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MARXISTISCHE BLÄTTER/390: NATO und Kolonialismus


Marxistische Blätter Heft 2-09

NATO und Kolonialismus

Von Ernst Woit


Der 60. Jahrestag der Gründung der NATO sollte Veranlassung sein, die Geschichte dieses imperialistischen Kriegsbündnisses auch im Hinblick auf Tatbestände zu untersuchen, die in den führenden Medien aller NATO-Staaten gern ignoriert werden. Ein solcher Aspekt ist die Stellung der NATO-Staaten zum Problem des Kolonialismus in Vergangenheit und Gegenwart. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass Antikolonialismus faktisch allen NATO-Staaten wesensfremd war und ist. In der NATO schlossen sich 1949 insbesondere die wichtigsten alten Kolonialmächte zusammen und heute wird von den USA und den mit ihr in der NATO verbündeten Staaten alles unternommen, die Ergebnisse des antikolonialen Befreiungskampfes im 20. Jahrhundert wieder rückgängig zu machen und im Interesse der Weltherrschaft des USA-Imperialismus und seiner NATO-Verbündeten einen neuen Kolonialismus zu installieren.

NATO-Staaten und der alte Kolonialismus Unter dem Eindruck des Sieges der Antihitler-Koalition im II. Weltkrieg und der Gründung der UNO nahm die antikoloniale Befreiungsbewegung weltweit einen historisch beispiellosen Aufschwung, gegen den die alten kapitalistischen Kolonialmächte jahrelang extrem blutige, wenn auch letztlich erfolglose Kriege führten, an die heute nur noch sehr selten erinnert wird.

So versuchte z. B. Frankreich im sog. Indochina-Krieg von 1948 bis 1954 seine Kolonialherrschaft über das Volk Vietnams aufrecht zu erhalten und mußte nach der Niederlage von Dien Bien Phu seine Herrschaft über dieses Land aufgeben. Von 1954 bis 1962 führte Frankreich einen blutigen Krieg, um das algerische Volk weiter unter seine imperialistische Herrschaft zu zwingen. Auch dieser Algerienkrieg endete mit dem Sieg des algerischen Volkes und einer schmählichen Niederlage für das inzwischen der NATO angehörende imperialistische Frankreich.

Die USA, die keine traditionelle Kolonialmacht waren, versuchten nun nach deren Scheitern immer öfter, die alten Kolonialmächte gewissermaßen zu 'beerben'. Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang der Krieg, den der USA-Imperialismus auch als führende Macht der NATO mit beispielloser Brutalität von 1957 bis 1975 - also 18 Jahre lang - gegen das Volk Vietnams führte. Die Tatsache, dass das vietnamesische Volk die stärkste imperialistische Militärmacht trotz deren enormer militärtechnischer Überlegenheit und extrem terroristischer Kriegführung besiegt hat, war und ist für die gesamte antikoloniale Befreiungsbewegung von enormer Bedeutung. Und es ist durchaus kein Zufall, dass diese Niederlage der stärksten imperialistischen Militärmacht bis heute ihren festen Platz im historischen Gedächtnis der Völker hat.

Bei der Beurteilung des Verhältnisses der NATO-Staaten zum alten Kolonialismus muss auch daran erinnert werden, dass die Apartheid in Südafrika bis 1991 nur herrschen konnte, weil faktisch alle NATO-Staaten dieses rassistische Regime als wichtigen Verbündeten im Kampf gegen die antikoloniale Befreiungsbewegung besonders in Afrika ansahen und behandelten. In Afrika betraf das vor allem die Bekämpfung der antikolonialen Befreiungsbewegungen in Angola und Mocambique. Darüber hinaus leistete aber das Apartheid-Regime z. B. auch Schützenhilfe bei der Entwicklung Israels zur Atommacht. Seitens Israels ist die Verbindung zum rassistischen Apartheid-Regime Südafrikas im Interesse der Entwicklung der israelischen Atomwaffen entscheidend vom damaligen Verteidigungsminister und heutigen Präsidenten Israels Shimon Peres gepflegt worden.[1]

Die Erfolge der antikolonialen Befreiungsbewegungen haben das globale Kräfteverhältnis sowohl politisch als auch wirtschaftlich erheblich zu Ungunsten des kapitalistischen Imperialismus verändert. Allein von 1955 bis 1962 wurden 50 unabhängig gewordene ehemalige Kolonien neue Mitgliedstaaten der UNO, deren Anzahl bis 1965 auf 118 Staaten wuchs. Damit wurde die UNO im Ergebnis der Entkolonisierung zu einer wirklichen Weltorganisation, in der die USA und ihre Verbündeten nicht mehr über ihr in den ersten Jahren nach Gründung der UNO bestehendes zahlenmäßiges Übergewicht verfügten. Von erheblicher Bedeutung war auch der 1960 erfolgte Zusammenschluss der damals über 80 Prozent der weltweit nachgewiesenen Erdölreserven verfügenden ehemaligen Kolonien und Halbkolonien Irak, Iran, Kuweit, Saudi-Arabien und Venezuela zum OPEC-Kartell. Neben diesen Gründungsmitgliedern gehören der OPEC inzwischen noch die Vereinigten Arabischen Emirate, Indonesien, Libyen, Algerien, Nigeria und Katar an.


Orientierung auf Ressourcenkriege

Solange die von der Sowjetunion geführte sozialistische Staatengemeinschaft als Verbündeter der antikolonialen Befreiungsbewegungen existierte, konnten die Staaten des kapitalistischen Imperialismus gegen diese Entwicklung wenig ausrichten. Nach dem Untergang der Sowjetunion sowie des Warschauer Vertrages und schnell folgender politisch-militärischer Expansion der NATO in Osteuropa entwickelten die USA und die NATO eine Strategie zur Errichtung einer Neuen Weltordnung, deren fester Bestandteil das Streben nach Verfügung über die wichtigsten Ressourcen der Erde durch einen neuen Kolonialismus ist. Um was es dabei geht, hat der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf in seinem politischen Tagebuch sehr deutlich so formuliert: "Zunehmend habe ich den Eindruck, dass unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung im Zenit ihrer Entwicklung angelangt ist. Im Grunde hat sie damit keine Zukunftsperspektive mehr. (-) Die Art, wie wir leben, ist nicht verallgemeinerungsfähig. Wir können unsere materiellen Ansprüche an die Erde und ihre Ressourcen nicht auf die große Mehrheit der Menschheit übertragen. China und Indien mit der gleichen PKW-Dichte und dem gleichen Verbrauch an Energie wie in einer hochentwickelten Zivilisation wären undenkbar. Das heißt aber, dass die Fortführung unserer eigenen Lebensweise nur möglich ist, wenn sie auch in Zukunft einer privilegierten Minderheit, den hochentwickelten Industrienationen, vorbehalten bleibt."[2]

Im Kampf um die Durchsetzung dieses Anspruchs, dass faktisch 20 Prozent der Weltbevölkerung auch weiterhin 80 Prozent der Weltressourcen verlangen und 80 Prozent sich mit den "restlichen" 20 Prozent begnügen sollen, stützt sich der heutige, von den USA geführte kapitalistische Imperialismus nach Samir Amin auf fünf Monopole: "1. das Monopol der neuen Technologien 2. das der Kontrolle über die globalen Finanzströme; 3. die Kontrolle des Zugangs zu den Bodenschätzen des Planeten; 4. die Kontrolle der Kommunikationsmittel und Medien; 5. das Monopol der Massenvernichtungswaffen."[3] Gestützt auf diese Monopole glauben die imperialistischen Strategen immer wieder, auch erfolgreich Krieg führen zu können. Mit kaum zu überbietender Deutlichkeit hat die deutsche Bundeswehr in einer ihrer offiziellen Zeitschriften bereits 1996 die Kriege, auf die sich die Soldaten einstellen sollen, ganz im Sinne Biedenkopfs so beschrieben: "Die großen Kriege des 20. Jahrhunderts fanden zwischen wohlhabenden Staaten statt. Im nächsten Jahrhundert werden die jetzt in Frieden miteinander lebenden wohlhabenden Staaten gegen die Völker der armen Staaten und Regionen ihren Wohlstand verteidigen müssen. (-) Der Menschheit steht ein Jahrhundert des Mangels bevor. Um Dinge. die man einmal kaufen konnte, wird man Krieg führen müssen. Der Kampf um überlebenswichtige Ressourcen wird lokale und regionale Konflikte auslösen."[4]


NATO-Kriege nach US-Strategie

Die NATO war bzw. ist bisher an der Führung von drei Kriegen beteiligt, bei denen es sich ausnahmslos um von den USA geplante und geführte, geltendes Völkerrecht verletzende Angriffskriege handelt, die nicht das geringste mit Landesverteidigung zu tun haben, sondern Zug um Zug eine Neue Weltordnung unter Führung der USA durchsetzen sollen: 1999 gegen Jugoslawien, seit 2001 gegen Afghanistan und seit 2003 gegen Irak. Nach Einschätzung Willy Wimmers [5] wurde mit dem NATO-Gipfel des Jahres 1998 in Lissabon eine Entwicklung eingeleitet, in der "der Nordatlantikpakt als Verteidigungsbündnis quasi aufgebrochen und mit einem globalen Interventionsauftrag ausgestattet wurde", wobei die USA "das westliche Bündnis wie eine Art Fremdenlegion in Anspruch nehmen."[6]

Als beispielhaft für diese strategische Vorgehensweise kann die Tatsache gelten, dass der USA-Kongress am 19. März 1999 - fünf Tage vor Beginn der Bombardierung Jugoslawiens - das sogenannte "Seidenstraßenstrategiegesetz" (Silk Road Strateg Act) verabschiedete, das die umfassenden wirtschaftlichen und strategischen Interessen der USA in einer riesigen Region definierte, die sich vom Mittelmeer bis nach Zentralasien erstreckt. Auf die Schwächung und schließliche Destabilisierung Russlands, des Iran und Chinas zielend, sollte diese Strategie die gesamte Region, die bis vor kurzem noch zur wirtschaftlichen und geopolitischen Sphäre Moskaus gehört hatte, "in einen Flickenteppich amerikanischer Protektorate verwandeln."[7]

Mit der Zerschlagung der Bundesrepublik Jugoslawien begannen USA und NATO faktisch die "Seidenstraßenstrategie" konkret umzusetzen: Heute sind Bosnien und der Kosovo Protektorate der NATO, werden sie faktisch als Kolonien verwaltet.[8] Und im Kosovo haben die USA inzwischen mit Bondsteel ihre größte europäische Luftwaffenbasis errichtet. "Es gibt dort zwar keine Ölquellen, dafür aber liegt Bondsteel direkt an der Öl-Trasse, die vom Kaspischen Meer zur Adria führen wird."[9]


Präzedenzfall Irakkrieg

Im Rahmen der Strategie zur Durchsetzung einer die UN-Charta in Frage stellenden Neuen Weltordnung stellt der Krieg gegen den Irak in mehr als einer Hinsicht einen Präzedenzfall dar. Die USA haben diesen Krieg außerordentlich langfristig geplant und intensiv vorbereitet, indem sie den Irak durch Wirtschaftssanktionen mit Hilfe der UNO und systematische Bombardements seiner Infrastruktur faktisch entwaffneten, bevor ihre Truppen am 20. März 2003 einmarschierten.

Bereits am 28. September 1998 verabschiedete der US-Kongreß den "Iraq Liberation Act". Im Januar 2003 erklärte James Woolsey (1993/94 Chef der CIA) in einem Interview: "Wir müssen dem Nahen Osten die Ölwaffe wegnehmen. (...) Man braucht eine langfristige Strategie. (...) Wir fangen jetzt mit dem Irak an, weil Saddam am tückischsten und gefährlichsten ist."[10] In Deutschland charakterisierte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ganz offen die neokolonialistische strategische Zielsetzung des völkerrechtswidrigen Überfalls der USA auf den Irak am Tage des Aggressionsbeginns sehr präzise so: "Der Irak soll als Feind verschwinden, indem die Amerikaner ihn mit imperialen Mitteln neu gründen. Die Verwerfungen der postkolonialen Zeit werden durch einen neuen demokratischen Kolonialismus zugeschüttet."[11]

Der konservative deutsche Ideologe Richard Herzinger stimmte im Zusammenhang mit dem Irakkrieg eine regelrechte Lobeshymne auf diesen neuen Kolonialismus an, indem er im Zusammenhang mit dem Irakkrieg schrieb: "Längst dienen militärische Interventionen der Selbstbehauptung westlicher Demokratien - als Instrumente ihrer Weltinnenpolitik. Diese läuft auf einen "demokratischen Neokolonialismus" hinaus." In diesem Sinne sieht Herzinger sogar eine ganze "neokolonialistische Epoche", die erst enden könne, wenn ihre Prinzipien weltweit durchgesetzt sind. "Nur dann kann von einer globalen Ordnung im eigentlichen Sinne die Rede sein. Ohne sie ist eine Zukunft der offenen Gesellschaften des Westens nicht vorstellbar."[12]

In ähnlicher Weise votierten damals konservative Ideologen und Strategen auch in Deutschland für eine bedingungslose Anerkennung der Hegemonie der USA. Christian Hacke, viele Jahre Professor an der Universität der Bundeswehr in Hamburg, inzwischen an der Universität Bonn lehrend, argumentierte so: "Wer Krieg verhindern will, muss letztlich bereit sein, ihn zu führen. ... Die Zukunft von Europa und der 'atlantischen Zivilisation' sowie die ihrer tragenden Institutionen wie UNO, NATO, WEU und OSZE und die Rolle des tradierten Völkerrechts sind ungewiss, doch es gibt keinen Weg zurück in die Vorkriegsordnung. ... Wer von der amerikanischen Hegemonie nichts wissen will, der kann die Hoffnung auf Weltfrieden begraben."[13]

Inzwischen sind derartige Lobeshymnen auf die Hegemonie der USA und eine neokolonialistische Neuordnung der Welt unter ihrer Führung nicht mehr üblich. Zu offenkundig ist heute, dass die USA und die NATO weder das seit 2001 unter dem Vorwand der Bekämpfung des Terrorismus besetzte Afghanistan noch den unter dem Vorwand der Beseitigung von Saddam Husseins Massenvernichtungsmitteln überfallenen und seitdem besetzten Irak wirklich beherrschen - geschweige denn den gesamten Nahen und Mittleren Osten. Damit aber ist klar, dass die "neokolonialistische Epoche", von deren Anbruch Richard Herzinger anlässlich des Überfalls der USA auf den Irak 2003 schwärmte, nicht tatsächlich begonnen hat. Nicht anders verhält es sich mit der von Christian Hacke beschworenen unbedingten Anerkennung der Hegemonie des US-Imperialismus. Das aber ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Beurteilung der Entwicklungstendenzen des internationalen Kräfteverhältnisses und damit auch für die Perspektiven der NATO und die Auseinandersetzungen zwischen ihren Mitgliedstaaten.


Neokolonialismus scheitert

Nach wie vor aktuell ist die Einschätzung, die Robert Cooper, Bürochef Javier Solanas, bereits 2004 über die Chancen einer durch militärische Intervention angestrebte Rekolonisierung traf. Cooper äußerte grundsätzliche Zweifel, dass "Regimewechsel durch militärische Interventionen" dauerhaft erfolgreich sein können, "weil von außen eingesetzte Regierungen sich selten lange halten. Meist stürzen sie, sobald die Besatzer die Szene verlassen." Vor allem aber betonte er: "Ein Jahrhundert nationaler Befreiungsbewegungen und nationaler Selbstbestimmung kann nicht einfach rückgängig gemacht werden."[14]

Inzwischen hat sich das internationale Kräfteverhältnis insgesamt weiter zu Ungunsten der USA und der NATO verändert. Die Tatsache, dass die neue Außenministerin der USA, Hillary Clinton, ihre erste Auslandsreise nicht nach Europa, sondern nach Asien und darunter auch nach China durchführte, markiert das deutlich. Mehr noch: In China warb die Außenministerin der USA sogar "um chinesische Kredite für den hochverschuldeten amerikanischen Staat."[15] (!) Von einem "amerikanischen Jahrhundert" ist inzwischen ebenso wenig die Rede wie von einer "neokolonialistischen Epoche". Dafür sind Staaten wie China- und Indien, Brasilien und die OPEC-Staaten (einschließlich Venezuela und Iran) zu Mächten geworden, die die Weltentwicklung inzwischen maßgebend mitbestimmen. Auch Russland ist wieder erstarkt und weltpolitisch durchaus ernstzunehmen. Mit all diesen Staaten müssen sich die USA und die anderen NATO-Staaten in ihrem ureigensten Interesse heute friedlich arrangieren. Davon aber sind die USA noch weit entfernt, solange ihr jetziger Präsident Obama zwar US-Kampftruppen im Irak verringern, sie aber zugleich in Afghanistan so verstärken will, dass sie dort endlich siegen können. Das hat mit strategischem Realismus nichts zu tun.


NATO muss ihre Strategie verändern

Im 60. Jahr der Existenz der NATO geht es deshalb zwischen den USA und den anderen NATO-Staaten um eine dieser neuen Situation entsprechende strategische Alternative zum bisher verfolgten weltweiten militärischen Interventionismus für einen neuen Kolonialismus. Für diese heute auch vom deutschen Imperialismus verfolgte bzw. mitgetragene Interventionsstrategie verkündete der damalige Bundesverteidigungsminister Peter Struck am 5. Dezember 2002 die seitdem gängige Propaganda-Formel "Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt." Struck artikulierte seine zutiefst antidemokratische Position in der Krieg-Frieden-Frage indem er im März 2008 in geradezu zynischer Offenheit erklärte: "Es ist völlig klar, dass die SPD, aber auch die Union, die FDP und weite Teile der Grünen mit der klaren Unterstützung des Afghanistan-Einsatzes gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung stehen. Dennoch bleibe ich dabei: Die Interessen Deutschlands werden auch am Hindukusch verteidigt."[16] Demgegenüber forderte der CDU-Politiker Willy Wimmer - die Auffassung der Mehrheit der Deutschen ausdrückend - "den Abzug der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan so schnell wie möglich sicherzustellen. Das hat höchste Priorität - wir haben da mit der Bundeswehr nichts verloren."[17]

Zbigniew Brzezinski war und ist ein ziemlich nüchterner und illusionsloser imperialistischer Stratege. Bereits in seinem 1997 erschienenen Buch "Die einzige Weltmacht" hatte er geschrieben." Amerika als die führende Weltmacht hat nur eine kurze historische Chance" und dann von den US-Politikern gefordert, "die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine Generation und vorzugsweise länger zu bewahren."[18] Im März 2005 - zwei Jahre nach der Besetzung des Irak - zieht er in einem der Wochenzeitung "Freitag" gewährten Interview eine schonungslose Bilanz des Krieges gegen den Irak, die bereits andeutet, das die Epoche globaler Vorherrschaft der USA zu Ende geht: "Wer behauptet, dass unsere Erfahrung im Irak ganz und gar ein Erfolg war, ist offensichtlich dem Wahn nahe. Wenn die Iraker klug sind und unseren Abzug verlangen, und wir unsererseits so intelligent sind, dass wir das dann auch tun, bleibt dennoch die Tatsache, dass die 'Operation Irak' die weltweite Glaubwürdigkeit Amerikas erheblich unterminiert hat. Sie hat uns die Grenze der Fähigkeit gezeigt, mit politischen Konflikten militärisch umzugehen."[19]

Am 1. Februar 2007 - zehn Jahre nach Erscheinen seines Buches "Die einzige Weltmacht" - übte Brzezinski vor dem Auswärtigen Ausschuss des US-Senats die folgende, für einen imperialistischen Strategen seines Ranges sehr weit gehende Kritik an der Kriegspolitik der Bush-Administration: "Es ist an der Zeit, dass das Weisse Haus sich auf zwei zentrale Realitäten einstellt: 1. Der Krieg im Irak ist eine historische, strategische und moralische Katastrophe. Unter falschen Prämissen geführt, untergräbt er Amerikas globale Legitimität. Die ihn begleitenden Verluste der Zivilbevölkerung beflecken ebenso wie manche Fälle von Misshandlungen Amerikas moralische Glaubwürdigkeit. Getrieben von manichäischen Anwandlungen und imperialer Hybris verstärkt er die Instabilität der Region. 2. Nur eine politische Strategie, die historisch angemessen ist, statt an koloniale Bevormundung zu erinnern, kann den erforderlichen Rahmen für eine strategische Lösung sowohl im Irakkrieg als auch hinsichtlich der zunehmenden Spannungen in der Region bieten."[20] Höchst aufschlussreich auch die Forderung, die Brzezinski aus dieser Kritik für das weitere Vorgehen der USA ableitet: "Die Vereinigten Staaten sollten ausdrücklich und unzweideutig ihre Entschlossenheit bekunden, den Irak innerhalb eines möglichst kurzen Zeitraums zu verlassen. ... Darüber hinaus bedarf es einer derartigen öffentlichen Erklärung, um im Mittleren Osten Ängste vor einer neuen, bleibenden imperialen Hegemonie Amerikas zu zerstreuen."[21]

Derartige Wertungen und Schlussfolgerungen eines einflussreichen imperialistischen Strategen, die in der Friedensbewegung noch allzu oft ignoriert werden, können hilfreich sein, um jene Problem- und Konfliktfelder zu analysieren, um die es heute und morgen im Kampf gegen neue imperialistische Kriege geht. Klar dürfte inzwischen sein, dass das Scheitern der mit den Aggressionskriegen der USA und der NATO gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak verfolgten Strategie einer weltweiten Rekolonisierung und das veränderte internationale Kräfteverhältnis die NATO im 60. Jahr ihrer Existenz dazu zwingt, sich strategisch neu zu orientieren. Darauf aber müssen alle Friedenskräfte durch Information und Mobilisierung der Öffentlichkeit mit dem Ziel einwirken, weitere Aggressions- und Interventionskriege der NATO rechtzeitig zu verhindern und für alle internationalen Konflikte entsprechend der UNO-Charta friedliche multilaterale Lösungen zu erkämpfen.


Prof. Dr. Ernst Woit, Philosophiehistoriker und Friedensforscher, Dresden


Anmerkungen

[1] Vgl. Seymour M. Hersh: Atommacht Israel. München 1991, S. 274.

[2] Kurt Biedenkopf: 1989 - 1991. Ein deutsches Tagebuch. Berlin 2000, S. 224.

[3] Samir Amin: Kapitalismus, Imperialismus, Globalisierung. In: Marxistische Blätter. Essen. H. 4/1998, S. 48.

[4] Reinhard Herden: Die neue Herausforderung. Das Wesen künftiger Konflikte. In: Truppenpraxis/Wehrausbildung. Frankfurt/M. 1996, H. 2, S. 70.
W. Wimmer war 1988 - 92 Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium und 1994 - 2000 Vizepräsident der Parlamentarischen Vertretung der OSZE.

[5] Interview in Freitag. Berlin, Nr. 46 v. 17.11.2006, S. 9.

[6] Michel Chossudovsky: GLOBAL BRUTAL. Frankfurt/M. 2002. S. 393.

[7] Siehe: Karl-Heinz Peil: NATO-Kolonie Kosovo. In: FriedensJournal. Kassel. Nr. 1/2009, S.15.

[8] Marina Achenbach: Der rote Faden. Bosnien-Kosovo-Irak. In: Freitag. Berlin. Nr. l5 v. 4.4.2003, S. 4.

[9] Der Spiegel. Hamburg. Nr.4/2003, S. 109.

[10] Frankfurter Allgemeine Zeitung. Frankfurt/M. 20.3.2003, S.37.

[11] Richard Herzinger: Wo Demokraten schießen. In: Die Zeit. Hamburg. Nr. 25 v. 12.6.2003, S. 8.

[12] Christian Hacke: Deutschland, Europa und der Irakkonflikt. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament. Berlin, Nr. 24/25 v. 10.6.2003, S. 16.

[13] Robert Cooper: Wenn Staaten zerfallen, droht Terror. In: Die Zeit. Hamburg. Nr. 5 v. 22.1.2004, S.17.

[14] Der Spiegel. Hamburg. Nr. 10/2009. S. 17.

[15] junge Welt. Berlin, 17.3.2008. S. 4.

[16] Anmerkung der SB-Redaktion: Fußnote fehlt.

[17] Freitag. Berlin, 16.11.2007, S. 6.

[18] Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Weinheim u. Berlin 1997, S. 303 u. 306.

[19] Freitag. Berlin. Nr. 9 v. 4.3.2005. S. 7.

[20] Nach: Blätter für deutsche und internationale Politik. Bonn. Nr.5/2007, S. 629 f.

[21] Ebenda, S. 631.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-09, 47. Jahrgang, S. 36 - 40
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2009