sitzt, merkt man die Veränderung aber kaum. Eine alteingesessene große Institution verändert sich nur sehr langsam.

lichtblick: Was könnte helfen?

Prof. Körber: Die Institution "Gefängnis" muss sich selbst überprüfen lassen, wie sie eigentlich arbeitet. Es gibt solche Begutachtungen von Gefängnissen, wo man sich die ganz konkrete Struktur der JVA, die Arbeitsweise, die Kooperation, die "Prozessqualität" anschaut. Man darf sich aber von solchen Röntgenaufnahmen der Institution nicht zu viel erhoffen: Dann Veränderungsvorschläge umzusetzen, erfordert schwierige Lernprozesse. Man glaubt schnell, alle anderen Vorgehensweisen als die bewährten sind unsicher.

lichtblick: Noch einmal zurückkommend auf mangelhafte Gutachten, insbesondere auf falsch positive, in denen irrtümlich eine fortbestehende Gefährlichkeit angenommen wird.

Prof. Körber: "Falsch positiv" kann man nur verwenden bei Befunden, nicht bei Prognosen. Wenn ein Radiologe Flecken auf dem Röntgenbild fälschlich als Krebs beurteilt, ist das objektiv 100 % falsch. Wenn man sagt, bei 10 Entlassenen mit gleichen Voraussetzungen besteht ein Rückfallrisiko von 20 %, dann ist Kriminalprognose bei allen richtig, wenn 2 von den 10 rückfällig werden. Aber vorher kann keiner sagen, welche beiden von den 10 es sein werden.

lichtblick: Sind Gutachter ängstlich? Scheuen sie sich, im Zweifel für den Probanden zu votieren?

Prof. Körber: Die Rechtsprechung entscheidet gegen den Verurteilten, wenn gewichtige Zweifel bestehen, dass er es schaffen kann oder will. Dabei gibt das vom Rückfall bedrohte Rechtsgut den Ausschlag. Natürlich kann die Gesellschaft sich bei einem Einbrecher ein höheres Risiko leisten als bei einem Kapitalverbrechen. Eine günstige Entlassungsprognose muss man allerdings tatsächlich oft energischer und deutlicher bei der Justiz erklären und verteidigen als eine ungünstige.

lichtblick: Gutachten stimmen meistens mit der Beurteilung durch die Anstalt überein. Wird da vom Gutachter nur die Meinung der Anstalt übernommen; vielleicht auch aus finanziellen Interessen des Gutachters?

Prof. Körber: Die Gutachter werden nicht von der Anstalt bezahlt, meist sogar - genau genommen - vom Gefangenen, wenn der zur Zahlung der Gerichtskosten verurteilt wurde. Tatsächlich zahlt die Justiz. Immer nur die Sichtweise der Anstalt zu kopieren, dafür möchte niemand Geld ausgeben. Aber die Anstalt kennt den Inhaftierten über Jahre hinweg und kann sich oft ein recht gutes Bild von ihm machen - wieso sollte der Gutachter zu ganz anderen Ergebnissen kommen?

lichtblick: Leider werden aber die Kriminalprognosen, die in Widerspruch zu der Meinung der Anstalt stehen, weniger gut angenommen.

Prof. Körber: Man kann die Anstalten dran gewöhnen, dass es ihnen weiterhilft, wenn ein Gutachter auch andere Aspekte benennt, Wege aufzeigt und Lösungen vorschlägt. Man kann und muss nicht immer einer Meinung sein. Mein Anliegen ist, dass meine Gutachten Eingang finden in einen Diskussionsprozess, dass sie Einfluss haben.

lichtblick: Vielen Dank für das Interview!


Interview

mit Frau Dr. Burghardt-Kühne und Frau Cardini vom Psychologischen Dienst der JVA Berlin-Tegel


"Wir trauen uns zu wenig!"

Frau Dr. Burghardt-Kühne, Mitarbeiterin des Psychologischen Dienstes der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel, räumt es ein: "Wir trauen uns zu wenig!" Sie zuckt mit den Schultern - mitfühlendes Bedauern liegt in Ihrem Blick als sie auf die Frage, wie risikobereit unsere Gesellschaft im Umgang mit Straftätern ist, antwortet.

"Zu wenige Risiken trauen wir uns." Sie schließt sich selbst dabei nicht aus: "Wenn einmal etwas richtig schief gegangen ist, dann überlegt man sich das genau; nach einem "Super-GAU" ist man vorsichtiger." Sie braucht bei dieser Aussage nicht um Verständnis zu werben - es liegt in der Natur des Menschen, aus schrecklichen Vorkommnissen zu lernen - das nächste Mal eben vorsichtiger zu sein.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Tegeler Psychologischen Dienstes - 5 sind es demnächst - tragen auf ihren Schultern eine schwere Last: Begeht ein von ihnen begutachteter Straftäter erneut ein schweres Verbrechen, sind sie tief betroffen und das Grübeln beginnt: "Wir fragen uns, ob wir etwas übersehen haben, ob wir den Rückfall hätten verhindern können." Frau Dr. Burghardt-Kühne spricht es nicht aus, aber es steht ihr ins Gesicht geschrieben: Hätten wir den Rückfall verhindern müssen?! Es sei auch eine Frage von Schuld, mit der jeder Gutachter umgehen müsse, führt Frau Cardini, beim Psychologischen Dienst tätige Dipl.-Psychologin, aus.

Persönliche Sorgen und Ängstlichkeit der Justizbehörde sind nicht von der Hand zu weisen: Einem Gutachter braucht nicht mal ein grober Schnitzer zu unterlaufen, es reicht, dass die "Revolverblätter" einen Rückfall stänkernd publizieren, und dann sitzt nicht nur der Gutachter in der Bredouille, sondern auch höhere Stellen sind von der Misere betroffen. "Die Justiz ist ganz nah an der Politik", erklärt Frau Dr. Burghardt-Kühne. Zudem sind auch berufspraktische Fragen von Bedeutung: "Inwieweit uns unser Arbeitgeber tatsächlich schützen kann vor eventuellen Regressansprüchen?", erläutert Frau Cardini.

Die tägliche Arbeit der Psychologinnen und Psychologen besteht unter anderem darin, prognostische Einschätzungen zu Lockerungsgewährungen abzugeben. "Wir werden aber erst dann mit einer Begutachtung beauftragt, wenn in der Vollzugsplankonferenz bereits positiv für Lockerungen votiert worden ist. Wir sehen also nicht die Klienten, bei denen im Haus (in der Teilanstalt, T.F.) Lockerungen entweder nicht diskutiert oder aber abgelehnt wurden", fasst Frau Dr. Burghardt-Kühne einen Schwerpunkt der Tätigkeiten des Psychologischen Dienstes zusammen. Frau Cardini präzisiert: "Wir sind eine Service-Einrichtung für den Anstaltsleiter. Unsere Fachkompetenz wird hinzugezogen."

Auf die Frage, ob es zu viele falsch positive, sogar mangelhafte Gutachten gäbe, antworten die beiden Psychologinnen, dass es - wie fast überall im Leben! - nicht Schwarz und Weiß gäbe, sondern ein großes Feld des Grau. "Unser Votum gegen die Gewährung von Lockerung ist eine Aussage über die Rückfallgefährdung des Klienten. Wenn aber keine unmittelbare Gefährdung vorliegt, befürworten wir die Lockerungsgewährung", konkretisiert Frau Cardini.

Ohne pauschal zu verurteilen, bringt Frau Dr. Burghardt-Kühne einen kritischen Aspekt zur Sprache: "5 ist 'ne Zahl. Ist ein Insasse zum fünften Mal in Haft, sind wir nicht mehr so freundlich." Ihr Ziel sei es aber nicht, mit dem erhobenen Zeigefinger zu tadeln und zu versagen, sondern aufzurütteln: "Wenn wir ihn nicht erschüttern, dann erschüttert ihn nichts mehr!" Empathisch fahren die beiden fort und präzisieren: "Aufrütteln, Veränderungen anzuregen, und dies fruchtbar zu nutzen, das versuchen wir." Ein Beispiel dieser Initialzündung liefert Frau Dr. Burghardt-Kühne gleich mit: Das jedem Gefangenen nach einer Begutachtung offerierte Gespräch habe ein Insasse genutzt, um sie zu "schelten": Sie habe ihn auf den 10 Meter Turm geführt, ohne sie wäre er dort nicht hochgestiegen - nun stände er da ... .

Frau Cardini empfiehlt den Insassen, sich auf ein Gespräch mit dem Psychologischen Dienst gut vorzubereiten: "Eine unserer häufigen Fragen lautet: Wann haben Sie das letzte Mal Ihr Urteil gelesen? Nicht selten erhalten wir als Antwort: Noch nie. Selbst Gefangene, die nicht über Ihre Straftat reden können, müssen zumindest eine stellvertretende Tatauseinandersetzung leisten. Ganz besonders schauen wir auch darauf: Unter welchen Lebensumständen hat der Klient die Tat begangen - und was sei jetzt anders, fragen wir ihn." Zwar würden sie stets ein umfassendes aktuarisches Studium betreiben - "wir nehmen jede Seite der Gefangenenpersonalakte in die Hand" -, weniger Relevanz für die prognostische Einschätzung, als gemeinhin angenommen, habe jedoch beispielsweise das allgemeine Vollzugsverhalten in der Mitte der Akte; dies würde zwar sicher im Vollzug Auswirkungen haben, spiele aber prognostisch betrachtet eine eher untergeordnete Rolle. Auch ein angepasstes Vollzugsverhalten bedeutet noch nicht gleich die Befürwortung seitens des Psychologischen Dienstes, zu Vollzugslockerungen zugelassen zu werden.

Hingucken - auch wenn's weh tut, sich des Schreckens gewahr werden und ihn wach halten, dies sei die via regia nicht nur für einen "erfolgreichen" Vollzugsverlauf, sondern auch für ein straffreies Leben.

*

Quelle:
der lichtblick, 43. Jahrgang, Heft Nr. 348, 3/2011, Seite 36-46
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
Seidelstraße 39, 13507 Berlin
Telefon/Fax: 030/90 147-23 29
E-Mail: gefangenenzeitung-lichtblick@jva-tegel.de
Internet: www.lichtblick-zeitung.de

"der lichtblick" erscheint sechsmal im Jahr.
Der Bezug ist kostenfrei. Spenden zu Gunsten
des Gefangenenmagazins "der lichtblick" sind als
gemeinnützig anerkannt und steuerlich absetzbar.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2011