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MARXISTISCHE BLÄTTER/388: Gewerkschaftspolitik im Zeichen der Krise


Marxistische Blätter Heft 2-09

Gewerkschaftspolitik im Zeichen der Krise

Von Bernd Riexinger


Nach der Wende 1989 bekamen die Gewerkschaften in Deutschland kräftigen Zuwachs und die Mitgliederzahl im DGB stieg auf über 10 Millionen. Seither verloren die DGB-Gewerkschaften über 3 Millionen Mitglieder. Auf jedem Politikfeld sind sie seither in die Defensive geraten. Sie konnten der neoliberalen Hegemonie nur wenig entgegensetzen. In kaum einem Jahr konnte in Tarifrunden auch nur der verteilungsneutrale Spielraum ausgeschöpft werden. Deutschland ist nach wie vor das einzige Industrieland der Welt, in dem die Reallöhne gesunken sind. Der Strategie wesentlicher Teile des Kapitals, die Exporte durch Wettbewerbsvorteile bei den Lohnstückkosten zu erhöhen, bei stagnierenden Löhnen und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, konnten die Gewerkschaften nur wenig entgegensetzen. Das größte Projekt zur teilweise Zerschlagung der Sozialsysteme und deren Anpassung an die Bedürfnisse des finanzgesteuerten Kapitalismus, die Agenda 2010, wurde ohne große Gegenwehr der Gewerkschaften durch das Parlament gepeitscht. Erst als mit Verzögerung und unter kräftigem Druck vieler gewerkschaftlicher Basisorganisationen, die in Zusammenarbeit mit Gruppen der sozialen Bewegungen und der Montagsdemonstrationen die Organisation der Gegenwehr selbst in die Hand nahmen, nicht mehr auf eine Reaktion der Gewerkschaftsführungen warten wollten und am 1.11.2003 100.000 Menschen auf eine Großdemonstration nach Berlin mobilisieren konnten, wurde eine Kurskorrektur vollzogen. Die Demonstrationen am 3.4.2004, bei denen die Gewerkschaften im Bündnis mit anderen über 500 000 Menschen auf die Straße brachten, war aber nicht der Beginn einer ernsthaften Mobilisierung gegen die neoliberale Politik der Bundesregierung, sondern gleichzeitig ihre Beerdigung. Das danach gestartete Arbeitnehmerbegehren war keine Steigerung des politischen Drucks, sondern dessen Beendigung.

Zwar gelang es den Gewerkschaften, insbesondere der IGM, Ende Januar 2007 über 300.000 Beschäftigte in den Betrieben und meistens während der Arbeitszeit gegen die Rente mit 67 zu mobilisieren. Eine Aktion, die zumindest die Tür für politische Streiks geöffnet hat. Aber auch dort wurde der Druck nicht gesteigert und insbesondere die IGM setzte schnell auf neue Altersteilzeitmodelle. So hatte der Versuch, in einer zentralen Frage, nämlich der Verlängerung des Renteneintrittsalters, der Bundesregierung eine Niederlage zu bereiten, was auch symbolisch enorme Bedeutung gehabt hätte, nicht zu einem Erfolg führen können.

Viele linke Gewerkschafter/innen, zu denen auch der Autor dieses Artikels gehört, analysierten die Defensive der Gewerkschaften als Ausdruck einer tiefen politischen Krise. Das Festhalten am Gewerkschaftsmodell des rheinischen Kapitalismus unter den Bedingungen eines radikal veränderten finanzgesteuerten Kapitalismus ist eine wesentliche Ursache für diese politische Krise. Mit diesem Prozess einher ging der Bruch der Sozialdemokratie mit der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, mit dem die deutschen Gewerkschaften ihren bis dato mehrheitlich so gesehenen politischen Arm verloren hatten, ohne dass dies mehrheitlich zu eindeutigen Konsequenzen geführt hätte. Die Entscheidung, dem politischen Mandat der Gewerkschaften durch eine klare politische Autonomie gegenüber allen Parteien und durch entschiedenere außerparlamentarische Mobilisierung größeren Nachdruck zu verleihen, wurde bis heute, sehen wir einmal von Ausnahmen ab, nicht getroffen. wenn auch die enge politische Verzahnung mit der SPD deutliche Risse bekommen hat, die durch die Bildung der Linkspartei noch vergrößert wurden.


Politische und organisatorische Krise

Die Gewerkschaften sind jedoch mit dem Formationswandel des Kapitalismus nicht nur in eine politische, sondern auch in eine organisatorische Krise geraten, aus der sie sich bis heute nicht befreien konnten. Während noch in den 90er Jahren der Bedeutungsverlust durch den Rückgang der klassischen Industriearbeit und dem Bedeutungsgewinn moderner Dienstleistungssektoren, deren Beschäftigte kaum organisierbar waren, die organisationspolitische Diskussion der Gewerkschaften prägte, hat sich mit der Jahrtausendwende und erheblich beschleunigt durch die Agenda 2010 krebsartig die Arbeit im Niedriglohnbereich, die Zahl der Leiharbeit/innen und Beschäftigten in deregulierter Arbeitsverhältnissen dramatisch ausgedehnt. Fast 30 Prozent der Beschäftigten sind in solchen Arbeitsverhältnissen angesiedelt. Gerade diese Beschäftigtengruppen hätten eine starke Organisation, die ihre Interessen konsequent wahrnimmt, besonders nötig. Leider ist das Gegenteil der Fall. Weiße Flecken und mangelnde gewerkschaftliche Durchsetzungskraft sind weitaus mehr die Regel als gewerkschaftliche Organisierung. So ist es kein Wunder, dass der Reallohnverlust in den letzten Jahren bei diesen Beschäftigtengruppen weitaus höher ausgefallen ist. Zaghafte Versuche, mit Organizing und Kampagnearbeit in diese weißen Flecken einige gewerkschaftliche Farbtupfer zu setzen, gehen grundsätzlich in die richtige Richtung. Jedoch wird insbesondere in ver.di versucht, diese Ansätze zu entwickeln, ohne die bestehenden Strukturen in Frage zu stellen. Der latent vorherrschende Ressourcenmangel führt dazu, dass richtige Ansätze auf halbem Wege stecken bleiben oder erst gar nicht die Organisation ergreifen. Der Widerspruch zwischen der Betreuung und "Verwaltung" bestehender Strukturen und der dringend notwendigen Hinwendung zu den "neuen" Beschäftigtengruppen wird so nicht produktiv aufgelöst.

Dazu kommt die nach wie vor fast ausschließlich nationale Orientierung der Gewerkschaften, die einem immer mehr globalisierten Kapital gegenüberstehen. Trotz vieler gegenteiliger Beteuerungen ist die Internationalisierung der Gewerkschaften kaum vorangeschritten. Nicht einmal eine bessere internationale Vernetzung, wie das globalisierungskrititische Netzwerke längst hinbekommen haben, wurde in den vergangenen Jahren aufgebaut. Das wird sich in der sich jetzt dramatisch verschärfenden Weltwirtschaftskrise, die von Anfang an globalen Charakter besitzt, als weitere Schwäche erweisen.


Bedeutungsverlust im Konjunkturaufschwung gebremst

Die Gewerkschaften konnten sich in den letzten zwei Jahren, begünstigt durch den wirtschaftlichen Aufschwung, etwas von ihrer Defensive befreien. Die Mitgliederverluste konnten gebremst, aber nicht aufgehalten werden und in den Kernbereichen wurden deutlich bessere Lohnabschlüsse durchgesetzt. ver.di konnte im relativ streikstarken Bereich der Kommunalbeschäftigten 2008 den besten Lohnabschluss seit langer Zeit durchsetzen, ebenso die IGM. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Abschlüsse keinesfalls auf die beschriebenen deregulierten und Niedriglohnbereiche übertragen werden konnten. Dort gelangen, soweit die Beschäftigten überhaupt tarifgebunden sind, kaum Abschlüsse über der Inflationsrate. Die Schere zwischen unteren und mittleren Einkommen wurde somit weiter geöffnet.

Selbst in Zeiten der Hochkonjunktur und sprudelnder Profite konnten die Gewerkschaften die in den letzten 20 Jahren dramatisch zu Gunsten des Kapitals erfolgte Umverteilung von Unten nach Oben nicht verändern. Im Gegenteil, selbst im Aufschwung sind erstmals in der Nachkriegsgeschichte die Reallöhne flächendeckend nicht gestiegen. Im weiteren zentralen Handlungsfeld der Arbeitszeit wurde die mühsam erkämpfte 35-Stunden-Woche Stück für Stück demontiert. Die Entgrenzung der Arbeitszeit nimmt zu und die reale durchschnittliche Arbeitszeit ist längst wieder bei über 40 Stunden angekommen. Der nachhaltige Rückzug bei der Arbeitszeitverkürzungspolitik wird sich in der Krise als weiteres Handicap erweisen.


Schlecht für die größte Krise der Nachkriegsgeschichte gerüstet

Alles in allem trifft die Finanzkrise, die durchaus den Charakter einer kapitalistischen Systemkrise annimmt und längst in eine tiefe Weltwirtschaftskrise übergegangen ist, die Gewerkschaften unvorbereitet und schlecht gerüstet. Obwohl wir den ganz praktischen Zusammenbruch der neoliberalen Politik der letzten 20 Jahre erleben und die Träger dieser Politik einen bis dato nicht vorstellbaren Paradigmenwechsel zu einer staatsinterventionistischen Politik vornehmen, befinden sich die Gewerkschaften weder in der politischen noch in der praktischen Offensive. "Hilflos. kopflos, wehrlos" - so der prägende Eindruck des bisherigen Agierens bzw. Schweigens der Gewerkschaften angesichts der Krise. Wirtschaftsinteressen diktieren unangefochten die Agenda des globalen Krisenmanagements. in dem jetzt die Weichen neu gestellt werden. "Gewerkschaften spielen auf dieser Bühne keine Rolle", schreiben Böhm, Sauerborn, Busch, Riexinger in ihrem Papier "Gewerkschaften in der Weltwirtschaftskrise".

Obwohl die Krise längst die Betriebe erreicht hat, die Leiharbeiter bereits nach Hause geschickt wurden, die Belegschaften mit der Erfahrung länger andauernder Kurzarbeit und jetzt schon mit Kosteneinsparprogrammen konfrontiert werden, für die Lohnabhängigen außerhalb der Kernbelegschaften viel auf dem Spiel steht, ist bisher eine Gegenstrategie zur Politik der "Krisenlösung" der Kapitalverbände und etablierten Parteien nicht erkennbar. Die Gewerkschaften stehen dem Geschehen eher paralysiert gegenüber. Zwar hinken Vergleiche mit 1929, es gibt aber höchst beunruhigende Parallelen zu den Reaktionsmustern der Gewerkschaften. Offensichtlich wird bis heute die Tiefe und Dauer dieser Krise und ihre Bedeutung für die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften unterschätzt.

Es ist von den Gewerkschaften in ihrem heutigen politischen Zustand nicht wirklich zu erwarten, dass sie diese Krise als Systemkrise wahrnehmen und grundlegende Alternativen aufzeigen, aber zumindest müssten sie begreifen, dass in nächster Zeit harte Verteilungskämpfe auf der Tagesordnung stehen. Es ist eine völlige Illusion zu glauben, dass es jetzt ein gemeinsames Interesse in der Krise gibt und staatliche Konjunkturprogramme und eine evtl. größere Regulation der Finanzmärkte auf einen Politikwechsel hin zur Wiederbelebung des Sozialstaatsmodells hindeuten. Die Hoffnung von Teilen der IGM, die deutsche Wirtschaft könnte aus der Krise gestärkt hervorgehen, und die Bereitschaft, die vorhandene Modernisierungspartnerschaft mit dem Kapital zu erneuern, wäre äußerst gefährlich und würde den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften nur noch mehr vergrößern. Die politische Zurückhaltung der IGM deutet aber gerade auf ein solches Verständnis hin, ebenso wie Äußerungen ihres Vorsitzenden.

Die Politik des Neoliberalismus, der Privatisierung, Lohndumping, Rentenkürzungen, Prekarisierung, Studiengebühren, kurz, der sozialen Ausgrenzung und Spaltung wird sich nicht ändern. Auch wenn sich die Bundesregierung mit einer deutlich erhöhten Staatsverschuldung bis zur Bundestagswahl über die Krise retten will, wird die Rechnung danach umso härter den Beschäftigten, Erwerbslosen, Rentner/innen, Schüler und Studierenden präsentiert werden.

Das ist nur zu verhindern, wenn die Gewerkschaften aktiver Teil einer sozialen und politischen Bewegung werden, die heftige Gegenwehr gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Masse der Bevölkerung entwickelt und zumindest ein politisches Sofortprogramm auf die Agenda setzt, das als grundlegende Alternative gegen die kapitalistischen Krisenlösungsstrategien wahrnehmbar ist.


Politisches Mandat offensiv wahrnehmen und Gegenmacht aufbauen

Ein solches Sofortprogramm müsste folgende Elemente enthalten, die für eine bündnisfähige außerparlamentarische Mobilisierung tauglich sind:

eine Millionärssteuer von 5 Prozent; die Einführung einer kräftigen Vermögen steuer für die großen Absahner
Reallohnerhöhungen statt Lohnsenkungen; einen gesetzlichen Mindestlohn von 8 bis 10 Euro die Stunde statt Hungerlöhnen; Gleichstellung von befristeten und leiharbeitenden mit Tarifbeschäftigten; eine Entlastung der unteren und mittleren Einkommen
ein Zukunftsinvestitionsprogramm für soziale Dienste, Bildung, Infrastruktur und den ökologischen Umbau von 150-200 Mrd. Euro.
die Anhebung des Arbeitslosengeldes II auf 435/500 Euro; Abschaffung von Hartz IV
die Rente mit 65 und eine armutsfeste Mindestrente; die Stärkung des gesetzlichen Rentensystems. Rückgängigmachung der Teilprivatisierung des Rentensystems.
Arbeitszeitverkürzung statt Arbeitslosigkeit
eine öffentliche Kontrolle über die Banken. Das Casino muss geschlossen werden, d. h. Verbot von riskanten Spekulationsgeschäften und Trockenlegung der Steueroasen. Vergesellschaftung des Finanzsektors.
die Stärkung des öffentlichen Sektors statt Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Rekommunalisierung bereits privatisierter Bereiche.
Demokratie und politisches Streikrecht. Das Diktat der Finanzmärkte muss durch mehr Demokratie in der Wirtschaft beseitigt werden. Politisches Streikrecht, wie in fast allen europäischen Ländern.

Diese Positionen sind Überschriften oder Eckpunkte eines Gegenprogrammes und ersetzen nicht die Ausarbeitung eines solchen. Längst hätte diese Aufgabe in Angriff genommen werden müssen.

Diese Forderungen bzw. Gegenpositionen würden deutlichen Drive bekommen, wenn die Gewerkschaften in der Lage wären, diese mit kapitalismuskritischen Positionen zu verknüpfen. Es ist heute nicht mehr verpönt, in den Betrieben Systemkritik zumindest am Modell des finanzgesteuerten Kapitalismus zu formulieren. Das Mindeste wäre jedoch, die Krise in den Zusammenhang mit der gigantischen Umverteilung zugunsten des Kapitals und der Vermögensbesitzer zu bringen und offensiv die Verteilungsfrage zugunsten der eigenen Klientel zum Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung zu machen.

Für die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di wäre Jetzt die Gelegenheit, die Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge und des gesamten öffentlichen Sektors in den Mittelpunkt zu stellen. Privatisierung, Cross-Border-Leasing, PPP und die marktwirtschaftliche Ausrichtung der öffentlichen Daseinsvorsorge und Einrichtungen sind mit der Finanzmarktkrise noch unpopulärer geworden, sowohl bei den Beschäftigten im öffentlichen Dienst als auch bei einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung. Hier eine Kampagne für den Ausbau von Bildung, öffentliche Infrastruktur, Gesundheitswesen, öffentlicher Personennahverkehr, ökologischer Umbau und weiteren auch beschäftigungswirksamen Maßnahmen zu starten, wäre dringend notwendig.


Gegenmacht statt Lobbyismus - Politisierung der Konflikte

"Um den bevorstehenden Herausforderungen gerecht zu werden, reicht es nicht, mitzudiskutieren in den öffentlichen Debatten um Finanz- und Wirtschaftpolitik und auf Gehör zu hoffen. Wie stark die Krise die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften selbst treffen wird, ist eine Frage von Macht und Gegenwehr. Erforderlich sind breite gewerkschaftliche Diskussionen, deren Ziel mobilisierungs- und durchsetzungsfähige Forderungen und Handlungsansätze sein müssen. Gewerkschaftliche Anliegen müssen mit Druck auf die öffentliche Tagesordnung gesetzt werden.' (Papier Böhm, Sauerborn, Busch, Riexinger).

Sprich: entscheidend ist der Aufbau von Gegenmacht. Es ist bezeichnend, dass die Initiative für bundesweite Großdemonstrationen in Berlin und Frankfurt am 28. März im Vorfeld des Weltfinanzgipfels unter dem Motto "Wir bezahlen eure Krise nicht" von Basisgliederungen und Gruppen der sozialen Bewegung ausging und bis heute nicht klar ist, ob die Gewerkschaften sich bundesweit daran beteiligen. Dabei ist es von hoher Bedeutung, dass sichtbare und symbolträchtige Formen der Gegenwehr aufgebaut werden, bevor Arbeitsplatzangst und Medienkampagnen der Gegenseite ein Klima von Resignation und Orientierungslosigkeit herstellen.

Für die Gewerkschaften ist es jedoch nicht ausreichend, für politische Forderungen auf die Straße zu gehen. Sie müssen ganz konkrete Handlungsfähigkeit und Gegenwehr in den Betrieben, Dienststellen und Verwaltungen aufbauen. Die Krise wird unweigerlich in Form von Kosteneinsparprogrammen, Firmenzusammenbrüchen, Ausgliederungen und Kurzarbeit den Druck auf die Beschäftigten erhöhen. Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, zu verhindern, dass dies in eine Verzichtshaltung umschlägt, sondern eine Kultur der Gegenwehr entwickelt wird.

Ohne Zweifel wird die Krise die Durchsetzung hoher Lohnabschlüsse erschweren. Das hat im letzten Jahr bereits die IGM erfahren, die bei ihrem Lohnabschluss trotz hoher Lohnforderung gewaltige Zugeständnisse gemacht (machen musste?) und auf eine Politisierung des Tarifkonfliktes verzichtet hat.

Die Gewerkschaft ver.di steht vor einigen wichtigen Tarifkonflikten, so aktuell im öffentlichen Dienst, beim nicht gerade kampfstarken Bereich der Länder und bei der Telekom. In beiden Bereichen werden relativ hohe Lohnforderungen gestellt. Es ist nicht davon auszugehen, dass ohne Arbeitskämpfe auch nur ein nennenswerter Teil dieser Forderungen durchgesetzt werden kann. Vor ähnlichen Tarifkonflikten steht ver.di im Frühjahr im Einzel- und Großhandel, im Bewachungsgewerbe und in der Druckindustrie. Auch Transnet wird ihre Lohnforderung von 10 Prozent kaum ohne Streik durchsetzen können.

Anlage, Verlauf und Ergebnis der Tarifauseinandersetzungen 2009 werden mehr als nur ein Signal über den Standort der Gewerkschaften aussenden. Sie sind Weichenstellungen, ob die Gewerkschaften bereits am Beginn der Krise wieder in die Defensive gedrängt werden oder ob sie die begonnene offensivere Lohnpolitik fortsetzen können. Letzten Endes wird die gewerkschaftliche Durchsetzungskraft nicht unwesentlich davon abhängen, ob die Politisierung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik gelingt bzw. überhaupt gewollt ist. Die Voraussetzungen sind gar nicht so übel, machte doch die Bundesregierung hunderte von Milliarden für die Verluste der Banken innerhalb kürzester Frist locker. Gleichzeitig bei den Löhnen der öffentlichen Dienst-Beschäftigten zu knausern passt nicht zusammen. Alles in allem wird viel davon abhängen, ob die Gewerkschaften im Bündnis mit anderen linken Kräften in der Lage sind, die konkreten Auseinandersetzungen mit einem alternativen Entwicklungsmodell zu verknüpfen und dafür auf allen Ebenen zu mobilisieren. Jeder Monat, der verstreicht, ohne dass die Gewerkschaften Anstrengungen in diese Richtung unternehmen. wird sie weiter in die Defensive bringen.

Dabei darf die Frage des politischen Streiks nicht tabuisiert werden. Die Gewerkschaften müssen sich in diesem Prozess das politische Streikrecht zurückerobern. In der Auseinandersetzung um die Rente mit 67 sind bereits positive Erfahrungen gesammelt worden.


Internationalisierung der Gewerkschaftsbewegung

Wann, wenn nicht jetzt kann die Internationalisierung der Gewerkschaften vorangetrieben werden? Wir befinden uns in einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise des Kapitalismus, mit deren Folgen die Gewerkschaften in allen Ländern in ähnlicher Form konfrontiert werden. Hier die gewerkschaftliche Gegenwehr zu internationalisieren, zu vernetzen und gemeinsame Forderungen und Aktionsprogramme zu entwickeln, wäre eine ganz konkrete Aufgabe. Wir können am Beispiel der Automobilindustrie deutlich sehen, dass gewaltige Überkapazitäten bestehen, die in kapitalistischer Form durch klassische Kapitalvernichtung eingedampft werden, verbunden mit Werksstilllegungen, Massenentlassungen, usw. Die Gewerkschaften können versuchen, mit Hilfe von Standortvereinbarungen den eigenen Standort zu sichern und zu hoffen, dass es möglichst den anderen trifft. Sie können aber auch Überkapazitäten durch Arbeitszeitverkürzung abbauen. Das müsste dann in der Tat eine abgestimmte internationale Initiative sein, wenn die Gewerkschaften nicht im Kampf um die Standorte zerrieben werden wollen.

Die weltweite Krise wird den Gewerkschaften ein "Weiter-so" nur um den Preis ihres weiteren Niedergangs zugestehen. Sie wird die Fragen um die künftige politische Orientierung der Gewerkschaften mehr oder weniger brachial aufwerfen. Wohin die Reise geht, wird nicht zuletzt von der Fähigkeit der Linken in den Gewerkschaften abhängen, ihre Politisierung und Konfliktfähigkeit voranzutreiben.


Bernd Riexinger, Stuttgart, Gewerkschaftssekretär ver.di


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-09, 47. Jahrgang, S. 7-12
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2009