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MARXISTISCHE BLÄTTER/417: Die Wahlen in Uruguay - Spiegelung eines besonderen Landes


Marxistische Blätter Heft 6-09

Die Wahlen in Uruguay - Spiegelung eines besonderen Landes

Von Günter Pohl


Uruguay ist kleiner. Uruguay ist europäischer. Uruguay ist stärker alphabetisiert. Uruguay hat keine indigenen Völker mehr. Uruguay hat geringere soziale Unterschiede.

In vieler Hinsicht ist Uruguay anders als die anderen Staaten Südamerikas. Allein in seiner Hauptstadt, Montevideo, leben 40 Prozent der 3,5 Millionen Einwohner; in den meisten südamerikanischen Ländern liegt dieser Anteil bei zehn bis zwanzig Prozent. Die Größe des Landes beträgt ziemlich genau die der Hälfte Deutschlands, das mehr als zwanzig Mal so viele Einwohner hat.

Das vorab, um das Land und seine kürzlich abgehaltenen Wahlen etwas aus dem in Mode gekommenen Gesamtkontext "Südamerika" oder gar "Lateinamerika" herauszunehmen, dessen unreflektierte Nutzung einen Gleichmachereffekt hat, der die nicht lineare und äußerst komplexe Entwicklung in Lateinamerika nicht abzubilden in der Lage ist. Und es sind nicht nur Geographie und Kultur, die Uruguay von seinen Nachbarn - mit der Ausnahme des ähnlich strukturierten, aber nur einen kleinen Teil Argentiniens ausmachenden Großraums Buenos Aires - unterscheidet. Auch in gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen hat sich in Uruguay so manche Besonderheit herausgebildet.

Aus bürgerlicher Sicht ist Uruguay ein Vorbild. Obwohl zutiefst gespalten in zwei offensichtlich antagonistische Lager, so sind die politischen Willensbildungsprozesse, die ja gern mit Demokratie gleichgesetzt werden, gekennzeichnet von Sauberkeit und gegenseitigem Respekt. Anlässlich der Wahlen des 25. Oktober, an denen - eine weitere Besonderheit - über 90 Prozent der 2,56 Millionen Berechtigten teilnahmen, stellten die internationalen Beobachter deren friedlichen und korrekten Charakter als vorbildlich heraus. Die Wahlbeteiligung liegt damit weit über dem regionalen Durchschnitt, obwohl die meisten Nachbarn ebenfalls Wahlpflicht haben. Diese bürgerliche Sicht, die für Parlamentarismus, repräsentative Demokratie und die Illusion der Reformierbarkeit "des Systems" wirbt, ist freilich immer auch eine der Auslassung: als es Anfang der siebziger Jahre eng wurde, griff die Bourgeoisie zum vorletzten Mittel, der Diktatur (1973 bis 1985). Damit lag Uruguay im südamerikanischen Trend, aber schon wieder nicht im Schnitt: im Verhältnis zur Bevölkerungszahl wurden nirgendwo so viele Menschen eingekerkert und gefoltert. Getötet wurde allerdings in keiner der anderen Diktaturen weniger als in Uruguay. Respekt voreinander in einem kleinen Land, wo über drei Ecken jeder jeden kennt? Oder Angst vor den Folgen, weil jede Diktatur einmal ein Ende nimmt?

Genau diese Frage beschäftigt die uruguayische Gesellschaft intensiv. Als parallel zu den Wahlen am 25. Oktober zwei Plebiszite stattfanden, kamen dabei jedenfalls bemerkenswerte Ergebnisse heraus. Mit 47,6 Prozent Zustimmung scheiterte zum zweiten Mal nach 1989 der Versuch das "Schlusspunktgesetz" von 1986 aufzuheben, das den Verbrechern der Militärdiktatur Straffreiheit garantiert. Nur wenige Tage zuvor hatte das Oberste Gericht das Gesetz für prinzipiell ungültig erklärt, aber die Bevölkerungsmehrheit vollzog das nicht nach. Eine zu einfache Analyse wäre ein Gleichheitszeichen zwischen der Zustimmungsquote im Plebiszit und den 48 Prozent, die die linke "Frente Amplio" bei den Parlamentswahlen erreichte sowie den 47,5 Prozent ihres Kandidaten José Mujica zur Präsidentschaft. Hier greift das Lagerschema nicht, denn sowohl der bald scheidende Staatspräsident Tabaré Vázquez als auch Nachfolgekandidat Mujica, also zwei Zugpferde der Linken, äußerten Skepsis bezüglich einer Strafverfolgung der "alten Männer", wie Jost Mujica sagt, der sie wohl mehr mit Verachtung bestraft sehen will. Das bedeutet, dass die Zustimmung zur Aufhebung der Straffreiheit zum Teil bis weit in rechte Kreise ging, wenn die moderaten Kräfte in der Linken offenbar eher auf "Versöhnen statt Spalten" setzten und dem Plebiszit ihre Zustimmung verweigerten. Wäre die Linke in dieser Frage geeint gewesen, hätte das Ergebnis deutlich über 50 Prozent gelegen.

Der zweite Volksentscheid hatte zum Ziel den Auslandsuruguayer/inne/n Briefwahlrecht einzuräumen. So verständlich diese Forderung aus Sicht der Betroffenen (eine halbe Million Menschen, viele davon durch die Diktatur vertrieben) auch ist, so wenig waren die darüber Abstimmungsberechtigten bereit, Landsleuten, die sich womöglich ökonomisch verbessert haben und ihre Steuern woanders zahlen, die Gelegenheit einzuräumen mitzuentscheiden: nur 37 Prozent waren dafür. Auch hier passt das Lagerschema nicht.

Dass Uruguay in gesellschaftspolitischen Kennziffern so besonders in Lateinamerika ist, hat - auch das wieder ein Unterscheidungsmerkmal - ganz erheblich mit der Linken zu tun, im Konkreten mit der Kommunistischen Partei (PCU). Deren langjähriger Generalsekretär Rodney Arismendi führte die PCU über die Feststellung, dass das Subjekt in Uruguay nicht aus einem Bündnis von Arbeitern und Bauern bestehen könne, sondern aus einem Bündnis der Arbeiter mit den Mittelschichten, 1958 zu einer programmatischen Erklärung, die drei Hauptaufgaben benannte: 1. Einheit der Arbeiterklasse durch eine einzige Gewerkschaftszentrale; 2. Einheit der Linken in einer gemeinsamen Front; und 3. Aufbau einer Kader- und dann Massen-KP. Damit begab sich die KP Uruguays in erheblichen Gegensatz zur Sowjetunion. Aber von Punkt 3 abgesehen, wo sie trotz Abgrenzung 1989/1990 genauso litt wie andere KPen des Kontinents, war sie erfolgreich. Seit 1965 hat Uruguay mit der CNT (heute PIT-CNT) eine einzige gewerkschaftliche Dachorganisation, was ansonsten nur Bolivien von sich sagen kann. Und es wurde am 5. Februar 1971 die angestrebte gemeinsame Front gegründet.

Die Frente Amplio (Breite Front) ist ein Bündnisprojekt, "in der sich Christen und Marxisten und unabhängige oder aus den traditionellen Parteien entstammende Frauen und Männer unter einem Statut, einer organischen Struktur, einem Programm und gemeinsamen Kandidatinnen und Kandidaten zusammenfinden. Ein Programm nationalen Zuschnitts, volksnah und demokratisch, und deshalb antioligarchisch und antiimperialistisch. Es ist kein sozialistisches Programm. Die Frente Amplio überdauert nun 34 Jahre vereint und darunter die harten Jahre der faschistischen Diktatur. Aber es ist unmöglich, das Entstehen der FA zu verstehen ohne die Vorgeschichte des Jahres 1962 zu kennen, als Einheitserfahrungen der Linken mit der Frente Izquierda de Liberación (Linksfront der Befreiung - FIDEL), die aus Kommunisten und Unabhängigen und Menschen aus traditionellen Parteien bestand und bis heute innerhalb unserer Unterkoalition Democracia Avanzada (Fortschreitende Demokratie) existiert, und der nicht mehr bestehenden Unión Popular aus Sozialisten und Blancos gemacht wurden. In einem Prozess der Erweiterung unseres Bündnisses entstand 1994 der Encuentro Progresista und 2004 die Nueva Mayoría, woraus zu den Wahlen EP-FA-NM entstand, ein Bündnis aus zwanzig Parteien und Gruppierungen."(1)

Inzwischen sind es 38 Jahre, und die Beständigkeit der FA ist umso bemerkenswerter, als dass das Bündnis ab 1973 auch eine zwölfjährige Diktatur und Illegalität überstehen musste. Bei Wahlen ging es stetig bergauf; seit fünf Jahren stellt die Frente Amplio die Regierung. Präsident wurde im März 2005 der Arzt Tabaré Vázquez, Mitglied der Sozialistischen Partei. Die Einschätzung der PCU, dass es sich um kein sozialistisches Programm handele, mit dem die Frente Amplio an die Regierung kam, wurde von der Realität schneller als erhofft bestätigt. Uruguay einigte sich mit dem Internationalen Währungsfonds, unterschrieb erst ein Investitionsschutzabkommen und später ein Rahmenabkommen über Handel und Investition mit den USA, beteiligte sich an der militärischen Besetzung Haitis und blieb im MerCoSur statt auf Integration auf Handelsfragen bedacht. Die recht enge Anlehnung an die USA hat damit zu tun, dass das Land seine Fleischberge dorthin exportiert. Da ist das Vermeiden eines Konfrontationskurses gegenüber den USA verständlich und wurde so von den "Moderaten" in der FA auch gern erklärt, aber von einer linken Regierung hätte man eine Weichenstellung für eine Diversifizierung der Exporte erwarten können. Wie weit sich eine wirtschaftliche Verflechtung im politischen Bereich auswirkt, zeigt das Abstimmungsverhalten Uruguays im UN-Menschenrechtsrat hinsichtlich des Goldstone-Berichts am 16. Oktober - es gehörte zu den Staaten, die sich enthielten, statt den israelischen Gaza-Krieg zu verurteilen, und die israelische Botschaft dankte in einem offenen Brief. Auch das Veto von Tabaré Vásquez gegen eine Entkriminalisierung der Abtreibung im Dezember 2008 trug zur linken Kritik an der Regierungsführung bei; andererseits wurden (als erstes Land in Lateinamerika) gleichgeschlechtliche Ehen zugelassen. Der außerordentliche Parteitag der PCU im Juli 2007 äußerte ebenfalls deutliche Kritik, vor allem an der Wirtschaftspolitik.(2) Allerdings ging während der Regierungszeit der FA nur die "Asamblea Popular" (AP) von der Stange: sie trat zu den Wahlen 2009 mit einem eigenen Kandidaten an.

Wenn auch die FA ihre Geschlossenheit weitgehend behielt und Auseinandersetzungen meist intern abgehandelt wurden, so war für die Wahlen schon recht früh klar, dass die Frente Amplio nicht wieder mit einem Sieg in der ersten Runde rechnen konnte - Vázquez hatte am 31. Oktober 2004 noch mit 50,45 Prozent eine Stichwahl umgehen können. Die Strategie der Rechtsparteien "Partido Nacional" und "Partido Colorado", sich wie 1999 im zweiten Wahlgang zusammenzutun, war wohl eher eine Hoffnung gewesen und im Ansatz gescheitert. Aber bei den Wahlen des 25. Oktober 2009 erreichte der ehemalige Tupamaros-Guerillero José "Pepe" Mujica nur 47,5 Prozent, und nun werden am 29. November bei der Stichwahl die Anhänger der Colorados und des mit 16,7 Prozent Drittplatzierten Pedro Bordaberry, Sohn des Diktaturpräsidenten Juan Maria Bordaberry, die Kandidatur des früheren Staatschefs Luis Alberto Lacalle (28,5 Prozent) verstärken. Rechnerisch ergeben sich gut 45 Prozent für die Rechte und gut 48 Prozent für die Linke, wenn dem Ergebnis von Mujica noch die 0,7 Prozent der AP zugerechnet werden können. Entscheidend wird sein, was die Wähler der "Unabhängigen Partei" (etwa 2,5 Prozent) tun und ob die sich im ersten Wahlgang Enthaltenden noch von einem der Kandidaten gewonnen werden können.

Jedoch rechnet man allgemein mit einem knappen Sieg Mujicas, zumal die FA auch Mehrheiten in elf der neunzehn Departements erreichte. Die Hauptstadt Montevideo, seit 1990 von der Frente Amplio regiert, sah eine Zustimmung von 56,3 Prozent für Jost Mujica. Allein: eine andere Politik erwartet niemand. Und der scheidende Präsident hat sich genau wie Mujicas Vize, Ex-Wirtschaftsminister Astori, angesichts der Stichwahl sogar für eine Einbeziehung der rechten Opposition in Ministerämter ausgesprochen. Auch Mujica redet bereits von der Notwendigkeit eines "nationalen Projekts".

Und hier wäre Uruguay dann doch einmal im regionalen Schnitt: Bündnisse von sozialdemokratisch bzw sozialistisch orientierten Parteien mit konservativen Kräften regieren auch in Brasilien, Argentinien, Paraguay und Peru.


Anmerkungen:

(1) Der damalige Internationale Sekretär der KP Uruguays, Carlos Flanagan, in der UZ vom 4. März 2005
(http://www.dkp-online.de/internal/amerika/uruguay/37091101.htm)

(2) UZ, 27.7.07 (http://www.dkp.online.deinternat/amerika/ uruguay/39301103.htm)


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-09, 47. Jahrgang, S. 24-27
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2009