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MARXISTISCHE BLÄTTER/487: Zu den finanziellen Folgen eines Atomausstiegs


Marxistische Blätter Heft 3-11

Zu den finanziellen Folgen eines Atomausstiegs

Von Hans-Peter Brenner


Der Mitteldeutsche Rundfunk (mdr) ist nicht gerade für einen "linken Enthüllungsjournalismus" bekannt. Und doch: als ich bei der Recherche für diesen Beitrag auf eine mdr-Nachricht vom 6.9.2010 stieß, hätte ich fast geglaubt, dass "alte Seilschaften" aus der DDR-Zeit im Sender ihr "Unwesen" trieben. Die vom mdr verbreiteten Fakten über das Profitregime in der Kernenergie sind geeignet, heftige antimonopolistische Emotionen zu wecken.


Unglaubliche Super-Gewinne

Doch die Erklärung kann ganz anders sein: Die vom mdr im Zusammenhang mit dem damaligen Beschluss der schwarz-gelben Regierung zur Laufzeitverlängerung der AKW ans Tageslicht gekommenen Daten über Umsätze und Gewinne der Atomindustrie waren so verblüffend, dass selbst die auf strammen "Prokapitalismus" getrimmten Redakteure einfach gar nicht anders konnten, als diese Daten zu vermelden. Wer diese Zahlen zur Kenntnis bringt oder nimmt, braucht eigentlich keine weiteren Kommentare dazu zu verfassen. "120 Milliarden Euro Zusatzgewinne für die Atomindustrie" so lautete damals die mdr-Schlagzeile. Und weiter hieß es:

"Die vier großen Betreiber der 17 deutschen Atommeiler RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall können mit 127 Milliarden Euro Mehreinnahmen rechnen, wenn sich der Atomdeal so durchsetzt, wie er von der Koalitionsregierung am 5. September vereinbart wurde."

Das hatte damals das "Freiburger Öko-Institut" ermittelt. Es ging dabei nur von leicht steigenden Strompreisen aus. Nicht eingerechnet waren außerdem die Gelder, die für Sicherheitsmaßnahmen bereit gehalten werden müssen. Nur ein Viertel der Gewinne würde von der Regierung bis 2016 als Brennelementesteuer und Sonderabgabe für den Ausbau der Öko-Energien eingezogen. Mit dieser "Sonderabgabe" hatte die Bundesregierung den Skandal der Verlängerung der AKW-Laufzeiten der Öffentlichkeit schmackhaft machen wollen.


Bombengeschäft für die Energie-Monopole trotz "Öko-Abgabe"

Die Gewinnverteilung auf die einzelnen Energiekonzerne sah laut mdr so aus:

• E.ON, Deutschlands größter Energieversorger, Betreiber von fünf Kraftwerken und beteiligt an sechs weiteren, würde 53,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen durch die Laufzeitverlängerung der AKW herausschlagen. Zurückzuzahlen wären 12,6 Mrd. Euro. Es blieben demnach Mehr-Einnahmen von 40,9 Milliarden Euro.

• RWE, mit zwei Atomkraftwerken und drei Beteiligungen, hätte mit rund 32,8 Milliarden Euro Mehreinnahmen rechnen können; davon wären 8,1 Milliarden Euro an den Bund zu zahlen gewesen. Unterm Strich stünde ein reines Plus von 24,7 Milliarden Euro.

• Energie Baden-Württemberg (EnBW) mit vier Werken wäre auf 26,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen gekommen. Bei 6,4 Milliarden Euro Abzügen hätten auf der Haben-Seite 20,1 Milliarden Zusatzgewinn gestanden.

• Vattenfall, beteiligt an drei Werken, hätte 9 Milliarden Euro Mehr-Einnahmen; nur 2,1 Milliarden Euro davon hätte der Bund behalten. Aber immerhin mit 6,9 Milliarden Euro hätte auch Vattenfall zusätzlich rechnen können.

• Drei Milliarden Euro Mehreinnahmen sollten auf "andere Versorger" entfallen.

Alle Atomkraftwerke hätten nach dem "schwarz-gelben" Entscheid zugunsten der Atomenergie länger laufen können: die vor 1980 gebauten acht Jahre, alle jüngeren 14. Mit der Aufhebung der Auslauffristen wäre der letzte Atommeiler (theoretisch) 2025 abgeschaltet worden. Nach differenzierten Berechnungen des Öko-Instituts hätten sich die Laufzeiten jedoch real noch mehr - bis ungefähr 2037 - verlängert. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätten die Stromkonzerne bis dahin weitere Möglichkeiten und Wege ausfindig gemacht, um aus der "Brückentechnologie Atomenergie" eine auch darüber hinaus fortwährend sprudelnde Geldquelle zu machen.

Im Gegenzug war vereinbart worden, dass die Betreiber auf sechs Jahre befristet jährlich insgesamt 2,3 Milliarden Euro für eine "Brennelementesteuer" zahlen sollten, mit der die Förderung von "alternativen Energieträgern" bezuschusst werden sollte. Auf sechs Jahre umgerechnet wären dies rund 15 Milliarden Euro gewesen. Im Verhältnis zu den Mehreinnahmen der Energiekonzerne wäre dies allerdings ein sehr bescheidener Abschlag und Abzug vom Extraprofit gewesen.

Ein kleines Zusatzgeschenk für die Atomindustrie war ganz nebenbei mitbeschlossen worden: Die Sicherheitsstandards der Meiler hätten nach der Vereinbarung nicht aufgestockt werden sollen.

Außerdem sollten zwischen 200 und 300 Millionen Euro aus Staatsgeldern als Zulage für die Förderung der Öko-Energien fließen.

So weit die Übersicht über die nun - nach dem Crash von Fukushima I - vorläufig versperrten Finanzströme für die Atomindustrie. Wer würde trotz des "Atom-Moratoriums" als Konzernmanager oder Teilhaber nicht alles tun, um diese Milliarden Zusatz- und Extragewinne nicht doch in die eigenen Konzernkassen umzuleiten?


Atom-Ausstieg mit oder gegen die Konzerne?

Es geht in der Energie-Politik um eine Schlüsselfrage nicht nur der gesamten industriellen und volkswirtschaftlichen Entwicklung, sondern um das Zentrum der kapitalistisch geprägten und (de-)formierten Produktions- und Lebensweise. Man braucht offenbar kein Marxist zu sein, um dies zu begreifen. Jedenfalls spricht der Verfasser eines Kommentars in der "Süddeutschen" vom 6. Mai dies mit großer Gelassenheit aus:

"Energie galt und gilt als Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg, in Deutschland wie überall in der Welt. Was die Versorgung mit Elektrizität angeht, halten die Stromkonzerne diesen Schlüssel bisher in der Hand, nicht zuletzt durch ihre Atomkraftwerke...

Nirgends in der deutschen Wirtschaft haben wenige Unternehmen so viel Macht akkumuliert wie hier. Diese Position abzusichern - das war ihr entscheidender Erfolg im vergangenen Herbst. Dann kam Fukushima.

Die Umweltbewegung hat die Kehrtwende mit erstritten. Nun muss sie beweisen, dass sie konstruktiv am Ausstieg mitwirken kann.

Der Lohn wäre eine Modernisierung des Landes. Denn die Machtfrage Atom war stets auch eine Strukturfrage; die Entscheidung für die Atomkraft war eben immer auch eine zugunsten von Konzernstrukturen." (M. Bauchmüller: Der perfekte Ausstieg. SZ vom 6.5.2011, S. 4)

Diese Art systemimmanenter Begründung für die Notwendigkeit des Atomausstieges markiert für Marxisten eine echte politische Herausforderung. Kann und soll ein Ausstieg aus der Kernenergie im Einklang mit dem kapitalistischen System erfolgen? Denn nichts anderes ist ja Bauchmüllers Plädoyer für eine "Modernisierung dieses Landes". Ihm schwebt ein "entflochtener" Energiemarkt vor, auf dem sich flexible Energieanbieter mit den diversen "alternativen" und erneuerbaren Energieprodukten tummeln und sich friedlich und vernünftig um die Gunst der Verbraucher abmühen, die von "kleinen, dezentralen Kraftwerken" geliefert werden. Ein "Anti-Monopolismus", der mit "Antikapitalismus" gar nichts im Sinne hat.

Dem steht die reale Kraft der kapitalistischen Faktizität entgegen.


Beispiel Eon: Macht und Profit - das alte Spiel

Die Macht- und Marktposition dieser vier mit der Kernenergie Extra-Profite schaufelnden Konzerne ist real trotz aller derzeitigen Irritationen noch immer gewaltig. Die 17 deutschen Atomkraftwerke produzieren rund ein Viertel des deutschen Stroms. 2008 waren das 148,8 Mrd. kwh, nach 140,5 Mrd. kWh im Jahre 2007.

Der deutsche Energiekonzern Eon mit seinen 90 Milliarden Euro Umsatz und seiner Beteiligung an elf von 17 deutschen Atommeilern stellt eine so starke ökonomische Potenz dar, dass sich der Eon-Chef J. Teyssen am 5. Mai auf der Eon-Hauptversammlung nicht scheute, der Bundesregierung und der Kanzlerin ganz offen den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen. Laut "Süddeutsche Zeitung" rückte der Eon-Chef mit einem vehementen Plädoyer für die Kernkraft "endgültig vom Konsens mit der Bundesregierung ab" und drohte öffentlich mit einer "härteren Gangart" in der Atomdebatte. "Der Umbau der Energiewelt lässt sich nicht beliebig beschleunigen."

Teyssen kündigte massiven Widerstand gegen den Kurs von Kanzlerin Merkel und Umweltminister Röttgen an, die mit ihrer Denkpause bei der Verschleppung des Ausstiegs aus der Kernenergie ja keineswegs zu Gegnern der Atomindustrie geworden waren, sondern lediglich der von ihnen propagierten Politik des "Ausstiegs mit Augenmaß" einen größeren Spielraum und der "Brückentechnologie Atomenergie" noch eine längere Atempause und Betriebsdauer verschaffen wollen.

Und Eon, der größte Energiekonzern der BRD, hat ein enormes politisches Gewicht. Längst ist der Konzern mit einem Umsatz von 92 Mrd. Euro und 85.000 Mitarbeitern einer der großen "Global Player". Für Eon geht es um die Infragestellung seines gesamten Geschäftsmodells.

Eon beklagt ohnehin "steigende Kosten für den Klimaschutz" und hohe Verluste im Gasgeschäft. Der Aktienkurs im vergangenen Jahr notierte am Jahresende deutlich niedriger als zu Jahresbeginn, während insgesamt der DAX in der gleichen Zeit um 16 Prozent zulegte.

Schon wird - zwar noch nicht laut, aber immerhin laut genug - über die Verlegung der Düsseldorfer Zentrale an einen anderen europäischen Standort gemunkelt.

Kein Wunder, dass der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende und Mitglied des ver.di-Bundesvorstandes Erhard Ott in einem für "sozialpartnerschaftlich" ausgerichtete gewerkschaftliche Spitzenfunktionäre friedfertigem Gestus am Rande der Hauptversammlung die "einvernehmlichen Entscheidungen" im Aufsichtsrat würdigt. "Standortlogik" und das auch nur angedeutete Drohen mit dem Abbau von Arbeitsplätzen zeigt den erwünschten Effekt: vorbeugenden und vorauseilenden Gehorsam beim "Arbeitnehmer"-Vertreter.

Der Ausstieg aus der Atomenergie, der in den ersten Wochen nach dem Schock von Fukushima I sogar für die bisher knallhart auf Linie der großen Energiemonopolisten liegenden Bundesregierung eine näher rückende Option zu werden schien, scheint nur auf den ersten Blick bereits entschieden zu sein.

Zu einer Nagelprobe soll es Ende Mai (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) kommen. Dann müssen nach der bisherigen Vereinbarung die ersten Zahlungen der Brennelementesteuer seitens der Energiekonzerne erfolgen. Zwar ist bislang nur RWE den Schritt vor Gericht gegangen, um gegen das verhängte Moratorium zu klagen - mit Erfolgsaussicht, wie viele Beobachter meinen - aber jetzt kündigte auch Eon an, dass geklagt werden solle. "Für eine Klage sprechen gute Gründe" erklärte Eon-Chef Teyssen auf der Hauptversammlung.

Diese "guten Gründe" lassen sich konkret beziffern: Infolge des jetzigen dreimonatigen Moratoriums entgehen Eon 250 Millionen Euro. Blieben seine beiden Alt-Kraftwerke dauerhaft vom Netz abgeschaltet, "drohen Milliarden-Verluste" - so Eon-Experten. Das hätte womöglich nicht nur Konsequenzen für die Aktionäre, sondern auch Folgen für die Vergütung der 20 Aufsichtsräte.

Die Hauptversammlung rechnete jedoch offenbar mit einer günstigen Entwicklung in diesem Kampf: die Bezüge für die 20 Aufsichtsräte wurden glatt verdreifacht. Lediglich die bisher gezahlten zusätzlichen erfolgsabhängigen Vergütungsanteile wurden gestrichen. Gut weg kamen auch die drei neuen Eon-"Kontrolleure", darunter Telekom-Chef R. Obermann. Für ihre Teilnahme an den vier regulären Sitzungen pro Jahr erhalten sie eine nette kleine Vergütung von 140.000 Euro. Ihre Vorgänger mussten sich mit "lediglich" 55.000 Euro bescheiden.


Energiekonzerne und die "Alternativenergie"

Es gibt also für Atommanager und -Aktionäre gute Gründe, den propagandistischen Widerstand gegen das "Moratorium" und erst recht gegen einen Ausstieg aus der Kernenergie auf breiter Front zu forcieren und auf der Seite der Atomindustrie wieder mehr Geschlossenheit zu zeigen. Dazu zählt der Versuch, mit Hilfe der breit diskutierten Kosten-Frage den Ausstieg möglichst zu verlangsamen.

Aber es sind auch die großen Energiekonzerne, die mittlerweile verstärkt auf den Markt der "sanften" Energien drängen. Die Errichtung der ersten kommerziell nutzbaren deutschen Hochsee-Windkraftanlage durch EnBW in der Ostsee vor dem Darß ist abgeschlossen. Seine 21 Windkraftanlagen werden eine Gesamtleistung von 50 Megawatt erreichen, damit können bereits 50.000 Haushalte ein Jahr versorgt werden. "Baltic I" wird kein Einzelfall bleiben.

Das Nachfolgeprojekt "Baltic II" soll schon 2012 an den Start gehen. Mit geplanten 1,2 Milliarden Kilowattstunden, die von 80 Turbinen produziert werden, die von Siemens geliefert werden, bekommt die Offshore-Windkraft-Branche einen deutlichen Schub. "Baltic II" wird sechs mal größer als sein Vorgänger; ab 2013 werden daraus weitere 340.000 Haushalte Strom beziehen können. Im internationalen Vergleich ist Deutschland bei der Hochsee-Windkraft jedoch ein Nachzügler. Insbesondere der Siemens-Konzern, aber nun auch EnBW, bemühen sich verloreneres Terrain aufzuholen. Aktuell machen bei Siemens die Auftragseingänge für den Bau von Windkraftanlagen, Gasturbinen, Automatisierungs- und Stromübertragungstechnik bereits 20,65 Milliarden Euro aus. Und die Nachfrage nach Ökostrom-Technik hat seit der Katastrophe von Fukushima deutlich weiter angezogen.

Die großen Energiekonzerne stehen also durchaus auf "mehreren Beinen". Der "Energie-Mix" aus Wasser, Wind, Strom, Sonne, Biomasse plus Atomenergie ist durchaus für sie eine profit- und zukunftsträchtige Angelegenheit.

Und dennoch wird der Um- bzw. Ausstieg aus der Atomenergie nur gegen den Widerstand der Energiekonzerne zu haben sein. Der Grund ist simpel: die oben genannten Sonder- und Extraprofite aus der Kernenergie.

Zwei Hauptargumente spielen dabei die entscheidende Rolle:

a) die "Kosten-Frage" und
b) die Terminierung des "endgültigen" Abschaltens der Reaktoren.

Beide Bereiche werden mit einem Wust von sich widersprechenden Daten und Zahlen zu einem wahren Lügengespinst miteinander verwoben.

Insbesondere die "Kostenfrage" steht im Mittelpunkt. Wie die sich derweil auch "grün" gerierende "Wirtschaftswoche" in ihrer Ausgabe vom 21.3. in einer sehr umfangreichen Titelgeschichte behauptete, herrsche in der Kosten-Thematik unter den Experten "Einigkeit": "Jede Verkürzung der Laufzeiten der Kernkraftwerke macht Strom in Deutschland teurer. Schließlich fällt mit Atomstrom die preiswerteste Energiequelle weg. Seine Produktionskosten betragen laut dem deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin im Durchschnitt zwei Cent je Kilowattstunde (KWh) - zumindest, solange man die völlig unabsehbaren Folgekosten etwa für die Endlagerung der Atomabfälle nicht einberechnet." ("Wirtschaftswoche" vom 21.3.11, S. 25)

Schon die in einen kleinen Konditionalsatz eingeflochtene Erinnerung an die ungelöste Endlagerung verweist darauf, dass die niedrigen und günstigen Preise für den Atomstrom politisch motiviert und kalkuliert sind. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise und einer angeblich nur nach Marktgesetzen gut funktionierenden Volkswirtschaft herrscht auf einem der wichtigsten Märkte der pure staatlich gelenkte und gesteuerte Energie-Kapitalismus. Der Atomstrompreis ist das Ergebnis einer ganzen Serie von eigentlich überhaupt nicht "marktkonformen" Mechanismen.

Wie H.-J. Luhmann, Projektleiter beim "Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie" in einem aktuellen Kommentar "Politik als Rechenaufgabe" ("Süddeutsche Zeitung" vom 30.4./1.5.11) richtig bemerkt, geht es bei diesen Daten- und Rechenspielen im Prinzip immer um dasselbe: "Jeder kalkuliert die Kosten des Stromausstiegs nach Interesse, niemand kalkuliert die Gewinne."

Es handelt sich tatsächlich um eine Kampfdiskussion und nicht um einen "öffentlichen Diskurs."


Licht im Dunkel der Preise und Kosten

Mit welchen simplen Tricks die eigentlichen Kosten für Atomstrom verfälscht und niedrig gerechnet werden, verdeutlicht die Initiative "Atomkonzerne in Haftpflicht nehmen", mit der zur Zeit 7.683 Personen (Stand 29.4.11) Bundestag und Bundesregierung auffordern, "sofort umfassende Haftpflichtversicherungen für AKW vorzuschreiben".

In dem Aufruf - nachzulesen auf www.ausgestrahlt.de - heißt es:

"Keins der deutschen Atomkraftwerke ist auch nur annähernd ausreichend versichert. Haftpflichtversicherung und Deckungsvorsorge der vier AKW-Betreiber decken zusammen gerade mal 2,5 Mrd. Euro ab, einen winzigen Bruchteil des Schadens, der im Falle eines Super-GAU zu erwarten wäre. Die Autos auf dem Parkplatz vor einem AKW sind zusammen besser versichert als das Kraftwerk selbst. Der Grund dafür ist einfach: Keine Versicherung ist bereit, die enorm risikobehafteten AKW vernünftig zu versichern. Die Assekuranzen betrachten die Frage nämlich rein ökonomisch und rechnen mit der einfachen Formel, 'Unfallswahrscheinlichkeit mal Schadenssumme'. Und aufgrund der begrenzten finanziellen Rücklagen wäre keine Versicherung in der Lage, im Schadensfall alle entstehenden Forderungen zu begleichen.

Die finanziellen Schäden hei einem schweren Atomunfall in der Bundesrepublik wären gigantisch und sie sind sogar bereits amtlich bekannt. Laut einer Studie von 1992, die damals im Auftrag des FDP-geführten Bundeswirtschaftsministeriums erstellt worden war, wäre bei einem schweren Kernschmelzunfall in einem deutschen AKW mit Schäden von bis zu 5.500 Milliarden Euro zu rechnen. Dies sind in heutigen Preisen etwa 8.040 Mrd. Euro (8 Billionen!).

Bei einer selbst von der damaligen Bundesregierung errechneten Schadenssumme von 8 Billionen und 40 Milliarden Euro in Gefolge eines "Super GAUs", sind allerhöchstens nur etwas mehr als 8 Milliarden Euro versicherungstechnisch abgedeckt. Die bestehende Haftpflichtversicherung der AKW-Betreiber deckt also selbst im günstigsten Fall nur 0,1 Prozent des finanziellen Schadens ab.

Nach der von Greenpeace initiierten Studie käme auf die AKW-Betreiber eigentlich eine jährliche Versicherungsprämie von 287 Milliarden Euro zu.

Damit würde sich automatisch der Preis für eine Kilowattstunde Atomstrom auf 17.9 Cent erhöhen und läge damit deutlich über den gegenwärtig nur sehr gering subventionierten Preisen für Strom aus alternativen und erneuerbaren Energien.

In einer neuen Greenpeace-Studie (Vrgl. "junge welt" vom 04.05.11) wird von einem Gewinn für die Energiekonzerne von 75 Milliarden Euro gesprochen. die diese bei Beibehaltung der beschlossenen Laufzeitverlängerung einstreichen könnten. Würden die Atommeiler 2020 heruntergefahren, wären es den Berechnungen zufolge immer noch etwa 60 Milliarden Euro. Deshalb lautet die Einschätzung von Greenpeace:

"Greenpeace warnt davor, der aktuellen Ausstiegseuphorie ohne Wenn und Aber zu trauen. Die Manager und Lobbyisten der Atomkonzerne werden um jedes Jahr Laufzeit für ihre gefährlichen, aber profitablen Uraltmeiler kämpfen." Dies erklärte laut "jw" Tobias Riedl, Atomexperte von Greenpeace. "Angela Merkel darf jetzt nicht noch einmal vor den Energiekonzernen in die Knie gehen."

Dieser moralische Appell erinnert stark an die ebenfalls nicht eingelösten Wünsche an die Kanzlerin, mit strikteren Auflagen gegenüber der deutschen Automobilindustrie zu einer schnelleren und verbindlicheren Absenkung der CO2-Emissionen zu kommen. Moralische Appelle dieser Art verkennen, welche Rolle das Amt der Bundeskanzlerin/des Bundeskanzlers als Chef einer im Dienst des Großkapitals stehenden bürgerlichen Regierung spielt.

Warum sollten die Energiekonzerne freiwillig auf die enormen Extra-Profite aus der Kernenergie verzichten? Dies zu hoffen, ähnelt dem Wunderglaube, dass ein Alkoholsüchtiger in einem großen Supermarkt die Getränkeabteilung mit allen möglichen Alkoholika nur deshalb meiden würde, weil es in einer anderen Abteilung frische Milch zu kaufen gibt.

Im Falle eines endgültigen Abschaltens der sieben ältesten Reaktoren und des Pannenmeilers Krümmel würden den Konzernen 25 Milliarden Euro entgehen. Für die restlichen neun Anlagen beliefe sich der ausbleibende Gewinn bei einem Ausstieg bis 2015 auf etwa 50 Milliarden Euro. Greenpeace schätzt, dass ein Atomkraftwerk etwa eine Million Euro Gewinn pro Tag erzielt. Laut einer Studie des Freiburger Öko-Instituts von 2009 könnte diese Summe noch höher ausfallen.

Im Wissen um die Zusammenhänge und in Kenntnis der realen Erzeugerpreise - wobei hier die über Jahrhunderte andauernden Kosten der Entsorgung und atomaren Endlagerung und die Folgen, die für x Generationen dadurch entstehen, nicht einberechnet sind - propagieren die der Atomindustrie willfährigen Lobbyistenverbände, Medien und Experten weiterhin die "Angst vor dem Aus" und beschwören die "Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit ganzen Branchen" - so jetzt erneut der Verband der Industriellen Energie- und Kraftwerkswirtschaft (VIK).


Hans Peter-Brenner, Dr., Bonn, Dipl.-Psychologe, MB-Mitherausgeber


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-11, 49. Jahrgang, S. 4-9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2011