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MARXISTISCHE BLÄTTER/537: Kommunist, Historiker und Jazzliebhaber - Nachruf auf Eric Hobsbawm (1917-2012)


Marxistische Blätter Heft 6-12

Kommunist, Historiker, Jazzliebhaber
Nachruf auf Eric Hobsbawm (1917-2012)

von Georg Fülberth



Die Person

Mit Eric Hobsbawm, der am 1. Oktober 2012 in London starb, endete das zwanzigste Jahrhundert, das für ihn schon mit dem Untergang der Sowjetunion 1991 abgeschlossen war, ein zweites Mal. Es ist nunmehr der Geschichte überantwortet, und zwar in der Form, die er seiner Überlieferung gegeben hat.

Geboren wurde er am 9. Juni 1917 in Alexandria als Sohn jüdischer Eltern. Sein Vater, dessen Familie Handwerker mit dem Namen Obstbaum - von Österreich nach Großbritannien eingewandert war, hatte beruflich nirgends Fuß fassen können. Schließlich fand er eine Verwaltungstätigkeit in Ägypten. Dort traf er ein junges Mädchen aus einem wohlhabenden Wiener Haus, dem von seinem Vater eine Reise geschenkt worden war. Da ihre Länder Krieg gegeneinander führten, mussten sie zur Hochzeit in die Schweiz. Am 9. Juni 1917 kam ihr Sohn John Eric in Alexandria zur Welt. Nach dem Krieg ging die Familie nach Wien, wo das ererbte Vermögen in der Inflation zugrunde ging. Der Vater starb 1929, die Mutter 1931. Die kulturelle Tradition Wiens hatte Einfluss auf den Heranwachsenden. Den Geschichtsunterricht dort hatte er später in angenehmer Erinnerung: da der Krieg verloren war, befassten sich die Lehrer lieber mit Lokal-, Regional- und Kulturhistorie. Bei dem Versuch, ihre Familie zu ernähren, hatte die verwitwete Mutter in den sozialen und beschäftigungspolitischen Institutionen des "roten Wien" Unterstützung gefunden. Nach ihrem Tod half die weit verzweigte, wenngleich arme Familie: Geschwister der Eltern hatten einander geheiratet und nahmen Eric Hobsbawm und seine Schwester Nancy zu sich nach Berlin. Dort erhielt er eine erste politische Prägung, die ein Leben lang anhielt. Er wurde Mitglied im KPD-nahen Sozialistischen Schülerbund, seine Gruppe wurde von Rudolf Leder - in der DDR später bekannt geworden als Stephan Hermlin - angeleitet. Noch in hohem Alter erinnerte sich Eric Hobsbawm an die große Demonstration der KPD und ihrer Massenorganisationen vor das Karl-Liebknecht-Haus am 25. Januar 1933, und er verband dieses Erlebnis mit einer denkwürdigen Beobachtung: "Neben der sexuellen Begegnung ist die Aktivität, bei der sich körperliches und seelisches Erleben in höchstem Maße verbinden, die Teilnahme an einer Massendemonstration in Zeiten starker öffentlicher Begeisterung."(1) Die Flugblätter mit den Liedern dieser Demonstration hat er sein Leben lang aufbewahrt, manchmal sang er sie auch noch. Interessant ist der Vergleich mit den Erinnerungen eines anderen Jungkommunisten, der damals dabei war: Wolfgang Ruges Bericht ist nicht enthusiastisch, sondern schon gefärbt von dem - vielleicht erst im Nachhinein entstandenen - Eindruck der Vergeblichkeit und den bitteren Erfahrungen, die dieser Verfasser bald danach in der Sowjetunion machen musste.(2)

Nach dem 30. Januar 1933 verteilte der junge Hobsbawm im Reichstagswahlkampf noch Flugblätter für die KPD, dann ging die Familie nach London - nicht aufgrund rassistischer oder politischer Verfolgung, sondern weil der Onkel seinen Job in Berlin verloren hatte (wohl weil er Ausländer war). Die Familie erlegte dem Jungen auf, sich aller politischen Tätigkeit zu enthalten, solange er noch zur Schule ging. Bis zum Wechsel auf die Universität führte er sein Tagebuch auf Deutsch. Ein längeres Zitat in der Autobiografie weist auf utopisch-enthusiastische Kommunismusvorstellungen. Hobsbawm gewann ein Stipendium für - das in jenen Jahren "rote" - Cambridge, das für ihn zum großen intellektuellen und auch politischen Erlebnis wurde, nicht nur in seinen Studienfächern - Geschichte und Literatur -, sondern auch durch den Umgang mit hochbegabten Kommilitonen, die Erfahrung des Jazz und seine erneuerte politische Aktivität. Er wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens. In deren Cambridger Studierendengruppe gehörte er dem dreiköpfigen Sekretariat an, und er war Mitherausgeber der Studentenzeitschrift "Granta". In diesen Jahren begann auch seine lebenslange Bindung an Paris, das er von nun an regelmäßig besuchte. Die gemeinsame politische Leidenschafft der Linken in Cambridge war die Unterstützung der spanischen Republik, ein Kommilitone fiel dort. Noch 1994, in seinem Buch "Das Zeitalter der Extreme", bezeichnet Eric Hobsbawm diesen Kampf als das wertvollste Erbe seiner Generation.

In hohem Alter wies er auf eine Ungleichzeitigkeit hin: Cambridge ging nach links, Europa nach rechts. Selbst die Siege der Volksfrontregierungen in Frankreich und Spanien beruhten nur auf minimalen und unbeständigen Verschiebungen der Lager. Die linken Studenten nahmen dies damals nicht wahr. (In den achtziger Jahren erlebte er dies in Italien noch einmal: während die Eurokommunisten auf dem Weg öffentlicher Anerkennung waren, bereitete sich der Sieg Berlusconis vor.)

Im Zweiten Weltkrieg wurde Hobsbawm nicht an die Front und auch nicht - anders als andere Cambridge-Absolventen - zum Geheimdienst eingezogen. Letzteres vermutlich wegen seiner Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei. Er diente bei den Pionieren und lebte damit erstmals unter Arbeitern - eine von ihm als sehr positiv wahrgenommene Erfahrung. Danach war er an einer Bildungseinrichtung der Armee im Inland, nach der Kapitulation einige Zeit in Deutschland in einem Reeducation-Programm. 1944-1946 hat er auch in deutscher Sprache publiziert (darunter literaturhistorische Artikel), zunächst in einer Zeitschrift für deutsche Emigranten, danach in einem Organ der britischen Militärregierung.

Nach England zurückgekehrt, hatte er es zunächst beruflich schwer. Schon um seine Dissertation in Cambridge durchzubringen, bedurfte es der Unterstützung des großen Ökonomen Piero Sraffas, eines Freundes von Antonio Gramsci. 1947 erhielt Eric Hobsbawm eine Dozentenstelle am Birkbeck College, einer Einrichtung für Erwachsenenbildung an der Londoner Universität. Ein Jahr später, nach dem Beginn der Berliner Blockade, wäre selbst das (so vermutet er) nicht mehr möglich gewesen. Unter dem Namen "Francis Newton" verfasste er Jazz-Kritiken für den "New Statesman". Wegen seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei waren seine Bewerbungen jahrzehntelang erfolglos und er fand keinen Verlag.

Um seine wissenschaftliche Leistungsfähigkeit auszuleben, musste er sich andere Zusammenhänge außerhalb der traditionellen akademischen Institutionen suchen. Er wurde Mitgründer der Historikergruppe der britischen KP und 1952 der Zeitschrift "Past and Present", die einen sozial-, alltags- und strukturgesellschaftlichen Ansatz - ähnlich der französischen "Annales"-Schule - verfolgte.

Einen tiefen Einschnitt brachte für ihn das Jahr 1956: der 20. Parteitag der KPdSU, der Ungarnaufstand und dessen Niederschlagung. Viele seiner intellektuellen Genossen verließen die Partei. Eric Hobsbawm blieb Mitglied und musste bis in seine letzten Jahre hinein immer wieder die Frage beantworten, weshalb er nicht ebenfalls ging, obwohl er ebenso erschüttert war wie die Ausgetretenen, mit denen er befreundet blieb. Er verwies unter anderem auf seine Erfahrungen 1931-1933 in Berlin: wer damals angesichts des aufziehenden Faschismus in Deutschland Kommunist geworden sei, löse sich schwerer als andere, die diesen Hintergrund nicht hatten. Ein weiteres Motiv sei Stolz gewesen: er habe niemandem einen Anlass für den Verdacht geben wollen, dass er seine Partei der Suche nach persönlichen Vorteilen wegen verlasse, sondern er wollte zeigen, dass er trotz eines solchen Handicaps Erfolg haben konnte. In seinen Lebenserinnerungen ("Gefährliche Zeiten", engl. und dt. 2002) bezichtigt er sich in diesem Punkt nachgerade einer Art von Hoffart und bittet kokett um Nachsicht. Gregory Elliott, dem Verfasser einer Werkbiografie Eric Hobsbawms,(3) reichen diese Erklärungen nicht aus, er ergänzt sie durch eine im engeren Sinn politische Begründung: trotz der Enthüllungen Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der KPdSU und der Intervention in Ungarn habe Hobsbawm die Sowjetunion und seine eigene Partei für unverzichtbare Faktoren in den wichtigsten Auseinandersetzungen zwischen Kapitalismus und Sozialismus und im Kampf für eine rationale Politik gehalten. Allerdings war er, eigenem Bekunden nach, in den folgenden Jahrzehnten stärker der italienischen kommunistischen Partei verbunden. Er gehörte fortan zur nun entstehenden Neuen Linken, war kein Parteiarbeiter mehr, sondern definierte sich als Sympathisanten mit KP-Ausweis. Seine Lebenswelt erweiterte sich. Bis 1956, so bekennt er, sei er nicht einmal imstande gewesen, Liebesbeziehungen außerhalb der Partei aufzunehmen. Der Blick auf die Welt änderte sich: die Situation war nicht länger allein durch die apokalyptische Sicht der Kalten Krieges definiert. Nunmehr wurden Hobsbawms Bücher auch gedruckt: 1959 erschien die Studie "Sozialrebellen" und wurde ein internationaler Erfolg, dann veröffentlichte er in großer Stetigkeit über die Jahrzehnte hinweg (1962-1994) seine vier Bände über das 19. und 20. Jahrhundert und erwarb sich seinen großen Ruf in der gelehrten Welt. Nur in Großbritannien selbst blieb er ein Außenseiter für die Universitäten. Erst 1971 ist er Professor in London geworden.

Italien wurde neben London und Paris sein dritter Lebensmittelpunkt. In den sechziger Jahren hielt er sich häufig und lange in Lateinamerika auf und war eine Art publizistischer Begleiter der modernen Nachfahren seiner Sozialrebellen des 18. und 19. Jahrhunderts. Irgendwann um 1960 fiel ihm auf, dass er sein Konto nicht mehr überziehen musste. Dass sein Leben jetzt weniger dramatisch verlief als bis zum Jahr 1956 hat er zwar selbst konstatiert, aber, ein durchaus begeisterter Bewohner des "Globalen Dorfs", nicht bedauert. Er führte mit Intellektuellen und Politikern Gespräche von Gipfel zu Gipfel, bemerkt jedoch in "Das Zeitalter der Extreme", der Gedankenaustausch mit Staatsmännern habe ihm keine für dieses Werk ausschlaggebenden Einsichten ermöglicht. 1991 löste sich seine Partei auf. Er ist nicht ausgetreten, hat aber 1989 seine Mitgliedskarte nicht erneuert und legte bis zu seinem Tod Wert darauf, ein "lifelong communist" gewesen zu sein, ein Kommunist sein ganzes Leben lang.


Das historische Werk

Das erste Buch, die Dokumentation "Labour's turning point 1880-1900" (1948), ist teilweise noch organisations- und ideengeschichtlich orientiert. Dann, nach der Zwangspause, die "Sozialrebellen": das Volk, das nicht tümlich ist, bringt in den Zumutungen des frühen Kapitalisten Personen, Zusammenhänge und Banden hervor, die sich ihr eigenes Recht nehmen. "Industrie und Empire" (1968) zeigt, wie der Impuls der Ersten Industriellen Revolution über zwei Jahrhunderte hin sich im gesellschaftlichen Konservativismus zu erschöpfen droht. Dem Eindruck, seine vier Bände über das 19. und 20. Jahrhundert (1962, 1975, 1987, 1994) seien geplant entstanden, hat Hobsbawm widersprochen. Es handele sich eher um eine Serie von Zufällen. Einem Verleger, der eine Reihe zur Weltgeschichte herausbringen wollte, sei ein Autor ausgefallen, und da sei er eingesprungen. So entstand "Age of Revolutions", und auch für die Folgebände habe es der Anstöße von außen bedurft. Wer die vier Bände liest, dringt sofort unter die auf diese Weise ausgespannte Oberfläche des Understatement. Thema ist die Chance der Materialisierung der Versprechen der Aufklärung durch die "Doppelrevolution" (die Erste Industrielle 1780 ff.; die Französische 1789 ff.) und ihre Folgen. Am deutlichsten ist dieses Motiv im ersten Band (1962). Später verdunkelt sich die Perspektive, vielleicht auch mitbedingt durch Hobsbawms zeitgeschichtliche Erfahrungen. Der dritte Band endet mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Die Ursache sieht der Autor nicht in einer deutschen Alleinschuld, sondern im auf Grenzenlosigkeit angelegten Imperialismus, womit er Marx' Befunde über die konstitutive Unersättlichkeit der Akkumulation über den Bereich der Ökonomie hinaustreibt. Der Faschismus ist ihm kein Produkt des Monopolkapitals: dieses könne sich prinzipiell in jedem politischem Regime durchsetzen. Daniel Goldhagens Thesen lehnte er als handwerklich völlig ungesichert ab. Gefragt, weshalb diese in Deutschland so stark diskutiert worden seien, antwortete er: hier werde man eben nicht mit dem fertig, was man 1933-1945 angerichtet habe, und vielleicht sei das ja gut so. Der vierte Band endet mit dem Wort:. "Finsternis". Die drei Kennzeichnungen, die er den einzelnen Teilen gegeben hat - "Zeitalter der Katastrophen", "Das Goldene Zeitalter", "Erdrutsch" - sind mittlerweile klassisch geworden. Von Dauer wird auf jeden Fall die Entdeckung der Sozialen und der Kulturellen Revolution im entwickelten Kapitalismus nach 1945 bleiben: Erstere besteht im Aufstieg der Intelligenz zur Massenschicht (bei gleichzeitigem weitgehendem Verschwinden der Bauern in den Metropolen). Letztere im Sieg des Individualismus und in der Adaption moderner Formen der Volkskultur durch das Bürgertum. Die Offensive des Feminismus war für ihn sowohl eine soziale wie eine kulturelle innerkapitalistischen Revolution. Hobsbawm wurde vorgehalten, er zeichne das 19. Jahrhundert zu hell, den "Erdrutsch" nach 1973 zu dunkel, der Begriff "Goldenes Zeitalter" für die Jahre 1945-1973 ist zwar weithin, aber doch nicht durchgehend akzeptiert, Jürgen Kuczynski hielt ihn für unzutreffend. Die Massaker der Junischlacht 1848 in Paris und nach der Niederwerfung der Kommune 1871 sowie in den Kolonien kommen durchaus vor, bestimmen aber nicht das Bild. Auschwitz und Stalinismus erfahren keine zusätzliche Hervorhebung innerhalb der allgemeinen Katastrophe 1914-1945. Die Dialektik der Aufklärung erfährt aber auf anderem Feld eine historische Konkretisierung: der Nationalismus mit seiner "Erfindung der Tradition" wird zum Schatten des Fortschritts.

Mit den drei Revolutionen: 1780 ff., 1789 ff., 1917 ff. hat Eric Hobsbawm Maß an der Moderne genommen. Es bestimmt auch seine Stellung zu dem, was danach kam. 1968: neugierig von ihm studiert und leicht amüsiert als zu leicht befunden. Im extremen Individualismus von Teilen der Intellektuellenbewegung sah er eine Anschluss-Stelle für den Neoliberalismus. Die Beziehungen innerhalb einer Familie hätten nichts mit denjenigen zwischen "Käufern und Verkäufern auf dem Markt zu tun, ob in der Praxis oder in der Theorie. Ebensowenig ist die Entscheidung, ein Kind bekommen zu wollen oder nicht bekommen zu wollen (selbst wenn sie unilateral getroffen wird), ausschließlich für das Individuum von Belang, das diese Entscheidung trifft."(4)

Die Iranische Revolution - auch sie von Eric Hobsbawm mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen - war für ihn die Negation der Aufklärung. Mit den Bewegungen gegen Atomkraftwerke konnte er nichts anfangen, er vermutete ein technik- und zivilisationsgegnerisches Moment in ihnen.


Teilnehmender Beobachter und politischer Akteur

Eric Hobsbawm war auch nach 1956 nicht nur teilnehmender Beobachter der Politik, sondern zugleich ein operativ intervenierender Intellektueller. Fotos von 1961 zeigen ihn in einer Sitzblockade gegen Atomrüstung auf dem Trafalgar Square eingekeilt zwischen Polizisten, ein Pflaster unter dem rechten Auge. Er hat gegen Fehlverhalten der UdSSR protestiert und gegen die deutschen Berufsverbote. Ein einziges Mal, so erzählte er, habe er tatsächlich unmittelbare politische Wirkung erzielt: - in seiner Unterstützung für Neill Kinnock gegen Tony Benn und die als trotzkistisch geltende Militant-Gruppe. Hier wandte er sich gegen eine von ihm für sektiererisch gehaltene Politik einerseits, Selbstgenügsamkeit der Gewerkschaften andererseits, die seiner Meinung nach beide in die Isolation zu führen drohten. Am Ende kam - nach seiner spöttischen Charakterisierung - "Thatcher in Hosen": Blair, der es ablehnte, sich von ihm für den "Guardian" interviewen zu lassen. Dieses melancholische Resultat mag Eric Hobsbawm in seiner Ansicht bestärkt haben, dass er ansonsten gut daran tat, sich auf die Rolle des teilnehmenden Beobachters zu beschränken. Dass sein Freund E. P. Thompson, ebenfalls ein bedeutender Historiker, die Forschung gegen den Tageskampf vertauschte, hat er bedauert, und er war frei von dem Kummer Isaac Deutschers darüber, dass dieser sich auf Geschichtsschreibung beschränken musste, weil ihm aktive Politik seit der Zerschlagung der polnischen KP durch Stalin in den dreißiger Jahren versagt war.

Dass er Brite und Jude war, war für ihn biografischer Zufall, aber nicht belanglos. Die Internierung deutscher Emigranten im zweiten Weltkrieg und die Bombardements der Zivilbevölkerung auch in deutschen Städten widersprachen seiner Meinung nach den Standards seines Landes. Die Gründung eines jüdischen Nationalstaats hielt er für einen Anachronismus. Als er 2009 die Gaza-Intervention kritisierte, bemerkte er, alles, was im Nahen Osten geschehe, betreffe auch die Juden außerhalb.

Dass der Spekulations-Milliardär George Soros die Übersetzung von "Das Zeitalter der Extreme" ins Rumänische finanzierte, hat ihn gefreut. Die Aufklärung überall hin zu tragen: das sah er als seine Aufgabe.

In einem sehr hässlichen Nachruf hat die britische Zeitung "Daily Mail" Eric Hobsbawm vorgeworfen, er habe die Massenmorde der Stalinzeit gerechtfertigt. Dies trifft nicht zu. Als Anhaltspunkt für eine solche Anschuldigung wird immer wieder einmal eine Stelle aus einem BBC-Interview genannt, das 1995 die Rundfunkjournalistin Sue Lawley mit ihm geführt hat.(5) Sie hatte ihn gefragt, ob er in den dreißiger Jahren der Ansicht gewesen sei, der Kampf für eine große Sache rechtfertige auch die Opferung von Millionen von Menschen. Hobsbawms Antwort: nach diesem Grundsatz habe Großbritannien den Zweiten Weltkrieg geführt. Lawley: Ob es denn nicht ein Unterschied sei, wenn man äußere Feinde töte oder die eigenen Leute im Inneren? Darauf gab Eric Hobsbawm zwei Antworten. Erstens: Seine Genoss(inn)en und er hätten in den dreißiger Jahren nichts über den Umfang des Großen Terrors gewusst. Die zweite Antwort fasste er in drei Worte": "Dead is dead" ("Tot ist tot"). Gemeint war: Das Zeitalter der Katastrophen habe Millionen von Menschenleben gefordert. Stalins Opfer seien ein Teil von ihnen gewesen, ebenso wie die Gefallenen, die bombardierten Zivilbevölkerungen und (kurz vor der hier zitierten Interviewpassage knapp erwähnt) die Toten des Holocaust.

Über die Vergangenheit hat Eric Hobsbawm sich nie geirrt, über Gegenwart und Zukunft oft. Aber ohne enttäuschte Hoffnungen und widerlegte Befürchtungen wäre er nicht der Historiker geworden, an den sich noch die künftigen Generationen erinnern werden.


Literatur

(1) Hobsbawm, Eric: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert. München 2002. S. 95.
(2) Ruge, Wolfgang: Berlin - Moskau - Sosswa. Stationen einer Emigration. Bonn 2003.
(3) Elliot, Gregory: Hobsbawm. History and Politics. London und New York: Pluto Press 2010.
(4) Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. 5. Aufl. 2002. S. 738.
(5) http://www.bbc.co.uk/podcasts/series/dida91/all#playepisode76 (Zugriff: 6.10.2012)

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-12, 50. Jahrgang, S. 4-8
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2013