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MARXISTISCHE BLÄTTER/381: Vom Schattenboxen gegen das "Finanzkapital"


Marxistische Blätter Heft 1-09

Vom Schattenboxen gegen das "Finanzkapital"

Von Hans-Peter Brenner


Marx als Ökonom ist wieder "en vogue". Nicht erst seit der aktuellen Finanzkrise. Schon am 28. April 2005 überraschte die "Frankfurter Rundschau" ihre Leserschaft im Zusammenhang mit der damaligen "Heuschrecken"-Rede von Franz Müntefering mit einem "Marx is in the air" betitelten großen Aufmacher.

Die "junge Welt" vom 02.05.2005 merkte zu solcher Art von "Marx-Revival" an: "In breitenwirksamen Medien werden die Attacken des SPD-Chefs Franz Müntefering derzeit als "Kapitalismuskritik" bezeichnet, gar mit Karl Marx in Verbindung gebracht. Tatsächlich haben seine Auslassungen mit ersterem wenig und mit letzterem gar nichts zu tun."

Die "junge Welt" hatte Recht. Geholfen hat das nicht viel. Heute wird Marx geradezu rauf und runter gebetet.

Hilft diese Art der "Wiederentdeckung" von Marx für die Entwicklung eines richtigen Verständnisses des Kapitalismus von heute?

Es geht um ein falsches Grundverständnis über das, was gemeinhin als "Finanzkapitalismus", "Casino-Kapitalismus", etc. bezeichnet wird.

Hat der Bank- und Finanzkapitalismus mit dem "eigentlichen" Kapitalismus eigentlich nichts oder nur wenig zu tun? Ist der Finanzkapitalismus umgekehrt der "eigentliche" Kapitalismus, während die "Realwirtschaft" eigentlich etwas anderes - nämlich die (soziale) Marktwirtschaft - ist, die an sich nach wie vor die "beste aller Welten" darstellt?

Oder aber haben wir es mit einer neuen dialektischen Einheit von "Finanzwelt und Realwirtschaft" zu tun, bei der der Produktionssphäre jedoch das Primat zufällt?


Falsche Trennung von "fiktiver Wirtschaft" und Realwirtschaft

Zur faschistischen Demagogie der 20er und frühen 30er Jahre gehörte die Polemik der Hitler-Partei gegen das "raffende (jüdische) Kapital". Die materielle Warenproduktion - das Herz der kapitalistischen Produktionsweise und Basis jeglicher Ökonomie - blieb von diesem demagogischen "Anti-Kapitalismus" unbehelligt. Damit auch die Drahtzieher und politischen Hintermänner und Finanziers der Nazi-Partei aus der Großindustrie. Mit demagogischen Appellen für die "Mittelständler in Gewerbe und Einzelhandel" polemisierten die Nazi-Propagandisten gleichzeitig sowohl gegen die aus der Arbeiterbewegung stammenden genossenschaftlich geführten Konsumvereine wie gegen kapitalistische Warenhaus-Konzerne und andere Großfilialbetriebe.

Dieser Tenor - "böses" spekulatives Finanzkapital gegen "gutes" produzierendes Industriekapital oder auch "Finanzwirtschaft gegen Realwirtschaft" - durchzieht im Prinzip auch heutige viele "kapitalismuskritische" Kommentare. (Natürlich setze ich diese nicht mit der Sozialdemagogie der Nazis gleich.)

Im Mittelpunkt steht häufig die (an sich berechtigte) Auseinandersetzung mit Praktiken des spekulativ tätigen Finanzkapitals in der Form der modernen Fondsgesellschaften, die selbst keine eigenständigen materiellen Produkte hervorbringen, sondern sich als riesige Kapitalsammelstellen erweisen, die gewaltige Summen zum schnellen Ankauf und Verkauf profitabler Unternehmen einsetzen, um diese dann in ihre "Filet-Stücke" zu zerlegen und mit Super-Extra-Profiten möglichst schnell weiter zu verkaufen oder die mit ihren gewaltigen Kapitalreserven Wetten auf die künftige Entwicklung von Aktienkursen betreiben und deren Kurse rauf und runter manipulieren.

Dabei erweist sich die links-bürgerliche Kritik bei genauerem Hinsehen nicht nur als oberflächlich, sondern manchmal geradezu als ein prokapitalistisches Täuschungsmanöver. So hieß es kurz nach Ausbruch der aktuellen Finanzkrise in einem Kommentar des Wirtschaftsredakteurs der Frankfurter Rundschau, R. von Heusinger:

"Wenn einer in diesen Tagen, in denen es kein Vertrauen mehr in private Banken gibt, noch als sicher gilt, dann der Staat. Eine Verstaatlichung über Eigenkapital und Garantien sichert dem Steuerzahler mittelbar auch Einfluss auf die Geschäftspolitik der Banken... In der Kernschmelze des kapitalistischen Systems wird klar, dass Banken nie private Unternehmer sein können. Sie sind immer quasi-öffentlich und müssen deshalb streng reguliert werden." (Frankfurter Rundschau vom 30.9.08)

Die "Rettung" des Kapitalismus vor den Finanzkapitalisten, die damit eigentlich Fremdkörper innerhalb des kapitalistischen Systems sind: das ist die Logik solcher "antikapitalistischer" Kommentare.


Über "Wirtschaftsdemokratie" und fehlerhafte linke Kritik des Finanzkapitals

Jedoch auch ernsthaftere und wissenschaftlich qualifizierte Autoren begehen an diesem Punkt einen ähnlichen Fehler. Wirtschaftstheoretiker, die der Partei der Linken nahe stehen, gehen offenbar davon aus, dass sich Finanzspekulation in Form frei flottierenden "Abenteurerkapitals" oder auch "Casino-Kapitals" relativ problemlos von den Vorgängen in der industriellen Basis der kapitalistischen Warenproduktion trennen und durch eine strengere Bankenaufsicht oder schärfere gesetzliche Kontrollen "bekämpfen". d.h. "reregulieren" ließen.

J. Bischoff argumentierte z. B. im Rahmen eines Beitrags zu einer Konferenz über "Wirtschaftsdemokratie", veranstaltet von der Fraktion GUE//NGL im Europa-Parlament, bereits 2005 dazu, dass die für den sogenannten Neo-Liberalismus typische weitreichende Deregulierung der sozialstaatlich verfassten sozialen Sicherungssysteme und die damit einhergehende "Entfesselung des Kapitalismus" zu einer "relativen Verselbständigung der Finanzmärkte" geführt habe. Dies hätte zu der gegenwärtigen "Verschiebung der Machtbalance zwischen Lohnarbeit und Kapital" und zu den "heftigen Finanzkrisen" geführt.

Hinter dieser Form der Kapitalismus-Schelte steckt jedoch eine prinzipiell unzureichende Beachtung der Wechselwirkungen zwischen Produktions- und Zirkulationssphäre des Kapitals. Es wird eine Autonomie der Finanzsphäre postuliert, die in Wirklichkeit nicht existiert.

Bischoff plädierte für eine Wiederbelebung der in der Weimarer Zeit von Rudolf Hilferding und Fritz Naphtali vertretenen Konzepte der "Wirtschaftsdemokratie." Diese gelte mit Recht als "Inbegriff reformsozialistischer Ziel- und Strategiekonzeptionen." Bischoff versteht unter Wirtschaftsdemokratie "eine strategische Konzeption, in der ausgehend von den real existierenden Konfliktlinien innerhalb des Laissez-faire-Kapitalismus eine Verknüpfung der verschiedenen Aspekte des gesellschaftlichen Widerstandes gegen die neoliberale Politik erreicht werden kann."(1)

Ein wichtiges Element dieser Wirtschaftsdemokratie ist nach Bischoff die Kontrolle der Finanzwirtschaft. Deren Entwicklung laufe "in eine falsche Richtung, weil weitgehende Deregulierung bei minimaler Kontrolle dominiert. Die Alternative zu dieser neoliberalen Politik ist die Einbindung der Finanzmärkte in eine demokratische Entwicklungsstrategie und ihre Rückführung auf ihre Hauptfunktionen, die Finanzierung von Investitionen und die Bildung langfristigen privaten Vermögens."(2)

Bischoff betont ausdrücklich, dass mit dieser Wirtschaftsdemokratie kein Anspruch erhoben werde für eine antikapitalistische und den Kapitalismus überwindende Strategie. "Ein solcher Vorschlag zur Demokratisierung der Wirtschaft ist eindeutig reformistisch." Aber: "Mit der Entprivilegierung der Kapitalherrschaft wird die Wirtschaftsmacht relativiert."(3) Ähnliche Konzepte vertraten und vertreten andere der "Memorandum" Gruppe zugehörige Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler wie z. B. die Professoren H. Schui und Heinz J. Bontrup. Letzterer erklärte in einem Beitrag über Wirtschaftsdemokratie und Shareholder-Kapitalismus: "Ohne einen Paradigmenwechsel in Politik und Ökonomie, weg vom Neoliberalismus und der Ideologie der herrschenden Oligarchien des Finanzkapitals, wird es keine Wirtschaftsdemokratie geben."(4)

Das verkennt den Grundmechanismus der kapitalistischen Produktionsweise. Der Sinn der kapitalistischen Produktion liegt in der Kapitalverwertung. Diese aber bedeutet die Akkumulation von Mehrwert, der durch die menschliche Arbeitskraft im Produktionsprozess geschaffen wird und nicht in der Zirkulationssphäre des Kapitals.


Der Wertbildungs- und Verwertungsprozess des Kapitals und dessen "funktionelle Formen"

Der kapitalistische Arbeits- und Produktionsprozess ist in seiner dialektischen Einheit als warenproduzierende Arbeit und zugleich als Verwertungsprozess des Kapitals zu betrachten. "Als Einheit von Arbeitsprozess und Wertbildungsprozess ist der Produktionsprozess Produktionsprozess von Waren; als Einheit von Arbeitsprozess und Verwertungsprozess ist er kapitalistischer Produktionsprozess, kapitalistische Form der Warenproduktion."(5)

Der Mehrwert als Quelle ökonomischen Reichtums und politischer Macht ist also keine "Frucht des arbeitenden Kapitals", sondern Produkt der vom Arbeiter in ihrem doppelten Charakter abgeleisteten Arbeit als konkrete und abstrakte Arbeit, die mit der Produktion von konkreten Gebrauchswerten auch zugleich (in ihrer abstrakten Form) den Wert bzw. den vom Kapitalisten angeeigneten Mehrwert schafft.

Dieser Mehrwert "realisiert sich aber erst im Zirkulations- bzw. Kreislaufprozess des Kapitals über die folgenden drei verschiedenen Etappen:

1. Etappe: Verwandlung von Geldkapital in produktives Kapital dadurch, dass der Kapitalist zunächst Waren, Produktionsmittel und die lebendige Arbeitskraft kauft, die sich verwerten in der nächsten

2. Etappe. dem eigentlichen Produktionsprozess, in welchem die Rohstoffe verarbeitet und Waren produziert werden, die einen höheren Wert darstellen als zu Beginn dieser Stufe bis zur

3. Etappe, in der die produzierten Waren (das "Warenkapital") über den Verkauf wieder die ursprüngliche Geldform annehmen, aber in neuer und höherer Quantität, mit dem im Verkaufspreis realisierten Mehrwert.

Diese drei "funktionellen Formen" des Kapitals bilden den Kreislauf des Kapitals. Nur in seiner zweiten Etappe, in der Form des industriellen Kapitals, findet die Wert-, Neu- und Mehrschöpfung statt. "Das industrielle Kapital ist die einzige Daseinsweise des Kapitals, worin nicht nur Aneignung von Mehrwert, resp. Mehrprodukt, sondern zugleich dessen Schöpfung Funktion des Kapitals ist. Es bedingt daher den kapitalistischen Charakter der Produktion; sein Dasein schließt das des Klassengegensatzes von Kapitalisten und Lohnarbeitern ein."(6)

Dies ist der qualitativ entscheidende Unterschied zwischen dem industriellen Kapital und anderen Kapital-Formen wie dem Wucherkapital, dem Bank- oder auch Handelskapital, die bereits in vorkapitalistischen Produktionsweisen vorhanden waren. Die Besonderheit des industriellen Kapitals und damit auch ein Grund für die gegenwärtige Überbetonung und Verabsolutierung anderer Kapitalformen, wie dem Bank- und Versicherungskapital - oder auch dem "Finanzkapital" - besteht darin, dass das industrielle Kapital sich in ständiger Bewegung befindet und der "Kreislauf des Kapitals" sich unablässig erneuert. Sein Ziel ist es, sich in immer größerem Umfang Mehrwert anzueignen. Dabei existiert das industrielle Kapital immer gleichzeitig in allen drei Formen: als Geldkapital, als produktives Kapital und als Warenkapital.

Jeder Teil des Kapitals nimmt also nacheinander die verschiedenen Formen an und gibt sie wieder ab. Das trifft sowohl für die Einzelkapitale zu als auch für die Gesamtheit des Kapitals, für das gesellschaftliche Gesamtkapital.(7)

Der Zirkulationsprozess des Kapitals kann an allen seinen drei genannten Erscheinungsformen ins Stocken geraten; dann kommt es zu einer Verwertungskrise, die auf den ersten Blick durchaus unterschiedliche Ursachen besitzen kann.

"Stockt das Kapital in der ersten Phase G - W, so erstarrt das Geldkapital zum Schatz; wenn in der Produktionsphase, so liegen die Produktionsmittel funktionslos auf der einen Seite, während die Arbeitskraft auf der andern unbeschäftigt bleibt; wenn in der letzten Phase W - G, so versperren unverkäuflich aufgehäufte Waren den Zirkulationsfluss."(8)


Welche Rolle spielt das Leihkapital und das Bankwesen?

Das Finanzwesen entsteht und entwickelt sich nicht aus sich heraus, sondern in engster Verbindung mit den Entwicklungen innerhalb der materiellen Warenproduktion und des Warenaustausches. Mit der Entwicklung des Kapitalismus entstanden in der materiellen Produktion immer größere Produktionseinheiten. In enger Wechselwirkung und Verbindung mit diesem Prozess, der schließlich zur Entstehung von monopolkapitalistischen Betrieben der industriellen Großproduktion führte, vollzog sich auch eine gewaltige Konzentration und Zentralisation des Bankkapitals, der sich in Riesendimensionen steigernden nationalen und internationalen Geschäfts- und Kreditbanken. Das war schließlich die Grundlage für die Entstehung des Finanzkapitals als Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital.

Der Konzentrations- und Zentralisationsprozess des Kapitals, die Monopolbildung in Industrie und Handel hatte zur Folge, dass ein wachsender Bedarf an Geldkapital entstand, den die damaligen Banken nur dadurch befriedigen konnten, dass sie sich ebenfalls zu neuen Dimensionen weiterentwickelten. Ihre ursprüngliche Funktion war die der Zahlungsvermittlung; d. h. sie stellten den Kapitalisten Geldkapital zur Verfügung - ursprünglich in Form kurzfristiger Kredite und an einen zumeist wechselnden Kundenkreis. Durch ihre Suche nach größeren und langfristigeren Krediten stimulierten die Industrie- und Handelsmonopole die Bildung von Bankmonopolen, die erst in der Lage waren, diese großen Geldmengen aufzubringen. Dabei wuchsen die entstandenen Großbanken jedoch rasch aus der Rolle des reinen Geldvermittlers hinaus. Sie entwickelten sich zu "allmächtigen Monopolinhabern (...), die fast über das gesamte Geldkapital aller Kapitalisten und Kleinunternehmer sowie über den größten Teil der Produktionsmittel und Rohstoffquellen des betreffenden Landes oder einer ganzen Reihe von Ländern verfügen. Diese Verwandlung zahlreicher bescheidener Vermittler in ein Häuflein Monopolisten bildet einen der Grundprozesse des Hinüberwachsens des Kapitalismus in den kapitalistischen Imperialismus."(9)

Löste sich damit die "Finanzwirtschaft" von der "Realwirtschaft" und begann sie nun diese zu beherrschen? Wurde sie nun zum "eigentlichen" Kapitalismus? Auf den ersten Blick spricht einiges dafür.

"Macht ohne Kontrolle - Banken in Deutschland" lautete vor bereits 38 Jahren eine Titelgeschichte des "Spiegel". Darin wurden ausführliche Daten über das Bankenwesen in der BRD zusammen getragen und kommentiert: "Sie (die Banken) kontrollieren fast alle Schlüsselindustrien zwischen Rhein und Elbe. Nahezu die gesamten Chemiekonzerne sind fest in ihrer Hand, obwohl sie ihnen nicht gehören. Sie bestimmen mit, was in den Montan-Unternehmen geschieht, und sie haben ein gewichtiges Wort bei den meisten großen Kaufhaus-Konzernen und fast allen überregionalen Bierbrauereien."(10)

Das Bank- oder Finanzkapital steht in dieser Sichtweise quasi über den Betrieben und Konzernen der materiellen Großproduktion und hält diese in ihrer Abhängigkeit.


"Beherrschen", "dienen" oder "verschmelzen". Aktualität der Leninschen Kritik an Hilferdings "Finanzkapital"

Doch die starke Rolle der Banken ist keine einseitige Vorherrschaft. Es geht vielmehr um einen Prozess der wechselseitigen Durchdringung von Industrie- und Bankkapital.

In der Alt-BRD vereinigten Anfang der 90er Jahre die drei Großbanken Deutsche Bank, Dresdner Bank und Commerzbank mit ihren über 120.000 Beschäftigten - bei Existenz weiterer 317 Kreditbanken - 48 Prozent der gesamten Aktiva aller Kreditbanken: unter Einbeziehung ihrer im Kreditwesen tätigen Tochtergesellschaften lag ihr Anteil sogar zwischen 55-58 Prozent.

Damit besaßen sie eine Monopolstellung vor allem im Bereich der langfristigen Kreditgewährung. Diese drei Bankkonzerne waren ökonomisch mit den mächtigsten Industrie, Handels-, Versicherungs- und Dienstleistungsunternehmen nicht nur in der BRD, sondern auch mit vielen ausländischen Konzernen teilweise aufs engste verflochten. Damit übten sie in vielen Fällen maßgeblichen Einfluss auf die Tätigkeit der mit ihnen geschäftlich und über Kredite verbundenen Industrieunternehmen und Konzerne aus.(11)

Lenin charakterisiert das so: "Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzung oder Verwachsen der Banken mit der Industrie - das ist die Geschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs."(12)

Diese Verschmelzung drückt sich u. a. in der "Personalunion" zwischen Konzernen und Monopolbanken bei der Besetzung der Schlüsselpositionen in den großen Finanzgruppen aus. "Zugleich entwickelte sich sozusagen eine Personalunion der Banken mit den größten Industrie- und Handelsunternehmungen, eine beiderseitige Verschmelzung durch Aktienbesitz, durch Eintritt der Bankdirektoren in die Aufsichtsräte (oder die Vorstände) der Handels- und Industrieunternehmungen und umgekehrt."(13)

Der US-amerikanische marxistische Ökonom Victor Perlo hat in den vergangenen 60er Jahren diese Verquickung am Beispiel des Konzerns General Electric Co., dem größten Konzern im Bereich der Elektrotechnik/Elektronik, untersucht. "GE" war damals Bestandteil der Morgan-Finanzgruppe. Ihr Zentrum wurde flankiert von großen Handels- und Emissionsbanken, großen Versicherungsgesellschaften und Investmenttrusts. Außer "GE" gehörten zur Morgan-Gruppe weitere bedeutende Industriegiganten wie American Telephone & Telegraph Co., International Business Machines Corp. (IBM), United Steel Corp. sowie weitere Gesellschaften aus verschiedenen Branchen.(14)

Das Imperium der in der Deutschen Bank vereinigten Finanzkapitalisten reichte von der I. G. Farben-Nachfolgegruppe (Bayer, Hoechst, BASF) über Siemens, Daimler-Benz und VW und den großen Montan-Konzernen des Ruhrgebiets bis zu wichtigen Unternehmungen der Bauindustrie, der Textil-, Lebensmittelindustrie und des Handels.

Diese sich über mehrere Wirtschaftszweige erstreckenden Kapitalgruppen und Monopole werden beherrscht von der aus dem Industrie- und Bankkapital sich rekrutierenden Finanzoligarchie, die Lenin die "krasseste Form" des Monopols nannte. "Das Finanzkapital, das in wenigen Händen konzentriert ist und faktisch eine Monopolstellung einnimmt, zieht kolossale und stets zunehmende Profite aus Gründungen, aus dem Emissionsgeschäft, aus Staatsanleihen usw., verankert die Herrschaft der Finanzoligarchie und legt der gesamten Gesellschaft einen Tribut zugunsten der Monopolisten auf."(15)

Im Unterschied zu Lenins "Verschmelzung"-Theorie hatte der seinerzeitige bedeutende sozialdemokratische Imperialismusforscher Rudolf Hilferding, auf dessen Studien auch Lenins Imperialismusanalyse sich oft bezog, das Finanzkapital definiert als "Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen. ... Die Mobilisierung des Kapitals und die stets stärkere Ausdehnung des Kredits ändert allmählich die Stellung der Geldkapitalisten vollständig. Die Macht der Banken wächst, sie werden die Gründer und schließlich die Beherrscher der Industrie, deren Profite sie als Finanzkapital an sich reißen, ganz wie einst der alte Wucherer in seinem "Zins" den Arbeitsertrag des Bauern und die Rente des Grundherrn."(16)

Mit dieser Definition, die Lenin bei aller Wertschätzung für Hilferding als Ökonomen - nicht als reformistischen Politiker - als "unvollständig und oberflächlich" kritisiert hatte, wird nicht das eigentlich Wesen des Finanzkapitals erfasst, denn es wird eigentlich nur der Bereich der Zirkulationssphäre berücksichtigt. "Diese Definition ist insofern unvollständig, als ihr der Hinweis auf eines der wichtigsten Momente fehlt, nämlich die Zunahme der Konzentration der Produktion und des Kapitals in einem so hohen Grade, dass die Konzentration zum Monopol führt und geführt hat."(17)

Zwar - so hebt auch Lenin hervor - hatte Hilferding auch die Rolle der kapitalistischen Monopole hervorgehoben, doch erfolgte dies bei Hilferding nicht aus einer organischen Entwicklung der Monopole aus der Konzentration der Produktion.

Hilferding sieht in Gleichgewichtsstörungen und Disproportionalitäten in der Zirkulationssphäre die entscheidende Ursache kapitalistischer Krisen. Deshalb ist es dann für ihn in den politischen Schlussfolgerungen auch entscheidend gewesen, durch eine Form des "organisierten Kapitalismus" die Krisenursachen zu beheben. Dies führt zu den sozialreformistischen Modellen der Weimarer SPD, die in der "Wirtschaftsdemokratie" den Hebel zur allmählichen Umwandlung des Kapitalismus in einen "demokratischen Sozialismus" sah.

Es ist letztlich die vereinseitigte Rolle des Finanzkapitals, ihre tendenzielle Höherbewertung gegenüber dem Produktionsprozess, die zu diesen im Reformismus endenden Vorstellungen von einseitigen Regulierungen des Finanzsektors führte, die den konsequenten und revolutionären Bruch mit den Eigentumsverhältnissen im Bereich der Produktion unterschätzte.

Wenn man Kritik an der Ökonomie übt, muss man das System mit seiner Verwertungs- und Profitlogik als Ganzes im Blick behalten, man kann nicht nur über die Spitze des Eisberges reden, man muss an diejenige Kapitalsphäre heran gehen, die das Zentrum des gesamten kapitalistischen Verwertungsprozesses darstellt. Dies ist der Bereich der unmittelbaren Warenproduktion, der durch den Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt wird: dem Privatbesitz an den Produktionsmitteln und dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion.

Es ist die damit verbundene Frage nach dem Eigentum an den Produktionsmitteln und deren Lösung zugunsten der Lohnabhängigen, zu der Marxisten über alle nötigen Kontroll- und Regulierungsvorschläge für den Finanzsektor hinaus durchstoßen müssen. Damit stellt sich die Frage nach dem revolutionären Bruch mit diesem System, was mit Formen der "Wirtschaftsdemokratie" nicht zu erreichen ist.


Hans-Peter Brenner, Dr., Bonn, Dipl. Psych., MB-Mitherausgeber


Anmerkungen:

(1) J. Bischoff: Das Ende des Neoliberalismus und die Zukunft der Wirtschaftsdemokratie. Zit. n.: http://www.linksnet.de/ drucksicht.php?id=1537,

(2) Bischoff a.a.O, S. 8

(3) Bischoff a.a.O. S. 5 und 7

(4) Heinz J. Bontrup: Wirtschaftsdemokratie und Shareholder-Kapitalismus: hektographierter Beitrag zur Konferenz über "Wirtschaftsdemokratie", veranstaltet von der Fraktion GUE/NGL im Europaparlament. 2005, S. 127 K.

(5) K. Marx: Das Kapital, Erster Band. MEW 23, S. 211

(6) K. Marx: Das Kapital, Zweiter Band. MEW 24, S. 61

(7) Vergl. Einführung in die politische Ökonomie des Kapitalismus Berlin 1973, S. 95

(8) K. Marx: a.a.O. S. 56

(9) W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus LW 22, S. 214

(10) Der Spiegel, 4/1971, S. 38

(11) Vergl. H. Tammer: Kapital, Profite und Profitraten der BRD-Großbanken 1973-1988; in IPW Berichte, Heft 8/90. S. 32ff

(12) Lenin: Der Imperialismus ... LW 22, S. 230

(13) Lenin: a.a.O. S. 224

(14) Vergl. V. Perlo: Das Reich der Hochfinanz. Berlin 1960. S. 185ff

(15) LW 22, S. 236

(16) R. Hilferding: Das Finanzkapital, Berlin 1955, S. 336f

(17) W. I. Lenin, Der Imperialismus, Zit. n. Ausgew. Werke, Bd I, 1954, S. 803


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-09, 47. Jahrgang, S. 69-75
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2009