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MARXISTISCHE BLÄTTER/597: Eine Veranstaltung auf Zeit - Zur Lage Griechenlands, der Eurozone ...


Marxistische Blätter Heft 4-15

Eine Veranstaltung auf Zeit
Zur Lage Griechenlands, der Eurozone und der Syriza-Regierung

Von Klaus Wagener


Es macht wenig Sinn die Lage zu beschönigen: Griechenland ist pleite. Spätestens seit Giorgios Papandreou am 27.4.2010 auf der Insel Kastelorizo die Zahlungsunfähigkeit eingestanden hat, ist es auch offiziell. Was seither passierte, ist politisch motivierte Konkursverschleppung. Mit der zynischen Konsequenz, dass die so aufrechterhaltene Negativdynamik, trotz Schuldenschnitts, die Dinge naturgemäß nicht bessert, sondern nach und nach die gesamte Gesellschaft zerstört. Die griechische Krise, die auch Teil der Euro-Krise und Teil der Weltwirtschaftskrise ist, beginnt nicht 2010 und endet nicht in einem eventuellen Deal der Syriza-Regierung mit den "Institutionen".

Griechenland ist ein kapitalistischer Staat und selbstredend steht die griechische Bourgeoisie in dieser Lage nicht als blütenreine Unschuld da. Schon in der Zeit der deutschen Besatzung hatten Bürgerliche und Royalisten im Kampf gegen die Volksbefreiungsarmee ELAS mit dem deutschen Faschismus kollaboriert. Ab Oktober 1944 übernahmen die Briten und schließlich auch die USA von den abgerückten Faschisten die Aufgabe die griechische Bourgeoisie an der Macht zu halten, bzw. sie wieder an die Macht zu bringen - gegen die sich schnell etablierenden Volksbefreiungskräfte und in der Folge, gegen die Demokratische Armee Griechenlands, DSE. Schon dieser brutale Krieg mit den Bajonetten fremder Mächte gegen das eigene Volk begünstigte in Griechenland den typischen Zynismus einer Kompradorenbourgeoisie, die das Elend des eigenen Landes ungerührt lässt, wenn nur der eigene Luxus gesichert ist. Der Krieg gegen die Volksfront von 1942 bis 1949 kostete mehr als 100.000 Menschen das Leben. Dass diese korrupte griechische Oligarchie Steuern zu zahlen für ehrenrührig hält, versteht sich von selbst.

Als sich die griechische Linke in den 1960er Jahren von diesem gewaltigen Blutzoll zu erholen begann und mit Georgios Papandreou ein eher linker Ministerpräsident die absolute Mehrheit errang, sahen Royalisten, Bourgeoisie und Militärs den Punkt erreicht, ihre eigenen verfassungsmäßigen Spielregeln im Orkus zu versenken. Gegen die klaren parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse wurde Papandreou vom König abgesetzt. Und als auch dieser royale Putsch das Blatt nicht zugunsten der Rechten wendete, zog das griechische Militär, gestützt durch die CIA, am 21. April 1967 die faschistische Karte. Griechenland hatte als einziges Nato-Land auf dem Balkan (ab 1952) für den "Westen" eine überragende geostrategische Bedeutung. Die griechische Rechte konnte sich der US-Unterstützung jederzeit sicher sein. Eine Lage die insbesondere mit Blick auf den neuen, alten Feind Russland, bis heute fortbesteht und angesichts der - Krise hin oder her - völlig überproportionalen griechischen Rüstung, mehr als deutlich wird.

Diese geostrategische Grundkonstante dürfte auch wirksam gewesen sein, als Griechenland 1981 Mitglied der EWG wurde und 2001 sogar der Eurozone beitreten konnte. Allein der damalige Schuldenstand von 103 Prozent/BIP hätte nach den geltenden Konvergenzkriterien (Schuldenstand max. 60 Prozent/BIP, Nettoneuverschuldung max. 3 Prozent/ BIP) eine Aufnahme ausgeschlossen. Die graduelle Aufhübschung der Zahlen durch die US-Zockerbuden dürfte selbst der EU-Bürokratie kein überschuldetes 'X' für ein solventes 'U' vorgemacht haben. Schwer vorstellbar, dass den relevanten Entscheidern die reale Lage Griechenlands unbekannt geblieben sein soll.

Der Euro-Boom

Der Euro-Beitritt ermöglichte der griechischen Wirtschaft einen enormen Boom. In den fünf Jahren von 2003 bis zum Eintritt in die Krise 2008 wuchs das BIP laut Eurostat nominal um 35,5 Prozent. Pro Jahr also durchschnittlich um 7,1 Prozent. Die nominalen Arbeitnehmerentgelte im selben Zeitraum sogar um 42 Prozent. In dieser gefühlten Wohlstandsexplosion dürfte die entscheidende Ursache für die bis heute anhaltende Euro-Euphorie liegen. Allerdings ist bei den Löhnen wie beim BIP der Zustand von 2003 längst wieder erreicht. Zu Preisen von 2015.

2003 lag der Lohnanteil am BIP bei gerade 33,1 Prozent, was auf den geringen Industrialisierungsgrad des Landes (etwa 23 Prozent/BIP - inklusive Bauwirtschaft; Tourismus ca. 10 Prozent/BIP; Landwirtschaft ca. 7 Prozent/BIP, Hochseeschifffahrt ca. 7 Prozent/BIP) hinweist. Die Selbstständigeneinkommen und Unternehmensgewinne lagen dagegen bei 46,8 Prozent/BIP. Während der Lohnanteil stagnierte konnten letztere trotz Krise auf 57 Prozent/BIP zulegen. Da Krise vor allem Lohndeflation und Konkurs des Kleingewerbes bedeutet, dürften auch in Griechenland die Krisengewinnler tendenziell mit dem Grad der erreichten Kapitalakkumulation zunehmen. Und die Oligarchie dürfte ihre Schäfchen mittlerweile via Kapitalflucht in die sicheren Oasen verbracht haben.

Nun war der Goldgräberboom bis 2008 keineswegs durch ein entsprechendes Produktions- und Produktivitätswachstum gedeckt. Der Wachstumssprung des breitgefassten Industrieproduktionsindex von 1998-2000 von etwa 20 Prozent dürfte vor allem erwartungsinduziert gewesen sein. Aufgrund der kommenden gemeinsamen Wahrung waren Kredite schlagartig billig zu haben und wurden dann auch, angesichts der angenommenen gesamteuropäischen Bürgschaft, von den internationalen Kreditgebern bereitwillig vergeben.

Im August 2000 war allerdings schon das Allzeithoch der Industrieproduktion erreicht. Bis 2008 stagnierte sie um danach um rund 30 Prozent, auf einen Stand vor 1980, abzustürzen. Eine beeindruckende Dokumentation der Erfolge des austeritätspolitischen Krisenmanagements.

Das Euro-Projekt

Der entscheidende Kampfauftrag des neoliberalen Programms, neben der Senkung der Löhne und der "Staatsquote", lautet Deregulierung, d.h. Abbau aller nationalen Schutzeinrichtungen gegen die Verwerfungen, die der freie Waren-, Dienstleistung- und vor allem der freie Kapitalverkehr notwendig hervorruft. Die zerstörerische Wirkung der liberalisierten "Märkte" war in der Großen Krise der 1930er Jahre mehr als deutlich geworden. Und unter dem Eindruck einer den Faschismus besiegenden Sowjetunion hatten sich die Hauptmächte des "Westens" 1944 zu einem," den Kapitalverkehr streng kontrollierenden Währungsverbund zusammengeschlossen. Die neue Supermacht USA konnte ihre Wahrung als internationale Leitwährung durchsetzen, zwar mit einer Bindung an das Gold, aber doch mit dem ungeheuren Privileg, bedrucktes Papier im Billionenumfang als Währungsreserven des ganzen kapitalistischen Globus gegen reale Werte eintauschen zu können.

Im Vietnam-Krieg legten die USA eine Teilinsolvenz hin. Sie waren nicht mehr in der Lage die Golddeckung aufrecht zu halten. Die folgende Auflösung des Bretton-Woods-Systems und das Ende der Systemherausforderung machten den Aufbau eines konkurrierenden zweiten Großwährungssystem, dem Euro, möglich. Während das Bretton-Woods-System, unter der Vorherrschaft des Dollar, aber eine gewisse kapitalistische Kooperation, die Einhegung der zerstörerischen Potenzen des Finanzkapitals zum Ziel hatte, entstand das Euro-System im Gegensatz dazu als ein Ausbruch aus dieser Regulierung, unter der bewussten Akzeptanz einer alles - auch den Staatssektor - umfassenden Konkurrenz unter der nahezu allgewaltigen Dominanz und globalen Aktionsfähigkeit des Finanzkapitals.

Die neoliberalen Propagandisten dieser Maastrichter Euro-Konstruktion behaupteten, neben den hoffnungsfroh zu erwartenden "Wohlstandsgewinnern, eine Angleichung, eine Nivellierung der Lebensverhältnisse. Der Markt, die Internationalisierung des Finanzkapitals werde es richten. Alles würde, wie an den IT-Produkten erkennbar, immer billiger werden, Löhne und Preise, Steuern und Abgaben würden sich im Wettbewerb angleichen. Die Dialektik des Euro-Prozesses ist erkennbar eine andere.

Die Staatsschulden und die fünfte Gewalt

In seinem lesenswerten, gewissermaßen programmatischen Beitrag, "Die Fünfte Gewalt" (Die Zeit, 27.4.2000), hatte der damalige Deutsche Bank-Chef Rolf-E. Breuer kurz vor der Euro-Einführung die fundamentale Infragestellung der staatlichen Souveränität durch die international agierende Finanzindustrie aufgegriffen. Breuer bestreitet den Souveränitätsverlust keineswegs. Im Gegenteil. Allerdings liege darin kein Problem, sondern ein positives Momentum. Aufgrund einer "weitgehenden Interessenkongruenz zwischen Politik und Finanzmärkten, nähme die "fünfte Gewalt", mit Hilfe ihrer "effizienten Sensoren", Fehlentwicklungen frühzeitig wahr und setzte die Politik unter einen ständigen Erklärungs- und Entscheidungsdruck. Im Abschnitt: "Die Staaten müssen sich nach den Anlegerwünschen richten", wird Breuer deutlich: "Je höher die Staatsverschuldung, desto mehr sind Staaten dem Urteil der Finanzmärkte ausgesetzt", und: die "Staaten stehen als Schuldner im Wettbewerb mit anderen Staaten".

Mit dem neoliberalen Ausbruch aus der Weltwirtschaftskrise 1975/76 beginnt in den führenden kapitalistischen Staaten der Marsch in die Staatsverschuldung. Das strukturelle Haushaltsdefizit, die wachsende Staatsverschuldung ist Voraussetzung und Ergebnis des neoliberalen Kriegs gegen eine angeblich zu hohe Staatsquote. Voraussetzung, weil nur unter dem selbstgebastelten Damoklesschwert des hohen Schuldenstands der permanente Sparzwang ("Der schlanke Staat"), also eine kontinuierliche Senkung der Ausgabenseite begründbar erscheint. Und Ergebnis, weil das Konzept der kontinuierlichen Steuersenkung ("Privat vor Staat") an den unabdingbaren gesellschaftlichen und politökonomischen Erfordernissen des realen Krisen-Kapitalismus vorbeigeht, das finanzkapitalistische Diktat des Abbaus der Einnahmen dem realpolitisch möglichen Abbau der Ausgaben also strukturell davonläuft.

Der neoliberal schlanke Schuldenstaat muss daher seine Aufgaben und Schulden zu einem steigenden Anteil durch Kredite der von Breuer umrissenen "freien Finanzmärkte" finanzieren. Statt von ihnen Steuern zu kassieren, bleibt ihm nichts übrig, als ihnen Zinsen zu zahlen.

Wie Breuer zu Recht andeutet, war bei der Gründung der Eurozone diese "Grundstruktur" der neoliberalen Staatsfinanzierung längst etabliert. Ein (finanzpolitisches) Euro-Motiv von Ländern wie Griechenland lag in der angenommenen Aufhebung des zweiten Satzes: "Staaten stehen als Schuldner im Wettbewerb mit anderen Staaten." Die Mitgliedschaft in einem starken Währungsverbund mit dem starken Deutschland an der Spitze gab Anlass zur Hoffnung auf beste Refinanzierungskonditionen. Die Renditen für Staatsanleihen in Südeuropa lagen im Schnitt etwa 5 Prozent über den deutschen.

Dieses Versprechen funktionierte tatsächlich. Die gemeinsame Wahrung, der freie Warenverkehr und die Niederlassungsfreiheit für Unternehmen sorgten für ein luxuriöses Angebot und die "freien Kapitalmärkte" für den erforderlichen, jetzt sensationell günstigen Kredit. Die große Nachkriegs-Sause, mit der es der "freie Westen" nach seiner Rückeroberung des Ostens noch einmal so richtig krachen ließ, konnte auch in Griechenland beginnen.

Die Weltkonjunktur stand nach der Jahrtausendwende vor dem Ende des Konjunkturzyklus, und tanzte auf dem Vulkan der kommenden Krise in "irrationalem Überschwang". Der Boom nährte den Boom und die Kredite die Kredite. Alles schien noch einmal möglich. Schließlich wurden die Kreditkonstruktionen immer abenteuerlicher. Es endete, wie immer, mit dem spektakulären Platzen der Kreditblase. Allerdings gelang es Big Money diesmal auf breiter Front seine Miesen in die Staatskassen zu verschieben. Das hätte vorher nicht einmal ein Breuer zu schreiben gewagt. Nun, in der Krise, kam es knüppeldick. Die ausfallenden Steuereinnahmen, die rapide steigenden Sozial- und Konjunkturausgaben, plus die immensen Kosten der Bankenrettung katapultierten die Defizite und Schuldenstände der Staaten in ungekannte Höhen.

Jeder ist sich selbst der Nächste

Es platzte nicht nur die Blase. Mit den explodierenden Schulden platzte auch das Euro-Versprechen. Nur kurz nachdem Giorgios Papandreou seinen Offenbarungseid abgelegt hatte, kassierte die Berliner Kanzlerin sowohl die gemeinschaftliche Haftung wie auch die gemeinschaftliche Refinanzierung: "Eine Transferunion wird es mit mir nicht geben. Jedes Land ist für seine Schulden selbst verantwortlich." (11.3.2011) Eurobonds, "nicht so lange ich lebe" (26.6.2012)

Damit war das Scheunentor für die Spekulation eröffnet. Zu den explodierenden Krisenlasten kamen nun auch noch die explodierenden Kreditkosten und eine massive Kapitalflucht. Die "freien Finanzmärkte" spekulierten auf den Crash, auf den Zusammenbruch der Eurozone. Die Renditen schossen in den Himmel und die Parole der Kapitaleigner hieß: "Rette sich wer kann!" Alle Rettungsschirme der Welt hätten den Exitus nicht verhindert, wenn nicht Mario Draghi am 26.7.2012 die Reißleine gezogen hätte: "Whatever it takes." An der Munition der EZB hätte sich auch die internationale Spekulation die Zähne ausgebissen. Die "Märkte"drehten erst einmal bei. Die Renditen fielen in Richtung Finanzierbarkeit. (Bis auch die Endlichkeit dieser EZB-Politik von Mario Draghi erkennbar wird.)

Realwirtschaft - In der Monetarismusfalle

Die große Ernüchterung der Krise hat den Blick wieder weg vom Casino auf die Realwirtschaft gerichtet. Die Phantasien einer Wertschöpfung aus der Omnipotenz des Geldes und seiner Jongleure ist bis zum nächsten "Überschwang" erst einmal wieder eingemottet. Die Verschuldung Griechenlands ist, abgesehen von den finanzpolitischen Absurditäten, realwirtschaftlich betrachtet, vor allem Ausdruck seiner krassen ökonomischen Unterlegenheit.

Der "freie Markt" bedeutet nicht die Freiheit des Kartoffelmarktes im globalen Weltdorf, sondern selektive Konkurrenz gegen die stärksten Unternehmen des Globus. Der Durchsetzung der Maximierung des Profits und der Kapitalakkumulation wohnt seit jeher eine exterminatorische Konsequenz inne: "Ein Kapitalist schlägt viele tot." Im Stadium des Imperialismus ist dieses Prinzip machtpolitisch auf staatliches Niveau gebracht. Was das ökonomisch bedeutet, durften viele Länder der "Dritten Welt" schmerzvoll erfahren, als sie, unter unzähligen Opfern aus der kolonialen Hörigkeit gekämpft, sich nur wenig später in der neokolonialen Abhängigkeit des Dollar-Imperialismus wiederfanden.

Die währungspolitische Vereinigung in ihrer Leistungsfähigkeit dramatisch unterschiedlicher Ökonomien unter explizitem Ausschluss relevanter, rückausgleichender Transferleistungen bedeutet in etwa so viel wie die Institutionalisierung des ökonomischen Faustrechts bei Nationalisierung der sozialen Folgekosten. Nun steckt Griechenland ebenso in der Monetarismusfalle wie die Länder der "Dritten Welt" vor rund 30 Jahren.

Zwar fiel während des kreditfinanzierten Aufschwungs die wirtschaftliche Dominanz des wiedervereinigten Deutschland nicht sonderlich ins Gewicht, doch spätestens mit dem Platzen der Blase und der abrupten Illiquidität einerseits und der ständig wirksameren Aufrüstung der deutschen Exportmaschine mit den Schröderschen Dumpinglöhnen andererseits, geriet der Süden Eurolands wirtschaftlich immer stärker auf die Verliererstraße.

Die Performance der europäischen, breitgefassten Industrieoutputs spricht Bände. Ausgehend vom Jahr 2000 schoss der Volumenindex in Deutschland um über 20 Prozent nach oben während er gleichzeitig in Frankreich, Portugal, Spanien und Italien zwischen 16 und 24 Prozent absackte. In Griechenland ging es um rund 30 Prozent nach unten.

Hier liegt die materielle Basis der dramatischen Handelsungleichgewichte in Europa und des deutschen Merkantilismus. Während Deutschland zwischen 1991 und 2001 noch deutliche Leistungsbilanzdefizite akkumulierte (kumuliert -200 Mrd. Dollar) schoss die Bilanzkurve mit der Euro-Einführung steil nach oben (2014 kumuliert +2.000 Mrd. Dollar). Außer Deutschland schafften in diesen 22 Jahren nur die Niederlande und Schweden kumuliert ein deutliches Leistungsbilanzplus, Finnland und Österreich retteten sich gerade so in den positiven Bereich und das kleine Griechenland akkumulierte ein Leistungsbilanzdefizit von mehr als -270 Mrd. Euro (Das darin enthaltene Handelsbilanzdefizit erreicht kumuliert satte -600 Mrd. Euro.)

Um diese Defizite finanzieren zu können sind entsprechende Kredite erforderlich. Die griechische Auslandsverschuldung NIIP (Net International Investment Position) lag im 2. Quartal 2014 bei -225 Mrd. Euro. Die ELA-Notfallkredite (sichtbar in Target2) liegen bei -99 Mrd. Euro. Die Bilanzsumme der Griechischen Zentralbank liegt bei 160 Mrd. Euro. Die der Handelsbanken bei 395 Mrd. Euro (darunter faule Kredite in Höhe von 77 Mrd. Euro). Der Privatsektor ist mit -212 Mrd. Euro verschuldet. Der griechische Zentralstaat mit -325 Mrd. Euro.

Unter ungeheuren Opfern, einer dramatischen Absenkung der Löhne und des Importvolumens gelang es den Austeritätsfetischisten in 2014 aus all der Trostlosigkeit ein Leistungsbilanzplus von 1,5 Mrd. Euro herauszuquetschen. Hauptsächlich aufgrund des Touristenbooms, der sich aus der zunehmenden Terrorangst in Urlaubszielen wie Ägypten speist. Das ist nicht einmal der Tropfen auf dem heißen Stein. Selbst wenn sich die jetzige Lage auf ihrem katastrophalen Niveau perpetuieren ließe, wäre die Vorstellung, die Schulden so abtragen zu wollen, an Absurdität nicht zu überbieten. Gleiches gilt für die Idee über die Austeritätspolitik die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes soweit heben zu können, dass damit ein Weg aus dem Drama gefunden werden könnte.

Investitionen und Wachstum

Wäre die Absenkung des Lohnniveaus, die Verarmung der Bevölkerung hinreichend, um ökonomische Prosperität zu erreichen, so repräsentierte die Subsahara-Region vermutlich die Spitze der ökonomischen Dynamik. Selbst die führenden Industrie- und Technologiestaaten in Westeuropa, allen voran die Bundesrepublik, brauchten nach dem zweiten Weltkrieg die Marshallplan-Milliarden, um die notwendigen Anschub-Investitionen tätigen zu können. Ohne Investitionen in neue Produkte und Fertigungsanlagen, in Qualifikation und Know-how ist ein wirtschaftlicher Aufschwung nicht vorstellbar. Aber wer investiert schon in den Bankrott? Die Bruttoinvestitionen Griechenlands liegen bei unterirdischen 11 Prozent/BIP. Und die Nettoinvestitionen von -8 Prozent/BIP machen endgültig klar, dass das Land vom Substanzverzehr lebt.

Allerdings agiert das heutige Griechenland, anders als die Bundesrepublik nach dem zweiten Weltkrieg, in einem übersättigten Markt. Während den Nachkriegsunternehmen die raren Waren aus den Händen gerissen wurden, herrscht heute ein Überangebot an beinahe allem und jedem. Einen Marktneuzugang zu finden ist heute ausgesprochen aufwendig und kostenintensiv und in vielen Sektoren wohl nur in Nischen erfolgversprechend. Die Kaninchen Süd-Europas sehen sich zusammengesperrt in einem Käfig mit der Boa Constriktor aus dem Norden. Es gibt vor dem Erdrücktwerden kein Entkommen und keinen Schutz. Und aus den Kaninchen wird auch die schärfste Austeritätspolitik keine Boa machen. Dazu fehlt, insbesondere in Griechenland, jegliche materielle Voraussetzung.

Strategie und Taktik

Zum Redaktionsschluss war die Erpressung Griechenlands mit der ausstehenden 7,2 Mrd. Euro Kredit-Tranche noch in vollem Gange. Erklärtermaßen möchte die Bundesregierung auch die Syriza-Regierung auf die volle Einhaltung des alten Austeritätskurses verpflichten. Statt der korruptions- und kooperationswilligen alten Systemparteien, der politischen Sprachrohre der griechischen Oligarchie, hat die Dialektik des Krisenprozesses das neue, eher heterogen-links orientierte Bündnis Syriza ins Amt gehoben. Da gilt es, über die Austeritätslogik hinaus, eine linke Alternative in Europa nicht zu Erfolgen kommen zu lassen. Zu hoch ist das Risiko eines Einbruchs auf breiter Front für das Berliner "Rettungs"-Konzept.

Natürlich ist alles wünschenswert, was Syriza etwas Luft zum Atmen und der griechischen Bevölkerung eine Linderung der Krisenlasten verschafft. Wenn auch nur kurzfristig. Hier wären die sofortige Auszahlung der Kredittranche, ein Schuldenschnitt, die Akzeptanz griechischer Anleihen durch die EZB einige entlastende Maßnahmen. Aber nichts hilft an dem schlichten Faktum vorbei, dass sich der Boom von 2001 ff. nicht wieder zurückholen lässt. Natürlich ließen sich die erdrückenden Schulden auf verschiedene Art und Weise hinwegmonetarisieren, es würde aber, selbst wenn so etwas durchsetzbar wäre, an der schuldengenerierenden, realwirtschaftlichen Grundstruktur der Eurozone nichts ändern. Längerfristig lässt sich so die Frage der Perspektive in einer gemeinsamen Währungszone Europa dessen dominante Wirtschaftsmacht Deutschland hart merkantilistisch ("Beggar Thy Neighbor") agiert, nicht verdrängen. Ja, je klarer die Haltung in der strategischen Frage ist, umso plausibler eine Exit-Strategie erkennbar ist, umso eher sind auch taktische Erfolge möglich. Natürlich wäre für Griechenland ein Ausstieg aus dem Euro, insbesondere jetzt nach den Verwüstungen der Berlin/Brüsseler"Rettung", ausgesprochen schmerzhaft. Allerdings heißt die Alternative: weiter mit der Verwüstung. Allerdings scheint dies für Syriza politisch beinahe ebenso außerhalb der Reichweite wie ein substantielles Entgegenkommen der Bundesregierung. Beide hätten die von der jeweiligen Bewusstseinsindustrie massiv forcierte Massenmeinung so klar gegen sich, dass sie dergleichen politisch wohl kaum überleben dürften.

Die "kleineuropäische Lösung"?

Da die Berliner "Rettungsvision", die Eurozone insgesamt via Austerität zu einer Art merkantilistisch agierendem Groß-Germanien für das globale Spielfeld zu machen, nicht nur theoretisch absurd, sondern auch ganz praktisch im Großversuch gescheitert ist (wer auf der Welt sollte einen Handelsbilanzüberschuss von 8 Prozent des Eurozonen-BIP importieren und finanzieren?), so stellt sich die Frage nach den Konsequenzen.

Eine denkbare Perspektive, gewissermaßen ein positiver Ausweg, wäre die Verwandlung der Eurozone in eben genau die "Transferunion", welche Frau Merkel so kategorisch, "nicht so lange ich lebe", ausgeschlossen hat. Genau das würde aber den ökonomischen Wert der Eurozone für das deutsche Finanzkapital drastisch herabsetzen. Ein erheblicher Teil des mühsam der Eurozone entrissenen Profits wäre via Unterstützungsleistung wieder dorthin zurück zu transferieren, wo man ihn realisiert hat. Zwar wären die Transferleistungen nicht unmittelbar aus den Profiten zu finanzieren, aber ungeschoren, auch wenn nur über die entsprechenden Kreisläufe vermittelt, käme das deutsche Kapital nicht davon. Eine solche solidarische Gemeinschaft der europäischen Völker wäre daher nur als Projekt einer starken, auf eine gemeinsam handelnde, europäische Arbeiterklasse sich stützenden Linken vorstellbar. Eine solche solidarische EU/Eurozone, die ihren Namen verdient, dürfte daher mittelfristig eher als irreal gelten.

Da die EU/Eurozone in ihrer imperialistischen Grundstruktur keine positiven Auswege denkbar werden lässt, konkurrieren im Wesentlichen zwei Perspektiven bzw. eine Mischung aus beiden. Der Rückfall in reaktionären Nationalismus und/oder die "kleineuropäische Lösung". Analog der bismarckschen kleindeutschen Lösung der "Deutschen Frage", mit ihrem bewussten Ausschluss der wenig industrialisierten "verlotterten" k.u.k. Monarchie, wäre ein mehr oder weniger konsequentes Hinausdrängen eines letztlich immer stärker überschuldeten Südens und eine Fokussierung auf die exportstarken Staaten unter deutscher Führung plausibel. Das Ergebnis wäre ein merkantilistisches Kerneuropa mit einer mehr oder weniger organisierten Peripherie abhängiger Vasallenstaaten. Eine solche "Lösung" dürfte umso näher rücken, je näher der Zeitpunkt kommt, an dem für den Erhalt der Eurozone in ihrer jetzigen Form richtiges Geld in die Hand genommen werden muss. Nicht nur jenes, welches die EZB momentan so bereitwillig druckt.

Die EU/Eurozone ist in ihrer jetzigen Forme eine Veranstaltung auf Zeit. Griechenland ist Versuchskaninchen und Krisenindikator zugleich. Es gibt da keine Reset-Taste. Man kann den Kontinent nur einmal in die Überschuldung fahren. Etwas, was darüber hinaus für den globalen Kapitalismus generell gilt. Noch wird die fragile Lage der Krisenverschleppung durch Billionensummen aus den Zentralbanken aufrechterhalten. Aber es lassen sich die globalen Verwertungsprobleme sowie die private wie staatliche Überschuldung auf Dauer nicht einfach wegmonetarisieren. (8. Juni 2015)

Klaus Wagener, Dortmund, MB-Redaktion

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-15, 53. Jahrgang, S. 38-46
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2015

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