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MARXISTISCHE BLÄTTER/583: Integration und Klassenkampf


Marxistische Blätter Heft 6-14

Integration und Klassenkampf
Zur Ambivalenz defensiver Demokratisierung

Von David Salomon


Bürgerliche Staatlichkeit

Dass sich "Staatlichkeit" historisch im Kontext der Entstehung von Klassengesellschaften entwickelte, wurde insbesondere im Kontext historisch-materialistischer Staatstheorien immer wieder betont. So heißt es in einer berühmten Passage bei Friedrich Engels, der Staat sei "ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der 'Ordnung' halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat" (MEW, Bd. 21: 165).

Gilt demzufolge bereits für vorbürgerliche Formen von Staatlichkeit, dass sie einen Herrschaftsapparat herausbildeten, der sich von den alltäglichen gesellschaftlichen Lebensvollzügen abhebt, so ist die - von Engels aus guten Gründen als scheinbar bezeichnete - Trennung von Staat und Gesellschaft ein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft und der sie tragenden kapitalistischen Produktionsweise. So führt Joachim Hirsch aus: "Die Trennung der unmittelbaren ProduzentInnen (der ArbeiterInnen) von den Produktionsmitteln, Privatproduktion, Lohnarbeit und Warentausch beinhaltet, dass die Aneignung des Mehrprodukts durch die ökonomisch herrschende Klasse nicht durch unmittelbare Gewaltanwendung, sondern über den scheinbar äquivalenten Warentausch, einschließlich der Ware Arbeitskraft stattfindet. [...] Ungehinderter Warentausch auf dem Markt, Konkurrenz und die formelle Freiheit der Lohnabhängigen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sind aber nur gewährleistet, wenn die ökonomisch herrschende Klasse auf die unmittelbare Anwendung direkter Gewaltmittel sowohl gegenüber den Lohnabhängigen als auch innerhalb ihrer selbst verzichten muss, wenn also Konkurrenzkämpfe nicht mit Waffen ausgetragen und Arbeitskräfte nicht zwangsrekrutiert werden" (Hirsch 2005: 23).

Fraglos handelt es sich hier um eine Form der Idealtypenbildung. Die reale Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise kennt bekanntlich - nicht nur in der Periode der so genannten ursprünglichen Akkumulation - durchaus Formen direkter Gewalt von Kapitaleignern und die Ausschaltung freier Arbeitsmärkte zugunsten von Zwangsarbeit und Sklaverei. Wie in der Tradition Rosa Luxemburgs vor allem von David Harvey betont wird, handelt es sich hierbei um Bestandteile jener "räuberischen Aspekte" einer "Akkumulation durch Enteignung", die die Geschichte des Kapitalismus permanent flankieren (vgl. Harvey 2005). Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Spezifikum der kapitalistischen Produktionsweise im Mechanismus einer "erweiterten Reproduktion" (Luxemburg) liegt, in dem soziale Herrschaft vermittels des Äquivalententauschs ausgeübt und hervorgebracht wird, wobei gerade die Reproduktionskosten, die als Äquivalent der Ware Arbeitskraft gelten, in jeder historischen Periode der Produktionsweise sich als Produkt des Klassenkampfs erweisen. Entscheidend für die Unterscheidung von staatlicher Macht und sozialer Herrschaft ist freilich, dass die ökonomischen Abhängigkeiten, die die Substanz der Klassenherrschaft bilden, in einem als privat deklarierten und so vom öffentlichem Zugriff ausgenommenen Sektor entstehen. Dementsprechend ist Joachim Hirsch durchaus zuzustimmen, wenn er schreibt: "Kapitalistische Verhältnisse können sich also nur dann voll herausbilden, wenn die physische Zwangsgewalt eine von allen gesellschaftlichen Klassen, auch der ökonomisch hersehenden, getrennt ist: eben in der Gestalt des Staates. [...] Die Gewalt verschwindet dadurch nicht aus der Gesellschaft. Sie wirkt vor allem als 'stumme' weiter, indem die Menschen zum Verkauf ihrer Arbeitskraft genötigt sind. Aber die physische Zwangsgewalt wird im Staatsapparat zusammengefasst und wirkt damit noch durchschlagender als je zuvor in der Geschichte. Die zentrale Funktion des staatlichen Gewaltapparats besteht in der Gewährleistung des Privateigentums an Produktionsmitteln als Voraussetzung der markt- und tauschvermittelten Ausbeutung der Arbeitskraft" (Hirsch 2005: 23f.).

Die Feststellung, dass dem bürgerlichen Staat und seinem Gewaltapparat eine Gewährleistungsfunktion für die Voraussetzungen kapitalistischer Ökonomie zukommt, lenkt den Blick zurück auf das obige Engels-Zitat und die darin formulierte These, die aufgrund der Klassenspaltung nötig werdende Staatsmacht stehe nur scheinbar über der Gesellschaft. Im Kern geht es hier um nichts anderes als darum, dass - wie Michael Krätke betont, "Marx' ökonomische Theorie durch und durch politisch ist" (Krätke 1998: 157 f.).

Schon Engels und in seiner Folge beinahe alle Ansätze einer materialistischen Staatstheorie polemisieren zu Recht scharf gegen jede bürgerliche Ideologie, in der der Staat zum selbstständigen, von den ökonomischen Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft tatsächlich unabhängigen und vollkommen autonomen Gebilde mystifiziert wird. Der Staat des Bürgertums, bzw. der bürgerliche Staat, ist ebenso wenig unabhängig von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, wie diese ohne seinen Gewaltapparat und das durch ihn garantierte Privatrecht bestehen können. Es handelt sich um gegenseitige Abhängigkeit oder (ins Politologische übersetzt) um eine Interdependenz, die jedoch zugleich der funktionalen Trennung bedarf. Diese Trennung entsteht jedoch ihrerseits nicht naturwüchsig, sondern wird politisch, das heißt in sozialen Kämpfen, hergestellt, rechtlich kodifiziert und ideologisch legitimiert. Einerseits ist sie somit durchaus materielle Realität, andererseits zugleich bloße Ideologie, wenn etwa legitimatorische Trennmodelle (vgl. Nullmeier 2013: 428) die Unüberführbarkeit politischer Legitimitätsprinzipien in Prinzipien der ökonomischen Ordnung behaupten und eine Aufhebung oder auch nur Modifikation der Trennung für ausgeschlossen erklären. Real war die Grenzziehung zwischen dem (politisch gewährleisteten) Privaten und dem Öffentlichen, mithin politisch Gestaltbaren, stets gesellschaftlich umkämpft. Staatsapparate und Recht wurden so selbst zu Sphären des Klassenkampfs, zum verdichteten Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse (vgl. Poulantzas 2002: 154).

Diese komplexen Verhältnisse zwischen funktionaler Trennung und Interdependenz zu fassen, war stets das Bestreben materialistischer Staatstheorien. Auf den ersten Blick paradoxe Formulierungen wie die Rede von einer "relativen Autonomie" des Staates, sind ebenso Ausdruck dieses Bestrebens, wie Engels' berühmte Wendung von einer Ökonomischen Determination "in letzter Instanz".

Repression und Hegemonie

Nimmt man Engels Doppelbestimmung der Aufgabe des Staates in Klassengesellschaften ernst, erstens auftretende soziale Konflikte (sowohl solche zwischen den Klassen als auch solche zwischen Konkurrenten innerhalb der herrschenden Klasse) zu dämpfen und sie zweitens "in den Schranken der 'Ordnung' zu halten" ergibt sich die Notwendigkeit, genauer über jene Gewaltmittel zu reden, die nicht nur Hirsch, sondern mit ihm so gut wie allen Staatstheoretikern zufolge, in den Händen des Staats konzentriert sind.

Dass sich zumindest der moderne Staat im Selbstbewusstsein definiert, das "Gewaltmonopol" inne zu haben, ist freilich zunächst eine Binsenweisheit. Klassisch ist sie ausgedrückt in Max Webers Definition, derzufolge Staat "ein politischer Anstaltsbetrieb heißen" solle, "wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt" (Weber 2008: 39). Gleichwohl wäre es verkürzt anzunehmen, die Dämpfung der sozialen Konflikte verbanne die Gewalt aus ihrem Austrag. Zu Recht verweist Hirsch auf die "stumme Gewalt" des ökonomischen Zwangs, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Dennoch sind solche Formen einer "strukturellen Gewalt" (Galtung) keineswegs die einzigen Formen, in denen im modernen Staat die Anwendung von Gewaltmitteln zugelassen wird, wobei keineswegs staatliche Institutionen allein berechtigt sind, als Gewalttäter aufzutreten.

Um die konkrete Form, in der die staatliche Repressivgewalt auftritt, verstehen zu können, ist es notwendig, sich jene legitimen Anwendungsformen physischer Gewalt - von der psychischen gar nicht zu reden - vor Augen zu führen, zu denen eben gerade nicht "der Staat" allein berechtigt ist und sich zugleich auch der Regularien und Grenzen zu vergewissern, denen staatliche Gewaltanwendung ihrerseits untersteht.

So ist nach geltendem Recht jede Privatperson berechtigt im Fall der Notwehr oder Nothilfe physische Gewalt in einer Intensität anzuwenden, die einen Angriff abzuwehren geeignet ist (selbst dann, wenn die Gewaltanwendung zum Tod des Angreifers führt). Privatpersonen sind ferner berechtigt, Straftäter - etwa einen auf frischer Tat ertappten Dieb - bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten, ihn mithin seiner Freiheit zu berauben. Bis vor wenigen Jahren wurde zudem Erziehungsberechtigten das Recht zugesprochen, ihre Zöglinge zum Zwecke der Erziehung körperlich zu züchtigen. Umgekehrt sind - auch wenn diese Grenzen immer wieder übertreten werden - staatliche Behörden keineswegs zu jeder Gewaltanwendung berechtigt. Zum einen ist streng geregelt, welche Apparate - Privatfirmen wie Blackwater oder beliebige Security-Milizen eingeschlossen - unter welchen Bedingungen zu Gewaltformen greifen dürfen. Zum anderen ist auch diese Gewaltanwendungsbefugnis nicht unbegrenzt. Das vielbeschworene "Gewaltmonopol" entpuppt sich somit - bei näherer Betrachtung - als ein höchst komplexes System der Delegation und Zuteilung von Gewaltanwendungsberechtigungen. Wer wann gegenüber wem zur Anwendung welcher Gewaltmittel berechtigt ist, ist somit keine durch das Gewaltmonopol bereits beschlossene, sondern auf seiner Grundlage zu entscheidende Frage - oder anders formuliert: Monopolisiert ist nicht schlechthin die Gewaltanwendung; sondern das Recht zu ihr zu berechtigen. Erst auf dieser Basis entpuppt sich die volle Bedeutung der Feststellung, dem Staat komme die Funktion zu, gesellschaftliche Konflikte zu dämpfen und ihn den Rahmen einer Ordnung des Konfliktaustrags zu zwingen.

Dieser Zusammenhang ist - wenn auch nicht explizit ausgeführt durchaus präsent, wenn Lenin in "Staat und Revolution" - bezugnehmend auf die Engelssche Formulierung - schreibt: "Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung derjenigen 'Ordnung', die diese Unterdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der Klassen dämpft." (Lenin-Werke, Bd. 25: 399) Scharf polemisiert Lenin insbesondere gegen eine Auffassung, die meint "den Konflikt dämpfen bedeute versöhnen und nicht, es den unterdrückten Klassen unmöglich machen, bestimmte Mittel und Methoden des Kampfes zum Sturz der Unterdrücker zu gebrauchen" (ebd.). So richtig freilich die Erkenntnis ist, dass dem staatlichen Gewaltmonopol - verstanden als monopolisiertes Recht, zur Gewaltanwendung zu berechtigen - unter den Bedingungen bürgerlicher Herrschaft, die Funktion zukommt, das Kampfterrain zwischen den Klassen so zu gestalten, dass die Kämpfe der Unterklassen der bürgerlichen Suprematie nicht ernsthaft gefährlich werden können, so sehr scheint doch die - aus dem Engelsschen Anti-Dühring übernommene - Formulierung, der Staat sei "eine besondre Repressionsgewalt" (ebd.: 409) als eine den strategischen Bedürfnissen einer unmittelbar bevorstehenden revolutionären Erhebung geschuldete Vereinseitigung. So bedeutsam die Zurückweisung der naiven Vorstellung ist, ein neutraler Staat könne gleichsam als Moderator die Gegensätze und Konfliktlinien einer kapitalistischen Ungleichheitsgesellschaft versöhnen oder auf Akte der Repression verzichten, so sehr unterschätzt die Reduktion der Staatsfunktion auf Repression, die zumindest diese Leninsche Passage prägt, die Flexibilität, Wandlungsfähigkeit und Integrationskraft bürgerlicher Staatlichkeit.

Wie an verschiedenen Stellen bereits oft hervorgehoben wurde, knüpfen die Überlegungen (des Leninisten) Antonio Gramsci zur "Hegemonie"an Lenin an. So schreibt zum Beispiel Frank Deppe: "Gramsci verehrte Lenin als den 'größten modernen Theoretiker der Philosophie der Praxis'. Er habe auf dem Gebiet der politischen Organisation (d. h. der Parteitheorie) und des politischen Kampfes (d. h. der Revolutionstheorie) zwei zentrale Dimensionen der Praxis entwickelt: er habe die Kritik der 'ökonomistischen Tendenzen' aufgewertet und die 'Lehre von der Hegemonie als Ergänzung zur Theorie des Gewaltstaats' ausgearbeitet" (Deppe 2003: 226). Gleichwohl betont er zurecht: "Und doch geht die von Gramsci in den 'Kerkerheften' entwickelte Konzeption einer 'Philosophie der Praxis' über jenes Programm des Leninismus hinaus, das den jungen Gramsci von 1917 bis zum Tode Lenins 1924 begeistert hatte" (ebd.). Das hatte natürlich Gründe.

Das historische Milieu, in dem insbesondere Gramsci begann, in seinem Konzept der "Hegemonie" auch die andere, integrative Seite des bürgerlichen Staates zu fassen, war freilich {ein anderes als das, in dem "Staat und Revolution" entstand. Ausgangspunkt von Gramscis Überlegungen war nicht zuletzt "das Scheitern der Revolution im Westen" (ebd.: 207). Die leitende Frage, der sich marxistische Theorie nun zuzuwenden hatte, war, wie erklärt werden konnte, dass der Funke (Iskra) der Oktoberrevolution auf die kapitalistischen Zentren Europas entweder gar nicht erst übersprang, oder wie in Deutschland die Revolution rasch niedergeschlagen werden konnte. Gramscis herrschaftssoziologische Antwortet lautete bekanntlich, dass in den westlichen Staaten die zivilgesellschaftliche Machtposition bürgerlicher Herrschaft weitaus ausgeprägt gewesen sei als im zaristischen Russland: "Die 'normale' Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch eine Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich die Wage halten, ohne daß der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt, sondern im Gegenteil vom Konsens der Mehrheit [...] getragen erscheint [...]" (Gramsci 1991f.: 120).

Massenkonsens muss freilich organisiert sein, wobei große Reden und leere Versprechungen allein, sich keineswegs als ausreichend erweisen dürften. Integrationsfähig wird bürgerliche Herrschaft im Gegenteil gerade dann, wenn sie in der Lage ist, materielle Zugeständnisse an bestimmte Fraktionen subalterner Klassen zu machen oder zumindest vom Abstieg bedrohten Mittelschichten Sicherheitsgarantien zu geben. Gramsci lässt zudem keinen Zweifel daran, dass auch hegemoniale Herrschaft keineswegs eine Alternative zu staatlicher Repressionsmacht ist, sondern auf die Anwendung physischer Gewalt und exkludierendem Zwang angewiesen bleibt. Zwei sehr unterschiedliche Beispiele mögen dies verdeutlichen:

Erstens: Der Faschismus an der Macht war fraglos eine Form äußerster Gewaltherrschaft. In seinem Herrschaftsbereich duldete er keinerlei Opposition. Seine Feinde verfolgte er mit mörderischem Eifer. Der deutsche Faschismus überzog Europa mit einem Weltkrieg, den er insbesondere im Osten zu einem Vernichtungskrieg steigerte, der keinerlei Unterschiede zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten machte. Der deutsche Faschismus verfolgte Juden, Sinti und Roma mit dem Ziel ihrer physischen Vernichtung, errichtete Todesfabriken und beutete diejenigen, die als arbeitsfähig ausgemacht wurden, vor ihrer Ermordung als Sklaven aus. Neben dem herkömmlichen Arbeitsmarkt etablierte der Faschismus so ein System der Sklaverei, dem er permanent Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zuführte, und von dem nicht zuletzt jene Industriellen profitierten, deren Unterstützung er sich bereits im Vorfeld seiner Machtübernahme versichert hatte.

Und doch wäre es verfehlt, ja sogar eine häufig missbrauchte Entlastungsstrategie, den Faschismus an der Macht ausschließlich als Gewaltherrschaft zu interpretieren. Indem es ihm gelang auf der Basis äußerster rassistischer Ungleichheitsideologien große Bevölkerungsanteile zu integrieren, indem er seine Volksgemeinschaft als auch - etwa durch "Kraft durch Freude" (KdF) und "Arisierungsgewinne" - materiell abgesicherte Komplizengemeinschaft gestaltete, in der zugleich die niedrigsten Instinkte gefördert und mobilisiert wurden, gelang es ihm hegemonial zu werden - wenn auch sicher nicht im oben von Gramsci zitierten Sinne einer "'normalen' Ausübung der Hegemonie". Die hegemoniale Stellung des faschistischen Regimes, die immerhin so stabil war, dass sie - anders etwa als in Italien - bis zum Ende des Regimes verhinderte, dass die Deutschen sich selbst ihrer faschistischen Herrschaft entledigten, wurde freilich zugleich mit großer Geste medial inszeniert und blieb stets flankiert von äußerster Gewaltanwendung. Die genozidale, mörderische Repression fungierte gar selbst als hegemonialer Kitt.

Zweitens: Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 vollzog sich zur Zeit eines Epochenumbruchs. Nachdem das faschistische Deutschland niedergekämpft war, galt das deutsche Kapital zurecht als in jeder Beziehung disqualifiziert: "Deshalb waren die früheren Angehörigen der sozioökonomischen Oberklasse sowie der bürokratischen, juristischen, militärischen und kulturellen Oberschichten und oberen Mittelschichten des niedergeworfenen Staates zunächst von der Mitwirkung an der langsam sich wiederherstellenden Meinungs- und Willensbildung in der deutschen Bevölkerung ausgeschlossen" (Abendroth 1966: 20)

Bestand somit bei vielen Antifaschisten während eines kurzen Zeitfensters die Hoffnung mit der Überwindung des Faschismus sei auch die Überwindung jener ökonomischen Verhältnisse verbunden, die seinen Aufstieg ermöglicht hatten - eine Hoffnung, die durchaus auch die frühen Landesverfassungen etwa in Hessen und Nordrhein-Westfalen prägte - so veränderte sich die Ausgangslage spätestens mit dem Beginn des Kalten Krieges. Sukzessive wurde während der fünfziger Jahre die Bundesrepublik Deutschland zu einem bürgerlichen Staat restauriert, dem es gelang durch eine geschickte - von den Westmächten unterstützte - Politik, bürgerliche Hegemonie durch die Integration auch großer Teile der Arbeiterklasse herzustellen. "Wohlstand für alle!" lautete das Versprechen Ludwig Erhards, dessen Programm einer "sozialen Marktwirtschaft" als ideologischer Kitt auf dem Wellenkamm des zum Wunder erklärten Wirtschaftswachstums ritt.

Ganz im Sinne der von Engels hervorgehobenen "Dämpfung" der Konflikte zwischen Klassen und der geordneten Regelung ihres Austrags wurde ein Korporatismus etabliert, dessen ideologischer Überbau einer "Sozialpartnerschaft" in einigen nicht unbedeutenden Elementen an die einstige hegemoniale Stellung der faschistischen Volksgemeinschaftsideologie anzuknüpfen konnte - auch wenn die Vision einer "formierten Gesellschaft" (Erhard) dann doch den Bogen überspannte. Flankiert freilich wurde auch dieser Entwicklungspfad von Repression. Der Antikommunismus wurde im westdeutschen Frontstaat des Kalten Kriegs zu einer staatsoffiziellen Ideologie und beerbte nicht selten - gerade auch in seiner rassistisch gefärbten Russophobie - die Bilder und Stereotypen, mit denen bereits die Goebbelssche Propagandamaschinerie gearbeitet hatte. Die deutsche Großbourgeoisie wurde im Zuge dieser Entwicklung rasch ebenso rehabilitiert, wie die übrigen von Wolfgang Abendroth genannten Teile der Ober- und Mittelschichten: Nipperdey sprach Arbeitsrecht, Globke saß im Kanzleramt, einstige Wehrmachtsgeneräle organisierten den Aufbau der Bundeswehr und Karajan dirigierte die Berliner Philharmoniker.

Zugleich bietet die Bundesrepublik bis heute ein gutes Beispiel für jene Mechanismen, durch die die Verteilung von Gewaltanwendungsrechten bestimmten sozialen Unterklassen bestimmte Kampfmittel zur Verbesserung ihrer Lage entziehen: Schon bald nach Gründung der Bundesrepublik wurden dem Streikrecht - jenem authentischen Gewaltmittel der Werktätigen Unterklasse - enge Fesseln angelegt: das Verbot politischen Streiks, eine Friedenspflicht während der Laufzeit von Tarif-Verträgen, ein formalisierter Zwang zur Schlichtung und die Legalisierung von Aussperrungsmaßnahmen durch die Kapitalseite schufen einen Ordnungsrahmen, der von vornherein bestimmte Kampfmittel und Forderungen ausschloss, innerhalb dessen jedoch die Gewerkschaften einen durchaus erheblichen Einfluss ausüben und Mitbestimmungsrechte der Werktätigen etabliert werden konnten.

Die in diesen Beispielen aufgeführten Modi der Organisation von bürgerlicher Hegemonie stehen freilich für vollkommen unterschiedliche Wege bürgerlicher Integration. Klassischerweise wird der Faschismus als eine radikal-konterrevolutionäre "Form bürgerlicher Herrschaft" (vgl. Kühnl 1971) gedeutet, die mit äußerstem Terror - bei gleichzeitiger Integration breiter Bevölkerungsmassen in eine rassistische und antiegalitäre Komplizengemeinschaft - die Arbeiterbewegung zerschlug und verfolgte (vgl. Deppe 2013: 110). Wie realistisch oder unrealistisch die Furcht der herrschenden Klassen vor einer baldigen proletarischen Revolution auch gewesen sein mag - entscheidend für den Weg bürgerlicher Staaten in den Faschismus war, dass sie vorhanden war.

Auch die Sozialstaaten, die sich nach 1945 in allen kapitalistischen Zentren herausbildeten und sich zugleich als ökonomisch funktional für den fordistischen Kapitalismus erwiesen, sind in spezifischer Weise Geschöpfe der Angst: Das Entstehen einer Systemalternative in den realsozialistischen Staaten und die Autorität und Stärke der Arbeiterbewegung und ihrer Institutionen nach dem Sieg über den Faschismus, wurde von Seiten der herrschenden Klassen durchaus als Gefahr wahrgenommen. Nun freilich reagierte sie darauf nicht durch die Errichtung einer neuerlichen (wie immer hegemonialen) diktatorischen Gewaltherrschaft, sondern mit einer "Politik des Klassenkompromisses, die ein relatives Kräftegleichgewicht der Hauptklassen in der Gesellschaft zur Voraussetzung hatte. Den Kern dieses Kompromisses bildete der Verzicht auf die revolutionäre Infragestellung der kapitalistischen Eigentumsordnung aufseiten der (reformistisch dominierten) Arbeiterbewegung und die Anerkennung von Elementen des Sozialstaates, der Wirtschaftsdemokratie, der Vollbeschäftigung und der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen durch die politischen Repräsentanten der Bourgeoisie" (ebd.: 115).

Wenn Gramsci - freilich ohne die Integrationskraft dieser kapitalistischen Nachkriegsgesellschaften ahnen zu können - von einer parlamentarischen Normalform der Ausübung bürgerlicher Hegemonie spricht, schließt er - unschwer erkennbar - an Lenins berühmtes Diktum aus "Staat und Revolution" an, in dem es heißt: "Die demokratische Republik ist die denkbar beste politische Hülle des Kapitalismus, und daher begründet das Kapital, nachdem es [...] von dieser besten Hülle Besitz ergriffen hat, seine Macht derart zuverlässig, derart sicher, daß kein Wechsel, weder der Personen noch der Institutionen noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik, diese Macht erschüttern kann" (Lenin-Werke, Bd. 25: 405). Die Geschichte dieser Form von Demokratie, die einen ursprünglich sozialen Begriff der Volksherrschaft, wie er von der attischen Polis als Regierung der Armen her überliefert war, in ein apartes System der politisch inklusiven, zugleich jedoch sozioökonomisch herrschaftskompatiblen Verfahrensordnung transformierte, kann hier nicht detailliert rekonstruiert werden. Der Historikerin Ellen Meiksins Wood zufolge vollzieht sich dieser zuvor bereits von liberalen Denkern wie John Locke in den Möglichkeitshorizont gerückte Übergang realgeschichtlich im Zuge der Verfassungsdebatten nach der us-amerikanischen Revolution (Wood 2010: 215ff.). Wie Wood in diesem Zusammenhang präzise herausarbeitet, war schon damals das formaldemokratische Zugeständnis erzwungen: Die während des Unabhängigkeitskriegs mobilisierten demokratischen Energien konnten nicht mehr negiert werden, die politische Gleichheit war somit das Zuckerbrot, durch das die Peitsche, die es ermöglichte, weitergehende Forderungen nach sozialer Gleichheit zu unterdrücken, erträglicher gemacht werden sollte. Die Ironie der Leninschen Bemerkung liegt also nicht zuletzt darin, dass das liberale Bürgertum zur Besitzergreifung seiner "besten Hülle" gezwungen werden musste. Schon das reduzierte, auf formale Teilhaberechte zurechtgestutzte Modell einer liberalen Demokratie verdankt seine Realisierung also jenem Prozess, den man als "defensive Demokratisierung" bezeichnen kann.

Geprägt wurde dieser Begriff durch den Politologen Glenn E. Robinson, der als defensive democratization eine eher periphere Strategie politisch-demokratischer Reformen bezeichnet: Am Beispiel Jordaniens zeigt er, wie herrschende Eliten in Rentierstaaten durch präventive Reformmaßnahmen zu verhindern suchen, dass im Kontext von Fiskalkrisen Demokratisierungsbewegungen entstehen, die monarchischen bzw. autoritären Machtapparaten gefährlich werden könnten (Robinson 1998: 388f.). Im oben skizzierten Sinn wird der Begriff deutlich weiter gefasst (vgl. insbesondere Salomon 2012: 17f. Als ich den Begriff seinerzeit benutzte, war mir der Aufsatz Robinsons noch nicht bekannt.): Weit davon entfernt ein historisch seltenes oder lediglich an den Peripherien des kapitalistischen Weltsystems auftretendes Phänomen zu sein, markiert der Mechanismus einer defensiven, folglich weitergehende Forderungen abwehrenden, Demokratisierung vielmehr den Normalfall der Etablierung von Demokratisierungsfortschritten unter bürgerlicher Hegemonie. Defensive Demokratisierung erscheint somit als Ausdruck jener Flexibilität, die es bürgerlicher Herrschaft historisch immer wieder ermöglicht hat, zumindest einige Fraktionen der Arbeiterklasse politisch - und im Kontext der Sozialstaaten in der fordistischen Ära des Kapitalismus auch sozial - zu integrieren.

Postdemokratie oder "Die Krise der Integration"

Das Modell defensiver Demokratisierung ist nicht nur von historischer sondern auch von zeitdiagnostischer Relevanz. Etwas verkürzt ließe sich sagen, dass während der Epoche des Finanzmarktkapitalismus (Windolf) ein Rückbau jener Integrationsmechanismen forciert wurde, die während der fordistischen Phase des Kapitalismus etabliert worden waren: "Die neoliberale Transformation des 'demokratischen Kapitalismus' im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts", führt Frank Deppe im Anschluss an einen Begriff Wolfgang Streecks (2012) aus, "ging mit einem [...] Langzeittrend einher: der Zunahme sozialer Ungleichheit, die sich seit den 1990er Jahren beschleunigte. [...] Die Deregulierung und 'Verschlankung' des 'keynesianischen Wohlfahrtsstaates' schwächte die Institutionen die für relative soziale Sicherheit, aber auch für Solidarität und ein Minimum an sozialer Kohärenz sorgen sollten." (Deppe 2013, 27) Dieser Prozess der sozialen Spaltung geht mit einem unübersehbaren Abbau demokratischer Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten einher, der zunehmend auch die politische Gleichheit liberaldemokratischer Verfahrensdemokratien erodieren lässt: "Die Aushöhlung der Demokratie erreicht nunmehr - vor dem Hintergrund des politökonomischen Kerns der Großen Krise - eine neue Qualität. [...] Je mehr der Staat direkte Funktionen der 'Rettung' des Kapitals wahrnehmen muss [...], umso mehr muss die Mehrheit des Volkes nicht nur finanziell zur Kasse gebeten werden, sondern auch von den demokratischen Prozessen der Politik und Gesetzgebung möglichst ferngehalten werden. Solange aber das Volk eine solche 'Entmachtung' passiv akzeptiert, kann die Fassade der demokratischen Verfahren aufrechterhalten werden" (ebd.: 153). Auch wenn somit, wie Frank Deppe gleichfalls herausarbeitet, durchaus ein wachsen sozialer Bewegungen zu verzeichnen ist, die (in höchst unterschiedlich akzentuierter Form) die Forderung nach Demokratie auf die Straße tragen (ebd.: 274f.), so haben diese Bewegungen bisher weder die Macht, die Herrschenden zu zwingen aus Gründen der Sicherung ihrer Machtposition im Sinne defensiver Demokratisierung substantielle Zugeständnisse zu machen, noch werden sie von ihnen in dem Grad als Bedrohung wahrgenommen, dass das Bürgertum seine "beste Hülle" abstreift und den Weg in einen offenen Autoritarismus beschreitet. Wie stabil freilich diese desintegrative, auf einen bloß mehr passiven Konsens der Alternativlosigkeit gestützte und somit zunehmend weniger im eigentlichen Sinn hegemoniale Herrschaft eines "autoritären Kapitalismus" (vgl. Deppe 2013) oder einer "Postdemokratie" (vgl. Crouch 2008) auf Dauer sein kann, gehört zu den offenen Fragen einer mittleren Zukunft. Dass - entgegen der klassischen These - faschistoide Tendenzen offensichtlich nicht darauf angewiesen sind, dass die Bedrohung durch eine starke Arbeiterbewegung real ist, lässt sich derzeit am Beispiel Ungarns studieren. Sicher ist jedoch, dass eine wie auch immer geartete Demokratisierung, sei sie - im Sinne bürgerlicher Demokratie - als Abwehrmaßnahme gegen weitergehende Forderungen initiiert oder - im Sinne einer wirklichen demokratischen Transformation - von unten erkämpft, nur dann zu erwarten sein dürfte, wenn mächtige Gleichheitsbewegungen den bürgerlichen Machtapparat erneut herausfordern.


David Salomon, Siegen, Politikwissenschaftler


Literatur

Abendroth, Wolfgang (1966): Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme, Pfullingen

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt/Main

Deppe, Frank (2003): Politisches Denken im 20. Jahrhundert. Bd. 2. Politisches Denken zwischen den Weltkriegen, Hamburg

Deppe, Frank (2013): Autoritärer Kapitalismus. Demokratie auf dem Prüfstand, Hamburg

Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staates; in: MEW, Bd. 21

Gramsci, Antonio (1991 f.): Gefängnishefte, Hamburg

Harvey, David (2005): Der neue Imperialismus, Hamburg

Hirsch, Joachim (2005): Materialistische Staatstheorie, Hamburg

Krätke, Michael (1998): Wie politisch ist Marx' Politische Ökonomie II; in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 34, S. 129-145

Kühnl, Reinhard (1971.): Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus. Faschismus, Reinbek

Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution; in Lenin-Werke, Bd. 25

Nullmeier, Frank (2013) Zu einer politischen Theorie der Marktökonomie; in: Politische Vierteljahresschrift Nr. 3/ 2013, S. 426-460

Poulantzas, Nikos (2002): Staatstheorie, Hamburg

Robinson, Glenn E. (1998): Defensive Democratisation in Jordan; in: Journal of Middle East Studies, Vol 30, No 3, S. 387-410

Salomon, David (2012): Demokratie, Köln

Streeck, Wolfgang (2012): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin

Weber, Max (2008): Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt/Main

Wood, Ellen Meiksins (2010): Demokratie contra Kapitalismus. Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus, Köln

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-14, 52. Jahrgang, S. 88-99
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2015

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