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MARXISTISCHE BLÄTTER/552: Kein Abschied vom Ikarus


Marxistische Blätter Heft 3-13

Kein Abschied von Ikarus
Neue Diskussionen über Kunst aus der DDR

Von Peter Michel



Seit langem wenden sich die "Marxistischen Blätter" immer wieder der Frage zu, wie seit 1989/90, also nach dem "Anschluss" der DDR an die Bundesrepublik Deutschland, mit dem umgegangen wurde, was in dem Staat, der den Sozialismus angestrebt hatte und am Ende aus inneren und äußeren Ursachen zusammenbrach, an bildender Kunst entstand. Es war vom Umgang mit der Kunst Willi Sittes die Rede (4-1994), von alltäglichen Wiederbegegnungen, Verdrängungs- und Vandalenakten (6-1998, 1-1999, 4-2009), von einer dilettantischen Hetzschau, die 1999 in Weimar stattfand und sich "Aufstieg und Fall der Moderne" nannte (4-1999), und von der Anbiederung eines der wichtigsten DDR-Kunstwissenschaftler an neue Machtverhältnisse (1 und 2-2001); Bilder von Heidrun Hegewald wurden vorgestellt (5-2010) und es wurde gefragt, ob der "deutsch-deutsche Bilderstreit" tatsächlich beendet ist (5-2006).

Dass er irgendwann vielleicht die Chance hat, sich zu versachlichen, dazu gaben drei Expositionen, die seit Oktober 2012 zu sehen waren und zu Beginn des Jahres 2013 ihre Pforten schlossen, eine vage Hoffnung. Bereits am 20. Januar wurde die Erfurter Ausstellung "Tischgespräch mit Luther. Christliche Bilder in einer atheistischen Welt" beendet; am 4. Februar begann man in der Weimarer Ausstellung "Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR - neu gesehen" und in der Geraer Schau "Schaffens(t)räume. Atelierbilder und Künstlermythen" mit dem Abbau. Sie alle waren im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten und von der Technischen Universität Dresden getragenen Verbundprojektes "Bildatlas: Kunst der DDR" gemeinsam mit Partnern aus Forschungseinrichtungen, Museen und Stiftungen vorbereitet worden.

Das Medienecho war beeindruckend. Der Pressespiegel vom 1. Februar verzeichnete allein für die Weimarer Ausstellung 58 Beiträge in Printmedien sowie im Hör- und Fernsehfunk. Man kann davon ausgehen, dass es - auch wenn man die beiden anderen Kunstpräsentationen einbezieht - noch wesentlich mehr waren.

Um es vorwegzunehmen: Die Eindrücke der Ausstellungen im Erfurter Angermuseum und in der Geraer Orangerie waren überzeugender als im Weimarer Neuen Museum; dort zerfloss das Konzept; man verließ diese Schau unbefriedigt. In Erfurt und Gera zwang die thematische Einschränkung offensichtlich zu strengerer, durchdachterer Werkauswahl.


Tischgespräch mit Luther
Für kunstinteressierte Menschen war schon immer selbstverständlich, dass christliche Motive über ihren religiösen bzw. kirchlichen Zusammenhang hinaus wirken können: die Passion mit Kreuzigung, Kreuzabnahme, Pietä-Gruppe, Grablegung ebenso wie Heiligengeschichten oder Erzählungen und Figuren aus dem Alten Testament. In Erfurt wurde demonstriert, wie Künstler in der DDR - aus Kenntnis und Verinnerlichung heraus - biblische Themen für Aussagen zu den Widersprüchen der Gegenwart nutzten, wie sie damit das Miterleben und Mitdenken des Publikums provozierten, meist ohne selbst religiös gebunden zu sein. Das mutet in einem atheistisch geführten Staat nicht paradox an. Es gehörte zur Bildung; und wo sie in Schulen nicht vermittelt wurde, eignete man sie sich aus Kunstgeschichte oder Literatur an.

Die Ausstellung "Tischgespräch mit Luther. ..." war insofern beeindruckend, weil sie dieses Wechselspiel mit mehr als 100 Werken der Malerei, Grafik und Plastik von 58 Künstlerinnen und Künstlern repräsentativ vorstellte. Sie bereitete zudem mit ihrer wohldurchdachten Auswahl und ausgezeichneten Hängung auch einen ästhetischen Genuss. Vor Jahren hatte es in der Burg Beeskow schon einmal eine solche Ausstellung gegeben, die aber nur eigene Bestände zeigen konnte. In Erfurt war es nun möglich, aus dem Vollen zu schöpfen. Das Ergebnis war rundum überzeugend. Zu den Höhepunkten zählten Uwe Pfeifers raumgreifendes Triptychon, das der Ausstellung ihren Namen gab und Luther in einen sinnreichen Zusammenhang mit der Theologie der Befreiung brachte, und Bernd Heisigs Bild "Christus verweigert den Gehorsam"; es war einem Mehrtafelwerk seines Schülers Hartwig Ebersbach gegenübergestellt. Wiederbegegnungen mit Gemälden, Zeichnungen und Plastiken Horst Sakulowskis, Volker Stelzmanns, Fritz Cremers und vieler anderer ließen so etwas wie Heimatgefühl aufkommen. Heidrun Hegewalds großformatiges Mahn- und Warnbild "Mutterverdienstkreuz in Holz" fordert heute mit seiner schonungslosen Symbolik des Schmerzes genauso den Schutz menschlichen Lebens ein wie zur Zeit seiner Entstehung 1979. Solche eindringlichen Kunstwerke sollten aus der Stille der Depots geholt werden und wieder ständig präsent sein.

Christoph Wetzels doppelsinniges Ölgemälde "Das Jüngste Gericht" stand offenbar im Mittelpunkt des Publikumsinteresses; hier richten junge Menschen über das, was die Älteren ihnen hinterließen. Wie junge Götter sitzen sie mit skeptischen Blicken in einer langen Reihe hinter dem hohen Richtertisch vor dräuendem Himmel und die Betrachter werden in die Rolle von Angeklagten versetzt. Solches Umdeuten, Verfremden, Profanieren und Aktualisieren religiöser Inhalte war möglich und fruchtbar, weil das Sensorium der Rezipienten hoch entwickelt war und immer noch ist - für verschlüsselte Gesellschaftskritik, für Botschaften des Schreckens über Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Bei Mattheuer fiel auf, dass seine Bilder dort am stärksten sind, wo er bei seiner ureigenen Handschrift blieb und nicht versuchte, "malerisch" zu sein. Heinz Zander interpretierte das Sujet "Brennender Dornbusch" anders als z. B. Dieter Rex, der in der Ausstellung leider nicht vertreten war. Zander und Peter Makolies wandten sich auf ihre Weise dem Thema "Judith und Holofernes" zu; auch hier ging meine Erinnerung zurück zu einem aufstörenden Selbstbildnis von Siegfried Klotz, der sein eigenes Haupt auf einem Tablett zeigte als Zeichen für seinen vorgeahnten Tod. Jeder, der die Kunstszene der DDR über Jahre und Jahrzehnte mit offenen Sinnen verfolgt hat, wird aus seinem visuellen Gedächtnis diese und die anderen Ausstellungen ergänzt haben. Aber so wie diese Schau war, ließ sie keine Fragen offen; man kann die Arbeit der Verantwortlichen nur anerkennen.

Wer heute meint, die Hinwendung zahlreicher Künstler zur christlichen Ikonographie sei bisher kaum untersucht worden, leugnet die Leistungen der Kunstwissenschaft in der DDR. Peter Arlt wies sehr zu recht auf die Arbeiten von Irma Emmrich und Helga Möbius, auf das Buch "Dialog mit der Bibel" von Jürgen Rennert und auf die Forschungen in der damaligen Pädagogischen Hochschule Erfurt hin.(1) Das trifft auch auf die eigenwillige, gegenwartsbezogene Deutung antiker Mythen und auf andere Forschungsfelder zu; man muss solche Quellen nutzen; es ist nicht nötig, alles neu zu erfinden.


Atelierbilder und Selbstbildnisse
Ein Gefühl des Zuhauseseins stellte sich auch in der Geraer Schau "Schaffens(t)räume ..." ein, in der 90 Arbeiten von 76 Künstlern gezeigt wurden. Dort konnte vor allem aus dem eigenen qualitätvollen Sammlungsbestand ausgewählt werden. Und man registrierte sofort, dass hier wie in Erfurt kunstwissenschaftliche Solidität herrschte. Die Entstehungszeit der Werke lag z. T. Jahrzehnte auseinander, so dass auch Entwicklungsphasen deutlich wurden. Bilder von Eberhard Dietzsch, Hubertus Giebe, Sighard Gille, Clemens Gröszer, Bernhard und Johannes Heisig, Lutz Ketscher, Wolfgang Peuker, Willi Sitte, Axel Wunsch und anderen konnte man wieder sehen; persönliche Begegnungen wurden in der Erinnerung frisch. So geht es vielen der Älteren. Und wenn die nach 1985 Geborenen einer neuen Generation Zugang zu solchen Werken finden, dann wirkt der humanistische Inhalt einer vergangenen Zeit ins Heute hinein. Hubertus Giebes Bild "Der Maler" provozierte jedoch zur Frage, warum er - nicht nur in diesem Werk, sondern z. B. auch in einer früheren Ausstellung im Palais im Dresdener Großen Garten - nach 1990 seine Ausdrucksmittel derart vergröberte; man kann nur vermuten, dass es sein Streben nach Marktchancen ist, das zur Vernachlässigung seines Talents führen kann. Karl-Erich Müllers Stärken lagen weniger im großformatigen Gruppenporträt - wie im ausgestellten Gemälde "Im Atelier" -, sondern in der kleineren Form, vor allem in Illustrationen zu Werken der Weltliteratur, z. B. zu Thomas und Heinrich Mann oder zu Gogol.

Im Katalog, in dessen Texten sich auch bittere Wahrheiten über kunstpolitische Gängeleien finden, wird richtig hervorgehoben, dass in der DDR Existenz- und Arbeitsmöglichkeiten für Künstler auf vergleichsweise privilegiertem Niveau garantiert wurden, nicht nur für die so genannten Staatskünstler. Bezogen auf Werner Tübke - doch nicht allein gültig für ihn - wird formuliert, diese Kunst sei integrativer Teil zeitgenössischer Kunstproduktion in der postmodernen Kunstgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts und werfe so "ein Licht auf die Vielschichtigkeit, die intellektuelle Autonomie und die selbstbewusste Eigenbehauptung einer in der DDR ausgeprägten, ausdrucksstarken Kunst-Sprache".(2) Gleichzeitig wird Kritik daran geübt, dass in den großen Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Selbstporträts Künstler der DDR generell fehlen (In den Shops der großen Museen kann man das nachprüfen), obwohl die gesamte Kunst in der DDR reich an verschiedenen Formen der Selbstdarstellung ist. Insofern schloss die Geraer Ausstellung eine Lücke. Autoporträts geben nicht nur Auskunft über die Person des Schöpfers; sie sind vor allem Ausdruck seines Verhältnisses zu anderen, zur Umwelt, in der er lebt und an der er sich reibt, und zu den Spannungen, denen er ausgesetzt ist. In seinem großartigen Gemälde "Menschensucher", dessen Titel sich auf Karl Hofer bezieht, fand Siegfried Klotz, der konsequent die Dresdener Maltradition fortsetzte, einen überzeugenden Ausdruck: Er stellte sich darin selbst als Akt dar und ist der einzig lebendige, verzweifelt auf den Betrachter zulaufende Mensch zwischen unbeweglichen, erstarrten Puppen.


Weimar - ein Großereignis?
Die ehemalige Bundesministerin für Bildung und Forschung Annette Schavan schrieb in ihrem Grußwort an die Weimarer Ausstellung, die ebenfalls in Weimar 1999 veranstaltete Schau "Aufstieg und Fall der Moderne" habe für heftige Diskussionen über Kunst aus der "ehemaligen" DDR gesorgt; sie sei ein Höhepunkt des kontrovers geführten "deutsch-deutschen Bilderstreits" gewesen. Diskutiert wurde damals heftig, aber nicht über Kunstwerke. Für mich war diese Horror-Schau der absolute Tiefpunkt des Umgangs mit Künstlern und ihren Werken. Es ging um pauschale Entwürdigung, die den Zorn zahlreicher Künstler und Wissenschaftler - nicht nur aus dem Osten Deutschlands - hervorrief. Dem rheinischen Kurator Achim Preiß wurde "ignorantes Unvermögen" nachgewiesen. Der Künstler Neo Rauch sprach im "Spiegel" vom 24. Mai 1999 von einer "Massenexekution"; und das in einer Stadt, die aufgrund ihrer Geschichte ein Hort besonderer Sensibilität sein müsste. Im Umfeld dieser Schau - zuvor und später - bezeichnete man die nicht in den Westen gegangenen Künstler als Verräter, "Arschlöcher" (eine hochintelligente Sprachschöpfung von Herrn Baselitz, der - um aufzufallen - seine Bilder auf den Kopf stellt) und "Propagandisten der Ideologie". Und schließlich wurden aus der zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes im Berliner Gropiusbau veranstalteten Ausstellung "60 Jahre - 60 Werke" in der DDR entstandene Arbeiten vollkommen ausgeschlossen mit der Begründung, Kunst könne nur in Freiheit gedeihen, in der DDR habe es keine Freiheit gegeben, also auch keine Kunst. Schirmherrin war Angela Merkel. Solche katastrophalen Attacken kann man nicht wieder gut machen; in das Gedächtnis der Betroffenen haben sie sich eingegraben.

Aber man kann einen neuen Anfang suchen. Deshalb waren die Erwartungen an die Ausstellung "Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR - neu gesehen" groß, zumal sie als Zentrum des Gesamtprojektes gedacht war. Sie wurden in einigen Passagen auch nicht enttäuscht. Es gab einen durchdachten Auftakt mit dem "Blick auf Eisenhüttenstadt" (1955) von Bernhard Kretzschmar, dessen Aufbruchsstimmung mit der kritischen Bitterkeit des Mattheuer-Gemäldes "Freundlicher Besuch im Braunkohlenrevier" (1974) kontrastierte und den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich machte. Es gab Neuentdeckungen und eindrucksvolle Wiederbegegnungen mit Werken Philip Oesers, Clemens Gröszers, Willi Neuberts, Otto Knöpfers, Hermann Glöckners, Horst Strempels und vieler, vieler anderer. Besonders eindrucksvoll sind heute wie damals die schmerzvollen Bildtafeln des viel zu früh verstorbenen Joachim Völkner, die Bilder von Harald Metzkes, Angela Hampel und Wolfgang Peuker, der mit seiner schonungslosen Wahrheitssuche aufstört und - z. B. in seinem Bild "An der Außenwand" von 1974 - auf völlig unpathetische Weise den Alltag von Arbeitern zeigt. Und es war gut, dass der "Aurora"-Zyklus von Carlfriedrich Claus so umfassend zu sehen war. Der in der DDR im Exil lebende Spanier Josep Renau wurde hervorgehoben; man konnte seine Arbeitsweise als Muralist anschaulich nachvollziehen; er stand in der Tradition der Wandmalerei im öffentlichen Raum, die sich in Mexiko in den 1920er Jahren entwickelte und in der Regel einen gesellschaftskritischen und historischen Inhalt hat. Dass die Fotografie einbezogen wurde, gehörte ebenfalls zu den Stärken dieser Ausstellung. Indem sie die Werke ernst nahm, unterschied sie sich grundsätzlich von ihrer Weimarer Vorgängerin "Aufstieg und Fall der Moderne".

Sie litt aber daran, dass ihre Konzeption zwischen soziologischem und kunstwissenschaftlichem Herangehen hin und her schwankte. "Was einen Soziologen strahlen lässt, kann einen Kunsthistoriker zum Heulen bringen", stand am 25.10.2012 in einem Artikel von Julia Voss in der "FAZ". Die Texte der Erläuterungstafeln und auch des Kataloges überzogen teilweise die gezeigten Dinge mit einer Theorie, die mit der Praxis wenig zu tun hatte. Kunstwerke dienten - trotz gegenteiliger Absichtserklärungen - oft lediglich der Illustration vorgefasster Thesen. Der umgekehrte Weg wäre richtig gewesen: Aus einer gründlichen Analyse der Werke sollte sich das theoretische Drumherum ergeben. Spätestens seit den 70er Jahren wurde in der DDR-Kunstwissenschaft dieser Weg gesucht und meist auch beschritten. Die Weimarer Ausstellungsmacher begingen also den gleichen Fehler, den man in der DDR bis etwa zum Ende der 60er Jahre machte. Den Besuchern fiel das auf; Eintragungen ins Gästebuch belegen es: "Wenn das eine Ausstellung zur Kunst in der DDR sein soll, dann bin ich der liebe Gott. Wer trifft denn eine derartige Auswahl? Ist es beabsichtigt, eine bestimmte Meinung zu erzeugen?" - "Wieder mal eine tendenzielle Darstellung der DDR-Verhältnisse. Schade!" - "Es heißt ja immer: Mach dir ein Bild. Hier wurde mir ein Bild gemacht."

Gleich am Eingang las man auf einer Tafel die Phrase vom "antifaschistischen Gründungsmythos der DDR". Was war am antifaschistischen Neuanfang, zu dem ganz Deutschland durch das Potsdamer Abkommen verpflichtet war, mythisch? So wird Geschichte vernebelt. An derartigen Formulierungen waren die Begleittexte reich. Nur dann, wenn man diese seit 1989 offiziellen Denkschablonen überwindet, kann man auch die Kunstentwicklung in der DDR besser verstehen. Es geht dabei nicht um die Wiederherstellung von Wertungshierarchien, die in der DDR herrschten; es geht um historische Lauterkeit und um die Rolle, die künstlerische Erscheinungen tatsächlich im Denken der Menschen spielten.

In dieser Ausstellung stimmten auch die Proportionen nicht. Es gab eine Überbetonung "nonkonformer Kunst". Wenn es auch gut und richtig war, dokumentarisch auf das einzugehen, was es an Projekten, Atelierausstellungen, Performances, Installationen usw. gab, so sollte doch stärker daran erinnert werden, dass der Verband Bildender Künstler und vernünftige Kulturfunktionäre in vielen Fällen eine Schutzrolle übernahmen und dass sich Kunsthochschulen, FDJ-Jugendklubs und staatliche Kulturhäuser in den 80er Jahren dafür öffneten. Im Bewusstsein der meisten Kunstinteressierten spielten diese Dinge bis zur "Wende" eine untergeordnete Rolle, und das lag nicht nur an Repressionen. Viele Betrachter suchten auch in diesen dokumentierten Projekten künstlerische Qualität und fanden sie nicht. Zu den Ausnahmen gehörte z. B. eine Installation des Dresdener Künstlers Dieter Bock im Berliner Dom zum Schicksal der Juden in der Nazizeit. Aber diese Arbeit suchte man in der Ausstellung und im Katalog vergeblich. Mancher, dem in der Kulturpolitik der DDR die Freiräume fehlten, findet sie heute ebenso wenig. Er steht der gesellschaftlichen Gegenwart vielleicht wieder kritisch gegenüber. Nur: Vieles, was in der DDR Aufsehen erregen sollte, verpufft heute im Gewühl der Marktwirtschaft.

Zu den Disproportionen gehörte auch - wenn man schon soziologisch herangehen wollte - das Missverhältnis der Geschlechter. Der Verband Bildender Künstler der DDR bestand zu 25 Prozent aus Frauen; in der Ausstellung waren es lediglich sechs Prozent.(3)

Was ich ebenso vermisste, war ein Gespür für Qualität. Woher soll dieses Gespür auch kommen in einer Zeit freiheitlicher Maßstablosigkeit? Oder legte der "soziologische" Blick Binden vor die Augen? Warum wurde z.B. von Hans Grundig nicht eine der beiden Fassungen seines Bildes "Den Opfern des Faschismus" gezeigt? Die "Jugenddemonstration II" gehört nicht zu seinen besten Bildern. Weshalb platzierte man das kitschige, die Wirklichkeit schönende Bild "Der neue Anfang" von Heinrich Witz direkt neben einer filmischen Dokumentation der Entstehung eines Wandbildes von Wolfgang Frankenstein? Wollte man damit" die Arbeit Frankensteins herabwürdigen? Warum fehlten Arbeiten u. a. von Gudrun Brüne, Ronald Paris, Walter Womacka und Heidrun Hegewald? Sie gehörten zu denen, die in der DDR ständig im Gespräch waren. Heidrun Hegewalds "Kind und Eltern", ihr "Spielendes Kind", die metaphernreichen Puppen-Bilder Gudrun Brünes oder z. B. Walter Womackas Erika-Steinführer-Darstellungen hätten dieser Ausstellung ein ehrlicheres Gesicht gegeben. Ronald Paris reagierte gelassen: Er sei ganz froh darüber, in einer solchen Ausstellung nicht vertreten zu sein.


Für eine ganzheitliche Sicht
Der Kunstkritiker Günter Meier kritisierte an der Weimarer Schau, die meisten daran beteiligten Wissenschaftler betrachteten "die Sache von einem erhöhten Platz jenseits des Stacheldrahtes". Die Soziologen, so schrieb er mir in einem Brief, ließen bei ihren Forschungen einiges liegen, "was eben nur in der Literatur zu finden ist, die von DDR-Autoren (oder DDR-Insidern) verfasst wurde". Im Anhang des Kataloges fehlten z. B. "die Gesetzblätter zu den Honorarordnungen und die Hochschulverordnung über die geldliche und sachbezogene Förderung von Kunsthochschulabsolventen aus Mitteln des Kulturfonds der Bezirke, die Atelierbeschaffungspflicht usw. bis zu drei Jahren nach dem Studium. Die gönnerhaft belächelten Honorarordnungen ... waren für die Künstler Rechtsgrundlagen für einklagbares Honorar und somit Garant für leistungsgerechte Entlohnung aller Künstler. ... Es ist ein Mangel an wissenschaftlicher Sorgfalt, wenn die Erinnerungen von Willi Sitte, Walter Womacka, Gerhard Schürer, Hans Bentzien und vieler anderer Autoren nicht in die Untersuchungen einbezogen wurden. ..." Natürlich habe er, so Günter Meier, die Ansätze zur Darstellung eines prozesshaften Verlaufes der Kunstentwicklung in der DDR bei den Verantwortlichen mit Anerkennung wahrgenommen, aber es gebe viele Lücken, z. B. beim Erfassen der Gründe für das Bedürfnis nach einem staatlichen und genossenschaftlichen Kunsthandel in der DDR, bei Untersuchungen zur baugebundenen Kunst u. a. Er formulierte weiter: "Die bildenden Künstler in der DDR waren, um zu überleben, auf das Engagement des Staates, der Gewerkschaften, Kombinate, Investoren von Gesellschaftsbauten, des Kulturfonds usw. angewiesen. Das gern und immer noch viel gescholtene Auftragswesen war eine soziale Großtat, die sich die Regierung, ohne zu zögern, leistete." Zum kritiklos übernommenen Terminus "Viererbande" schrieb er: "Diese vier Künstler waren alles, aber keine eingeschworene Gemeinschaft." Und er resümierte: "Ich möchte das Gefühl ... bekunden, dass das Dresdener Forschungsteam eine wissenschaftliche Ehrlichkeit sucht ..., wenn's auch nicht immer gelingt."(4)

Man sollte sich darauf besinnen, dass derartige Überblicks-Schauen nur dann eine Chance haben, wenn Künstler - ohne Egoismen und frei von Gruppeninteressen - selbst an Konzept und Auswahl beteiligt werden. Die Dresdener großen Kunstausstellungen waren in den 80er Jahren von Jurys aus Mitgliedern des VBK-DDR zusammengestellt worden, die sich immer weniger von außen hineinreden ließen und ein breiteres Verständnis von bildender und angewandter Kunst hatten, als in der Weimarer Ausstellung sichtbar wurde. Das volle Wirkungsspektrum ergibt sich letztlich aus der Zusammenschau aller bildenden und angewandten Künste; es genügt nicht, sich immer wieder auf die "klassischen" Bereiche der Malerei und Grafik zu konzentrieren, vielleicht schamhaft ergänzt durch einige Plastiken, aber bei völligem Fehlen z. B. der Karikatur, der in den Alltag eingreifenden Formgestaltung, des Grafik-Designs, des Kunsthandwerks, des Bühnenbilds usw. Sicher war ein solcher Anspruch in Weimar nicht zu verwirklichen. Doch eine solch ganzheitliche Sicht sollte die Grundlage für künftige Expositionen sein, die sich mit in der DDR entstandener Kunst beschäftigen.

Ein Aspekt wäre auch, dem Schicksal von Kunstwerken nach 1989/90 nachzuspüren. Das oben erwähnte Wandbild von Wolfgang Frankenstein wurde zerstört; das Mural von Josep Renau an der Klubmensa von Halle-Neustadt, dessen Entwurf zu sehen war, ist verschwunden. Von beiden und unzähligen weiteren Beseitigungsvorgängen war in der Weimarer Ausstellung nicht die Rede. Sollte jemals eine solche Schau zustande kommen? Ich wünschte es mir. Und wie wäre es, wenn irgendwann an die in den alten Bundesländern vor 1989 entstandene Kunst ebensolche "soziologische" Fragen gestellt würden? Der Rektor der Kunsthochschule Dresden, Matthias Flügge, hielt das ganze Vorhaben für unnötig aufgeblasen; anstelle einer erneuten "Gettoisierung" der in der DDR entstandenen Kunst ist es tatsächlich sinnvoller, diese Werke ganz selbstverständlich regional und bundesweit in den Ausstellungsalltag einzubeziehen, die ideologischen Scheuklappen abzulegen und einzig den Maßstab künstlerischer Qualität gelten zu lassen.

So wie die in der DDR entstandene Kunst nicht verschwunden ist, so lebt auch Ikarus weiter. Er ist zwar abgestürzt, aber er hat sich nicht verabschiedet. Diese Symbolgestalt war in der Kunstgeschichte ständig präsent; sie ist mit dem Ende der DDR nicht im Meer versunken. In den Jahren zwischen der "Wende" und der Gegenwart entstanden zahlreiche Ikarus-Darstellungen von Bildhauern, Malern, Grafikern, Kunsthandwerkern und Karikaturisten. Eine Wanderausstellung unter dem Titel "Ost-westlicher Ikarus. Ein Mythos im geteilten Deutschland" bot 2004/2005 einen umfassenden Blick sowohl auf die Kunstgeschichte als auch auf bis dahin in ganz Deutschland neu entstandene Darstellungen zu diesem Themenfeld.(5) Auch danach gab es immer wieder neue Werke, die Mythos und Gegenwart in einem dialektischen Spannungsfeld sehen, u. a. im Bereich der Malerei und Grafik von Heidrun Hegewald, Rolf Kuhrt, Wolfram Schubert, Joachim John, Heinz Wodzicka, Erhard Schmidt und Hubertus Blase, in der Plastik von Gerhard Rommel und Rolf Kuhrt, im Kunsthandwerk von Ulli Wittich-Großkurth und Renata Ahrens sowie in der Karikatur von Harald Kretzschmar und Ralf Alex Fichtner. Diese und andere Werke zum Ikarus-Komplex fanden in der von der GBM herausgegebenen Zeitschrift "ICARUS" ihre Öffentlichkeit. Die Allegorie euphorischen Aufsteigens und vernichtenden Absturzes wird die Künstler weiter beschäftigen, auch wenn der Titel der Weimarer Ausstellung das Gegenteil behauptet. Im Gästebuch stand: "Bitte noch mal und dann besser!"



Dr. Peter Michel, Berlin, Kunsthistoriker



Anmerkungen

(1) Peter Arlt: Das verlorene Kreuz, in: Ossietzky, Nr. 25/2012, S. 982

(2) Annika Michalski: Das Entschwinden des Künstlers in den Raum, in: Schaffens(t)räume. Atelierbilder und Künstlermythen, Katalog, hrsg, von der Kunstsammlung Gern 2012, S. 42

(3) Nach einer Information von Heike Friauf

(4) Aus einem Brief Günter Meiers vom 18. Februar 2013 an den Autor

(5) Ost-westlicher Ikarus. Ein Mythos im geteilten Deutschland. Eine Ausstellung des Winckelmann-Museums Stendal in Stendal, Gotha, Duisburg und Wasserburg/Inn, Katalog mit Texten von Helmut Börsch-Supan, Jörg Heiko Bruns, Max Kunze, Volker Riedel, Bernd Seidensticker und Antje Wessels, Hrsg. Winckelmann-Gesellschaft Stendal 2004, 240 S.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-13, 51. Jahrgang, S. 92-97
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2013