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MARXISTISCHE BLÄTTER/565: Zur russischen Syrienpolitik und den Gründen ihres Erfolgs im Herst 2013


Marxistische Blätter Heft 1-14

Zur russischen Syrienpolitik und den Gründen ihres Erfolgs im Herbst 2013

Von Willi Gerns



In den Septembertagen 2013 hielt die Welt den Atem an. Ein militärischer Überfall der USA auf Syrien mit unabsehbaren Folgen für die Region und darüber hinaus schien unabwendbar. Es ist vor allem der konsequenten und zugleich beweglichen russischen Syrienstrategie zu verdanken, dass die brandgefährliche Situation entspannt und ein neues Kriegsabenteuer der USA und ihrer Verbündeten verhindert werden konnte.

Das Wesen der russischen Syrienstrategie

Grundlage der russischen Syrien-Politik ist das entschiedene Eintreten für die Achtung des Völkerrechts und damit im Syrienkonflikt für Respektierung der Souveränität der Arabischen Republik Syrien. Davon ausgehend vertritt Russland den Standpunkt, dass es sich bei den bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien um einen Bürgerkrieg handelt, der nur durch Verhandlungen der beiden Seiten unter internationaler Vermittlung und Kontrolle zu lösen ist. Ein militärisches Eingreifen anderer Staaten, unter welchem Vorwand auch immer, wurde und wird entschieden abgelehnt. Diese Position liegt auch dem russischen Abstimmungsverhalten im UN-Sicherheitsrat zugrunde. Resolutionen, die es ermöglicht hätten, die Tür für eine militärische Intervention von außen auch nur um einen Spalt zu öffnen, wurden durch das Veto Russlands blockiert.

Damit wird nicht zuletzt auch den Erfahrungen Rechnung getragen, die Moskau während des Libyen-Konflikts machen musste. Angeblich sollte die Resolution 1973 des Sicherheitsrats dem Schutz der Zivilbevölkerung vor Angriffen der Luftwaffe Gaddafis dienen. Bekanntlich wurde sie jedoch von NATO-Staaten zu einem völkerrechtswidrigen Krieg missbraucht, durch den der Staatschef Libyens ermordet, die Regierung des Landes gestürzt, ein NATO-höriges Regime an die Macht gebombt und das Land ins Chaos gestürzt wurde. Nicht nur Soldaten der regulären Armee, sondern auch viele Zivilisten sind den Bomben der Aggressoren zum Opfer gefallen, Städte und Dörfer sowie unwiederbringliche Kulturgüter wurden verwüstet.

Der russische Vertreter im UN-Sicherheitsrat hatte auf Anweisung Medwedjews, der als damaliger Präsident für die Außenpolitik zuständig war, auf das Vetorecht verzichtet und sich nur der Stimme enthalten. Darüber ist es seinerzeit bekanntlich auch zu einem Konflikt zwischen Präsident Medwedjew und Premier Putin gekommen. Russland hat die Lehren daraus gezogen und seine oben beschriebene grundsätzliche Position im Syrienkonflikt konsequent durchgehalten.

Zugleich wurde diese Haltung mit konstruktiven und beweglichen Initiativen verbunden. Ausdruck dafür waren die Verhandlungen führender russischer Politiker mit dem Assad-Regime wie zugleich Einladungen an die syrische Opposition zu Gesprächen in Moskau mit dem Ziel, sie für die Teilnahme an einem Verhandlungsprozess zur Lösung der Syrienkrise zu bewegen, sowie immer neue Bemühungen um die USA und andere Staaten für einen Verhandlungsprozess ohne Vorbedingungen zu gewinnen.

Putin - einflussreichster Politiker

Mit den russischen Friedensinitiativen, einschließlich der durch die Bemühungen Moskaus erreichten Zustimmung Präsident Assads und seiner Regierung zur Zerstörung der syrischen Chemiewaffen, ist das Prestige Russlands und seines Präsidenten in vielen Ländern und bei vielen Menschen gewachsen. Es findet u. a. auch darin seinen Ausdruck, dass Präsident Putin in der von der US-amerikanische Zeitschrift Forbes jährlich gekürten Liste der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Weltpolitik für 2013 den Spitzenplatz einnimmt. Im Jahr zuvor rangierten noch die Präsidenten der USA und Chinas vor ihm.

In einem am 8.11.2013 in der "Russkaja Gazeta" dazu veröffentlichten Kommentar wird dies als erneuter Ausdruck dafür gewertet, dass "in der heutigen multipolaren Welt das Bruttoinlandsprodukt eines Staates oder der Umfang seiner Streitkräfte aufgehört haben, der bestimmende Faktor für den Einflusses auf die Weltpolitik zu sein". Weiter heißt es: "Der Erfolg Putins auf der Forbes-Liste - das ist kein Sieg eines führenden Politikers über den anderen. Eher geht es um eine positive Bewertung der grundlegenden Prinzipien der russischen Außenpolitik durch die amerikanischen Verfasser der Liste, vor allem des Prinzips der Achtung des souveränen Rechts eines jeden Staates, einen eigenen, von Blöcken unabhängigen Standpunkt zu den sich in der Welt vollziehenden Prozessen zu haben. Russland tritt für dieses Herangehen in der Außenpolitik schon seit Jahrzehnten ein. Aber es ist Präsident Putin wahrscheinlich erst in der Syrienkrise gelungen, dieses Herangehen in der Praxis zur Formierung bahnbrechender Entscheidungen anzuwenden, die die Welt vor einem neuen Krieg bewahrt haben."

Die dramatischen Ereignisse im Herbst 2013 haben schlaglichtartig die Veränderungen deutlich gemacht, die sich in den letzten beiden Jahren in der internationalen Arena vollzogenen haben.

Hier soll auf die wichtigsten hingewiesen werden.

Wiedererstarken Russlands

Erstens. Russland, das im Gefolge der Konterrevolution und der Zerschlagung der Sowjetunion zu einer zweit- oder gar drittrangigen Macht abgestürzt war, ist in die erste Reihe der für die Weltpolitik wichtigsten Staaten zurückgekehrt. Die dahin führende Entwicklung hat bereits bald nach dem Übergang des Präsidentenamtes von Jelzin auf Putin ihren Anfang genommen.

So stellte z.B. Dmitri Trenin, der stellvertretende Direktor des Moskauer Carnegie Zentrums, schon in einem 2006 in den "Russland-Analysen" (88/2006) erschienenen Aufsatz fest, dass Russland einen Prozess durchmacht, "der als außenpolitische Revolution bezeichnet werden kann. Es hat tatsächlich angefangen, sich als moderne Großmacht zu erneuern. Der äußerste Planet des westlichen Sonnensystems hat seine Umlaufbahn verlassen um eine neue und unabhängige Flugbahn einzuschlagen."

Und Thomas Kunze, der damalige Leiter des Moskauer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, betonte in einem von der Stiftung am 5. März 2007 publizierten Interview: "Präsident Putin hat deutlich gemacht, dass sein Land gewillt ist, die Position einer Weltmacht zurückzuerlangen. In den 90er Jahren gab es eine Periode der Schwäche. Mittlerweile bemüht sich Russland um eine neue Standortbestimmung in der globalen Welt. Die Beispiele dafür sind vielfältig. Im Atomstreit mit dem Iran sucht Russland eine Vermittlerrolle, Wladimir Putin setzt neue Akzente in der Nahost-Politik, in Zentralasien wenden sich die 1991 unabhängig gewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken wieder Russland als Schutzmacht zu und Putin hat die Kontakte zur islamischen Welt wieder neu fundiert. Russland gestaltet die Beziehungen zu den USA und Europa mit einem neuen Selbstbewusstsein, das wir in den 90er Jahren nicht gewohnt waren."

Dieses neue Selbstbewusstsein hat Putin mit seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 vor aller Welt unüberhörbar deutlich gemacht. Die Ausführungen richteten sich dabei in erster Linie an die Adresse der USA und ihrer NATO-Satelliten, gegen deren aggressives Weltmachtstreben. Er betonte: "Für die heutige Welt ist ein unipolares Modell nicht nur unannehmbar, sondern auch unmöglich." Als Ergebnis der Versuche, eine solche Welt durchzusetzen, seien die lokalen Kriege und Konflikte bedeutend zahlreicher geworden. Er kritisierte "eine durch fast nichts gezügelte, hypertrophierte Anwendung von Gewalt in den internationalen Angelegenheiten" und das Bestreben, einige Normen, dem Wesen der Sache nach beinahe das ganze System der Rechte eines Staates - vor allem der USA - anderen Staaten aufzudrängen. "Niemand fühlt sich mehr in Sicherheit, niemand kann sich mehr mit dem Völkerrecht schützen. Diese Politik spornt das Wettrüsten an. Die Dominanz des Gewaltfaktors nährt zwangsläufig das Trachten einiger Länder nach Massenvernichtungswaffen." Nur die UNO-Charta darf der einzige Mechanismus sein für die Beschlussfassung über eine Anwendung militärischer Gewalt als letztes Argument, erklärte Putin.

Das waren klare und nicht - wie sonst auf der internationalen Bühne üblich - durch diplomatische Floskeln verbrämte Worte. Sie haben die Welt aufhorchen lassen.

Das wiedererwachte russische Selbstbewusstsein gründet sich vor allem auf die Rolle des Landes als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat und als auf gleicher Augenhöhe mit den USA stehende Atommacht, auf die wieder gewachsenen wirtschaftlichen Potenzen und den Platz als Energiegroßmacht.

Überwindung der von den USA dominierten unipolaren Weltordnung

Zweitens. Als weiteres wesentliches Kennzeichen der grundlegenden Veränderungen in der internationalen Arena muss das Voranschreiten des Prozesses der Ablösung einer von den USA dominierten unipolaren Weltordnung durch eine multipolare Welt genannt werden. Neben und gemeinsam mit Russland spielen dabei die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) sowie regionale Staatenbündnisse wie die Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit oder diverse Staaten-Kooperationen in Lateinamerika und andere eine wachsende Rolle.

Letzteres war auch von großer Bedeutung für den Erfolg der russischen Syrien-Initiativen im Herbst 2013. Sind doch die BRICS-Staaten beim G20-Treffen in Petersburg Anfang September entschieden gegen einen militärischen Überfall auf Syrien aufgetreten und in der bald darauf vom 13. Gipfel der Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit verabschiedeten "Deklaration von Bischkek" wurde Putins Syrienpolitik ausdrücklich unterstützt.

Drittens. Gleichzeitig geht der Einfluss der USA auf die Weltpolitik zurück. Das Land wird durch seine Kriegsabenteuer, die gewaltigen Rüstungsausgaben und den Unterhalt seines weltweiten Netzes von Militärstützpunkten sowie die Auswirkungen der nun schon einige Jahre andauernden Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft überfordert. Diese hat auch in den NATO-Ländern, besonders in den Staaten der Euro-Zone tiefe Spuren hinterlassen. Davon betroffen ist allerdings das ganze kapitalistische Weltwirtschaftssystem, sodass sie auch an den BRICS-Staaten, einschließlich Russland und China nicht vorbei geht.

Viertens. Im Zusammenhang mit den im letzten Punkt genannten Aspekten, zu denen auch das Fiasko im Irak und im Afghanistan-Krieg gehört, hat in den USA und anderen NATO-Ländern die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung bedeutend zugenommen. Ausdruck dafür waren Massenproteste in den USA und anderen Ländern gegen ein neues Kriegsabenteuer in Syrien. Sie sind auch nicht ohne Wirkung auf die Abgeordneten geblieben, sodass Präsident Obama vor einer Niederlage bei der Abstimmung im Kongress über den Kriegseinsatz in Syrien stand und den Rettungsring ergriff, den ihm Putin in Gestalt der Zustimmung Syriens zur Vernichtung seiner Chemiewaffen zuwarf. In Großbritannien hatte Premier Cameron bekanntlich zuvor gerade eine solche Niederlage im Parlament einstecken müssen.

All das hat zum Erfolg der russischen Syrienstrategie im Herbst 2013 beigetragen. Dieser Erfolg kann für die Friedenskräfte in der Welt allerdings kein Grund sein, sich entspannt zurückzulehnen. Der Krieg in Syrien geht weiter und fordert jeden Tag neue Opfer. Und dieser Krieg ist längst nicht mehr nur ein Bürgerkrieg. Dschihadisten aus aller Welt kämpfen dort für einen islamistischen Gottesstaat und sind zur stärksten Kraft unter den bewaffneten Assad-Gegnern geworden. Bewaffnet werden sie aus den Golfstaaten. Deren Waffen kommen allerdings vor allem aus NATO-Ländern, nicht zuletzt aus Deutschland. Versorgungsknotenpunkt und wichtigste Rückzugsbasis für die Gotteskrieger ist der NATO-Staat Türkei. Die Gefahr, dass aus dem Syrienkrieg ein regionaler Flächenbrand werden könnte, der auch andere Mächte involviert, ist keineswegs gebannt.

Willi Gerns, Bremen, MB-Redaktion

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-14, 52. Jahrgang, S. 59-62
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2014