Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

MARXISTISCHE BLÄTTER/520: Kampf der arabischen Völker um Souveränität - Die Revolution steht noch aus


Marxistische Blätter Heft 3-12

Die Revolution steht noch aus
Kampf der arabischen Völker um Souveränität

von Werner Ruf(*)



Im arabischen Raum ist Sicherheitspolitik von besonderer Bedeutung. In diesem Raum gibt es Öl, hier laufen die wichtigsten Transportwege für den Stoff, der die Industriegesellschaften am Leben hält. Die Straße von Hormus am Ausgang des persisch-arabischen Golfs durchläuft etwa 50 Prozent des Öltransports der Welt. Da kann man sich vorstellen, welche Bedeutung dieser Raum hat.

Zwei zentrale Feststellungen vorweg. Was in der arabischen Welt derzeit geschieht, ist ein grundsätzlicher Wandel. Wohin das geht, ist im Augenblick schwer absehbar. Zum ersten Mal seit 200 Jahren haben die Völker gezeigt, dass sie selber etwas ändern wollen und können. Und sie haben einiges geändert. In Tunesien, in Ägypten, in Jemen haben sie Diktatoren davon gejagt. Damit haben sie noch nicht das System geändert. Aber sie haben einen Erfolg errungen, den man ihnen im Bewusstsein nicht mehr nehmen kann. Im Fall Ägypten könnte man sagen, seit 5.000 Jahren hat das Volk zum ersten Mal einen Herrscher gestürzt.

Diese Revolten waren nicht bürgerliche Revolten. Das zentrale Schlagwort bei Demonstrationen in Tunis, in Kairo, in Algier, in Marokko oder in Jemen war das Wort "Würde". Unter "Würde" wurde nicht verstanden, dass man bürgerliche Menschenrechte verwirklicht, jetzt wählen kann, dass man einen Rechtsstaat hat, dass man politischen Pluralismus, Pressefreiheit hat. "Würde" ist etwas ganz elementar Materielles, menschenwürdiges Leben, ein Leben, in dem man zu essen, ein Dach über dem Kopf hat, ein Leben, in dem man seinen Kindern eine Ausbildung garantieren kann. Das ist der Kernbegriff von "Würde". Und "Würde" gab es in diesen Ländern nicht, und zwar schon ewig nicht, weder während der despotischen Herrschaft vor der Kolonisation, noch erst recht während der Kolonisation und auch nicht danach, als die herrschenden Diktatoren mit ihren Machtapparaten, mit ihrer Korruption nicht nur das Volk ausgeplündert, sondern die Menschen buchstäblich wie Dreck behandelt haben. Ob das die Polizei, die Verwaltung, die staatlichen Gesundheitsdienste waren - die Menschen wurden nicht menschenwürdig behandelt. Es geht um "Würde", und die Bewegungen haben ihren Ursprung genommen in sozialen Aufständen, die teilweise von den Gewerkschaften mitgetragen wurden, soweit die Gewerkschaften autonom und nicht staatlich kontrolliert waren. Hier gibt es Formen von organisiertem sozialem Widerstand, die mächtig sind. Die Menschen wollen sich nicht mehr ihre Freiheit und die Früchte ihrer Arbeit nehmen lassen.

Nicht in allen Ländern verläuft der Prozess gleichzeitig. In Marokko scheinen die neue Verfassung und der Wahlsieg der Islamisten vorläufig den politischen Druck vermindert zu haben. Die algerischen Militärs können weiterhin Tausende von Menschen erschießen, die für den 10. Mai 2012 angesetzten Parlamentswahlen werden keine Veränderung der Herrschaftsverhältnisse bringen. Irgendwann aber wird das kippen. Die Frage ist, wohin kippt es. Es ist sehr schwer zu verstehen, dass diese Revolutionen, die begonnen haben als Proteste für Würde, die begonnen haben auch unter starker Unterstützung der Mittelschichten, der Frauen, nun auf einmal dauerhaft in die Hände der Islamisten zu geraten scheinen. Zwei Faktoren sind wichtig: Ein Faktor ist, wir haben zu sehr auf die bürgerliche Natur der Revolution geschaut, die eine Rolle gespielt hat, zunächst vielleicht die sichtbarste. Wir haben aber vergessen, dass das, was die Regierungen den Menschen angetan haben, abgrundtief ihrer Kultur widersprach, abgrundtief gegen jede Menschenwürde verstoßen hat, dass Korruption, die westliche Lebensweise, als Ursache des Übels für die Plünderei und Schinderei angesehen wurde und dass erst eine islamische Ordnung, die viel gerechter und viel sozialer ist als alles das, was Judentum und Christentum mit sich transportieren, dass eine solche islamische Ordnung tatsächlich als eine gerechtere Ordnung verstanden wird und dass sie eine Triebfeder im Kampf gegen die Herrschenden ist.

Deshalb zur ersten These: Es gibt wirklich einen grundlegenden Wandel. Wir müssen natürlich auch sehen: Alles, was dort an Elend, an Ausbeutung, an Korruption, an Folter, an Unterdrückung war, wurde im Interesse des Westens gemacht. Die USA haben mit der Begründung, die Verhörmethoden seien dort effizienter, Menschen zur Folter nach Ägypten, nach Marokko, nach Syrien geflogen. Davon will heute niemand mehr etwas wissen. Die gestürzten Diktatoren waren nicht nur unsere Partner im Kampf gegen Flüchtlingsströme, unsere Partner im Kampf gegen den ach so gefährlichen Islamismus, sondern sie waren auch unsere Partner im nackten Verbrechen. Das sitzt tief im Bewusstsein der Völker, und alles, was westlicher Lebensstil bedeutet, hat bei der Masse der Bevölkerung mit dieser Korruption zu tun, mit dem Sittenverfall, und es hat damit zu tun, dass ein Mensch in Würde und in Anstand leben will. Das erklärt zum großen Teil, aber nicht allein, die Stärke der islamistischen Parteien, die Wahlen in Tunesien, in Ägypten, aber auch in Marokko. Dies ist auch der Kern des Widerstandes in Syrien, es sind islamistische Gruppierungen, die natürlich auch von anderen Mächten, allen voran Saudi-Arabien und Katar, instrumentalisiert werden. Soviel zur ersten These.

Zweite These: Erledigt ist das absurde Paradigma des Kampfs der Kulturen, wonach wir im 21. Jahrhundert keinen Krieg mehr zwischen Staaten haben werden, sondern Kriege zwischen Kulturen, von denen die bedrohlichste der Islam ist, weil nur der Westen Menschenrechte, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Individualismus hervorbringen konnte. Das alles sei dem Islam absolut fremd. Er sei nicht in der Lage, Individualismus, Menschenrechte, Demokratie hervorzubringen, auch nicht diese Werte zu übernehmen. Deshalb werde er uns immer feindlich sein. Dieser Mythos ist endlich zusammengebrochen. Die Menschen dort haben gezeigt, dass sie willens und in der Lage sind, anders zu leben, Dinge selbst in die Hand zu nehmen, kurz die Souveränität zu erkämpfen.

Es war doch so wunderschön, als wir vor dem Fernseher saßen und die Filme von Al Dschasira schauten (alles das, was in ARD und ZDF gelaufen ist, waren Filme des arabischen Senders Al Dschasira, der in Katar beheimatet ist). Sie konnten uns begeistern, wie andernorts die Menschen Revolution machen. Und natürlich war die Begeisterung der Menschen hier echt für diese Revolten. Das Erstaunlichere war: wenn es wirklich eine Revolution gegeben hat, dann bei den westlichen Medien: 40 Jahre lang waren diese Diktatoren "unsere" besten Freunde, 40 Jahre haben sie sich aushalten lassen. Und auf einmal lassen "wir" sie fallen wie heiße Kartoffeln und begeistern uns für Revolution. Was ist geschehen, vorneweg in den USA? Schon am 31. Januar erklärte der Sprecher von Barak Obama, dass die USA den legitimen Forderungen des ägyptischen Volkes nach Versammlungs- und Redefreiheit stattgeben. Wenige Tage später der Sprecher von Hilary Clinton in Algier: "Wir haben nicht gezögert, die universellen Rechte des algerischen Volkes zu betonen. Wir haben dasselbe in Tunesien getan. Und in Ägypten sind wir dabei, dasselbe in der ganzen Region zu tun. Wir ermutigen diesen Wechsel, wir wollen einen friedlichen Wandel."

Nächste und daraus folgende These: Diese arabischen Revolten verweisen auf einen Wandel im gesamten internationalen System. Die USA haben in Afghanistan einen Krieg verloren. Die USA haben den Irak zugrunde gerichtet. Sie kontrollieren zwar einigermaßen den Ölexport, aber ansonsten ist dort Chaos, ein zerfallener Staat. Die Macht der USA scheint ihren Zenith überschritten zu haben: Die USA haben aus finanziellen Gründen das weltweit geplante Anti-Raketensystem MEADS aufgeben müssen. Die USA haben in ihrer jüngsten Sicherheitsdoktrin zum ersten Mal erklärt, in Zukunft nicht mehr zwei Kriege gleichzeitig führen zu wollen, sondern nur noch einen. Die USA konzentrieren sich laut dieser Sicherheitsdoktrin hinfort auf den Pazifischen Ozean. Die schwindende hegemoniale Macht der USA bedeutet allerdings nicht, dass die Welt nun besser und friedlicher wird, im Gegenteil. Denn im Übergang von einem unipolaren zu einem multipolaren System, mit einer stärkeren EU, mit China, Indien als neue Weltmächte, kommt sehr viel in Bewegung, wird viel neu geordnet.

Das internationale System ist in einer rapiden Veränderung. Was dabei herauskommt, welche Rolle Russland weiter spielen wird oder nicht mehr spielen wird, was China als Weltmacht gestalten wird, wie Indien sich verhalten wird usw. - das ist alles sehr schwer absehbar. Richtig ist, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise vielleicht noch viel tiefer und grundlegender die Welt verändern wird als die große Depression der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Und sie ist noch lange nicht vorbei. Eine ganz offene Frage ist, welche Folgen aus dieser Krisenhaftigkeit resultieren, weil sichtbar wird, dass die bisherigen bürgerlichen Regelmechanismen nicht mehr funktionieren. Wie lange dauert schon der - nutzlose - Versuch, die Welt mit den neoliberalen Instrumenten zu "retten"?

Nun zur letzten These: Die USA sind offensichtlich darauf bedacht, ein bisschen Druck aus dem Kessel zu nehmen, ein bisschen mehr Freiheit zu gewähren, ein bisschen mehr Demokratie einzurichten, ein Stückchen mehr Rechtstaatlichkeit zu schaffen. Am besten kann man das an der marokkanischen Verfassung illustrieren. Auch in Marokko gab es Massenproteste, getragen von der "Bewegung des 20. Februar". Es gab Tote, viele Verletzte, und der König, gut beraten, wahrscheinlich von einigen französischen Politologen und Verfassungsrechtlern, hat eine neue Verfassung geschaffen. Der zentrale Punkt dieser Verfassung: zum ersten Mal muss der König den Ministerpräsidenten aus der stärksten Fraktion ernennen, der aus freien Wahlen von Parlamentsabgeordneten hervorgeht. Das gab es noch nie. Und die Islamisten haben die Wahl gewonnen. In Zukunft ist also nicht mehr der König direkt für die soziale und wirtschaftliche Misere verantwortlich zu machen, im Lande ist hinfort die Regierung verantwortlich. Der König hat für sich einen schönen Schutzwall aufgebaut, hinter dem er das Volk weiter ausplündert und bestiehlt. Dem Palast gehören über 50 Prozent der marokkanischen Ökonomie.

Es ist verblüffend: Diese Islamisten, die bis vor wenigen Tagen unsere Erzfeinde waren, sind jetzt unsere besten Freunde, Frau Clinton drückt ihnen die Hände, sie werden gefeiert, sie werden gelobt. Der Führer der tunesischen Islamisten, Rachid Ghanouchi, ist von Foreign Policy - das ist eine der wichtigsten amerikanischen Politikzeitschriften - in den Kreis der 100 größten globalen Denker des letzten Jahres gewählt worden. Ghannushi, der 20 Jahre in London im Exil saß, der nicht einmal ein Einreisevisum in die USA bekommen hat, wird nun plötzlich hofiert. Er, wie die marokkanischen Islamisten oder die ägyptischen Muslimbrüder sind auf einmal "gemäßigte" Islamisten.

Und es passt ganz und gar nicht in unser Weltbild, dass inzwischen zwei arabische Staaten mit Hilfe der arabischen Liga Druck machen für "Demokratisierung", nämlich Saudi Arabien und Katar. Hinter den Rauchschwaden des Krieges in Libyen haben Saudi Arabien und Katar den demokratischen Aufstand in Bahrein in einem Blutbad erstickt. Aber Saudi Arabien und Katar, so heißt es, kämpfen für die Menschenrechte in Syrien. Saudi Arabien und Katar haben die Vorlagen geliefert für die Resolution 1973, die Grundlage für den Krieg gegen Libyen. Sie fordern jetzt ein militärisches Eingreifen in Syrien und bewaffnen die Opposition, unterstützen das Einsickern kampferprobter libyscher Kämpfer, die zuvor in Afghanistan Krieg geführt haben. Den reaktionären Golfstaaten geht es wesentlich um die Beseitigung des letzten säkularen Regimes in der Region. Auch Gaddafis stand für einen säkularen Staat. Und Syrien ist der einzige Alliierte des Iran. Die Golfstaaten sind dabei, ihrerseits einen "regime change" in der Region durchzuführen: Mit der Etablierung islamistischer Regimes festigen sie die Basis ihrer eigenen Herrschaft und ihrer politisch-militärischen Stellung in der Region. Der US-Botschafter in Riad hat in einem Interview erklärt, dass Saudi Arabien sich zu einer Regionalmacht im persisch-arabischen Golf entwickelt - und das ist gewollt. Saudi Arabien, das die größten Teile des Öls kontrolliert, ist dabei, zur Sicherung seiner eigenen Herrschaft, eine beinharte islamische Ordnung in der ganzen Region aufzubauen.

Es stimmt daher, wenn Assad sagt, es gibt ausländische Interventionen. Gruppen von Al Quaida oder von militanten Islamisten, sind über den Irak, über die Türkei nach Syrien gegangen, kämpfen dort. Es geht um eine Neuordnung in der Region, wobei Saudi-Arabien mit seinem Propaganda-Sender Al Dschasira, Katar und die Staaten des Golf-Kooperationsrates sich als neue Partner anbieten gegen den bösen Iran. Es gibt ein großes Interesse, insbesondere USA und der Saudis, den Iran als letzte verbliebene, nicht kontrollierbare Gegenmacht zu stürzen. Und wer die Szene ein bisschen genauer beobachtet, weiß: jede Waffenlieferung in diesen Raum aus dem Westen, insbesondere aus Deutschland wird vorher mit Israel abgestimmt. 270 Leopard-Panzer aus Kassel, da glaubt doch keiner, dass mit Israel nichts abgesprochen worden ist. Das ist eine neue prowestliche Achse, Saudi-Arabien-Tel Aviv gegen den Iran. Und genau daS macht die Kriegsgefahr so ungeheuer aktuell und groß.

Es ist kein Zufall, dass die US-Geheimdienste zum zweiten Mal erklären, der Iran baut gar keine Atombombe. Diejenigen, die wissen, was gespielt wird und die wissen, wie wahnsinnig gefährlich so ein Krieg ist, ziehen die Notbremse und verletzen dabei ihre Dienstvorschriften. Das zeigt wiederum, wie akut gefährlich die Situation wirklich ist.


Fazit

Die Revolten in den arabischen Ländern sind ein klares Zeichen, dass die Völker der Region endlich ihre Souveränität erkämpfen wollen. Zugleich versucht der Westen durch Unterstützung der reaktionären Golfmonarchien, sich aus der vordersten Front der Aufrechterhaltung der Ordnung zurückzuziehen und diese Rolle den Saudis und ihren Verbündeten zu übertragen. Die Probleme der Region werden damit nicht gelöst, sondern fortgeschrieben oder allenfalls vertagt. Der neoliberale Kurs der islamistischen Regierungen wird die sozialen Probleme mittelfristig nur verschärfen: Die Revolten haben Diktatoren vertrieben, die Revolution aber stehen noch aus.


Werner Ruf, Prof. em. Dr., Edermuende, Politologe und Friedensforscher

Anmerkung:
(*) Abschrift eines mündlichen Vortrages in Gelsenkirchen

*

Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-12, 50. Jahrgang, S. 14-18
Redaktion: Marxistische Blätter
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Tel.: 0201/23 67 57, Fax: 0201/24 86 484
E-Mail: redaktion@marxistische-blaetter.de
Internet: www.marxistische-blaetter.de
 
Marxistische Blätter erscheinen 6mal jährlich.
Einzelheft 9,50 Euro, Jahresabonnement 48,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2012