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MARXISTISCHE BLÄTTER/517: Logik der Geschichte und aktuelle Ereignisse


Marxistische Blätter Heft 2-12

Logik der Geschichte und aktuelle Ereignisse

Ein Gespräch zwischen Gudrun Havemann und Alexander Charlamenko



Aus einem Interview mit Dr. Alexander Charlamenko, Abteilungsleiter am Institut für Lateinamerika der Akademie der Wissenschaften der Russischen Föderation, vom 6.1.2012 in Moskau. Er beantwortet darin auch Fragen, die an unseren gemeinsamen wissenschaftlichen Lehrer, den marxistischen Philosophen Prof. Viktor Alekseevi Vazjulin, gerichtet waren, Autor der "Logik des 'Kapitals' von Karl Marx" (dt. Ausgabe 2005) und der "Logik der Geschichte" (dt. Ausgabe 2011). Viktor Alekseevi Vazjulin ist am 8. Januar 2012 verstorben.

Gudrun Havemann: In einem seiner letzten öffentlichen Vorträge und in vielen persönlichen Gesprächen danach sprach Viktor Alekseevi mehrfach von einem gegenwärtig zu beobachtenden "eigenartigen, in der Geschichte beispiellosen, von Zeit zu Zeit auflodernden und wieder abebbenden dritten Weltkrieg" ("Logik der Geschichte", S. 358). Wie ist diese Einschätzung zu verstehen?

Alexander Charlamenko: Vazjulin ging offensichtlich davon aus, dass die groß angelegte Provokation vom 11. September 2001, wer auch immer sie ausgeführt haben möge, die politische und militärische Situation in der Welt grundlegend verändert hat. In ihrer Folge wurden Normen des internationalen Rechts und jene Auffassung von staatlicher Souveränität über Bord geworfen, die im Ergebnis des Sieges über den Faschismus in den Gründungsdokumenten der UNO verankert worden waren und damit nach 1945 weitere Weltkriege vermeiden halfen. Doch diese Auffassung - gewissermaßen die einer bürgerlichen Demokratie im Weltmaßstab - basierte auf dem Gleichgewicht zweier Systeme - des Imperialismus und des Frühsozialismus, das infolge von dessen Krise und schließlich Zusammenbruch nicht länger aufrecht erhalten werden konnte. Nunmehr aber beobachten wir nach dieser Verschiebung, einer reaktionären Verschiebung des internationalen Kräfteverhältnisses, tatsächlich permanent Kriege, die sich von den vorangegangenen zum einen durch ihren Koalitionscharakter unterscheiden, denn die USA involvieren immer mehr Nato-Verbündete - während die UdSSR sogar in der Zeit ihrer Operationen in Afghanistan nicht versucht hatte, die Bündnispartner des Warschauer Vertrages hinzu zu ziehen. Zum anderen: Wurde bisher der eine oder andere Konflikt vor allem im Nahen und Mittleren Osten für einen mehr oder weniger lokalen Krieg gehalten, so zeichnet sich doch immer deutlicher ab, dass diese Konflikte mit einer imperialistischen Offensive größeren Ausmaßes zusammenhängen. Seinerzeit hatte die Komintern frühzeitig und realistisch auf solche Brandherde als Vorspiel für den drohenden Weltkrieg hingewiesen, wie die, japanische Invasion in Nordchina 1931 und den spanischen Bürgerkrieg ab 1936. In Erfahrung dessen sollte auch jetzt nicht ignoriert werden, wie in letzter Zeit insbesondere immer massiver Druck gegen die VR China aufgebaut wird: Dazu gehören die intensiven Reiseaktivitäten ranghoher US-Politiker und Militärs nach Japan und Südkorea, der Versuch neuer "strategischer Partnerschaften" mit Indonesien, Indien und, was besonders beunruhigt, auch Vietnam zu knüpfen, eingeschlossen die Durchführung von gemeinsamen Militärmanövern; die Erklärung solcher Seepassagen wie der Straße von Malakka, einer wichtigen Energie- und Handelsroute, sowie einiger umstrittener Inselgruppen im Südchinesischen Meer zu strategischen Interessengebieten, die Ankündigung der Stationierung von US-Marines in Nordaustralien - mit eindeutiger Ausrichtung gegen China - als Bestandteil eines ganzen Gürtels solcher Stützpunkte, die Forderungen an China nach Aufwertung des Yuan und die heuchlerischen Menschenrechtsdebatten, sowie die Zuspitzung der Situation auf der koreanischen Halbinsel, deren Stabilität für Chinas eigene Sicherheit mindestens genauso bedeutsam ist wie damals die der Warschauer Vertragsstaaten für die Sowjetunion. Alles in allem darf dieser gefährliche, militärisch begleitete Konfrontationskurs der USA zur Stabilisierung ihrer globalen Vorherrschaft in seiner geopolitischen Bedeutung nicht unterschätzt werden. Während ich selbst eher von einem Weltkonflikt sprechen würde, von denen es in der Weltgeschichte, vor allem seit dem Übergang zu ihrer globalen Dimension im 16./17. Jh., schon mehrere gegeben hat, meint Vazjulin, dass dieser Konflikt bereits dabei sei, sich in einen höchst gefährlichen Weltkrieg neuen, nichttraditionellen Typs im Atomzeitalter zu verwandeln.

G. H.: Zeugen nicht aber solche Aufbrüche wie der "Arabische Frühling", die weltweite Antikrisenbewegung (von den spanischen Indignados bis zu den "Occupy Wallstreet"-Aktivisten) und nun sogar die russische Demokratiebewegung von der Entstehung neuer Gegenmächte in dieser Situation?

A. C.: Genau darin liegt das große Problem: Nehmen wir Tunesien oder Ägypten, wo die Protestbewegung mit berechtigten sozialen und politischen Forderungen und unter dem bedeutenden Einfluss der Gewerkschaftszentren und Arbeiterbewegung wirklich als revolutionärer Prozess begann, doch schon sehr bald vereinnahmt wurde durch Kräfte, die den Wandel in bürgerlich-neoliberale Bahnen zu zwängen versuchten. Wie auch schon in verschiedenen lateinamerikanischen, aber auch den postsozialistischen Ländern Osteuropas ähneln sich doch die Szenarien solcher "Revolutionen", die sehr bald zu Konterrevolutionen mutierten, sehr stark. Natürlich funktionieren solche Abläufe nur auf der Basis lokaler Konfliktherde und mit Hilfe lokaler Verbündeter. Schon lange nicht mehr zu übersehen sind aber die organisatorischen und finanziellen Netzwerke, die - staatlich wie auch überstaatlich koordiniert oder als NGO verborgen - den Umsturz politisch unliebsamer Regimes oder wenigstens die Destabilisierung bestimmter Regionen zur Stärkung des eigenen Einflusses betreiben und sich damit gewissermaßen eine "Fünfte Kolonne" organisieren. In Bezug auf Venezuela und den geplanten Sturz von Hugo Chávez hat z.B. Eva Golinger in ihrem Buch "Der Chávez-Code" aufgedeckt, wie die Chávez-Oppositionsgruppen über Organisationen wie NED, USAID und auch deutsche Parteienstiftungen mit Millionen von Dollar unterstützt wurden. Nicht zu übersehen war die Konzentration von Kräften des Pentagon und der Nato in mehreren Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und nicht gänzlich überraschend war letztlich die militärische Intervention in Libyen, gefolgt von den aktuellen aggressiven Drohgebärden gegen Syrien und den Iran. Mich hat zutiefst beunruhigt, was ich von den internationalen Reaktionen linker Kreise auf die Ereignisse in Libyen, danach auch auf die in Syrien oder nunmehr in Russland bzw. Kasachstan las bzw. hörte. Die meisten von ihnen gründeten sich leider nicht auf eine nüchterne Analyse der inneren und noch weniger der objektiven äußeren Kräftekonstellation. Kaum jemand scheint zu bemerken, dass sich - wie in Spanien 1936-39 - auch heute wieder diejenigen Kräfte, die gegen Regimes von zumindest tendenziell antiimperialistischen Charakter rebellieren -welch verständliche und objektiv berechtigte Motive sie für ihre Unzufriedenheit auch haben mögen -, objektiv leider rasch auf der Gegenseite wiederfinden! Vor dem Hintergrund des beschriebenen Weltkonflikts können aus meiner Sicht diese Aufstände objektiv nicht zu Revolutionen, sondern nur zu Konterrevolutionen führen - so wie es schon Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre in Osteuropa geschah. Wirkliche Gegenkräfte, die der neuen Etappe der internationalen Vernetzung und des globalen Einflusses des transnationalen Kapitals etwas Adäquates entgegenzusetzen hätten, sehe ich leider noch nicht. So sympathisch das Aufbegehren der jungen Leute ist, die die Wallstreet und andere öffentliche Räume besetzen und dort sitzen bleiben wollen, "bis sich etwas ändert", so scheint es doch reichlich naiv - im Vergleich dazu müssten die ersten Auftritte der russischen Arbeiterbewegung von 1905 schon als Gipfel von Organisiertheit und Klassenbewusstsein eingeschätzt werden. Eine wichtige Rolle spielen zwar in diesen Bewegungen, v. a. bei den spanischen Indignados, von denen sie ihren Ausgang nahmen, Gruppen von Anhängern der venezolanischen Revolution, aber auch Sympathisanten der libyschen Dschamahirija, bei denen bestimmte politische Ziele greifbar sind. Mir scheint aber, dass die neoanarchistischen Züge und die Feindseligkeit gegenüber traditionellen politischen Organisationen wie Arbeiterparteien und Gewerkschaften dominieren und mancherorts einen noch stärkeren sektiererischen Charakter tragen, als es seinerzeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten üblich war. Die Unfähigkeit zur Vereinigung von linken Bewegungen in weltpolitischen Krisensituationen hat historisch bekanntlich mehrfach in eine Sackgasse geführt.

G. H.: Wie sieht die derzeitige Situation in Russland aus?

A. C.: Auch bei uns hat die neue weltpolitische Situation Auswirkungen sowohl auf das Verhältnis zwischen dem regierenden Regime einerseits und der Bevölkerungsmehrheit. aber auch einem wachsenden Teil der neuen Bourgeoisie andererseits, als auch auf die innere Krisensituation im linken Lager. In den letzten 20, vor allem aber auch letzten zehn Jahren unter Putin, hatte eine große Hoffnungslosigkeit in der Bevölkerung um sich gegriffen, und ein Satiriker brachte es anlässlich des so genannten "Tages der Unabhängigkeit" am 12. Juni auf die Formel, dass nunmehr nichts mehr von niemandem abhänge. Insofern ist es nur zu verständlich, wenn die nach den Wahlen vom 4. Dezember 2011 ausgebrochene Protestwelle vor allem bei der Jugend Enthusiasmus und Begeisterung weckte, denn deren Vertreter, besonders die Linksradikalen um Sergej Udalzow, hatten ja auch die ersten Meetings in vielen Regionen organisiert. Übrigens teilweise gemeinsam mit der KPRF, vor allem in den Provinzen, wo es die frechsten Wahlfälschungen gegeben hatte, die zu Lasten des Stimmanteils der KPRF gingen. Udalzow selbst wurde jedoch rasch verhaftet womit es ihm ähnlich erging wie einst Louis-Auguste Blanqui, dem es schien, man könne mit einer Handvoll Verschwörern die Macht erobern, und der daher immer pünktlich dann, wenn er mit seiner Erfahrung und seinem Talent besonders gebraucht wurde, nämlich am Vorabend einer Revolution - im Gefängnis saß ... Verhaftet wurden auch eine Reihe von ersten Sekretären der Gebietsparteikomitees. Schon sehr bald und deutlich wurden diese Kundgebungen aber zunehmend vereinnahmt durch die rechte bürgerliche Opposition, wie ich persönlich miterleben konnte: Am 10. Dezember auf dem Bolotnaja-Platz ging es noch relativ spontan zu, Massen von Jugendlichen waren gekommen, die sich sehr interessiert und zivilisiert verhielten. Anders schon am 18. Dezember auf dem Manege-Platz. Hier fiel mir auf, dass plötzlich erstaunlich viele rauchende - nicht nur normale Zigaretten - junge Leute auftauchten, die mit einheitlichen weißen Armbinden und sehr eintönigen, gleich lautenden Plakaten ausgestattet waren ("Demokratische Wahlen!", "Nieder mit Putin!"), ähnlich wie dann auch am 24.12. auf dem Sacharow-Prospekt, wo es eindeutig nach Inszenierung aussah. Dass sich die rechte Opposition beeilte, aufzusatteln, um den Prozessverlauf nicht den Kommunisten zu überlassen, ist verständlich. Weniger einsichtig war mir, welch trauriges Bild die KPRF selbst dabei abgab. Am 18. Dezember war die Rede ihres Vorsitzenden Sjuganow die zahmste und gemäßigtste von allen vorgetragenen Reden, am 24. Dezember erschienen überhaupt nur noch einzelne ihrer Delegierten, keine Spur von Mobilisierung der Massen des Parteivolks, die sie gewählt hatten. Damit trug die Parteiführung dazu bei, dass Organisation und Leitung der Kundgebungen vollständig in die Hände der Rechtspopulisten fielen, die sämtlichen möglichen politischen Widersachern entweder gar nicht das Wort erteilten oder ihnen das Mikrofon während einer Rede abschalteten oder entzogen. Auffällig war außerdem bei den dann vorgetragenen Reden die vollständige Abwesenheit irgendwelcher sozialer Forderungen, selbst unsere professionellen Ökologen wussten nichts anderes vorzubringen als die Losung "Nieder mit Putin". Bevor am 24. Dezember der Führer der verbotenen ultranationalistischen "Bewegung gegen gesetzwidrige Immigration" ans Mikrofon trat, heizte der Moderator das Publikum an: "Wollt ihr Nemzow als Präsidenten?" - "Nein!!!" - Wollt ihr Jawlinski als Präsidenten?" - "Nein!!!" - "Wollt ihr Alexej Nawalny als Präsidenten?" - "Ja!!!" Der Messias erschien daraufhin dem Volk und verkündete: "Wozu brauchen wir Parteien? Wir sind selbst die Partei, wir, die hier versammelten 200.000. Wenn wir wollten, könnten wir den Kreml und das Weiße Haus stürmen! Wir sind die Macht!" Ähnlichkeiten zum neuen Selbstbewusstsein der jungen "Occupisten" unverkennbar? Äußerlich ja! Aber doch welch gänzlich andere Stoßrichtung! Die Emotionen vieler Teilnehmer kochten hoch, ihr Verstand war vernebelt. Abgelöst wurde Nawalny vom ehemaligen Finanzminister Kudrin, einem dem IWF und der Weltbank am nächsten stehender Akteur des neuen Russlands, der, obwohl angeblich immer noch Putins Freund, in Ungnade gefallen und abgesetzt worden war, nachdem er im September in Washington öffentlich das Regime kritisiert hatte, für das er stand. Nun aber rief er von der Tribüne die Bevölkerung zur Demokratie auf und, was besonders beeindruckte, schlug ihr vor, Verhandlungen mit der Regierung aufzunehmen, als deren Vermittler er gern fungieren würde.

Was steckt hinter diesen ganzen Vorgängen?

Zunächst müsste doch verwundern, dass offensichtlich niemanden die schon lange üblichen und kaum verheimlichten Wahlfälschungen in den Jahren zuvor (unter Jelzin und Putin) gestört hatten, weder die Ultralinken oder die Intellektuellen vom Schlage eines Kasparow, noch die demokratiebewusste westliche Welt. Und zwar solange Putin nicht einen größeren Teil der Mitglieder der herrschenden Klassen gegen sich aufgebracht hatte - sowohl der russländischen, als auch der globalen. Hierin sehe ich einen wichtigen Wendepunkt. Vor allem hatte Putin sich wohl dadurch Feinde gemacht, indem er als Ministerpräsident eine stärkere wirtschaftliche Annäherung an China betrieben hatte, vor allem auf dem Gebiet der Energieversorgung, eine Integration einiger ehemaliger Sowjetrepubliken einleitete, die Kontakte zu Venezuela und anderen linksregierten lateinamerikanischen Staaten intensivierte und sich mit Medwedjew um die Bewertung der libyschen Ereignisse im März 2011 gestritten hatte - im Unterschied zu diesem verurteilte er die Aktionen der Gaddafi-Gegner und Russland enthielt sich der Stimme im UN-Sicherheitsrat. Kurz darauf war US-Vizepräsident Biden nach Russland gereist und hatte ultimativ gefordert, dass sich Putin nicht wieder als Präsidentschaftskandidat ins Spiel bringen sollte, andernfalls würden die USA die russische Opposition unterstützen - mit deren wichtigsten Vertretern er sich im Anschluss auch prompt traf. Es gereicht dieser Opposition, die KPRF eingeschlossen, nicht zur Ehre, dass sie in einer Zeit, als US-Bomben auf Libyen fielen, kein Wort darüber verlor, sich aber bei Biden über Putins Verletzung der Demokratie beklagte und sich der amerikanischen Unterstützung in dieser Frage versicherte. Die Früchte davon sehen wir heute. Ich denke, dass zwischen dem jetzigen Regime Putin-Medwedjew (v. a. aber Putin) und dem von den USA und der Nato vertretenen Lager scharfe Widersprüche entstanden sind. Sie besitzen m. E. etwa dasselbe Ausmaß wie diejenigen, die zur Zerschlagung Libyens führten und nun auch Syrien und dem Iran drohen, sowie die Offensive gegen China verursachen. Solche Regimes, die man als staatskapitalistisch bezeichnen muss und die noch mit frühsozialistischen "Restbeständen" behaftet sind, zu denen auch das Putin-Regime gehört, fügen sich nicht gut in das heutige globale Herrschaftssystem ein. Keinerlei Versuche ihrer Führer, sich mustergültig zu verhalten, um doch in dieses aufgenommen zu werden, ihre Loyalität zu demonstrieren, ihre Marktkonformität oder demokratische Bemühungen, scheinen belohnt zu werden - im Gegenteil, sie enden letztlich mit ihrer schonungslosen Zerschlagung und Ersetzung durch hoffnungsvollere Regimes, die der heute global herrschenden Klasse adäquater sind. Darin sehe ich die wichtigste Grundlage für diese Widersprüche. Keineswegs darf man aber nur diese eine Seite sehen, wie es allzu oft geschieht: Entweder hat man nur die aggressive Weltmachtpolitik der USA im Blick oder nur die inneren sozialen und politischen Kämpfe in den arabischen, lateinamerikanischen oder osteuropäischen Ländern. Die Schwierigkeit besteht aber gerade darin zu verstehen, wie diese beiden Seiten miteinander aufs Engste verknüpft sind, in welcher komplexen Wechselwirkung sie miteinander stehen. Bisher behielt die rechte Reaktion darin leider die Überhand.

G. H.: Wie lautet deine Prognose für die Präsidentschaftswahlen im März 2012?

A. C.: Ich rechne mit einem Sieg Putins - einen normalen Verlauf und keine neuerlichen internationalen Erschütterungen vorausgesetzt. Für einen größeren Teil der russischen Bevölkerung, vor allem in den Regionen, gilt Putin als das geringere Übel. Viele sind es leid, solche ihnen verhassten Figuren wie Nemzow, Kasjanow, Kudrin oder Ksenia Sobtschak immer wieder in den TV-Shows zu sehen. Der auch im Umlauf befindlichen Verschwörungsthese, dass Putin womöglich selbst als Drahtzieher für den Bühnenauftritt solcher Leute tätig war, um sie zu diskreditieren und sich selbst ins rechte Licht zu setzen, kann ich nicht viel abgewinnen. In meinen Augen handelt es sich um einen realen Kampf zwischen Kräften mit verschiedenen, z. T. entgegengesetzten Interessen. Wie allerdings die Sache ausgehen wird, wenn die Wahlergebnisse massiv bestritten werden, kann keiner mit Sicherheit sagen. Wenn es zeitgleich jedoch wieder zu einem Ausbruch tragischer Ereignisse auf der internationalen Bühne - z. B. im Nahen oder Mittleren Osten - kommen sollte, würde das mit Sicherheit auf die Stellung Putins Auswirkungen haben. Ich erinnere daran, dass die Ereignisse in Vilnius im Januar 1991 am selben Tag wie die "Operation Wüstensturm" begannen und halte das für keinen Zufall. Es gibt noch eine andere Gefahr: Selbst wenn Putin eindeutiger Wahl-Sieger und Medwedjew sein Ministerpräsident werden sollte, hat letzterer schon verlautbaren lassen, dass er beabsichtige, eine "Große Koalition" zu bilden, in die vermutlich einige Anführer des bürgerlichen Lagers aufgenommen werden würden. Diese würden natürlich der Politik einen Rechtsruck bescheren, analog zu dem, der in der Ukraine nach der Wahl von Janukowitsch stattfand - auch dieser galt zunächst wie Putin als kleineres Übel und hatte dann eine Rechtsregierung mit Leuten gebildet, gegen die zuvor die Mehrheit der Leute gestimmt hatte. Eine ähnliche Situation gab es auch in Peru. Ich halte selbst eine monarchistische Restauration (nach dem Vorbild der erfolgreichen spanischen Bourbonen) oder einen bonapartistischen Putsch im Gefolge der Wahlen für nicht gänzlich ausgeschlossen, wenn auch weniger wahrscheinlich, und zwar dann, wenn es zu einer Patt-Situation zwischen den verschiedenen politischen Kräften kommen würde. Hier könnten plötzlich bestimmte Kandidaturen in die Waagschale geworfen werden, für die bereits in gewissen Kreisen eine aktive Lobby tätig ist. Das kann hier aber in Kürze nicht mehr ausgeführt werden. In diesem Falle wäre ein starker nationalistischer Ruck nach rechts zu erwarten, der eine wichtige Rolle in der Ausrichtung der neuen neoliberalen Weltordnung spielen könnte.

Gudrun Havemann, Dr., Mühlheim/Ruhr,
Gesellschaftswissenschaftlerin

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-12, 50. Jahrgang, S. 18-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2012