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MARXISTISCHE BLÄTTER/503: Zehn Jahre Krieg in Afghanistan - Ziele und Resultate


Marxistische Blätter Heft 6-11

Zehn Jahre Krieg in Afghanistan - Ziele und Resultate

von Ernst Woit


Dieser Krieg, den die USA und die NATO seit nunmehr über zehn Jahren führen, dauert damit länger als die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert zusammen und obwohl er inzwischen von der Mehrheit der Menschen in den kriegführenden Staaten abgelehnt wird, ist ein Ende dieses Krieges noch nicht in Sicht. Zwar hat US-Präsident Obama am 4. Juni 2009 in seiner Kairoer Rede eingestanden, "es ist einfacher, Kriege zu beginnen, als sie zu beenden"(1). Trotzdem setzt er den Krieg in Afghanistan unvermindert fort. Zwar wollen die USA bis Ende 2012 etwa 30.000 Soldaten aus Afghanistan abziehen. Ob oder wann die USA aber ihre "restlichen" 100.000 Soldaten aus Afghanistan abziehen werden, ist absolut unklar. Das macht es zwingend notwendig, zu untersuchen, welche wirklichen Ziele die USA und die NATO mit diesem Krieg verfolgen, wie sie ihn mit welcher Wirksamkeit gerechtfertigt haben und welche Resultate dieses Krieges sich inzwischen abzeichnen.


Ist der Afghanistankrieg ein Anti-Terror-Krieg?

Es ist schon erstaunlich, wie viele Politiker und Wissenschaftler immer noch davon ausgehen, dass mit dem am 7. Oktober 2001 erfolgten Überfall der USA auf Afghanistan der "erste Anti-Terror-Krieg" begonnen hat - nämlich als eine politisch gerechtfertigte Reaktion der USA auf die Anschläge vom 11. September 2001 und die Weigerung der afghanischen Regierung, den für diese Anschläge angeblich verantwortlichen Osama bin Laden an die USA auszuliefern.

So begann der an der Universität Hamburg einen Arbeitsbereich "Theorie und Geschichte der Gewalt" leitende Professor Bernd Greiner erst kürzlich einen Artikel über den "endlosen Krieg" in Afghanistan mit der Feststellung: "Mit der Tötung Osama bin Ladens am 2. Mai dieses Jahres wurde der Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 regelrecht zur Strecke gebracht. Sein eigentliches Erbe jedoch, der Krieg in Afghanistan, der am 7. Oktober 2001 begann, geht unvermindert weiter - und ein Ende ist auch in seinem elften Jahr nicht abzusehen."(2) Greiner geht davon aus, dass Osama bin Laden strategisch das Ziel verfolgte. "die Vereinigten Staaten unablässig zu provozieren und mit Nadelstichen zu reizen - so lange, bis sie zu den Waffen griffen und sich in einen Krieg stürzten, der ihr moralisches Durchhaltevermögen überforderte." Entsprechend dieser Strategie habe bin Laden mit den Anschlägen vom 11. September 2001 die USA "zu einer militärischen Überreaktion gereizt und buchstäblich nach Afghanistan gelockt".(3)


Die wirkliche Rolle von 9/11

Zwar haben die USA ihren Krieg gegen Afghanistan als ersten "Krieg gegen den Terrorismus" ausgegeben und bekanntlich mit der seit nunmehr über zehn Jahren stereotyp wiederholten Behauptung gerechtfertigt. Osama bin Laden habe die Terror-Anschläge vom 11. September 2001 von Afghanistan aus inszeniert. Zur wirklichen Rolle des Terrorismus und zur Personifizierung bin Ladens in der Kriegspropaganda der USA machte der namhafte US-amerikanische Militär und damalige außenpolitische Berater der Bush-Administration Brent Scowcroft in einem "Spiegel"-Interview aufschlussreiche Angaben. Auf die Frage, ob es sinnvoll sei, "vom 'Krieg' gegen den Terrorismus zu sprechen". antwortete Scowcroft: "Ja und nein. Sinnvoll, weil Krieg der Mobilisierung dient ... In den ersten Tagen war die Rede vom Krieg vor allem ein Weckruf. Die Wortwahl hat ihren Zweck erfüllt. Andererseits ist Krieg ein etwas irreführender Begriff, was die Natur des Konflikts angeht. ... Nichtmilitärische Maßnahmen sind effizienter als jedes Kriegsszenario. Aber es gibt natürlich in Amerika das Bedürfnis nach einem Militärschlag als Antwort auf die schrecklichen Angriffe. Diese Erwartung muss irgendwie erfüllt werden." Auf die Frage, ob bin Laden als zentrale Figur des Terrorismus nicht überschätzt werde, antwortete Scowcroft: "Vermutlich. In Wahrheit wissen wir nicht besonders viel über ihn ... Er ist zu einem nützlichen Symbol geworden."(4)

Die wahrhaft strategische Funktion dieses "nützlichen Symbols" enthüllt auch Egon Bahr in seiner Analyse der Entwicklung der neuen Weltherrschaftsstrategie der USA nach dem Sieg im Kalten Krieg. Dazu habe US-Präsident George W. Bush eine "Sicherheitsdoktrin" entwickelt, mit der er "das Recht auf Kriegführung, auch präventiv, auch ohne das Mandat der UNO proklamierte. Die neue Doktrin war nur die logische Konsequenz des politischen Entschlusses zu einem neuen gigantischen Rüstungsprogramm ... Als dies dem Streitkräfteausschuss des Senats im Juni 2001 vorgelegt wurde, haben wir es nicht ernst genommen, weil es zu teuer schien. ... Der 11. September löste drei Monate später diese Probleme. ... Die Supermacht nutzte die Gelegenheit zu einem qualitativen Sprung der Uneinholbarkeit und zur Ausweitung von Einfluss durch Stützpunkte bis nach Zentralasien. Die NATO erklärte zum ersten Mal in der Geschichte den Bündnisfall ..."(5) Tatsächlich war der Krieg zur neokolonialen Intervention in Afghanistan schon lange vor seinem Beginn geplant und vorbereitet. Den kriegsideologisch wirksamen Anlass für die Aggression aber bot 9/11.


Die "Seidenstraßen-Strategie"

Bereits 1997 hatte der einflussreiche US-Stratege Zbigniew Brzezinski in seinem Buch "Die einzige Weltmacht" unter Berufung auf den Geopolitiker des alten deutschen Imperialismus, Karl Haushofer. betont, dass "eine Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für globale Vormachtstellung ist."(6) Ein grundlegendes Dokument der genau in diesem Sinne langfristig orientierten Strategie der USA zur Erlangung der Weltherrschaft ist das am 19. März 1999 - fünf Tage vor Beginn des Angriffskrieges gegen Jugoslawien (!) - vom US-Kongress verabschiedete "Seidenstraßenstrategiegesetz" (Silk Road Strategy Act). Mit ihm hat der US-Kongress die umfassenden wirtschaftlichen und strategischen Interessen der USA an einer riesigen Region definiert, die sich vom Mittelmeer bis nach Zentralasien erstreckt.(7)

Der namhafte deutsche Politikwissenschaftler Ernst-Otto Czempiel ordnet deshalb auch den Afghanistan-Krieg - wie ich meine, sehr treffend - in diese den gesamten eurasischen Kontinent erfassende Expansionsstrategie der USA ein: "Eroberung und Besetzung Afghanistans und des Irak müssen also als Teil eines sich entfaltenden globalen Herrschaftsanspruches verstanden werden. Die geopolitische Ausgangslage der USA war schon 1996 durch die Besetzung des Kosovo verbessert worden, welche die NATO-Lücke zwischen Atlantik und Kaspischem Meer füllte. Die im Zusammenhang mit dem Afghanistankrieg geschlossenen Kooperationsabkommen Washingtons mit Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisien erweitern das amerikanische Glacis bis nach Zentralasien. Nach dem Ende des Irakkrieges erstreckt sich die durch Abkommen und Truppen gesicherte Einflusszone der Vereinigten Staaten 2004 direkt bis an die Grenzen Indiens und Chinas."(8)

Egon Bahr zitiert in diesem Zusammenhang entsprechende Aussagen des militanten US-amerikanischen Strategen Robert Kagan, die er "brutale Eingeständnisse" nennt, die eine "Umwertung internationalen Rechts" im "Kampf um die künftige Weltordnung" zum Ausdruck bringen: "Seit dem 11. September 2001 haben die USA Stützpunkte in Zentralasien, in Afghanistan, Kirgisien, Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan, dazu in Europa, Bulgarien, Georgien, Ukraine, Polen und Rumänien sowie auf den Philippinen, in Dschibuti, Oman, Katar und natürlich im Irak eingerichtet. Die Erweiterung der NATO um die drei baltischen Staaten sollte nicht vergessen werden."(9)

Bestandteil dieser Seidenstraßenstrategie ist die Instrumentalisierung von möglichst vielen Vasallen für die Kriegführung des nach Weltherrschaft strebenden USA-Imperialismus. Bereits in seinem Buch "Die einzige Weltmacht" charakterisierte Zbigniew Brzezinski den "Geltungsbereich der heutigen Weltmacht Amerika" als "einzigartig". Denn - wie die Karte des eurasischen Kontinents zeige - "ist der gesamte Kontinent von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät, von denen einige allzu gern noch fester an Washington gebunden wären."(10) Gestützt auf diese Kräftekonstellation gelang es den USA, im Dezember 2001 die Bildung einer "internationalen Schutztruppe" (ISAF - International Security Assistance Force) für Afghanistan durch den UN-Sicherheitsrat beschließen zu lasen, die seit 2003 von der NATO geführt wird. Im Ergebnis dessen waren Ende 2010 rund 130.000 ISAF-Soldaten aus 48 Ländern in Afghanistan stationiert. Größter Truppensteller sind die USA mit rund 100.000 Soldaten. Deutschland stellt etwa 5.000 Soldaten, wobei der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den dafür notwendigen Beschluss des Bundestages dadurch erzwang, dass er die Vertrauensfrage stellte.

Als Vasall des USA-Imperialismus, der das Ziel einer Teilhabe an der Weltherrschaft(11) verfolgt, hatte die BRD einen besonderen Anteil. So richtete sie im Dezember 2001 auf dem Petersberg bei Bonn eine Konferenz aus, durch die eine provisorische Regierung für Afghanistan unter dem von den USA favorisierten Kandidaten Karzsai eingesetzt wurde. Das war die Voraussetzung dafür, dass der UN-Sicherheitsrat wenige Tage später mit seiner Resolution 1386 den Einsatz der ISAF beschloss. Für den Dezember dieses Jahres ist erneut ein "Petersberg-Treffen" der NATO-Kriegsallianz über die Zukunft Afghanistans geplant, bei dem es vor allem um die dauerhafte Sicherung US-amerikanischer Militär-Stützpunkte in Afghanistan geht.

Dass diese durch das Weltherrschaftsstreben der USA bestimmte neokolonialistische Eroberung des eurasischen Kontinents - wenn sie denn von den Menschen erkannt wird - auf absolut berechtigte Ablehnung trifft, ist verständlich. Nicht vergessen dürfen wir dabei allerdings, dass die diesen Krieg führen wollenden Politiker den Volkswillen bisher immer noch missachten können. So erklärte der ehemalige Bundesverteidigungsminister und langjährige SPD-Fraktionschef im Bundestag Peter Struck mit kaum noch zu überbietendem Zynismus: "Es ist völlig klar, dass die SPD, aber auch die Union, die FDP und weite Teile der Grünen mit der klaren Unterstützung des Afghanistan-Einsatzes gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung stehen. Dennoch bleibe ich dabei: Die Interessen Deutschlands werden auch am Hindukusch verteidigt."(12) Mit ihrem Eintreten für die Teilnahme der Bundeswehr am neokolonialistischen Afghanistankrieg des US-Imperialismus missachteten die SPD-Politiker Gerhard Schröder und Peter Struck nicht nur den Mehrheitswillen des deutschen Volkes. Sie artikulierten auch politische Positionen, die von klügeren konservativen deutschen Politikern abgelehnt wurden. So betonte z. B. der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einem Interview: "Die Idee, dass wir unsere Freiheit am Hindukusch verteidigen, habe ich nie sehr einleuchtend gefunden."(13)

Späte Erkenntnis: Sieg ist nicht möglich

Der nunmehr länger als zehn Jahre währende Krieg gegen Afghanistan forderte nach Schätzungen der Friedensbewegung bisher 70.000 Todesopfer, darunter etwa die Hälfte Zivilisten. Seit 2001 wurden mehr als 2.500 ausländische Soldaten im Afghanistan-Einsatz getötet, darunter auch 52 Bundeswehrsoldaten. Darüber hinaus haben die USA mit ihrer Kriegführung ihre Wirtschaft in einem solchen Ausmaß ruiniert, dass Präsident Obama am 31. August 2010 in einer "Botschaft an die Nation" eingestehen musste: "Leider haben wir in den letzten zehn Jahren nicht das Notwendige getan, um das Fundament unseres eigenen Wohlstands zu stützen. Wir haben im Krieg eine Billion US-Dollar ausgegeben, häufig finanziert durch Kredite aus Übersee. Das wiederum hat geringere Investitionen in unserer eigenen Bevölkerung zur Folge gehabt und Rekorddefizite mit verursacht. ... Das Ergebnis ist, dass zu viele Familien der Mittelschicht immer mehr arbeiten müssen und immer weniger dafür bekommen, während gleichzeitig die langfristige Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes aufs Spiel gesetzt wird."(14)

Tatsächlich sind die Resultate dieses Krieges, den der USA-Imperialismus als einen entscheidenden Schritt zur neokolonialen Beherrschung des eurasischen Kontinents geplant und vor zehn Jahren begonnen hat, auch für den Aggressor und seine Vasallen verheerend. Vor allem aber führen die alltäglichen Kriegsverbrechen der USA- und der NATO-Streitkräfte unvermeidlich dazu, dass der Hass und der Widerstand des afghanischen Volkes gegen den Aggressor immer weiter wächst und nicht nachlässt. Hauptursache: "Die Militäreinsätze in Afghanistan und im Irak werden nach dem Vorbild europäischer Kolonialkriege geführt."(15) Konsequenz: "Die internationale Gemeinschaft hat der Demokratie in Afghanistan, genauer gesagt: den Ansätzen der Demokratie den Todesstoß versetzt. Das ist bitter."(16)

Immer mehr hat sich deshalb in den letzten Jahren auch bei ausgewiesenen imperialistischen Strategen und Ideologen die Erkenntnis durchgesetzt, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. Das Dilemma, vor dem die USA und ihre NATO-Vasallen zehn Jahre nach dem Überfall auf Afghanistan stehen, fasst der Oberkommandierende in Afghanistan, US-General Petraeus, in die Worte, man müsse eingestehen: "Man kann diesen Krieg nicht gewinnen. Aber man muss weiterkämpfen"(17). Auch Jan Ross, der den Beginn dieses Krieges vor zehn Jahren bis heute noch krampfhaft zu rechtfertigen sucht, sieht inzwischen ebenfalls das von General Petraeus charakterisierte Dilemma, wenn er einschätzt: "Der Krieg kann nicht gewonnen, sondern nur mit einem politischen Kompromiss beendet werden. ... Längst sind Gespräche im Gange, die auf eine Integration der Taliban in den Staat, auf ihre Teilhabe an der Macht zielen. ... Für Amerika und Europa muss daher, so schwer es fällt, die dreifache Devise gelten: nicht zu schnell abziehen, nicht bedingungslos, nicht ganz und gar. ... Siegen kann der Westen in Afghanistan nicht mehr und konnte es womöglich nie. Aber der Unterschied zwischen dem Erträglichen und dem Katastrophalen ist gewaltig. Es kommt jetzt darauf an, mit ganzer Kraft für eine halbe Sache zu kämpfen."(18)

Der Herausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit", Josef Joffe, ist als militanter Befürworter der von den USA und der NATO geführten neokolonialistischen Kriege ausgewiesen. Noch im Januar 2010 suchte er die protestantische Theologin Margot Käßmann wegen deren Einschätzung "Es ist nichts gut in Afghanistan" mit der Behauptung zu diffamieren: "Käßmanns Pazifismus hilft nur den Kriegstreibern."(19) Im September 2011 veröffentlichte er auf der Seite 1 der von ihm herausgegebenen Zeitung einen Artikel unter der Überschrift "Ein falscher Krieg". Darin kam er zu der bemerkenswerten Einschätzung: "Der Krieg in Afghanistan geht ins elfte Jahr, und er geht verloren. ... Zwischen Einsatz und Ertrag klafft mahnend eine mörderische Lücke."(20)

Bereits ein Jahr zuvor hatte der US-Außenpolitiker Richard Holbrooke dem ihn befragenden Josef Joffe zum Afghanistankrieg erklärt: "Dies ist unser härtester Krieg, gegen einen Feind, der noch nie so schwer zu fassen war." Als Joffe ihm entgegenhielt: "Diese 25.000 Taliban sind nicht Ho Chi Minhs Millionenarmee", antwortete ihm Holbrooke mit sarkastischem Unterton: "Jedes Jahr töten wir mehr Taliban und jedes Jahr gibt es mehr von ihnen. Wir müssen also realistisch sein."(21) Mehr noch: Als am 5. August 2010 in Teheran ein Asien-Treffen zwischen den Präsidenten Hamid Karzsai (Afghanistan), Mahmud Ahmadinedschad (Iran) und Emomali Rahmon (Tadschikistan) stattfand, wertete der "Spiegel" das als "Schulterschluss gegen die Nato".(22)

Ende einer Epoche

Josef Joffe hat seine Wertungen immer wieder mit einer bestimmten historischen Epoche-Sicht zu argumentieren versucht.(23) Das macht er auch diesmal wieder, wenn er einschätzt: "Der kommende Rückzug aus Afghanistan und Irak schließt den Kreis zu den Interventions- und Kolonialkriegen nach 1945. Nur einer wurde nach zwölf Jahren gewonnen - der britische gegen die malaiischen Kommunisten. Alle anderen Kriege ... gingen verloren. "(24)

Dass das Konzept des USA-Imperialismus und seiner NATO-Verbündeten, Weltherrschaft durch einen neuen Kolonialismus zu erreichen, im 21. Jahrhundert keine Perspektive mehr hat, wird unter den imperialistischen Strategen und Ideologen - gerade auch im Zusammenhang mit den sogenannten "Anti-Terror-Kriegen" - schon länger diskutiert. Robert Cooper, seinerzeit Bürochef des EU-Außenpolitikbeauftragten Javier Solana, wies bereits 2004 darauf hin, "dass Imperien heutzutage nicht mehr funktionieren. Ein Jahrhundert nationaler Befreiungsbewegungen und nationaler Selbstbestimmung kann nicht einfach rückgängig gemacht werden. Wenigstens muss die Bevölkerung die fremde Macht herbeiwünschen."(25)

Für Stefan Weidner vom Deutschen Goethe-Institut ist das Jahr 2011 "in noch weit größerem Ausmaß ein Epochenjahr, als es ohnehin den Anschein hat. Dieses Jahr zieht nicht nur ... einen dicken Schlussstrich unter die zehn Jahre nach 9/11, sondern es markiert den Anfang vom Ende einer historischen 'longue duree', einer Großepoche, die mehr als zweihundert Jahre lang wirksam gewesen ist. Gemeint ist die Geschichte des abendländischen Imperialismus und der von ihm etablierten, bis in jüngste Zeit wirksamen kolonialen Strukturen."(26) Oliver Stone, der als Hollywoods politischster Filmemacher gilt, kam bereits 2010 in einem Gespräch mit dem deutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zu der eindeutigen epochalen Wertung: "Es ist Endzeit. Amerika ist ein Imperium, das nicht mehr funktioniert. Wir haben uns total übernommen, festgefahren, nichts geht mehr."(27)

Jedes Ende einer Epoche bedeutet zugleich den Beginn einer neuen, anderen Epoche. Das aber hat fundamentale Konsequenzen für die Krieg-Frieden-Problematik. Wie Matthias Nass unter Berufung auf den in Harvard lehrenden Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson einschätzt, erleben wir gegenwärtig nicht weniger als "das Ende von fünfhundert Jahren westlicher Vorherrschaft". Zugleich war "Chinas Wiederaufstieg ... das wichtigste Geschehen des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts." Daraus folgt für Mathias Nass. Chinas "Supermachtrivalität mit Amerika wird das 21. Jahrhundert prägen."(28) Doch dieser die Zukunft prägende Systemkonflikt ist für Nass ein Konflikt besonderer Qualität: "Denn Chinas Machtanspruch ist kein imperialistischer" und "China ist eine Status-quo-Macht".(29)

Wie der chinesische Wissenschaftler Jin Ling betont, wird Chinas Außenpolitik prinzipiell von den fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz bestimmt, "die seit spätestens 1954 offizielle Leitlinien der chinesischen Außenpolitik sind. Dazu gehören: (1) gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souveränität, (2) gegenseitiger Nichtangriff. (3) gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. (4) Gleichberechtigung und beiderseitiger Nutzen sowie (5) friedliche Koexistenz. Gerade in den Beziehungen zu den afrikanischen Staaten fühlt sich China mit diesen - wie Jing Ling betont - aufgrund "ähnlicher Erfahrungen mit dem Kolonialismus" besonders verbunden.(30) Helmut Reisen, Professor an der Universität Basel und Berater am Entwicklungszentrum der OECD in Paris, weist ausdrücklich darauf hin, "dass sich die Charta der Vereinten Nationen wie ein roter Faden durch Chinas offizielle Verträge mit den Entwicklungsländern zieht."(31)

Die Politiker der Volksrepublik China "denken nicht daran", wie Erich Follath einschätzt, "bewaffnete Auseinandersetzungen zu führen. Sie haben im Unterschied zu vielen im Westen längst erkannt. Bomben sind allenfalls noch Drohinstrumente. Durch blutige Schlachten erfochtene Geländegewinne sind in den heutigen asymmetrischen Konflikten nicht zu halten. Krieg ist ein Instrument von gestern und Maos Wort von der politischen Macht, die 'aus den Gewehrläufen' komme, Geschichte." Angesichts Chinas unübersehbaren Erfolgen in der jüngsten internationalen Entwicklung, die er im Einzelnen belegt, fordert Erich Follath den Westen auf, daraus endlich zu lernen: "Denn von Pekings Diplomatie lernen heißt Siegen lernen."(32)


Ernst Woit, Prof. Dr., Dresden, Philosophiehistoriker, Friedensforscher.


Anmerkungen:

(1) Nach: Blätter für deutsche und internationale Politik. Berlin, Nr. 7/2009, S. 123.

(2) B. Greiner: Afghanistan - Der endlose Krieg. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Berlin. Nr. 10/2011. S. 37.

(3) Ebenda. S. 37 f.

(4) "Ein nützliches Symbol". (Interview). In: Der Spiegel. Hamburg, Nr. 40/2001. S. 170.

(5) E. Bahr: Barack Obama und das Ende des Kalten Krieges. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Nr. 11/2009. S. 34.

(6) Z. Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Weinheim u. Berlin 1997, S. 64.

(7) Vgl. : M. Chossudovsky: GLOBAL BRUTAL. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg. Frankfurt/M. 2002, S. 391.

(8) E.-O. Czempiel: Die Außenpolitik der Regierung George W. Bush. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Berlin, Nr. 45/2004 v. 1.11.2004. S. 20.

(9) Nach E. Bahr: A.a.O., S. 37 f.

(10) Z. Brzezinski: A.a.O., S. 41.

(11) Vgl.: E. Woit: Teilhabe an der Weltherrschaft als Ziel. In: Marxistische Blätter. Essen, Nr. 5/2004, S. 29 ff.

(12) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Frankfurt/M., 16.3.2008.

(13) Die Zeit, Hamburg. Nr. 45 v. 29.10.2009, S. 8

(14) Nach: Blätter für deutsche und internationale Politik. Berlin. Nr. 10/2010, S. 123.

(15) St. Malinowski: Siegen lernen. In: Die Zeit, Hamburg, Nr. 2 v. 5.1.2011. S. 15.

(16) U. Ladurner: Dank der Farce. In: Die Zeit, Hamburg, Nr. 46 v. 5.11.2009, S. 1.

(17) Nach: R. Poeschl: Die große Illusion am Hindukusch. In: Das Parlament. Berlin, Nr. 4 v. 24.1.2011, S.3.

(18) J. Ross: Ein kleiner Sieg. In: Die Zeit. Hamburg. Nr. 41 v. 6.10.2011, S. 2.

(19) J. .Joffe: Bergpredigt für Kabul. In: Die Zeit, Hamburg, Nr. 4 v. 21.1.2010, S. 10.

(20) J. Joffe: Ein falscher Krieg. In: Die Zeit, Hamburg. Nr. 37 v. 8.9.2011, S. 1.

(21) J. Joffe: Der Rabauke. In: Die Zeit. Hamburg, Nr. 2 v. 7.1.2010, S. 5.

(22) Der Spiegel. Hamburg. Nr. 42/2010, S. 147.

(23) So wertete er z.B. den "Mauerfall am 9. November 1989" epochal so: "Dieser markierte nicht bloß den Kollaps der DDR- und Sowjetmacht, sondern das Ende des totalitären Zeitalters überhaupt, das genau 200 Jahre zuvor mit der französischen Revolution begonnen hatte." (J. Joffe: Die Beton-Blamage. In: Die Zeit, Hamburg, Nr. 33 v. 9.8.2001, S. 1)

(24) J. Joffe: Ein falscher Krieg. A.a.O.

(25) R. Cooper: Wenn Staaten zerfallen, droht Terror. In: Die Zeit, Hamburg, Nr. 5 v. 22.1.2004, S.17.

(26) St. Weidner: Epochenjahr mit Fallstricken. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Nr. 9/2011, S. 97.

(27) Der Spiegel, Hamburg, Nr. 41/2010, S. 150.

(28) M. Nass: Nach ihren Regeln. In: Die Zeit, Hamburg, Nr. 8 v. 18.2.2010, S. 5

(29) Ebenda.

(30) Jing Ling: Gemeinsam mehr. Wege für eine chinesisch-europäische Zusammenarbeit in Afrika. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Berlin, H. 39/2010, S. 41 f.

(31) Nach: junge Welt, Berlin, 4.11.2009.

(32) E. Follath: Die Umarmung des Drachen. In: Der Spiegel, Hamburg, Nr. 30/2010, S. 92.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-11, 49. Jahrgang, S. 15-21
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2012